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Meeting Chuck – Sex & Gewalt - Rosa Design

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magazin für gegenwartskultur<br />

magazin für<br />

gegenwartskultur<br />

no.24 1 winter 2007<br />

www.goon-magazin.de<br />

<strong>Chuck</strong><br />

Palahniuk<br />

an den rändern ist die zukunft 1 s.42<br />

Jeff Wall<br />

that could be real 1 s.62<br />

Dirty<br />

Projectors<br />

die historisierung des klangs 1 s.22


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editorial<br />

no. vierundzwanzig 1 24<br />

von sebastian hinz<br />

Ein guter Anfang wäre: Die Welt könnte so schön sein. Das ist ein einfacher Gedanke, von<br />

allen Gedanken aber vielleicht der wichtigste. Man könnte sagen, wenn auf dieser Welt<br />

hier und da etwas leuchtet, habe es sein Licht von diesem Gedanken empfangen. Derart<br />

gute Anfänge schreibe ich leider nicht, und dennoch muss manchmal – wenn auch nur<br />

stellvertretend – an diesen Gedanken erinnert werden. Denn darin schlummert der Geistesblitz<br />

von Produktivität, der Funke Kreativität. Mancher mag meinen, hier würde übertrieben.<br />

Vielleicht. Aber man vergesse nicht die Worte des Philosophen Wolfgang Welsch:<br />

Übertreibung ist ein Prinzip der Wirklichkeit selbst: Die morgige Wirklichkeit wird die<br />

Übertreibung der heutigen sein – das ist es, was man ›Entwicklung‹ nennt.<br />

Die Kunst, von der wir hier reden, ist durch eine unmittelbare Verbindung zur Welt<br />

bestimmt, in Klammern: ohne dabei gleich Volkskunst sein zu müssen. Oder wie es bei<br />

René Pollesch einmal zu hören war: Das ist jetzt kein Alltag hier, das ist Kunstkacke, aber<br />

irgendwo muss es doch Widerstand geben. In welches Verhältnis sich Kunst dabei genau<br />

zur Welt begibt, verändert sich dabei allerdings, einstens: von Zeit zu Zeit, und heutzutage:<br />

von Werk zu Werk. Eine probate Strategie, sich zur Welt zu verhalten, im Prinzip seit<br />

den altsteinzeitlichen Höhlenmalereien von Lascaux, war die Nachahmung. Die Wiederholung<br />

des Gesehenen bestimmte Bildhauerei, Malerei als auch die Poesie in erheblichem<br />

Maße. In Lessings Schrift »Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie«, im<br />

Jahre 1766 erschienen, können folgende Sätze nachgeschlagen werden: Wenn es wahr ist,<br />

dass die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel oder Zeichen gebraucht als<br />

die Poesie; jene nämlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulierte Töne<br />

in der Zeit. Und etwas später: Gegenstände, die nebeneinander oder deren Teile nebeneinander<br />

existieren, heißen Körper. Folglich sind Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften,<br />

die eigentlichen Gegenstände der Malerei. Gegenstände, die aufeinander, oder deren Teile<br />

aufeinander folgen, heißen überhaupt Handlungen. Folglich sind Handlungen der eigentliche<br />

Gegenstand der Poesie. Blättert man auf Seite 43 dieses Hefts, liest man dagegen<br />

diese Worte des Schriftstellers <strong>Chuck</strong> Palahniuk: Bücher haben meistens eine intellektuelle<br />

und eine emotionale Komponente, aber nur sehr selten eine physische. Körperliches wird<br />

tendenziell als kulturell minderwertig betrachtet – Pornographie, Horror: alles low-art.<br />

Um beim Leser Mitgefühl auszulösen, so richtig körperlich, von Kopf bis Fuß, muss man<br />

<strong>Gewalt</strong> oder <strong>Sex</strong> nehmen, oder Krankheiten, manchmal Drogen. Damit kann man Leser<br />

auf einem physischen Level einbinden, ihnen eine ganze Realität erschaffen.<br />

Nun, die Zeiten haben sich halt geändert. Zwar gilt es noch immer eine ganze Realität<br />

zu erschaffen, doch die letzten hundert Jahre samt ihrer rasanten technischen und<br />

medialen Entwicklungen sind nicht ohne Folgen für die Künste geblieben. Die Unterscheidungen<br />

zwischen den Gattungen zu negieren scheint dabei nur eine wichtige Aufgabe.<br />

Dass das Prinzip der Nachahmung in diesem Zusammenhang wieder salonfähig<br />

zu werden scheint, ist einigermaßen überraschend, aber anhand einiger Themen dieser<br />

Ausgabe belegbar. Da legen die New Yorker Combo Dirty Projectors und ihr Vordenker<br />

David Longstreth mit dem Album »Rise Above« eine Version von Black Flags Meilenstein<br />

»Damaged« aus dem Jahre 1981 vor, das aus der bloßen Erinnerung entstanden, eine<br />

Nachahmung ist, die sich komplett dem Signum Nachahmung entzieht (S.22). Oder: Der<br />

kanadische Fotograf Jeff Wall nennt seine Lichtbilder »my near documentary-pictures«,<br />

weil die so real erscheinen, mit der Idee der Dokumentation eng verwandt, aber eben nur<br />

fast dokumentarisch sind (S.62). Andere Fotokünstler haben diese Arbeitsweise der Imitation,<br />

Inszenierung oder Re-Inszenierung inzwischen übernommen, wie beispielsweise der<br />

Franzose Éric Baudelaire für sein Diptychon »The Dreadful Details« aus dem letzten Jahr.<br />

Auf dem Schreibtisch liegt aufgeklappt eine Ausgabe von Kultur & Gespenster, ein<br />

Artikel von Gustav Mechlenburg. Folgende Zeilen stechen hervor: Kunstwerke gewinnen<br />

über die künstlich erzeugten Unbestimmtheitsstellen ihren Wirklichkeitsbezug zurück,<br />

den sie als autonome Werke vorsätzlich verspielen. Vielleicht, wusste schon Henry Miller,<br />

muss man durch Ströme von Scheiße waten, um einen Keim Wirklichkeit zu finden.<br />

editorial 1 3


ingredients no. 23<br />

fetzen<br />

6 Die Künstler der Ausgabe 24: Bruno Colajanni 1 Anna <strong>Rosa</strong> Stohldreier 8 CTM08: »Open Circuit«<br />

10 Walter Moers 11 Neue Heimat: Berlin Contemporary 12 material: Let’s Ride<br />

14 Régine Chopinot 1 Platten, die mich geformt, gebildet, gebessert haben: Marcus Schmickler<br />

1 CKIN2U 16 Worauf man in diesem Winter nicht verzichten kann: A. J. Weigoni 1 Ecko Star Wars Edition<br />

Europäischer Humor mit Efterklang s.20 Die Revolution der Kunst – Jonathan Meese im Interview s. 0<br />

