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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 136muß man zweifellos wahrhaft nationale Werke bei uns nur unter jenen poetischen Schöpfungensuchen, deren Inhalt dem Leben des Standes entnommen ist, der durch die Reform Petersdes Großen geschaffen wurde und sich die Formen eines gebildeten Lebens angeeignet hat.Die Mehrheit des Publikums jedoch versteht das anders. Man nenne „Russlan und Ludmilla“ein volkstümliches oder nationales Werk – und jedermann wird einverstanden sein, daß eswirklich ein volkstümliches und nationales Werk ist. Noch mehr wird jedermann einverstandensein, wenn man als volkstümliches Werk jedes Theaterstück bezeichnet, in [230] demBauern und Bauernweiber, bärtige Kaufleute und Kleinbürger handelnd auftreten oder in demdie handelnden Personen in ihre primitive Unterhaltung russische Sprichwörter und Redensarteneinstreuen und zum Überfluß rhetorische, nach dem Seminar riechende Phrasen überVolksgeist und dergleichen einflechten. Klügere und gebildetere Leute sehen gern (und dabeimit sehr viel Grund) russische Volkspoesie in den Fabeln Krylows und sind sogar bereit, sie(was schon weniger begründet ist) nicht nur in den Märchen Puschkins („Vom Zaren Saltan“,„Von der toten Zarentochter und den sieben Recken“), sondern auch (was nun schon ganzunbegründet ist) in den Märchen Shukowskis („Vom Zaren Berendej mit dem Bart bis zumKnie“ und „Von der schlafenden Prinzessin“) zu sehen. Wenige jedoch sind mit uns einverstanden,und vielen scheint es sonderbar, wenn wir sagen, daß das erste echt nationale russischePoem in Versen Puschkins „Eugen Onegin“ war und ist und daß in ihm mehr Volksgeiststeckt als in jedem beliebigen anderen volkstümlichen russischen Werk. Und dabei ist daseine ebensolche Wahrheit wie die, daß zwei mal zwei – vier ist. Wenn es nicht allgemein alsnational anerkannt wird, so deshalb, weil sich bei uns seit langem die höchst sonderbare Meinungeingenistet hat, ein Russe im Frack und eine Russin im Korsett seien keine Russenmehr, und der russische Geist gäbe sich nur da zu erkennen, wo es Bauernkittel, Bastschuhe,Wodka und Sauerkohl gibt. Hierin ahmen bei uns viele, selbst sogenannte gebildete Leute,unbewußt dem einfachen russischen Volk nach, das jeden Ausländer aus Europa einen Deutschennennt. Und das ist auch die Quelle der Furcht einiger Leute, wir könnten allesamt zuDeutschen werden! Alle europäischen Völker haben sich anfänglich als ein Volk entwickelt,anfänglich im Schatten der katholischen Einheit, der geistlichen (in der Gestalt des Papstes)und der weltlichen (in der Gestalt des gewählten Oberhaupts des Heiligen RömischenReichs), und später unter dem Einfluß ein und desselben Strebens nach den höchsten Resultatender Zivilisation – dennoch aber besteht zwischen Franzosen, Deutschen, Engländern, Italienern,Schweden und Spaniern ein ebenso wesentlicher Unterschied wie zwischen Russenund Indianern. Es sind Saiten ein und desselben Instruments – des menschlichen Geistes –‚jedoch Saiten verschiedener Stärke, jede mit ihrem eigenen Ton – deshalb lassen sie ja auchvollharmonische Akkorde erklingen. Wenn nun also die Völker Westeuropas, die alle gleichermaßenaus dem großen teutoni-[231]schen Stamm, größtenteils in Mischung mit den romanischenStämmen, hervorgegangen sind, die sich dann alle gleichermaßen auf dem Boden einund derselben Religion, unter dem Einfluß ganz derselben Gebräuche, ein und derselben Gesellschaftsordnungentwickelt und die schließlich alle gleichermaßen das reiche Erbe derklassischen alten Welt benützt haben – wenn, sagen wir, alle Völker Westeuropas eine einzigeFamilie darstellen und dennoch sich scharf voneinander unterscheiden, ist es dann so natürlich,daß das russische Volk, das auf anderem Boden und unter einem anderen Himmelentstanden ist und seine eigne, in nichts der Geschichte irgendeines westeuropäischen Volkesgleichende Geschichte gehabt hat –‚ daß das russische Volk, wenn es europäische Kleidungund Sitten übernimmt, seine nationale Ursprünglichkeit verlieren und, wie ein Wassertropfendem anderen, jedem der europäischen Völker ähneln könnte, von denen jedes sich vom anderensowohl nach seiner physischen wie nach seiner sittlichen Physiognomie unterscheidet? ...Das ist doch reiner Unsinn! Etwas Schlimmeres läßt sich nicht ausdenken! Die erste Ursachefür die Besonderheit eines Stammes oder eines Volkes liegt im Boden und im Klima des vonihm bewohnten Landes; und gibt es etwa auf der Erde so viele Länder, die einander in