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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 130lange dauernden, aber sehr hitzigen Streitereien gedruckt übereinander so viele bittere Wahrheitengesagt, daß sie in den Augen des Publikums ungewollt durchaus nicht so rein undselbstlos geworden sind, wie sie sich in ihren Werken hingestellt haben. Mit Recht sagt dasSprichwort: „Auch der Klügste macht Fehler“ – und das ist eine große Wohltat für die Literatur,denn andernfalls hätte sich der Einfluß der Geschäftemacher-Autoren auf das russischePublikum, mit dessen Vertrauensseligkeit zu spielen so einträglich ist, noch wer weiß wie langegehalten! Aber heute neigt sich dieser Einfluß, dank der eignen Unvorsichtigkeit der Geschäftemacher-Literatur,von selbst dem Untergang zu..Es gibt bei uns noch eine Literatur, die ihren Zielen nach weniger tadelnswert, aber im höchstenMaß kläglich ist – die Literatur, die die Dinge mit den Augen der guten alten Zeit betrachtet,anläßlich neuer Tatsachen alte Ideen predigt und mit einer Hartnäckigkeit, die um sobetrüblicher ist, als sie es nicht selten ehrlich meint, alles Neue und Gute mit dem Bannfluchbelegt. Ihre Vertreter sind die Literaturgreise, die der moralische Tod vor dem physischenereilt hat – aber nicht jene der Achtung und der Teilnahme würdigen„Sprößlinge einer andren Generation“,„Sprößlinge“, die großzügig den sich gesetzmäßig und unvermeid-[217]lich vollziehendenSieg der Zeit über sie anerkannt haben, stillfriedlich vom Kampfplatz abgetreten sind –„Und, wo lebendige Menschen gehn,Vor Häusern und an ScheidewegenWie Marmorgrabdenkmäler stehn“,ohne sich in fremde Angelegenheiten einzumischen und der neuen Generation Überzeugungenund Glaubensmeinungen aufzudrängen, die zu ihrer Zeit schön und gut waren und esauch für Leute ihrer Zeit, als lebendige Niederschläge des besten Lebensalters, gebliebensind, die jedoch die neue, vom Gesetz der ständigen Vervollkommnung unvermeidlich vorwärtsgetriebeneGeneration nicht mehr befriedigen können. Die Vertreter und Autoren derGreisen-Literatur sind jene beschränkten, unbeweglich stehengebliebenen Naturen, die überhauptunfähig sind, sich nur zu einem anständigen, großherzigen Bewußtsein aufzuschwingen,oder diejenigen unter den Autoren der Geschäftemacher-Literatur, die es aus irgendeinemGrunde nutzbringender gefunden haben, sich unter die Verteidiger der guten alten Zeiteinzureihen. Die Greisen-Literatur sieht in jeder nützlichen Neuerung, in jedem Schritt, dendie moderne Wissenschaft vorwärts tut, eine persönliche Beleidigung, ein Ereignis, das das„Vaterländische Schrifttum“ mit völliger Vernichtung bedroht. Jeder direkt oder indirekt ausgesprochenekühne Gedanke, jede neue Meinung, die ihren engen Begriffchen widerspricht,findet bei der Greisen-Literatur heftigen Widerstand und nicht selten bösartige Auslegung.Jemandem zu sagen, Gott behüte, daß man sich nach Shukowski, Puschkin, Lermontow inder heutigen Zeit nicht mehr unbedingt an den Gedichten Dershawins begeistern könne, daßKaramsin der russischen Sprache, der russischen Geschichte, der russischen Gesellschaftzwar große Dienste geleistet habe, die ihm einen Ehrenplatz in der Geschichte der russischenLiteratur einräumen, daß er jedoch nicht zu der Zahl jener erstklassigen Genies gehöre, derenWerke man immer mit der gleichen Begierde, mit dem gleichen Genuß lesen wird. BehüteGott! ... Die Greisen-Literatur wird Zetermordio schreien; sie wird aus eurer Meinung einVerbrechen machen, das sie in vorsintflutlichen Versen oder in Amtsstilprosa nach Punktendarlegen und in Satz geben wird, in der Hoffnung... aber glücklicherweise gehen derartigeHoffnungen nicht in Erfüllung! ... Übrigens ist hier noch nicht einmal der zehnte Teil [218]der Beschäftigungen aufgezählt, denen die Greisen-Literatur ihre goldnen Mußestundenwidmet; ihre Beschäftigungen sind reichlich vielseitig: ein Teil von ihr schläft den Reckenschlafauf Bergen alten, unnützen Gerümpels, bemüht, sich und anderen einzureden, er beschäftigesich mit der Aufarbeitung von irgendwelchen Materialien; von Zeit zu Zeit wacht erOCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013