töne<br />

20 Efterklang<br />

22 Dirty Projectors<br />

24 Michaela Melian<br />

2 Feu Thérèse<br />

26 A Whisper In The Noise<br />

27 Kapital Band I<br />

28 Zwiegespräch: Frank Bretschneider + Sun Electric<br />

30 Musikszene Bristol<br />

reviews<br />

34 epiphany outlet<br />

3 Louis Philippe<br />

The Clientele<br />

36 beep street<br />

37 Luke Vibert<br />

Phon°noir<br />

38 Doom & Gloom<br />

Vashti Bunyan<br />

39 the relay<br />

4 1 ingredients<br />

worte<br />

42 <strong>Chuck</strong> Palahniuk<br />

46 Polarliteratur<br />

48 Larissa Böhning<br />

49 Mark M. Danielewski<br />

0 Jonathan Meese<br />

4 performativ<br />

Adam Olschewski<br />

Roman Simić<br />

6 Virginie Despentes<br />

Michael Lentz<br />

7 Monika Maron<br />

8 »Propaganda«<br />

»Machiavelli«<br />

9 das dispositiv<br />

»Du kannst im Prinzip prima ein<br />

ganzes Stück machen, das einfach nur<br />

ein Ton ist, der sich verändert.«<br />

sun electric im Gespräch<br />

mit Frank bretschneider<br />

Seite 30<br />

bilder zeichen<br />

»Die Hauptwaffe der Kulturbesitzenden<br />

war Geschmack.«<br />

anthony waine über Kitsch und Kunst<br />

Seite 86<br />

»Grey’s Anatomy« und Co. – Zur Poetik der TV-Serie s.66 Ecocriticism – zur ökologischen Ästhetik s.88<br />

62 Jeff Wall<br />

66 Zur Poetik der TV-Serie<br />

68 Italo Western Collection<br />

69 »The Darjeeling Limited« von Wes Anderson<br />

70 Paul Hornschemeier<br />

72 »Tim & Struppi« von Hergé<br />

74 Jiro Taniguchi<br />

7 Orange Box<br />

76 »Super Paper Mario«<br />

77 Hommage à Mega Man<br />

78 white cubes<br />

79 Gilbert & George 1 Peter Bialobrzeski<br />

80 »Persepolis« 1 »Gefahr und Begierde« von Ang Lee<br />

81 »Fullmetal Alchemist«<br />

»The Saddest Music In The World« von Guy Maddin<br />

82 »Die Simpsons – Das Spiel«<br />

»Sinking Island« & »Ankh – Kampf der Götter«<br />

83 schnittstellen<br />

RLM<br />

8 Einleitung<br />

86 Anthony Waine<br />

88 Ecocriticism<br />

90 Paul Virilio<br />

91 Sophie Tottie<br />

»Das vermessene Paradies«<br />

92 Simon Spiegel<br />

»New Ghost Entertainment-Entitled«<br />

93 genealogie der superhelden<br />

Conan – Der Barbar<br />

standards<br />

6 Impressum<br />

94 termine im Winter<br />

98 kolumne<br />

Miau.<br />

ingredients 1


heft-verschönerung<br />

anna rosa stohldreier<br />

ludag<br />

Der gebürtige Italiener aus Palermo nutzt seine Kunst<br />

nicht, um die Realität zu verschönern. Bruno Colajanni<br />

möchte die Realität zelebrieren, ohne an Realismus zu<br />

denken und ist deshalb unter dem Namen Ludag auf der<br />

Suche nach Emotionen im Detail. »Sentimental Graphic«<br />

nennt der Wahlberliner schlicht seine Werke. »Seit meiner<br />

Kindheit schaue ich mir gerne die Realitätselemente an, bei<br />

denen ich mit der Vorstellungskraft herumspielen kann«,<br />

erinnert sich der 28jährige. »Du kannst Dir dort kleine<br />

Schnipsel der großen Vision von Realität herausschneiden<br />

und dann hineinfokussieren. Plötzlich siehst Du eine<br />

Pflanze lächeln oder eine Wolke spucken. Es ist eine Art<br />

Macro-Welt«, die Bruno Colajanni in dieser Ausgabe in<br />

den Rubrikenbildern entdecken lässt.<br />

www.ludag.com<br />

6 1 fetzen<br />

Anna <strong>Rosa</strong> Stohldreier von <strong>Rosa</strong>design<br />

beschäftigt sich neben dem<br />

nie enden wollenden Kampf gegen<br />

fleischfressende Würstchen auch<br />

mit konzeptionellen Maßnahmen<br />

zur Förderung sinnvoller Verkäufe.<br />

Sie arbeitet in ihrem Studio am<br />

Weichselplatz als Kommunikationsdesignerin<br />

und Illustratorin für<br />

diverse Zeitschriften, Agenturen,<br />

Verlage und eigene Kunden. Dabei<br />

entstehen ironisch-polemische,<br />

sarkastisch-böse Illustrationen über<br />

das Menschliche am Menschen, das<br />

Scheitern. So auch »Burnout XXl XP<br />

meets human file«, ein Handbuch mit<br />

illustrativen Lösungsansätzen und<br />

scheiternden Erklärungsversuchen<br />

rund um das<br />

Thema Mensch<br />

und Computer.<br />

www.rosadesign.de<br />

impressum<br />

herausgeber<br />

goon ® media e.V.<br />

Sebastian Hinz, Postfach 12 69 29, 10609 Berlin<br />

sebastian@goon-magazin.de<br />

redaktion<br />

Dan Gorenstein, Astrid Hackel, Sebastian Hinz (ViSdP),<br />

Zuzanna Jakubowski, Jens Pacholsky, Jochen Werner<br />

Email: vorname@goon-magazin.de<br />

schlussredaktion Mareike Wöhler<br />

praktikantin Vera Hölscher<br />

art direction & gestaltung<br />

Daniel Rosenfeld 1 layout@goon-magazin.de<br />

controlling & cash-management<br />

Falk Stäps 1 falk@goon-magazin.de<br />

abonnementverwaltung & vertrieb<br />

Jens Pacholsky 1 abo@goon-magazin.de<br />

anzeigenleitung & marketing<br />

Stefan Gerats 1 anzeigen@goon-magazin.de<br />

Es gilt die Anzeigenpreisliste I/2007<br />

internetauftritt<br />

Daniel Rosenfeld 1 layout@goon-magazin.de<br />

Stefan Gerats 1 stefan@goon-magazin.de<br />

Sebastian Munz 1 slade.de/projekte<br />

titelbild © Andreas Chudowski<br />

Desweiteren danken wir ihrer Mitarbeit:<br />

Cornelis Hähnel, Renko Heuer, Andreas Huth, Tilman Junge, Ireneusz<br />

Kmieciak, Anne Kraume, Patrick Küppers, Brock Landers, Caroline Lang,<br />

Susanne Lederle, Kurt Mohr, Sabine Lenore Müller, Stefan Murawski,<br />

Robert Pick, Matthias Penzel, Konrad Roenne, Kerstin Roose, Fabian<br />

Saul, Julia Saul, Annika Schmidt, Nina Scholz, Alexander Schubert,<br />

Markus von Schwerin, Eileen Seifert, Martin Silbermann, Lea Streisand,<br />

Falko Teichmann, Robert Wenrich, Rebecca Pohl, Olivia Schofield, Judith<br />

Taudien, Ronald Klein, Marcus Roloff, Agnieszka Mucha, Christoph Voy,<br />

Thomas Ebke, Bernd Weintraub, Klaus Esterluß, Gabriela Radko, Don<br />

Davis, Anna <strong>Rosa</strong> Stohldreier, Bruno Colajanni<br />

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck – auch nur auszugsweise – darf<br />

nur mit vorheriger und schriftlicher Einwilligung der Redaktion erfolgen.<br />

Alle Urheberrechte liegen bei der Redaktion, sofern nicht anders<br />

angegeben. Die Urheberrechte der Artikel, Fotos und Illustrationen bleiben<br />

bei den Verfassern, Fotografen und Illustratoren. Für unaufgefordert<br />

eingesandtes Material aller Art wird weder Verwendung garantiert noch<br />

Verantwortung übernommen.<br />

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung<br />

der Redaktion wieder. Für ihre Artikel übernehmen die Autoren<br />

die presserechtliche Verantwortung.<br />

Wir behalten uns vor, unvollständig eingesandte Promos, gebrandte CD-<br />

Rs, gefadete, geaudiostampte und sonst wie ungenügend aufgemachte<br />

CDs nicht oder entsprechend unzulänglich zu besprechen. Für eine repräsentative<br />