geolo-OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 137gischer und klimatischer Hinsicht gleich sind? Deshalb müßte man auch, damit der Andrangeuropäischer Sitten und Ideen die Russen ihres Nationalcharakters zu berauben imstande seinsollte, zuerst den ebenen, mit Steppen bedeckten Kontinent Rußlands in einen gebirgigenverwandeln; seinen unendlichen Raum (Sibirien ausgenommen) mindestens zehnmal kleinermachen. Und vieles andere müßte man außerdem tun, was sich nicht tun läßt und worüber inMußestunden herumzuphantasieren nur den Herren Manilow zu Gesicht steht. Weiter: ärmlichist der Volksgeist, der bei jeder Berührung mit einem anderen Volksgeist für seine Unabhängigkeitzittert! Unsre Patrioten von eignen Gnaden sehen in der Einfalt ihres Geistesund Herzens nicht, daß sie den russischen Nationalgeist kränken, wenn sie ständig um ihn inAngst leben. Aber wann begann das russische Heer von Sieg zu Sieg zu schreiten, wenn nichtdamals, als Peter der Große ihm europäische Kleidung gab und ihm eine dieser Kleidungentsprechende militärische Disziplin beibrachte? Es ist irgendwie natürlich, eine Mengeschlecht bewaffneter, noch schlechter disziplinierter, gelegentlich des Krieges eben erst vonHütte und Hakenpflug losgerissener Bauern in Unordnung von einem [232] Schlachtfeld fliehenzu sehen – ebenso wie es irgendwie natürlich ist, Regimenter von Soldaten selbst beieinem militärischen Mißerfolg, entweder mutig auf dem Schlachtfeld sterben oder in drohenderOrdnung den Rückzug antreten zu sehen. Einige der glühenden Slawenfreunde sagen:„Seht euch den Deutschen an – er ist überall Deutscher: sowohl in Rußland wie in Frankreichoder in Indien; der Franzose ist ebenso überall Franzose, wohin ihn das Schicksal auch verschlagenmag; aber der Russe ist in England – Engländer, in Frankreich – Franzose, inDeutschland – Deutscher.“ Darin steckt wirklich ein Stück Wahrheit, das sich nicht leugnenläßt, das die Russen jedoch nicht herabsetzt, sondern ihnen zur Ehre gereicht. Diese Fähigkeit,sich erfolgreich jedem Volk, jedem Lande anzupassen, ist durchaus nicht ausschließlicheine Eigenschaft der gebildeten Stände in Rußland, sondern eine Eigenschaft des ganzen russischenStammes, des ganzen nördlichen Russenlandes. Durch diese Eigenschaft unterscheidetsich der russische Mensch auch von allen anderen slawischen Stämmen, und ihr verdankter möglicherweise seine Überlegenheit über sie. Es ist bekannt, daß unsre russischen Soldatenvon Natur erstaunliche Philosophen und Politiker sind und sich nirgends über irgend etwaswundern, sondern alles sehr natürlich finden, so sehr auch dieses alles zu ihren Begriffen undihren Gewohnheiten in Gegensatz stehen mag. Um uns nicht zu sehr über diesen Gegenstandzu verbreiten, berufen wir uns der Kürze halber auf eine Bemerkung Lermontows über dieerstaunliche Fähigkeit des russischen Menschen, sich den Gebräuchen der Völker anzupassen,unter denen er zufällig lebt. „Ich weiß nicht“ (sagt der Autor von „Ein Held unsererZeit“), „ob diese geistige Eigenschaft Tadel oder Lob verdient, nur beweist sie seine unvergleichlicheGeschmeidigkeit und das Vorhandensein jenes klaren gesunden Verstandes, derdas Böse überall da verzeiht, wo er seine Notwendigkeit oder die Unmöglichkeit, es zu vernichten,sieht.“ Es handelt sich hier um den Kaukasus und nicht um Europa; aber der russischeMensch ist überall der gleiche. Der eckige Deutsche, der schwerfällig-eingebildete JohnBull – diese beiden können allein schon durch ihre Gebärden und Manieren nie und nirgendsihre Herkunft verbergen; und nächst dem Franzosen kann nur der Russe seinem Äußerennach einfach als Mensch erscheinen, ohne den Stempel seiner Nationalität auf seiner Stirnherumzutragen oder einen Paß. Aber hieraus folgt durchaus nicht, daß der Russe, der es versteht,[233] in England einem Engländer zu gleichen und in Frankreich einem Franzosen,auch nur für einen Augenblick aufhörte, Russe zu sein, oder auch nur für einen Augenblickernsthaft zum Engländer oder zum Franzosen werden könnte. Form und Inhalt sind nicht immerein und dasselbe. Eine gute Form kann man sich ruhig zu eigen machen, aber das eigneWesen aufzugeben, ist durchaus nicht so leicht, wie den altrussischen Bauernrock gegen denFrack zu vertauschen. Es gibt unter den Russen viele Gallomanen, Anglomanen, Germanomanenund verschiedene andere „manen“. Man betrachte sie: es sind aufs Haar – von welcherSeite man auch herangeht – Engländer, Franzosen, Deutsche und nichts weiter. Ist der MannOCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 