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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 139Belletristik gewährte und Leute aus dem Volk, wenn sie ihnen erlaubte, einmal in einem Poem,einem Drama oder einer Ekloge aufzutreten, nicht anders als sauber gewaschen, gekämmt,schön angezogen und in einer ihnen [235] fremden Sprache sprechend einführte. Ja,diese pseudoklassischen Zeiten liegen weit hinter uns; aber es ist mittlerweile Zeit geworden,auch die pseudoromantische Richtung hinter uns zu lassen, die in ihrer Freude über das Wort„Volksgeist“ und über das Recht, in Poemen und Dramen nicht nur ehrliche Leute der unterenStände, sondern sogar Diebe und Halunken auftreten zu lassen, auf die Idee verfallen ist,wahrer Nationalgeist sei nur unter dem Bauernkittel und in verräucherten Bauernhütten zufinden, und eine im Faustkampf zertrümmerte Nase eines betrunkenen Lakaien sei ein echtShakespearescher Zug – vor allem aber, unter gebildeten Menschen sei auch kein Anzeichenvon irgend etwas wie Volksgeist zu finden. 2 Es ist schließlich an der Zeit, auf den richtigenGedanken zu kommen, daß der russische Dichter sich im Gegenteil nur als echt nationalerDichter erweisen kann, wenn er in seinen Werken das Leben der gebildeten Stände darstellt:denn um die nationalen Elemente in einem Leben aufzufinden, das sich zur Hälfte in ihmfrüher fremde Formen gekleidet hat – dazu muß ein Dichter sowohl hohe Begabung besitzenals auch im Herzen national sein. „Der echte Nationalgeist“ (sagt Gogol) „liegt nicht in derBeschreibung des Sarafans, sondern im eigentlichen Geist des Volkes; ein Dichter kannselbst auch dann national sein, wenn er eine völlig andersgeartete Welt beschreibt, sie jedochmit den Augen seiner nationalen Natur, mit den Augen des ganzen Volkes betrachtet, wenn erso fühlt und redet, daß es seinen Landsleuten scheint, als fühlten und redeten sie selber.“ 3 DasGeheimnis der Volkspsyche erraten, bedeutet für den Dichter, daß er die Fähigkeit besitzt, beider Darstellung sowohl der unteren wie der mittleren und der oberen Stände gleichermaßenwirklichkeitstreu zu sein. Wer fähig ist, die ausgesprochenen Nuancen nur des groben Lebensdes einfachen Volkes zu erfassen, und nicht fähig ist, die feineren, komplizierteren Nuancendes Lebens der Gebildeten zu erfassen – der wird nie ein großer Dichter sein und hat nochweniger ein Recht auf den hohen Titel eines Nationaldichters. Der große Nationaldichter verstehtes gleichermaßen, sowohl den Herrn wie den Bauern in ihrer Sprache sprechen zu lassen.Und wenn ein Werk, dessen Inhalt dem Leben der gebildeten Stände entnommen ist,nicht den Titel eines nationalen Werkes verdient – so bedeutet dies, daß es auch in künstlerischerBeziehung nichts wert ist, weil es dem Geiste der von ihm dargestellten Wirklichkeitnicht treu ist. Deshalb sind nicht nur solche Werke wie „Verstand schafft Leiden“ und „Dietoten [236] Seelen“, sondern auch solche wie „Ein Held unserer Zeit“ ebenso nationale wiehervorragende poetische Schöpfungen.Und das erste derartige nationale Kunstwerk war der „Eugen Onegin“ Puschkins. In der Entschlossenheit,mit der der junge Dichter die Physiognomie des am meisten europäisiertenStandes in Rußland vorgeführt hat, müssen wir den Beweis dafür sehen, daß er ein nationalerDichter und sich dessen tief bewußt war. Er hatte erkannt, daß die Zeit der epischen Poemeseit langem vorüber war und daß es zur Darstellung der modernen Gesellschaft, in der diePoesie des Lebens so tief von der Prosa des Lebens durchdrungen ist, des Romans und nichtdes epischen Poems bedurfte. Er nahm dieses Leben, wie es ist, ohne ihm lediglich seine poetischenAugenblicke abzugewinnen; er nahm es mit der ganzen Kälte, mit seiner ganzen Prosaund Trivialität. Und diese Kühnheit wäre weniger erstaunlich, wenn der Roman in Prosagefaßt gewesen wäre; aber einen solchen Roman in Versen zu schreiben zu einer Zeit, wo esin russischer Sprache nicht einmal in Prosa auch nur einen anständigen Roman gab – diesedurch den riesigen Erfolg gerechtfertigte Kühnheit war ein unbezweifelbares Zeugnis für die2 Anspielung auf N. M. Sagoskins Roman „Heimweh“, in dem eine Szene mit einem betrunkenen Lakaien vorkommt.Belinski hat in seinen Aufsätzen und Rezensionen dem Kampf gegen die Pseudoromantiker und ihreAuffassung vom „wahren Nationalgeist“ großen Raum gewidmet.3 Zitat aus Gogols Aufsatz: „Ein paar Worte über Puschkin“, der im ersten Teil der „Arabesken“ enthalten ist.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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