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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 111achte, und die mich vielleicht noch mehr lieben und achten, aber ich bin allein, weil Du nichtbei mir bist... 7 Selbst wenn ich unter der Leere des Lebens leide oder apathisch herumliegeoder gehe, brauche ich nur durchs Fenster den Briefträger zu sehen – und mein Herz fängtheftig an zu schlagen – ich fliege –‚ und wenn Du wüßtest, was für eine tiefe Enttäuschung esist, wenn er entweder nichts für mich oder nichts von Dir hat! ... Heute hat mir Kirjuscha 8 , alswir allein geblieben waren, mit solch einem sonderbaren Ausdruck Dein Porträt überreicht –ich strahlte, lebte auf und – doch genug: Kirjuscha begann über Deinen unbegründeten Verdachtzu scherzen; und Du, o Moskauseele, und Du konntest glauben, ich würde Dein Porträtvielleicht nicht brauchen! ... Aber ich bin Dir nicht böse: im Gegenteil, ich gestehe die Sünde(oh, die Menschen sind Krokodilsgeschöpfe!), es [185] ist mir angenehm, daß Du... aber ichschäme mich, den Satz zu beenden – ich fürchte, zärtlich zu werden... Wie viele Briefe hab’ich Dir nicht schon geschrieben – im Kopfe, und wenn ich sie Dir schicken könnte, ohne dieFeder in die Hand zu nehmen, von der mir die Hand schmerzt, wenn ich es verstände, kurz zuschreiben – Du hättest in Nishni mehr als einen glühenden Brief von mir bekommen. DeinPorträt ist gelungen – wie Du leibst und lebst – Deine ganze Seele, Deine Augen und die traurig-liebevollzusammengepreßten Lippen – ich hätte sie ums Leben gern geküßt, aber ich binzu scheu (oder zu scheu geworden) für allzu lebhafte Gefühlsausbrüche und genierte michirgendwie in Gegenwart Kirjuschas.Sozialgeist, Sozialgeist – oder der Tod! Das ist meine Devise. Was habe ich davon, daß dasAllgemeine lebt, wenn die Person leidet? Was habe ich davon, daß das irdische Genie imHimmel lebt, wenn die Menge sich im Dreck wälzt? Was habe ich davon, daß ich die Ideeverstehe, daß mir die Welt der Ideen in der Kunst, in der Religion, in der Geschichte offensteht,wenn ich dies mit niemandem von denen teilen kann, die meine Brüder in derMenschlichkeit, meine Nächsten in Christo sein sollten, die mir aber wegen ihrer Ignoranzfremd und feind sind? Was habe ich davon, daß es für die Auserwählten Seligkeit gibt, wenndie Mehrheit nicht einmal eine Ahnung von deren Möglichkeit hat? Fort mit der Seligkeit,wenn sie nur mir als einem von Tausenden zuteil wird. Ich will nichts von ihr wissen, wennich sie nicht mit meinen geringeren Brüdern gemein habe! Mein Herz blutet und krampft sichzusammen beim Anblick der Menge und ihrer Vertreter. Trauer, schwere Trauer überfälltmich, wenn ich die barfüßigen Jungen sehe, die auf der Straße Knöchel spielen, oder einenabgerissenen Bettler oder einen betrunkenen Kutscher oder einen Soldaten, der vom Wachtdienstzurückkehrt, oder einen Beamten, der mit der Aktentasche unterm Arm angelaufenkommt, oder einen selbstzufriedenen Offizier oder einen hochmütigen Würdenträger. Wennich einem Soldaten einen Groschen gegeben habe, kommt mich fast das Weinen an, wenn icheiner Bettlerin einen Groschen gegeben habe, laufe ich von ihr weg, als hätte ich etwasSchlechtes getan und als wollte ich das Schlurfen meiner eigenen Schritte nicht hören. Auchdas ist Leben: in Lumpen auf der Straße sitzen mit idiotischem Gesichtsausdruck, tagsüber einpaar Groschen einheimsen und sie abends in der Kneipe vertrinken – und die Leute sehen das,und niemand macht sich etwas [186] draus! Ich weiß nicht, was mit mir ist, aber manchmalempfinde ich ein verzehrendes Würgen, wenn ich ein paar Augenblicke lang ein Straßenmädchenbetrachte, und ihr sinnloses Lächeln, der Stempel des Lasters in seiner ganzen Unmittelbarkeit,zerreißt mir das Herz, besonders wenn das Mädchen hübsch ist. Neben mir wohnt einziemlich wohlhabender Beamter, der so vereuropäisiert ist, daß er seiner Frau, wenn sie sichins Dampfbad begibt, eine Droschke besorgt; neulich habe ich erfahren, daß er ihr die Zähneund den Mund eingeschlagen, sie an den Haaren über die Diele geschleift und bis aufs Blutgeprügelt hat, weil sie ihm zum Kaffee keine gute Sahne hingestellt hatte; sie aber hat ihm7 Es handelt sich hier um die Freunde Belinskis, die ständig in Petersburg lebten und seinen Zirkel bildeten. Dieführende Rolle in ihm spielte Belinski.8 Kirjuscha – Kirill Antonowitsch Gorbunow, ein Porträtmaler, der später das bekannte Porträt Belinskis malte.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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