137gischer und klimatischer Hinsicht gleich sind? Deshalb müßte man auch, damit der Andrangeuropäischer Sitten und Ideen die Russen ihres Nationalcharakters zu berauben imstande seinsollte, zuerst den ebenen, mit Steppen bedeckten Kontinent Rußlands in einen gebirgigenverwandeln; seinen unendlichen Raum (Sibirien ausgenommen) mindestens zehnmal kleinermachen. Und vieles andere müßte man außerdem tun, was sich nicht tun läßt und worüber inMußestunden herumzuphantasieren nur den Herren Manilow zu Gesicht steht. Weiter: ärmlichist der Volksgeist, der bei jeder Berührung mit einem anderen Volksgeist für seine Unabhängigkeitzittert! Unsre Patrioten von eignen Gnaden sehen in der Einfalt ihres Geistesund Herzens nicht, daß sie den russischen Nationalgeist kränken, wenn sie ständig um ihn inAngst leben. Aber wann begann das russische Heer von Sieg zu Sieg zu schreiten, wenn nichtdamals, als Peter der Große ihm europäische Kleidung gab und ihm eine dieser Kleidungentsprechende militärische Disziplin beibrachte? Es ist irgendwie natürlich, eine Mengeschlecht bewaffneter, noch schlechter disziplinierter, gelegentlich des Krieges eben erst vonHütte und Hakenpflug losgerissener Bauern in Unordnung von einem [232] Schlachtfeld fliehenzu sehen – ebenso wie es irgendwie natürlich ist, Regimenter von Soldaten selbst beieinem militärischen Mißerfolg, entweder mutig auf dem Schlachtfeld sterben oder in drohenderOrdnung den Rückzug antreten zu sehen. Einige der glühenden Slawenfreunde sagen:„Seht euch den Deutschen an – er ist überall Deutscher: sowohl in Rußland wie in Frankreichoder in Indien; der Franzose ist ebenso überall Franzose, wohin ihn das Schicksal auch verschlagenmag; aber der Russe ist in England – Engländer, in Frankreich – Franzose, inDeutschland – Deutscher.“ Darin steckt wirklich ein Stück Wahrheit, das sich nicht leugnenläßt, das die Russen jedoch nicht herabsetzt, sondern ihnen zur Ehre gereicht. Diese Fähigkeit,sich erfolgreich jedem Volk, jedem Lande anzupassen, ist durchaus nicht ausschließlicheine Eigenschaft der gebildeten Stände in Rußland, sondern eine Eigenschaft des ganzen russischenStammes, des ganzen nördlichen Russenlandes. Durch diese Eigenschaft unterscheidetsich der russische Mensch auch von allen anderen slawischen Stämmen, und ihr verdankter möglicherweise seine Überlegenheit über sie. Es ist bekannt, daß unsre russischen Soldatenvon Natur erstaunliche Philosophen und Politiker sind und sich nirgends über irgend etwaswundern, sondern alles sehr natürlich finden, so sehr auch dieses alles zu ihren Begriffen undihren Gewohnheiten in Gegensatz stehen mag. Um uns nicht zu sehr über diesen Gegenstandzu verbreiten, berufen wir uns der Kürze halber auf eine Bemerkung Lermontows über dieerstaunliche Fähigkeit des russischen Menschen, sich den Gebräuchen der Völker anzupassen,unter denen er zufällig lebt. „Ich weiß nicht“ (sagt der Autor von „Ein Held unsererZeit“), „ob diese geistige Eigenschaft Tadel oder Lob verdient, nur beweist sie seine unvergleichlicheGeschmeidigkeit und das Vorhandensein jenes klaren gesunden Verstandes, derdas Böse überall da verzeiht, wo er seine Notwendigkeit oder die Unmöglichkeit, es zu vernichten,sieht.“ Es handelt sich hier um den Kaukasus und nicht um Europa; aber der russischeMensch ist überall der gleiche. Der eckige Deutsche, der schwerfällig-eingebildete JohnBull – diese beiden können allein schon durch ihre Gebärden und Manieren nie und nirgendsihre Herkunft verbergen; und nächst dem Franzosen kann nur der Russe seinem Äußerennach einfach als Mensch erscheinen, ohne den Stempel seiner Nationalität auf seiner Stirnherumzutragen oder einen Paß. Aber hieraus folgt durchaus nicht, daß der Russe, der es versteht,[233] in England einem Engländer zu gleichen und in Frankreich einem Franzosen,auch nur für einen Augenblick aufhörte, Russe zu sein, oder auch nur für einen Augenblickernsthaft zum Engländer oder zum Franzosen werden könnte. Form und Inhalt sind nicht immerein und dasselbe. Eine gute Form kann man sich ruhig zu eigen machen, aber das eigneWesen aufzugeben, ist durchaus nicht so leicht, wie den altrussischen Bauernrock gegen denFrack zu vertauschen. Es gibt unter den Russen viele Gallomanen, Anglomanen, Germanomanenund verschiedene andere „manen“. Man betrachte sie: es sind aufs Haar – von welcherSeite man auch herangeht – Engländer, Franzosen, Deutsche und nichts weiter. Ist der MannOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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