Kritik ist das komplette Artwork essenziell, ist ein finished<br />

product die Mindestanforderung. Wir sind nicht in erster Linie Dienstleister,<br />

sondern fanatisch Besessene.<br />

leserbriefe post@goon-magazin.de<br />

goon ® wird bundesweit vertrieben mit freundlicher Unterstützung von:<br />

www.publicity-werbung.de<br />

Erscheinungsweise: vierteljährlich<br />

Das nächste Heft erscheint im März 2008<br />

Für Freunde der<br />

ägyptischen<br />

Popkultur.<br />

Das neue Werk der<br />

Gewinner des<br />

Deutschen<br />

Entwicklerpreises<br />

2005.<br />

Von den<br />

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Jack Keane.<br />

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© 2007 published by XIDER Games. XIDER Games is a trademark of bhv Software GmbH & Co. KG. All other copyrights and trademarks are the property of their respective owners.<br />

All rights reserved.


goon<br />

präsentiert<br />

fetzen<br />

Composer inside<br />

electronics<br />

Unfälle, Nichtvorhersehbares, Fehler,<br />

Ungeordnetes, kurz: das Geratewohl,<br />

stehen im Mittelpunkt der club<br />

transmediale.08. Und zu allem<br />

Überfluss werden auch noch Maschinen<br />

aufgeschraubt<br />

text: sebastian hinz<br />

fotos: pickled feet, matthias hell, xavier van wersch<br />

Auf der Bühne stehen ein Schallplattenspieler, eine Vinylschneidemaschine<br />

und elektronische Filter. Nachdem<br />

die beiden Musiker Christian Marclay und Flo Kaufmann<br />

ihren erhöhten Arbeitsbereich betreten haben, ist den<br />

Teilnehmenden bewusst: Nicht nur die Instrumentenauswahl<br />

ist hier ungewöhnlich. Die Performance beginnt mit<br />

einer leeren Schallplatte. Christian Marclay, der seinen<br />

Plattenspieler wie ein Musikinstrument benutzt, nimmt<br />

diese schwarze Tonkonserve und erzeugt Klänge, die von<br />

Flo Kaufmann aufgezeichnet und in einen Vinylrohling<br />

geschnitten werden. Danach reicht er die so gefertigte<br />

Schallplatte an Marclay, der sie wiederum als Material<br />

für weitere Klangmanipulationen einsetzt, die erneut von<br />

Kaufmann aufgezeichnet und in Polyvinylchlorid gekerbt<br />

werden. So wissen beide Künstler zu keinem Zeitpunkt,<br />

mit welchem Material sie als nächstes arbeiten werden.<br />

»Tabula Rasa« nennen Marclay und Kaufmann ihre<br />

Darbietung, die bei der club transmediale.08 – die in diesem<br />

Jahr unter dem Motto »Unpredictable« (engl. unberechenbar,<br />

unvorhersagbar) steht – erst zu ihrer fünften<br />

Aufführung kommt. Doch an dieser Performance werden<br />

zwei Prinzipien deutlich, die in der zeitgenössischen<br />

Musik gerade eine Renaissance erleben: die Aufgabe<br />

künstlerischer Kontrolle zugunsten von Zufall und das<br />

musizierende Hantieren an offenen Systemen. Doch beide<br />

Methoden sind der Modernen Musik nicht unbekannt.<br />

Der Zufall<br />

Hinter dem Experimentieren mit dem Unvorhergesehenen<br />

und seiner bewussten Integration in den kreativen<br />

Prozess verbirgt sich nicht selten die Suche nach lebendigem,<br />

spontanem, authentischem Erleben. Daher ist<br />

es oftmals verknüpft mit der utopischen Vorstellung des<br />

untrennbaren Ineinanderfallens von Kunst und Leben.<br />

Eine Idee, die sich insbesondere in der Improvisation<br />

durchsetzte, dieser sowohl von der Hoch- als auch von<br />

der Subkultur beargwöhnten »Kunst ohne Werk« (Derek<br />

8 1 fetzen<br />

Bailey). Doch dieser spontane Entwurf von Musikern, entstehend<br />

in der Kommunikation mit Mitmusikern, hat sich<br />

in unserer Kultur etabliert: im Free Jazz, in der Neuen Improvisationsmusik,<br />

