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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 13[22] Nach dem unwandelbaren Gesetz der Vorsehung hat jedes Volk durch sein Leben irgendeineSeite des Lebens der gesamten Menschheit auszudrücken; andernfalls lebt dieses Volk nicht,sondern vegetiert nur, und seine Existenz ist zu nichts nütze. Einseitigkeit ist für jeden Menschenschädlich, insbesondere aber für die Menschheit im ganzen. Als die ganze Welt sich in Rom verwandelte,als alle Völker römisch zu denken und zu fühlen begannen, riß die Fortentwicklung desMenschengeistes ab, weil dieser kein Ziel mehr vor sich sah, weil es ihm schien, als habe erschon die Herkulessäulen seiner Laufbahn erreicht. Der müde Weltbeherrscher ruhte auf seinenLorbeeren aus; sein Leben war am Ende, weil seine Tätigkeit am Ende war und weil selbst seinDrang nach Betätigung nur noch in wüsten Orgien Ausdruck fand. Er beging einen furchtbarenFehler, wenn er glaubte, es gäbe außerhalb von Rom, dem die Schätze der griechischen Bildungals Eroberung zugefallen waren, keine Welt, kein Licht, keine Bildung! Ein unseliger Irrtum! Erwar einer der Hauptgründe für den moralischen Tod dieses gewaltigen Kolosses. Damit dieMenschheit sich erneuere, mußte in dieses Chaos von Tod und Verwesung hinein das gnadenspendendeWort des Menschensohns ertönen: „Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladenseid, ich will euch erquicken!“, mußten Barbarenhorden dieses kolossale Machtgebilde zerstören,es mit ihrem Schwert in eine Vielzahl von Machtgebieten aufspalten, den neuen Glauben annehmenund getrennt, auf eigenen, besonderen Wegen, demselben Ziel zustreben.Ja, nur auf verschiedenen Wegen kann die Menschheit ihr gemeinsames großes Ziel erreichen;nur indem es sein eigenes Leben führt, kann jedes Volk seinen Teil zum allgemeinenReichtum beitragen. Worin besteht nun diese Eigenart eines jeden Volkes? In der besonderen,nur ihm eigenen Denkweise und Auffassung der Dinge, in der Religion, der Sprache und vorallem in den Gebräuchen. Alle diese Umstände sind sehr wichtig, sind eng miteinander verbundenund bedingen einander, und sie alle entspringen einer gemeinsamen Quelle – demGrund aller Gründe –‚ dem Klima und dem geographischen Milieu. Unter diesen Unterscheidungsmerkmaleneines jeden Volkes stehen die Gebräuche wohl an erster Stelle und bildenwohl ihr charakteristischstes Merkmal. Man kann sich unmöglich ein Volk ohne religiöseVorstellungen in den Formen eines Gottesdienstes denken; man kann sich unmöglich einVolk ohne eine allen Ständen gemeinsame Sprache denken; aber noch weniger läßt sich [23]ein Volk denken, das nicht seine besonderen, nur ihm eigenen Gebräuche besäße. Diese Gebräuchebestehen in der Tracht, deren Prototyp vom Landesklima bestimmt ist; in den Formendes häuslichen und des öffentlichen Lebens, deren Gründe in den Glaubensvorstellungen,den Traditionen und den Begriffen des Volkes zu suchen sind; in den Formen, die denVerkehr der individuell geprägten Staaten miteinander bestimmen und deren Nuancen sichaus den zivilen Rechtsnormen und den Standesunterschieden herleiten. Alle diese Gebräuchewerden durch die Zeit gefestigt, durch die Tradition geheiligt und gehen als Erbe der Ahnenvon Geschlecht auf Geschlecht, von Generation auf Generation über. Sie bilden die Physiognomieeines Volkes, und ohne sie ist das Volk ein Gebilde ohne eigenes Gesicht, ein irrealesund unmögliches Phantasiegebilde. Je kindlicher ein Volk ist, um so ausgeprägter und buntfarbigersind seine Gebräuche und um so größere Bedeutung mißt es ihnen bei; Zeit und Aufklärungwirken nivellierend auf sie ein; aber sie können sich nur leise, unmerklich und dabeieiner nach dem anderen wandeln. Das Volk selbst muß aus freiem Willen auf einige seinerGebräuche verzichten und neue annehmen; aber auch dabei geht es nicht ohne Kampf ab,ohne Schlachten auf Leben und Tod, ohne Altgläubige und Sektierer, Klassiker und Romantiker.Das Volk hängt verehrend an seinen Gebräuchen, als an seinem heiligsten Besitz, undsieht in jedem Versuch einer plötzlichen, tiefeingreifenden und von ihm nicht sanktioniertenReform einen Anschlag auf sein Dasein. Man sehe sich China an: die Volksmasse hängt dortverschiedenen Religionen an; der oberste Stand, die Mandarine, glaubt an gar nichts und befolgtdie religiösen Riten nur anstandshalber; und doch, welch eine Einheit und Gemeinsamkeitin den so selbständigen, besonderen und charakteristischen Gebräuchen! Und wie hartnäckigsie daran festhält! Ja, die Gebräuche sind etwas Heiliges, Unantastbares, sind keinerOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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