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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 104An W. P. Botkin. 27./28. Juni (9./10. Juli) 1841(Bruchstück)St. Petersburg, 27. Juni (9./10. Juli) 1841 1Lange schon, mein liebster Wassili, hab’ ich Dir nicht geschrieben und keine Briefe von Dirbekommen. Wir verstehen einander auf 700 Werst wie auf zwei Schritt Entfernung und beklagenuns deshalb nicht über Schweigen. Ich entsinne mich, wie Du mir irgendwann einmal geschriebenhast, unsre Freundschaft gebe uns das, was die Gesellschaft uns niemals gebenkönnte: ein zutiefst unrichtiger Gedanke, eine schreiende Lüge! Leider gibt es, mein Freund,ohne Gesellschaft weder Freundschaft noch Liebe oder geistige Interessen, [175] sondern nurStreben zu allem dem hin, ruckartiges, kraftloses, ergebnisloses, krankhaftes, unwirksamesStreben. Unser ganzes Leben, unsre Beziehungen bilden den besten Beweis für diese bittreWahrheit. Die Gesellschaft lebt von einer bestimmten Summe bestimmter Prinzipien, die derBoden, die Luft, die Nahrung, der Reichtum jedes ihrer Mitglieder sind, die allein das konkreteWissen und das konkrete Leben eines jeden ihrer Mitglieder ausmachen. Die Menschheit istein abstrakter Boden für die Entwicklung der Seele des Individuums, und wir alle sind ausdiesem abstrakten Boden hervorgegangen, wir, die unglücklichen Anacharsisse des neuenSkythien. 2 Deshalb halten wir Maulaffen feil, hasten wir überall herum, sind immer geschäftig,interessieren uns für alles, ohne uns an irgend etwas zu heften, verschlingen alles, ohnesatt zu werden. Ein schmuddliger, aber leider treffender Vergleich: die geistige Nahrung, diewir wahllos verschlingen, wird uns nicht zu Fleisch und Blut, sondern zum reinen, unvermischtenExkrementum. Wir lieben einander, lieben glühend und tief – davon bin ich mit derganzen Kraft meiner Seele überzeugt; aber wie äußerte und äußert sich unsre Freundschaft?Wir gerieten übereinander in Begeisterung und Ekstase – wir haßten einander, wir bewunderteneinander, wir verachteten einander – wir verrieten einander, wir betrachteten voller Haßund schäumender Wut jeden, der irgendeinem der Unsern nicht die nötige Gerechtigkeit widerfahrenließ – wir schmähten im geheimen und lästerten einander in aller Öffentlichkeit undvor anderen, wir verzankten und versöhnten, wir versöhnten und verzankten uns; währendZeiten langer Trennung schluchzten und beteten wir bei dem bloßen Gedanken an ein Wiedersehen,zerschmolzen und vergingen vor Liebe füreinander, aber Begegnung und Wiedersehenverliefen kühl, wir empfanden die Anwesenheit des anderen als Last und trennten uns ohneBedauern. Sag, was Du willst, aber so ist es. Wir müssen endlich aufhören, uns selbst zu betrügen,müssen endlich der Wirklichkeit grade und in beide Augen blicken, ohne zu blinzelnund uns zu verstellen. Ich fühle, daß ich recht habe, denn in diesem Bilde unsrer Freundschafthabe ich auch ihre echte, schöne Seite nicht im dunkeln gelassen. 3 Sieh Dir jetzt unsre Liebean: was ist sie? Für jedermann ist sie Freude, Seligkeit, üppige Blüte des Lebens: für uns istsie Mühe, Arbeit, schweres Leid. Überall reiche, überreiche Phantasie, aber in allem eine dürftige,armselige Wirklichkeit. Unsre gelahrten Professoren sind Pedanten, [176] Fäulnisstoffder Gesellschaft; der halbgebildete Kaufmann Polewoi bringt die Gesellschaft in Bewegung,macht Epoche in ihrer Literatur und ihrem Leben, um sich dann plötzlich mir nichts, dir nichts1 Der Brief Belinskis an W. P. Botkin vom 27./28. Juni (9./10. Juli) 1841 wurde vollständig zum erstenmal imJahre 1914 abgedruckt.2 Anacharsis – ein Skythe, der zur Zeit Solons Griechenland besuchte und sich griechische Bildung aneignete.Die Griechen rechneten ihn zu den „sieben Weisen“. Anacharsis wurde der Held eines Romans, den der französischeArchäologe Jean-Jacques Barthlemy unter dem Titel „Reise des jungen Anacharsis in Griechenland“schrieb und der in viele europäische Sprachen übersetzt ist.3 Ausführlicher hat Belinski den Sinn und die Bedeutung der Freundschaft zwischen den Mitgliedern des ZirkelsStankewitschs in seinem Brief an W. P. Botkin vom 8. (20.) September 1841 aufgedeckt, der eine Art Fortsetzungdes vorliegenden Briefes ist.OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013