aber auch im Battle des HipHop oder<br />

in der DJ-Culture. Und selbst wenn man so denkt wie der<br />

Minimalist Steve Reich: »Wenn ein Typ sagt, ich improvisiere<br />

darüber, wie ich mich fühle, dann ist meine Antwort:<br />

Fuck you. Ich interessiere mich nicht dafür, wie du dich<br />

fühlst«; auch abseits der Improvisation liegt der Zufall. Ob<br />

nun Serielle Musik oder Musique concrète, ob Turntablism<br />

oder Generative Musik: der Teufel steckt im System.<br />

Linearität wird durch komplexe Kontingenz erweitert und<br />

ersetzt. Aus den irregulären, chaotischen Umwelt- und<br />

Naturgeräuschen entstehen ebenso Kompositionen, wie<br />

aus mathematischen Algorithmen oder sogar kurzzeitigen<br />

Falschaussagen in logischen Schaltungen, die man<br />

allgemein glitch nennt. Eine Erweiterung musikalischer<br />

Konzepte durch Momente des Zufalls ermöglicht, neue<br />

Codes für die Kunst und das kulturelle Selbstverständnis<br />

des modernen Menschen zu finden.<br />

Das offene System<br />

Auf Bastler und Erfinder war von Anbeginn insbesondere<br />

die elektronische Musik angewiesen. Ihre Entwicklung<br />

wird maßgeblich durch die experimentelle Entwicklung<br />

neuer technischer Geräte und Instrumente vorangetrieben.<br />

Aber auch in anderen Musikgattungen wird Eigenbau<br />

wieder bedeutsam zur Generierung eines individuellen<br />

Sounds. Rafael Toral, Wolf Eyes, Machinefabriek, Xavier<br />

van Wersch: ganz verschieden in Herkunft und musikalischem<br />

Stil, gewinnt für eine neue Generation von Musikern<br />

und Elektrotechnikstudenten das selbstgebaute<br />

Instrument oder der manipulierende Eingriff in bestehende<br />

Schaltkreise, um Geräten neue Klänge und Geräusche<br />

zu entlocken, an Bedeutung. Vorbild für diese Bewegung<br />

des »Circuit Bending« ist David Tudor. Ihn den größten Pianisten<br />

des letzten Jahrhunderts zu nennen, wäre wohl keine<br />

Übertreibung, seine weit blickenden Arbeiten als Komponist<br />

elektronischer Musik werden da manchmal vernachlässigt.<br />

Tudor glaubte, dass den Geräten ein unbekanntes,<br />

objekt-spezifisches Klangmaterial und neue musikalische<br />

Formen innewohnen würden, die mit der allmählichen<br />

Verfertigung eines neuen Instrumentes in Erscheinung treten.<br />

»The object should teach you what it wants to hear.«<br />

David Tudor war auch derjenige, der am 29. August<br />

19 2 im Auditorium der New Yorker Harvard-Universität<br />

am Flügel Platz nahm, den Klavierdeckel schloss, und exakt<br />

4 Minuten und 33 Sekunden an seinem Instrument<br />

ausharrte, um den Deckel dann wieder zu öffnen. Tudor<br />

spielte – nichts. Oder »4’33«, die berühmteste Komposition<br />

von John Cage. Die Zuhörer reagierten mit Irritation,<br />

begannen zu tuscheln, verließen den Saal oder empörten<br />

sich. Manche wussten nicht einmal, dass sie überhaupt<br />

eine Komposition gehört hatten. Das war der entscheidende,<br />

unvorhersehbare Teil der Darbietung.<br />

SCOUT NIBLETT<br />

„Schön anzuhörende Eigenwilligkeit, Musik als ausufernder<br />

Spaziergang mit vielen Pausen, Ausfallschritten,<br />

Reisespielchen.“ laut.de<br />

Scout holte sich für ihr 4. Album Verstärkung – der große<br />

Will Oldham (aka Bonnie “Prince” Billy) ist als Duettpartner<br />

auf 4 Stücken zu hören!<br />

Tabula rasa<br />

„Mindestens Birthday Party und Joy Division<br />

dürften iLIKETRAINS zu ihren...ungleich epischeren<br />

Stücken...inspiriert haben: ...ausdrucksstark pocht das<br />

Schlagzeug, willenlos und verloren...sirren die Gitarren.<br />

I Love You But I‘ve Chosen Darkness hatten den besseren<br />

Bandnamen, iLIKE TRAINS aber haben die Songs.“<br />

Spiegel Online<br />

www.beggarsgroup.de www.myspace.com/beggarsgermany<br />

fetzen<br />

Zurück zur oben angeführten Performance von Christian<br />

Marclay und Flo Kaufmann: Jede der von Flo Kaufmann<br />

geschnittenen Schallplatten trägt die vorigen Klanggenerationen<br />

als Spuren und Schichten in sich. Die letzte Vinylscheibe<br />

der Aufführung beinhaltet in gewisser Weise<br />

die gesamte Aufführung und kann sie doch nicht wieder<br />

erklingen lassen. Doch wann ist der Zeitpunkt für die letzte<br />

Schallplatte gekommen? Dazu hat der britische Technopionier<br />

Aphex Twin eine Idee: Ein Stück sei zu Ende, sagt<br />

er, wenn die Maschinen abgeschaltet sind.<br />

»club transmediale.08 – Festival for adventurous music and<br />

related visual arts« findet vom 25. Januar bis 2. Februar 2008 in<br />

verschiedenen Berliner Lokalitäten statt. Am Eröffnungsabend in<br />

der Volksbühne am <strong>Rosa</strong>-Luxemburg-Platz wird kein geringerer<br />

