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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 109doch nur dann, wenn der Mensch Franzose, Deutscher, Engländer, Russe ist. Aber sind wirRussen? ... Nein, die Gesellschaft betrachtet uns als krankhafte Auswüchse an ihrem Körper;und wir betrachten die Gesellschaft als einen Haufen stinkenden Mists. Die Gesellschaft hatrecht, wir noch mehr. Die Gesellschaft lebt von einer bestimmten Summe bestimmter Überzeugungen,in denen all ihre Mitglieder wie die Sonnenstrahlen im Brennpunkt der Lupe ineins verschmelzen und einander, ohne ein Wort zu sagen, verstehen. Deshalb können inFrankreich, England, Deutschland Leute, die einander nie gesehen haben, die einander fremdsind, ihre Verwandtschaft erkennen, sich in die Arme fallen und weinen – die einen auf offenemPlatz im Augenblick des Aufstands gegen den Despotismus für die Rechte der Menschheit,die anderen, [182] sagen wir, in den Fragen des täglichen Brots, wieder andere bei derEnthüllung eines Schillerdenkmals. Ohne Ziel gibt es keine Tätigkeit, ohne Interessen keinZiel und ohne Tätigkeit kein Leben. Die Quelle der Interessen, der Ziele und der Tätigkeit istdie Substanz des gesellschaftlichen Lebens. Ist das klar, logisch, richtig? Wir sind Menschenohne Vaterland – nein, schlimmer als ohne Vaterland: wir sind Menschen, deren Vaterlandein Trugbild ist – was Wunder, daß wir selber Trugbilder sind, daß unsre Freundschaft, unsreLiebe, unsre Bestrebungen, unsre Tätigkeit gespenstischen Charakter haben. Botkin, Du hastgeliebt – und es ist nichts dabei herausgekommen. 2 Das ist auch die Geschichte meiner Liebe.3 Stankewitsch stand seiner Natur nach über uns beiden – und es ist dieselbe Geschichte. 4Nein, es ist uns nicht gegeben, zu lieben, nicht gegeben, Gatten und Familienväter zu sein. Esgibt Menschen, deren Leben in keinerlei Form seinen Ausdruck finden kann, weil ihm jederInhalt fehlt: wir dagegen sind Menschen, für deren allumfassenden Lebensinhalt weder dieGesellschaft noch die Zeit fertige Formen gibt. Ich bin auch außerhalb unsres engeren Kreisesprächtigen Leuten begegnet, Leuten mit einem größeren Wirklichkeitssinn, als wir ihn besitzen;nirgends jedoch habe ich Menschen mit solch unstillbarem Durst, mit solchen riesigenAnsprüchen an das Leben, mit einer solchen Fähigkeit zur Selbstentsagung zugunsten derIdee angetroffen, wie wir es sind. Deswegen fliegt uns alles an, deswegen ändert sich alles,was um uns ist. Form ohne Inhalt ist Trivialität, oft ganz nett anmutende. Inhalt ohne Form isteine Mißbildung, die häufig durch tragische Größe erschüttert, wie die Mythologie der altgermanischenWelt. Aber diese Mißbildung – so erhaben sie auch sein mag –‚ sie ist Inhaltohne Form und folglich nicht Wirklichkeit, sondern ein Phantom. Ich wende mich jetzt unsernFreundschaftsbeziehungen zu. Erinnerst Du Dich: es kam vor, daß ich Dir zusetzte undDich langweilte mit Redereien über meine Liebe – und diese Liebe war doch kein Scherz undkeine Einbildung (denn auch heute noch krampft sich mein Herz bei der bloßen Erinnerungan sie zusammen), sie hatte viel Schönes und Menschliches: aber soll ich mir oder Dir einenVorwurf daraus machen, daß Dir manchmal beinahe übel dabei wurde, immer ein und dasselbezu hören? Ich will nicht sagen, daß ich Deine langen und breiten Erzählungen gelangweiltangehört habe, aber ich will gestehen, daß ich ihnen manchmal ohne Teilnahme zuhörte:dabei achtete ich jedoch Dein Gefühl. Woher kam das? Siehst Du, was [183] hier los ist,meine Seele: wir begriffen unmittelbar, daß das Leben für uns kein Leben war, aber da wir,unseren Naturen nach, ohne Leben nicht leben konnten, so stürzten wir uns kopfüber in dieBücher und begannen nach Büchern zu leben und zu lieben, machten uns aus Leben und Lie-2 W. P. Botkin hatte eine Neigung für Alexandra Alexandrowna, die Schwester M. A. Bakunins, der er einenAntrag machte. Alexandra Alexandrowna nahm den Antrag an. Ihr Bruder und ihr Vater jedoch waren gegen dieEhe, und diese kam nicht zustande.3 Belinski meint hier seine Neigung für Alexandra Alexandrowna Bakunina, in die sich später Botkin verliebte.4 N. W. Stankewitsch verliebte sich in Ljubow Alexandrowna Bakunina und verlobte sich mit ihr, überzeugtesich jedoch bald, daß er keine echte Neigung für sie empfand. Da er sich nicht entschließen konnte, dies seinerBraut einzugestehen, fuhr er, eine Krankheit vorschützend, ins Ausland. Den wahren Grund für seine Abreisekannte bald die ganze Familie Bakunin, mit Ausnahme Ljubow Alexandrownas. Diese starb am 6. August 1838,ohne bis zum letzten Augenblick daran zu zweifeln, daß N. W. Stankewitsch sie liebte.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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