W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 105schändlich in Fäulnis und Gestank aufzulösen. 4 Ich weiß nicht, ob ich das Recht habe, hierauch von mir zu reden, aber man redet ja auch über mich, mich kennen viele Leute, die ichnicht kenne, ich bin, wie Du mir selbst bei unsrer letzten Begegnung gesagt hast, eine Erscheinungdes russischen Lebens. Aber sieh Dir einmal an, was das für eine häßliche, monströseErscheinung ist! Ich verstehe Goethe und Schiller besser als die Leute, die sie auswendigwissen, und kenne nicht einmal die deutsche Sprache, ich schreibe (und manchmal nichtübel) über die Menschheit und weiß nicht einmal so viel, wie Kaidanow weiß. Soll ich mirdaraus einen Vorwurf machen? O nein, tausendmal nein! Mir will scheinen, man brauchte mirnur die Freiheit zu geben, wenigstens zehn Jahre lang für die Gesellschaft tätig zu sein undmich dann, meinetwegen, aufzuhängen – und ich würde vielleicht in drei Jahren meine verlorneJugend wiedergewinnen, würde nicht nur Deutsch, sondern auch Griechisch und Lateinischlernen, gründliche Kenntnisse erwerben, würde die Arbeit lieben und Willenskraft finden. Ja,es gibt Augenblicke, wo ich tief fühle, daß dies das klare Bewußtsein meiner Berufung undnicht die Stimme kleiner Eigenliebe ist, die sich Mühe gibt, ihre Faulheit, Apathie, Willensschwäche,die Ohnmacht und Nichtigkeit der Natur zu rechtfertigen. Und nun zu Dir. Du hastoft gesagt, Du könntest nicht schreiben, weil Du nicht berufen seist. Aber warum schreibst Dudann und dabei so, wie nur wenige schreiben? Nein, Du hast alles in Dir, was dazu nötig ist,alles, außer Kraft und Ausdauer, die deshalb fehlen, weil der fehlt, für den Du schreiben müßtest:Du empfindest Dich nicht in der Gesellschaft, denn die ist nicht da. Du sagst; weshalb ichschreibe, obgleich ich mich auch nicht in der Gesellschaft fühle? Siehst Du: ich besitze einestarke Eigenliebe, die sich einen Ausweg gesucht hat; ich habe dunkel begriffen, daß ich fürden Zarendienst nicht tauge, zum Gelehrten auch nicht, und daß ich nur einen Weg habe: lebteich in gesicherten Verhältnissen wie Du und wäre dabei an irgendeine äußere Tätigkeit geschmiedetwie Du: ich würde gleich Dir hin und wieder die Zeitschriften überfallen; aber dieArmut hat in mir die Energie des Papiervollschmierens entwickelt und mich gezwungen, inden stinkenden Schlamm der russischen Literatur einzusteigen und bis an [177] die Ohren drinzu versinken. Gib mir Fünftausend müheloses Einkommen jährlich – und das russische Lebenwird um eine Erscheinung ärmer sein. Da siehst Du also: so einfach geht die Kiste auf. Dasalles läuft immer wieder auf ein und dasselbe hinaus: wir sind Waisen, und schlecht erzogene,wir sind Menschen ohne Vaterland, und deshalb, obwohl ganz gute Menschen, dennoch, wiedas russische Sprichwort sagt, weder für Gott eine Kerze noch für den Teufel eine Ofengabel,und deshalb schreiben wir einander selten. Ja, worüber auch schreiben? Über die Wahlen?Aber bei uns wählt nur der Adel, und dieser Gegenstand ist eher unanständig als interessant.Über das Ministerium? Aber es hat nichts für uns übrig und wir nichts für das Ministerium,und dabei sitzt in ihm Uwarow mit der Rechtgläubigkeit, der Autokratie und dem Volksgeist(d. h. mit dem orthodox-rituellen Totenpudding, der Knute und den Mutterflüchen); über dieVorgänge in der Industrie, in der Verwaltung, im öffentlichen Leben, über die Literatur, dieWissenschaft? – Aber all das gibt es bei uns nicht. Über uns selber? – Aber wir kennen unsreLeiden schon auswendig, und sie hängen uns allen schon zum Halse ’raus. Und so bleibt nureins übrig: wir werden uns wünschen, recht bald zu sterben. Das ist das Beste von allem. Aberleb wohl einstweilen! Die Augen fallen mir zu – ich möchte schlafen.28. Juni (10. Juli)Sei mir nochmals gegrüßt, Botkin. Nein, wie sich Dein Bruder 5 verändert hat – gar nicht wiederzuerkennen.Wo ist dieser apathische, dieser Billard-Gesichtsausdruck, wo die trüben,4 N. A. Polewoi „brachte die Gesellschaft in Bewegung“ durch seine Zeitschrift „Moskowski Telegraf“, die imJahre 1834 von der Zensur verboten wurde. Im Jahre 1838 befreundete sich N. A. Polewoi mit N. L Gretsch undF. W. Bulgarin. Von dieser Zeit an wurde Belinski sein ideeller Feind. Belinski bekämpfte N. A. Polewoi unbarmherzigbis zu dessen Tode.5 Es handelt sich um Nikolai Petrowitsch Botkin.OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013
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