als Pierre Henry auftreten. Neben dem Festival gibt es auch<br />

eine Workshop-Reihe zu Hardware-Hacking, Circuit Bending<br />

und Open Systems, konzipiert von Martin Howse und Derek<br />

Holzer. Mehr Informationen: www.clubtransmediale.de<br />

„Solo bow from singer one of the Delgados‘ co-leaders<br />

and its creative engine. Needless to say, fans will fi nd<br />

much to like!“<br />

„The High Priestess of the scottish indie scene Emma<br />

Pollock shows here that she can certainly cut it on her<br />

own, and this record has been worth the wait“


fetzen<br />

Walter moers<br />

Echo, das sprechende Kätzchen (i.e. Krätzchen) ist kurz<br />

vor dem Verhungern, als der gefürchtete Schrecksenmeister<br />

von Sledwaya Eißpin ihm einen verhängnisvollen<br />

Tausch anbietet. Er werde ihn bis zum nächsten<br />

Schrecksenmond kulinarisch verwöhnen und dann sein<br />

wertvolles Kratzenfett auskochen, um es für seine alchimistischenArbeiten<br />

weiter<br />

10 1 fetzen<br />

zu verarbeiten. Mit »Der Schrecksenmeister« hat Hildegunst<br />

von Mythenmetz das berühmte kulinarische Märchen<br />

von Gofid Letterkerl über »Echo, das Krätzchen« neu<br />

interpretiert. Die Übersetzung dieses Werkes liegt nun<br />

von Walter Moers vor, der nach »Ensel und Krete« und<br />

dem autobiografischen »Die Stadt der träumenden Bücher«<br />

ein weiteres Hauptwerk zamonischer Literatur übersetzt<br />

hat. Mythenmetz wollte mit diesem neuen Ansatz<br />

das Werk von Letterkerl, dessen Stil er als »sperrig wie ein<br />

Kleiderschrank und gewöhnungsbedürftig wie Trompaunenmusik«<br />

bezeichnet, einem neuen Publikum und einer<br />

neuen Generation von Lesern schmackhaft machen. Der<br />

Stil ist wie gewohnt frisch und erheiternd. Mit einem fantastischen<br />

Auge für die Kleinigkeiten des Lebens wird der<br />

Stadt Sledwaya und dem Herrschaftssitz von Eißpin Leben<br />

eingehaucht. Leider müssen jedoch die Leser<br />

von Moers’ Übersetzung mit einer gekürzten Fassung<br />

vorlieb nehmen: Moers hat die etwa 700 Seiten<br />

Mythenmetz’scher Abschweifungen schlicht weggelassen,<br />

so dass der Roman auf schlanke 380 Seiten<br />

geschrumpft ist. Für den normalen Leser sicherlich<br />

hilfreich, aber für die Literaten unter den Lesern eine<br />

Schmach. sm<br />

»Der Schrecksenmeister. Ein kulinarisches Märchen<br />

aus Zamonien von Gofid Letterkerl. Neu erzählt<br />

von Hildegunst von Mythenmetz« von Walter<br />

Moers, Piper, München 2007, 384 S., € 22,90<br />

goon_halbeseite_quer 22.11.2007 14:19 Uhr Seite 1<br />

Karten 030.890023<br />

www.schaubuehne.de<br />

DAS<br />

LETZTE BAND<br />

von Samuel Beckett<br />

Regie: B.K. Tragelehn<br />

ab: 3. Dezember 2007<br />

Eine Produktion der Stiftung<br />

Schloss Neuhardenberg<br />

BETRUNKEN<br />

GENUG ZU<br />

SAGEN ICH<br />

LIEBE DICH?<br />

von Caryl Churchill<br />

Regie: Benedict Andrews<br />

Deutschsprachige<br />

Erstaufführung<br />

ab: 5. Dezember 2007<br />

DEUTSCHLAND-<br />

SAGA<br />

Uraufführungsreihe im Studio<br />

• Die 70er Jahre •<br />

ab: 30. Januar 2008<br />

BRICKLAND<br />

von Constanza Macras<br />

Regie und Choreographie:<br />

Constanza Macras<br />

Uraufführung<br />

ab: 14. Dezember 2007<br />

DEUTSCHLAND-<br />

SAGA<br />

Uraufführungsreihe im Studio<br />

• Die 60er Jahre •<br />

ab: 3. Januar 2008<br />

PENTHESILEA<br />

von<br />

Heinrich von Kleist<br />

Regie: Luk Perceval<br />

ab: Februar 2008<br />

neue heimat – berlin<br />

contemporary<br />

Legten nicht so viele Leute derart großen Wert auf<br />

Kleinigkeiten wie einen geregelten Lebensunterhalt,<br />

Berlin würde bei seiner Anziehungskraft auf Künstler<br />

und gegenwartskulturelle Autoren bald aus allen<br />

Nähten platzen. Sie fanden in Berlin eine »Neue Heimat«,<br />

und dieser Umstand ist Anlass zu einer schönen<br />

Ausstellung in den weiten Räumen der Berlinischen<br />

Galerie. 29 in Berlin lebende Künstler nähern sich dem<br />

Thema äußerst vielschichtig, wobei eine Behandlung<br />

von Heimat als ›Heim‹ und ›Wohnen‹ dominiert. Trotz<br />

des trauten Klangs von Felsgefügtheit erweist sich<br />

›Wohnen‹ als ungewisse und temporäre Angelegenheit.<br />

Tea Mäkipää zeigt in einer riesigen Konstruktion<br />

ein ganzes Haus. Nur ist dieses Haus aller häuslichen<br />

Dinge wie Dach, Wänden, Möbeln entblößt. Übrig<br />

bleiben, in leichter Schräglage, mit dem Geflecht der<br />

Wasser- und Stromleitungen nur Elemente, die von<br />

der Abhängigkeit dieses angeblichen Schutzraumes<br />

von äußeren Netzwerken zeugen. Mona Hatoum lässt<br />

einen ganzen Hausrat an feinen Drähten hin und her<br />

gleiten, Florian Slotawa schließlich errichtete eine<br />

Skulptur aus Umzugskartons, Schutzfolie und Klebeband.<br />

Das erinnert tatsächlich an Berlin, und vielleicht<br />

ist es nicht zuletzt ihre transgressive Wohnkultur, welche<br />

die Strahlkraft der Metropole ausmacht. Angeregt<br />

streift man also durch die Exponate und spielt mit der<br />

Frage, ob nicht der Umzugsunternehmer Hans Zapf,<br />

der einst in Sachen Weltrevolution nach Berlin kam,<br />

in einer tieferen Schicht der Wahrheit der prägendste<br />

Performance-Künstler dieser Stadt ist. pk<br />

»Neue Heimat – Berlin Contemporary« ist noch bis<br />

zum 7.1.2008 in der Berlinischen Galerie zu sehen<br />

Foto: 1:1 (2005), © Tea Mäkipää, Sound: Tony Ikonen<br />

fetzen<br />

Garage<br />

Chopinot Little Dance Garage<br />

5.6.7.8.9.12.13.14.15.16.19.20.21<br />

dezember 2007 20:00 uhr<br />

Kunsthaus Tacheles<br />

Oranienburgerstr. 54-56a - Berlin<br />

Fon: 030 - 280 96 123


material<br />

Let’`s Ride<br />

Winterzeit ist Snowboard-Zeit! Holt eure Bretter raus,<br />

ob auf der Zugspitze oder im Volkspark. Und: Wer hat<br />

denn bitte behauptet, dass man für Qualität auf Style<br />

verzichten muss?<br />

Forum, Boot<br />

shepherd,<br />

€ 269,00<br />

Flow, Board<br />

solitude wx,<br />

€ 60,00<br />

12 1 material<br />

Giro, Goggles<br />

Verse in olive,<br />

€ 44,9<br />

Technine,<br />

Board boom<br />

box, € 399,9<br />

Grenade, Gloves<br />

maniFesto in<br />

coffee, € 109,9<br />

Burton, Board<br />

the last supper,<br />

€ 90,00<br />

Zimtstern, Unisex<br />

Beanie audience,<br />

€ 33,00<br />

iDiom, Jacket<br />

slant Zip in tartan<br />

blue, €4 0,00<br />

Rome, Board<br />

machine,<br />

€ 429,00<br />

R.E.D., Women’s<br />

Helmet aletta in<br />

eggplant, €110,00<br />

686, Women’s<br />

