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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 121Das Wort „unmittelbar“ und das von ihm abgeleitete Wort „Unmittelbarkeit“ sind der deutschenSprache entnommen und gehören der neuesten Philosophie an. Sie bedeuten sowohlein Sein wie ein Tun, das direkt aus sich hervorgeht, ohne jede Vermittlung. Er-[201]klärenwir dies durch ein Beispiel. Wenn man einen Menschen nach seiner Denkweise, seiner Lebensweiseund dem Charakter seiner Handlungen kennt und ihn um ihretwillen liebt und achtet,kennt man ihn nicht unmittelbar, weil er sich dem Verständnis nicht unmittelbar, sondernvermittelst seiner Denk-, Lebens- und Handlungsweise aufgeschlossen hat. Als solchen kannman ihn auch dem Verständnis eines anderen Menschen zugänglich machen, der ihn nie gesehenhat, und dieser andere kann ihn auf Grund solcher Worte ebenso achten, ebenso liebenlernen. Das ist aber noch nicht der ganze Mensch, sondern nur der Schatten, den er wirft,nicht der Mensch selbst, sondern seine Beschreibung. Wenn man von einem anderen denBericht über einen solchen Menschen hört, so füllt sich einem der Verstand mit einer mehroder weniger klaren Vorstellung von verschiedenen guten oder schlechten Eigenschaften,aber die Einbildung bleibt leer – ihr Spiegel wirft keinerlei lebendiges Bild zurück, das fürsich selbst sprechen oder bestätigen würde, was von dem Menschen gesagt wird. Was bedeutetdas? – Es bedeutet, daß ebenso wie die Beschreibung der Merkmale eines Menschen keineklare Vorstellung von seinem Äußeren gibt, so auch die Schilderung, die Abstraktion seinerguten und seiner schlechten Eigenschaften, so hervorragend sie auch sein mögen, keine lebendigeAnschauung von der Persönlichkeit eines Menschen gibt; dazu ist nötig, daß er selbstfür sich spricht, unabhängig von allen guten und schlechten Eigenschaften. Es gibt Personen,die, sowohl gut als auch schlecht, in unserm Gedächtnis keinerlei deutliche Spur hinterlassenund schnell aus ihm verschwinden. Es gibt dagegen andere, die, obwohl sie dem Anscheinnach nichts Besonderes, nichts ausgeprägt Gutes oder ausgeprägt Schlechtes an sich haben,vom ersten Blick an für immer in unserer Einbildung bleiben. Das ist besonders frappierendin bezug auf Frauengesichter: oft muß eine blendende Schönheit in unsrer Betrachtung demallerbescheidensten, dem scheinbar allergewöhnlichsten Gesicht Platz machen. Die Ursachefür eine solche Verschiedenheit des Eindrucks, den diese oder jene Persönlichkeit hinterläßt,liegt zweifellos in dieser Persönlichkeit selbst, nichtsdestoweniger ist diese Ursache jedoch,wie jedes Geheiminis, nicht mit Worten auszudrücken. Da haben wir einen Menschen: freiund gewandt redet er über alles, bringt geschickt und kunstvoll seine hohen Eigenschaften zurGeltung: nach seinen Worten zu urteilen, lebt er einzig dem Erhabenen und Schönen und ist[202] bereit, sein Leben für die Wahrheit herzugeben; man hört ihm zu, findet viel Verstandan ihm, spricht ihm sogar Gefühl nicht ab; die Meinung, die er von sich selbst hat, erscheinteinem richtig – und gleichzeitig bleibt man ihm gegenüber kühl, er erregt nicht das geringstelebendige Interesse. Was hat das zu bedeuten? – natürlich so viel, daß man unbewußt irgendeinenWiderspruch zwischen seinen Worten und ihm selbst spürt. Verstandesmäßig billigtman seine Worte, nimmt sie als gegeben, um ihn zu beurteilen, aber der unmittelbare Eindruck,den er auf einen ausübt, erweckt Mißtrauen in seine Worte und wirkt abstoßend. Aberda haben wir einen anderen Menschen: er ist so völlig unprätentiös, so einfach, so alltäglich;er redet über das, worüber alle reden – über das Wetter, über Pferde, Champagner, Austern –‚aber dabei gewinnt man, wenn man ihn das erste Mal sieht, wie nach einer Art Laune desGefühls, dem verstandesmäßigen Urteil zuwider, den Eindruck, daß dieser Mensch nicht dasist, als was er erscheint, daß er Zutritt zu den höchsten idealen Bereichen und den tiefstenGeheimnissen des Seins hat – und er erobert kühn und ohne Umschweife, wie sein Eigentum,unsre Liebe und unsre Achtung, bevor wir Zeit haben, es zu merken. Der Grund ist hier wiederder gleiche – die Kraft und die Macht des unmittelbaren Eindrucks, den dieser Menschauf einen ausübt. Alles, was in seiner Natur verborgen liegt – das alles äußert sich direkt inseinen Bewegungen, seinen Gesten, seiner Stimme, seinem Gesicht, dem Spiel der Physiognomie,mit einem Wort – in seiner Unmittelbarkeit. Genau so erregt manchmal der ganzeüppige Reichtum von Bildung, geistiger, ästhetischer und weltmännischer Klugheit, selbst beiOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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