W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 131auf, bringt dem Publikum zur Kenntnis, daß er noch nicht alles habe sagen können, „was erzu sagen habe“, und schläft wieder ein; ein anderer, tätigerer Teil schreibt ganze Bücher zurVerteidigung des sogenannten patriarchalischen Lebens, das nach der Meinung der Greisen-Literatur darin besteht, unbedingt nach dem Essen zu schlafen, jeden Samstag ins Dampfbadzu gehen und sich in der Vorfastenzeit vollzufressen; ein dritter Teil, der wildeste und unbändigste,verkündet außer den der gesamten Greisen-Literatur gemeinsamen Ideen von derFäulnis und Verdorbenheit des Westens, daß die russische Literatur nicht nur nicht hinteranderen Literaturen zurückgeblieben, sondern sogar über die Grenze möglicher Vollkommenheithinaus vorwärtsgeschritten sei, so daß es ihr ganz guttun würde, wieder ein bißchenzurückzugehen – einmal in der Bauernsprache zu reden, Puschkin für einen talentlosenSchriftsteller, irgendeinen Verfasser einer Bilderfibel dagegen für den ersten Romancier, Philosophenund Poeten zu halten. ... Mit Schrecken denkt man daran, daß es in unserer ZeitKöpfe gibt, die auf diese Art räsonieren, aber daran, daß es sie gibt, ist – leider! – gar keinZweifel: die Tatsache ist zu frisch und zu bekannt für jeden, der einen Blick in die russischenZeitschriften und Bücher wirft! ... Überhaupt tut sich die Greisen-Literatur durch die Wildheitihrer Urteile und die Unfruchtbarkeit ihrer mit dem Geist und den Forderungen des Jahrhundertsunvereinbaren Tätigkeit hervor, einer Tätigkeit, um die sie niemand gebeten hat. Siestört nur die richtige Entwicklung der Literatur, die Vorwärtsbewegung, die niemand in dergegenwärtigen Periode der russischen Literatur leugnen kann. Zu einer Zeit, wo Menschenmit Überzeugungen und Glaubensmeinungen, die dem gegenwärtigen Stand der Bildung entsprechen,sich im Schweiße ihres Angesichts für die Zukunft abmühen – sehen die Altgläubigenin der Literatur immer noch nichts mehr als ein Mittel zur Verkürzung der Langenweilelanger Herbstabende und versuchen infolge dieser Auffassung, uns in aller Unschuld für niedagewesene Abenteuer nie dagewesener Helden zu erwärmen.Am betrüblichsten von allem ist es, zu sehen, daß nicht nur die [219] literarischen Altgläubigen,die den sich gesetzmäßig und unvermeidlich vollziehenden Sieg der Zeit nicht anerkennen,die Literatur mit diesen Augen betrachten. Ein großer Teil der Schriftsteller, die erstganz vor kurzem in der literarischen Arena erschienen und als mehr oder weniger begabt anerkanntworden sind, versteht bis jetzt noch nicht und bemüht sich nicht, zu verstehen, welchePflichten heutzutage mit dem Titel eines echten Schriftstellers verbunden sind; statt nachbesten Kräften und Möglichkeiten bei der gemeinsamen Arbeit mitzuhelfen, drischt er leeresStroh, besingt den Mond, die Maid, den Champagner und erzählt dabei mit gutmütigerSelbstzufriedenheit ohne die geringste Ironie manchmal recht unterhaltende, doch jeder Ideebare erfundene Geschichten.Schließlich gibt es bei uns noch eine Literatur, eine eben erst im Entstehen begriffene Literatur,die kaum ein Dutzend echter Vertreter aufweisen kann, aber fruchtbarer und lebendigerist als alle übrigen, von denen oben die Rede war. Mit großherziger Selbstlosigkeit, um edler,von eigennützigen Berechnungen weit entfernter Ziele willen, begeistert von den hohen Prinzipiendes großen Umgestalters Rußlands, hat sie den dornigen, schwierigen Weg gewählt,der zu der ewigen, heiligen Wahrheit, zu der Verwirklichung des Ideals auf Erden führt – undsie schreitet langsam, jedoch fest und selbständig auf diesem ihrem Wege dahin und bringtdie öffentliche Bildung ungeahnt vorwärts ... Antwort gebend auf die Stimme der allgemeinenund der echten russischen Wissenschaft, mit edler Sympathie für alles Erhabene, nimmtsie sich die wichtigsten Fragen des Lebens vor, zerstört die eingewurzelten Vorurteile desLebens und erhebt voller Empörung ihre Stimme gegen die betrüblichen Erscheinungen inden modernen Sitten; so zieht sie in der ganzen abscheulichen Nacktheit der Wirklichkeitalles an die Oberfläche, „was uns jeden Augenblick vor den Augen liegt und was die gleichgültigenAugen nicht sehen, den ganzen furchtbaren, erschreckenden Schlamm der Kleinigkeiten,die unser Leben eingesponnen haben, das tiefste Innere der kalten, zerstückelten All-OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013
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