Smarty Jacket<br />

royale,<br />

€ 299,00<br />

K2, Women’s<br />

Board mix,<br />

€ 449,00<br />

Head,<br />

Women’s<br />

Board<br />

pearl,<br />

€ 279,9<br />

anon, Women’s Goggles<br />

the majestic in<br />

dagger, € 90,00<br />

Special Blend,<br />

Mitten Foreman<br />

in white, € 69,00<br />

Nitro, Women’s<br />

Boots riVal, in<br />

brown/petal,<br />

€ 169,90<br />

Rip Curl,<br />

Women’s<br />

Board,<br />

brooklyn<br />

botanic<br />

Garden,<br />

€ 419,9<br />

Icetools, Boardbag<br />

wheeler,<br />

€ 90,00<br />

material<br />

material 1 13


fetzen<br />

plattentektonik mit marcus schmickler<br />

platten, die mich<br />

geformt, gebessert<br />

und gebildet haben<br />

Ich könnte wirklich viele Platten aufzählen, die ich nicht<br />

missen möchte (z.B. die gerade erstandene Doppel-CD<br />

»Day is Done« von Mike Kelley). Doch hier geht es um eine<br />

Platte, die mich vor langer Zeit schwer beeindruckt hat:<br />

Jürg Wyttenbachs Einspielung von Giacinto Scelsis<br />

»Quattro Pezzi per Orchestra«. Heute, ungefähr 16 Jahre<br />

nach Entdeckung dieser Aufnahme, kommt mir Scelsis<br />

Komposition vielleicht etwas eindimensional vor, doch sie<br />

war, neben »Lontano« von György Ligeti, meine Initiation<br />

in zeitgenössische Orchestermusik. Das Faszinierende<br />

besteht für mich auch heute noch in der Übereinkunft<br />

vieler Gegensätze: In der Musik von Giacinto Scelsi (190 -<br />

1988) heben sich gleich mehrere Widersprüche auf, etwa<br />

ihr vordergründiger Minimalismus, der sich ins Gegenteil<br />

umkehrt. »Quatro Pezzi per Orchestra« generiert mit einfachen,<br />

aber individuellen Mitteln eine enorme Effizienz.<br />

Ich bewundere daran den Mut zum radikal Anderen sowie<br />

die detaillierte Behandlung von Klang, die vielleicht eine<br />

bestimmte Art des Microsounds in der Instrumentalmusik<br />

re-popularisiert hat. Einzigartig ist auch der leichtfüßige<br />

Umgang mit komplizierten Verhältnissen von Komposition<br />

und Improvisation und Autorenschaft: Scelsi<br />

improvisierte, meistens nachts, auf einer frühen Form von<br />

Du zeigst im Dezember deine Soloperformance »Garage«<br />

im Berliner Kunsthaus Tacheles. Was bedeutet »Garage«<br />

für dich?<br />

»Garage« ist eine künstlerische Reflexion und ein Laboratorium.<br />

Anders als in der Zusammenarbeit mit meiner<br />

Compagnie habe ich hier im Dialog mit der Musik und<br />

dem Licht ein ganz anderes Potenzial: Ich versuche, zum<br />

Einfachsten zurückzugehen und alle rationalen Erfahrungen<br />

zu vergessen.<br />

Welche Rolle spielen für dich Improvisation und Intuition?<br />

»Garage« ist jenseits aller Improvisation: Sie dient oft der<br />

Konstruktion, aber mein Vorgehen ist im Gegenteil eher<br />

dekonstruktiv. Ich habe in den letzten 30 Jahren sehr viel<br />

Know-how sammeln können, aber heute gibt es in der<br />

Kunstszene zuviel davon: Meine Aufgabe ist, alles wieder<br />

zu vergessen.<br />

Du machst dich gegen Kommerzialisierung und<br />

Institutionalisierung im Tanz stark.<br />

Ob man innerhalb oder außerhalb der Institutionen<br />

steht: Frei zu bleiben ist schwer.<br />

Ich bin gut zwanzig Jahre oben geblieben, innerhalb der<br />

Heimorgel, nahm dies auf Band auf und übergab die Bänder<br />

an ›Kopisten‹, die aus diesen Tapes präzise Partituren<br />

schufen. Giacinto Scelsi ist es gelungen, eine völlig individuelle<br />

Sprache zu formen, wie es nur wenigen gelingt.<br />

Solche Platten zu entdecken ist für mich immer wieder ein<br />

Glück, und manchmal fürchte ich, es könnte schwieriger<br />

werden, sie zu finden. Doch es hört niemals auf ...<br />

Marcus Schmickler ist international bekannt für seine Arbeit in<br />

zeitgenössischer und elektronischer Musik. In letzter Zeit entstanden<br />

zahlreiche kammermusikalische Kompositionen, viele davon unter<br />

Einbeziehung von elektronischer Musik. Darüber hinaus arbeitet er<br />

auch an Theater-, Film- sowie außergewöhnlichen Popmusik und<br />

Improvisations-Projekten. Er lebt und arbeitet in Köln. In den letzten<br />

Jahren erhielt er zahlreiche Preise und Auszeichnungen und ist rund<br />

um die Welt auf Bühnen und Festivals vertreten<br />

Soeben erschienen von ihm gleich mehrere<br />

neue Veröffentlichungen: »Altars Of Science«<br />

bei Editions Mego, »R/S One«, eine Kooperation<br />

mit Pita, bei Erstwhile Records, sowie<br />

»TheMonstrousSurplus« unter seinem Pseudonym<br />

Pluramon bei Karaoke Kalk. Dieses Jahr<br />

erschien auch seine Zusammenarbeit mit dem<br />

Saxophonisten Hayden Chisholm bei Häpna<br />

die choreographin régine chopinot interview: astrid hackel<br />

14 1 fetzen<br />

Institutionen, gerade weil es so schwer ist, frei zu sein. Die<br />

Schwierigkeit besteht darin, sich dennoch nicht von der<br />

Welt abzukapseln, sich nicht einschläfern zu lassen. Ich<br />

reise sehr viel und kenne die Schwierigkeiten unabhängiger<br />

Compagnien gut. Für mich ist es an der Zeit,<br />

jenseits des Komforts nach Alternativen zu suchen. Es<br />

gibt schon sehr viele, die das Diktat der liberalen Gesellschaft,<br />

die Dominanz des Geldes und des Entertainments,<br />

nicht akzeptieren wollen. Die Poesie, das Fest, die Freude<br />

am Denken, das sind Elemente, für die man kein Geld<br />

braucht. Ich habe lange Zeit in Vietnam gearbeitet, wo die<br />

Bedingungen sehr hart sind. Gleichzeitig handelt es sich<br />

um eine künstlerisch reiche Kultur. Hier habe ich verstanden,<br />

dass man aus sehr wenig sehr viel machen kann. aha<br />

»Garage«, Solo von Régine Chopinot, 05. – 09., 12. – 16,<br />

19–21.12., Kunsthaus Tacheles, Berlin<br />

© Frederic Yovino<br />

goon<br />

verlost<br />

fetzen<br />

ck in2u – sWdyt (so<br />

What do you think)?<br />

Calvin Klein bewies zu Beginn der 1990er Jahre, erst mit<br />

ihrer Unterwäschekampagne und dann mit der Unisex-<br />

Imagewerbung der Düfte ck one und ck be, dass sie wie<br />

kein anderes Label in der Lage sind, die Gefühlslage<br />

der jungen Generation auszuloten. Damals ging es in<br />

den Kulturwissenschaften wie auch in der Popkultur um<br />

die Emanzipation von binären Geschlechterstereotypen<br />

– symbolisch vertreten durch eng anliegende Boxershorts<br />

für sie und ihn und ein Parfüm für beide. Die Zeiten<br />

haben sich geändert, und wieder kommt aus dem Hause<br />

Calvin Klein eine analytische Momentaufnahme der<br />

Jugendkultur. Mit dem Duft ck IN2U (Text-Sprache für<br />

