13.07.2015 Aufrufe

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 11Natur erforschen, sich hebend in sie einfühlen; mehr als jeder andere muß er reinen, jungfräulichenHerzens sein; dies Heiligtum darf man nur mit bloßen Füßen und reinen Händen, mit demGeist eines Mannes und dem Herzen eines Kindes betreten, denn nur ihrer ist das Himmelreich,denn nur in der Harmonie von Geist und Gefühl liegt die höchste Vollendung des Menschen!... Je stärker das Genie eines Dichters, desto tiefer und breiter umfaßt er die Natur unddesto erfolgreicher wird er sie uns in ihrer höchsten Verbundenheit und [19] Lebendigkeit darstellen.Wenn Byron Leid und Grauen malte, wenn er nur Herzensqualen und die Hölle derSeelenpein sah und gestaltete, so bedeutet das, daß ihm das Sein des Universums nur von einerSeite zugänglich war, daß er nur eines seiner Blätter herausgerissen und uns gezeigt hat. Schillertat uns die Geheimnisse des Himmels auf, er zeigte uns nur das Schöne im Leben, wie erselbst es verstand, er sang uns nur seine eigenen, tiefinnersten Gedanken und Träume: das Böseim Leben erscheint bei ihm entweder unrichtig oder durch Übertreibung verzerrt; in dieser Hinsichtsteht Schiller auf einer Ebene mit Byron. Shakespeare dagegen, der große, göttliche, unerreichteShakespeare, kannte gleichermaßen Hölle, Himmel und Erde: als König der Natur verlangteer dem Guten wie dem Bösen den gleichen Tribut ab und erkannte mit ahnungsvollemScharfblick den Pulsschlag des Alls! Jedes seiner Dramen ist eine Welt in Miniatur: er hat keineLieblingsideen und Lieblingshelden wie Schiller. Man sehe nur, wie unbarmherzig er diesenarmen Hamlet verlacht, diesen Mann mit dem Gedankenflug eines Riesen und dem kindlichschwachenWillen, ihn, der bei jedem Schritt unter der Last des großen, seine Kraft übersteigendenVorhabens zusammenbricht. Fragt Shakespeare, fragt diesen größten aller Zauberer:warum hat er seinen Lear zu einem hinfälligen, halbirren Greis gemacht statt zum Ideal eineszärtlichen Vaters, wie Ducis oder Gneditsch es getan hätten; warum gab er in Macbeth einenBösewicht aus Charakterschwäche und nicht aus innerem Hang zum Bösen und in LadyMacbeth einen Bösewicht aus Temperament; warum zeigte er Cordelia als liebende, sorgendeTochter mit dem weichen Frauenherzen und lud alle Furien des Neides, des Ehrgeizes und desUndanks auf ihre Schwestern? Er würde euch antworten: so ist es eben auf Erden, anders kannes nicht sein! Ja, diese Unparteilichkeit, diese Kälte des Dichters, der gewissermaßen sagt: sowar es, aber im übrigen, was geht es mich an!, ist der Gipfel der künstlerischen Vollendung, istwahres Schöpfertum, ist das glückliche Los weniger Auserlesener, von denen es heißt:„Sein Herz schlug im Takte der Mutter Natur,Das Murmeln des Baches verstand er,Er spürte das Keimen der grünen Flur,Die Sprache der Baumwipfel kannt’ er.Er las in der Sterne beredter Ruh’,Ihm sangen die Wellen des Meeres zu.“ 14[20] In der Tat – kann man die eine oder die andere Erscheinung schön, jene aber häßlich im absolutenSinne nennen? ... Hat denn nicht ein und derselbe Geist Gottes das fromme Lamm undden reißenden Tiger, das stattliche Roß und den häßlichen Walfisch, das schöne Tscherkessenweibund den ungeschlachten Neger geschaffen? Liebt etwa Gott die Taube mehr als den Sperber,die Nachtigall mehr als den Frosch, die Gazelle mehr als die Riesenschlange? Warum sollteeuch da der Dichter nur das Schöne, das Herz und Sinn Ergreifende darstellen? Wenn ein „Hannder Isländer“ in der Natur vorkommen kann, dann verstehe ich wirklich nicht, warum er schlechtersein sollte als ein Karl Moor oder sogar als ein Marquis Posa. Ich liebe Karl Moor als Menschen,ich verehre Marquis Posa als Helden und hasse Hann den Isländer als ein Ungeheuer – alsGeschöpfe der Phantasie jedoch, als Teilerscheinungen des allgemeinen Lebens sind sie für michgleicherweise schön. Wenn ein Dichter euch, wie ein Kapitän Sue 15 das tut, nur das Grausige, nurdas Böse in der Natur zeigt, dann beweist das, daß sein geistiger Horizont beengt, sein schöpferi-14 Aus dem Gedicht „Auf Goethes Tod“ von Baratynski.15 Gemeint ist der französische Schriftsteller Eugène Sue, der Verfasser der „Geheimnisse von Paris“ und des„Ewigen Juden“. Er war übrigens nicht, wie Belinski meint, Kapitän, sondern Schiffsarzt.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!