»in to you«, also ein mehrdeutiges »interessiert an dir«)<br />

spricht Calvin Klein eine Generation an, die sich über<br />

ihren Kommunikations-Stil definiert, und benennt diese<br />

auch: Die Generation der Technosexuellen. Nummern,<br />

Buchstaben und Piktogramme, in Textnachrichten, auf<br />

MySpace-Seiten, in Foren, Blogs und Chats – ck IN2U<br />

richtet sich an eine Generation, die Kontakte via technischer<br />

Hilfsmittel sucht. Zum ersten Mal ist dabei ein<br />

ck-Duft nicht unisex – er wird also nicht geteilt: Es gibt<br />

ck IN2U FOR HER und ck IN2U FOR HIM. Identitätsunterschiede<br />

zählen wieder, und wenn auch nur, um zueinander<br />

zu finden. Und so ergänzen sich ck IN2U FOR HER<br />

und FOR HIM trotz ihrer olfaktorischen Gegensätzlichkeiten:<br />

»spontan und verführerisch« trifft »charismatisch<br />

und ungehemmt«. Aber auch der jeweilige Duft kann<br />

sich bei jedem ganz anders entwickeln: Wir möchten<br />

widererkennbar, aber auch unterscheidbar sein. Präzise<br />

beobachtet, Mr. Klein.<br />

Wir verlosen je 3 Flakons ck IN2U FOR HER und ck IN2U FOR HIM.<br />

Email an tombola@goon-magazin.de. Stichwort: technosexuell.<br />

fetzen 1 1<br />

die<br />

Ausgabe<br />

Nr. 5<br />

LA<br />

MER<br />

GELÉE<br />

erscheint<br />

im<br />

Januar<br />

2008<br />

mit unveröffentlichten<br />

Texten von<br />

Elfriede Jelinek<br />

Olivier Le Lay<br />

Christian Prigent<br />

Odile Kennel<br />

Antoine Brea<br />

Katja Roloff<br />

Elke Erb<br />

Alban Lefranc<br />

Monika Rinck<br />

François Athané<br />

Rüdiger Fischer<br />

mit Zeichnungen von<br />

Arnika Müll<br />

Jean-François Magre<br />

www.lamergelee.com


fetzen<br />

Worauf man in diesem Winter nicht verzichten kann<br />

... erklärt a. j. Weigoni<br />

Wenn es in Deutschland um die hiesige Sprache geht,<br />

kommt man eigentlich gar nicht an A. J. Weigoni vorbei.<br />

Der Wahl-Düsseldorfer (auf das Präfix besteht er) ist<br />

Lyriker, Wortespieler, Gedankenakrobat und Schriftsteller.<br />

Seine Hörbücher sind weniger gesprochenes Wort als<br />

eine Reise in deren Innerstes – feingefühlig, experimentierfreudig<br />

und bei alledem humorvoll. A. J. Weigoni<br />

feiert im Januar seinen 0. Geburtstag und gibt auf einer<br />

Doppel-CD Einblicke in seine kleinteilige Rekonstruktion<br />

der deutschen Sprache.<br />

Warum können wir in diesem Winter nicht auf die<br />

deutsche Sprache verzichten?<br />

Winter. Das Wort erinnert zuerst an eine schneebedeckte<br />

Landschaft. Schon sind wir mitten im Kitsch. Und hereingefallen.<br />

Wir brauchen also weniger Sprache als Poesie.<br />

Poesie ist gemeingefährlich. Ohne sich durch Logik, Vernunft<br />

oder Benimmregeln beeinflussen zu lassen, dringt<br />

sie in das Gehirn und löst dort ohne Umwege heftige<br />

Gefühle aus. Wie es der Zufall will, schreibe ich gerade an<br />

16 1 fetzen<br />

einem Zyklus, bei dem mich der kalte Blick auf den Alltag<br />

interessiert. Mit kühlem Herzen habe ich Anteilnahme<br />

und Emotionen unterdrückt, um sie auf diese Art und<br />

Weise umso deutlicher zu machen und das Halluzinatorische<br />

der Normalität hervorzukehren.<br />

Wie kann Deine Sprache dem gefühlsleeren Alltag etwas<br />

entgegensetzen?<br />

Leben am Wundrand der globalisierten Gesellschaft, das<br />

ist das Thema dieser Geschichten. Es sind Geschichten<br />

eines Übergangs: vom Sozial- zum Individualstaat. Wir<br />

lernen Untote kennen, die in der Liebe Erlösung suchen.<br />

Diese Darsteller verkaufen sich oder lassen sich kaufen.<br />

Was geschieht, bleibt Reflex auf den Alltag, der niemanden<br />

mehr anspornt, weil dahinter kein Traum mehr<br />

ist und eine Moral schon gar nicht. Diese Welt hat keinen<br />

Notausgang. Deshalb kann ich dem als Schriftsteller nur<br />

mit schwarzem Humor begegnen.<br />

»Gedichte – HörBuch« von A. J. Weigoni ist über das Tonstudio<br />

an der Ruhr erhältlich. Weitere Infos unter www.weigoni.de<br />

street Wars<br />

Marc Ecko feiert den 30. Geburtstag der<br />

Weltraumsaga »Star Wars« mit einer<br />

limitierten Kollektion, die nichts mehr<br />

mit geeky Fan-Shirts und Stormtrooper-<br />

Halloween-Kostümen zu tun hat. »Es ist<br />

kein Geheimnis, dass ich ein absoluter Fan<br />

von ›Star Wars‹ und George Lucas bin«,<br />

sagt Marc Ecko. »Unsere Aufgabe war es,<br />

in den Lucasfilm-Archiven zu graben und<br />

die reiche Bildsprache, die ›Star Wars‹ zur<br />

bekanntesten Fabel der letzten 100 Jahre<br />

gemacht hat, mit der Populärkultur zu<br />

vereinen.« In einer Kombination bekannter<br />

»Star Wars«-Motive mit tragbarem<br />

Streetwear-Style enthält die Linie unter<br />

anderem solche Schmuckstücke wie den<br />

Hoth-Parka, das Bounty Hunter-Jacket,<br />

ein »Darth Vader is Dead« Graphic-Tee<br />

und den »Fett for Real« Zip-Hoodie.<br />

Streets of Coruscant, here I come.<br />

Die »Star Wars« Modelinie von Marc Ecko wird<br />

in dieser Holiday-Saison in internationalen<br />

Special-Stores erhältlich sein.<br />

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Konzertagentur<br />

Berthold Seliger


töne<br />

Illustration:<br />

bruno<br />

colajanni,<br />

ludaG.com<br />

töne<br />

»Das Visionäre am<br />

Kunstwerk bleibt ein<br />

historisches Zitat.<br />

Man zitiert die Vision<br />

von damals. Vielleicht<br />

kann man sie noch<br />

transportieren,<br />

vielleicht sogar in die<br />

Gegenwart übersetzen:<br />

das was damals galt,<br />

könnte, aha!, eben auch<br />

noch jetzt gelten.«<br />

Dave Longstreth über das neue<br />

Album der dirty projectors<br />

Seite 24<br />

»Zwei Leute sind<br />

schon Mal weniger<br />

Minimal als einer«<br />

Max Lodendauer von sun<br />

electric im Gespräch<br />

Seite 30<br />

20 Efterklang<br />

22 Dirty Projectors<br />

24 Michaela Melian<br />

2 Feu Thérèse<br />

26 A Whisper In The Noise<br />

27 Kapital Band I<br />

28 Zwiegespräch: Frank<br />

Bretschneider + Sun Electric<br />

30 Musikszene Bristol<br />

reviews<br />

34 epiphany outlet<br />

3 Louis Philippe<br />

The Clientele<br />

36 beep street<br />

37 Luke Vibert<br />

Phon°noir<br />

38 Doom & Gloom<br />

Vashti Bunyan<br />

39 the relay


No Goalsi,No Records<br />

efterklang aus Kopenhagen behaupten zwar, sie hätten weder Ziele noch eine neue<br />

Platte im Gepäck, doch glaubt das fünfköpfige Kammer-Indie-Gespann immerhin an<br />

die Existenz eines dezidiert europäischen Humors. Eine unscharfe Momentaufnahme<br />

aus dem inzwischen verlassenen Studio der Band<br />

text, interview: renko heuer foto: nan na hvass<br />

»Wir sind keine Brasilianer, zumindest nicht in diesem<br />

Ego-Sinne. Uns geht’s musikalisch wie buchstäblich<br />

darum, den Ball möglichst lange in der Luft zu halten.«<br />

rasmus stolberg<br />

Von Aufbruchs- oder Untergangsstimmung keine Spur:<br />

Efterklang, heute ausnahmsweise sogar siebenköpfig,<br />

inklusive einem Ami-Gastmusiker (zu dessen bzw. deren<br />

Humor wir später kommen), sitzen und stehen, z.T.<br />

gar in Socken, in ihrem Noch-Proberaum im Süden Kopenhagens<br />

und zelebrieren das, was sie generell viel zu<br />

selten, derzeit aber tagtäglich von morgens bis abends<br />

tun: Sie proben, spielen diejenigen Songs endlich auch<br />

mal gemeinsam, die zuvor in unzähligen Sessions digital<br />

zu solchen verkettet wurden. Rasmus Stolberg, neben<br />

Songwriter Casper Clausen der schnurrbärtigere Kopf<br />

der Band, lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen,<br />

hat für alles sogar noch ein Extragrinsen in der Hinterhand:<br />

Zwar müssen Efterklang nach über fünf Jahren<br />

das mit apokryph-vergilbten Buchseiten und einem gut<br />

versteckten Alphorn-Poster tapezierte Studio in Kürze<br />

räumen, weil die Mieten auch am Rande der dänischen<br />

Metropole explodiert sind, zwar stehen ab Ende des Monats<br />

etliche Gigs in ganz Europa an, zwar soll zwei Tage<br />

nach unserem Zusammentreffen ein überaus aufwendiges<br />

Video inklusive »Feuerwehrauto, Pyrotechnik, Slo-Mo-Shots,<br />

Kindern, einem Clown« (und dem Kameramann von Martin<br />

de Turah) gedreht werden, zwar lebt Rasmus nach<br />

wie vor von einem Studentendarlehen, das er sich nur<br />

dadurch sichert, dass er sich selbst als Praktikant anheuert<br />

–, aber das kreative Chaos, bestehend aus unzähligen<br />

obskuren Instrumenten, einem Heer von Flöten, Kabeln<br />

und Gestänge, einer heute auf Jungfernfilm befindlichen<br />

3-Chip-Kamera, faltigen Saftpackungen, wieder und wieder<br />

benutzten Wasserflaschen, um ihn und seine (offiziell)<br />

vier Buddies, lässt gar keinen Raum für Hektik oder gar<br />

Verzweiflung. Ein Song sitzt noch nicht ganz, doch warum<br />

auch die Dinge überstürzen: Efterklang haben ihren eige-<br />

nen Rhythmus. Marschmusik interessiert sie, soviel steht<br />

fest, definitiv nur in klanglicher Hinsicht.<br />

Malville, Fußball und Rumraket<br />

Dass Rasmus und Casper, die sich schon seit ihrer Kindheit<br />

kennen, auch mit Schlagzeuger/Trompeter Thomas<br />

Kirirath Husmer (»Ich bin sonst Lehrer und doch der einzige,<br />

der wirklich versucht, ein Musiker zu sein.«), Rune<br />

Fonseca Mølgaard (Piano) und Mads Brauer (Produktion)<br />

sehr eng befreundet sind, liegt auf der verkaterten Hand:<br />

Konstant reden die fünf Bandmitglieder durch- und – vor<br />

allem – füreinander. Der redselige Thomas, ein Mann der<br />

Melville-Metapher (»Wir haben gemeinsam ein Schiff gebaut.«),<br />

bezeichnet Rasmus als besten Fußballer der Band,<br />

woraufhin Rasmus einwirft, dass Casper das nur ungern<br />

hören wird, während der zeitgleich sein Statement abgibt<br />

(»Ich sehe Fußball wie Kampfsport, Rasmus erkennt darin<br />

eine Art abstrakten Balletttanz.«) und über das von Rasmus<br />

geführte Rumraket-Label redet (dessen erste erfolgreiche<br />

Schwarze-Zahlen-Rakete das Grizzly-Bear-Album aus<br />

der Prä-Warp-Ära war), um gleich im Anschluss die Rolle<br />

von Thomas verschmitzt als die des »Mannes für jegliche<br />

Drecksarbeit« zu definieren. Der Vibe ist eher Zivi-Bude<br />

als Studio-Headquarter, eher Atelier als Office.<br />

Goal, Record, Boxparaden<br />

Der konstante Dialog, der an diesem allzu bald verlassenen<br />

Ort stattfindet, sei es über die einzelnen Songs (ein<br />

Wort, das den weitschweifigen »Album-Versatzstücken«<br />

von Efterklang kaum gerecht wird), über graphische Dinge<br />

(Efterklang sind Handarbeiter wie Mugison), über Film<br />

– »Bitte schreib in deinen Text, dass ich ›Lost In Translation‹<br />

abgrundtief hasse.« (There you go, Rasmus!) –, über die<br />

politics im Geschäft, oder über unterschiedliche Ziele und<br />

Motivationen, läuft nie ohne einen touch von »vorläufiger<br />

Definitivität« und zugleich nie ohne doppelten Bedeu-<br />

»Insgesamt funktioniert unsere Musik<br />

wohl eher wie Kino. Wie ein Film, der<br />

sich an keiner Stelle wiederholt.«<br />

tungsboden ab. Wie beispielsweise die Worte »goal« und<br />

»record« hier gleich mehrfach verdreht werden – à la<br />

»We don’t like goals« (auf ihr Fußballspiel bezogen) und<br />

»there is no new record« (auf die Rekordzahl von 40 Ballkontakten<br />

ohne Bodenberührung bezogen) bzw. deren<br />

Gegensätze (auf Musik bezogen) –, ist auch ihr neues Album<br />

»Parades«, der Nachfolger zu »Tripper« (2004), ein<br />

bombastisch-ungewisser Trip in die kollektive Unschärfe:<br />

Waren auf dem Vorgänger ganze 40 Albumgäste am Trip<br />

beteiligt, sind es auch dieses Mal »gut 35« umtriebige<br />

Dänen, mit deren Hilfe sie ihr »Schiff« (Thomas), »eine<br />

riesige Skulptur« (Casper), in eine entlegene Umlaufbahn<br />

befördert haben, in der sie derzeit ganz alleine sind. Nicht<br />

ohne Grund gab es dieser Tage schon erste Vergleiche<br />

mit Radiohead (wobei die niemals klanglicher Natur sein<br />

könnten!), denn die unzähligen Instrumentalformationen,<br />

Staccato-Bläser-, Electronica- und Glockenspiel-Einlagen,<br />

Gast-Chöre und -Streicher, die über-, unter-, neben- und<br />

nacheinander verschachtelten Avant-Bombastrock-Melodien,<br />

voller Pomp und Prunk und Liebe zum eklektischelektronischen<br />

Detail, die durch Untiefen und zugleich<br />

über epische Bögen führenden Spitzen, machen sie ganz<br />

klar zu den ultimativen Drama-Kings der Stunde. »Insgesamt<br />

funktioniert unsere Musik wohl eher wie Kino. Wie ein<br />

Film, der sich an keiner Stelle wiederholt. Was das genaue<br />

Gegenteil eines Popsongs ist: Der nämlich basiert auf der<br />

Wiederholung: Statt von A nach B nach C und zurück zu<br />

gehen, legen wir die Strecke zwischen A und G zurück, ohne<br />

dabei jemals zurück zu schauen. Und unterdessen haben<br />

unzählige Melodien und Themen kurze Gastrollen.« So ist<br />

ihr neuester Film auch treffend nach diesen Paraderollen<br />

benannt: »Die Paraden, um die es im Titel geht, sind einerseits<br />

die Melodien selbst, wie sie marschieren, andererseits<br />

sind es die einzelnen Songs, die gemeinsam eine noch größere<br />

Parade ergeben. Und dann ist es auch unser neuer Hang<br />

zu Marschmusik. Im Dänischen steht der Titel zudem für<br />

das Parieren beim Boxen, also eine Abwehr – doch ist das<br />

eher eine zusätzliche Bedeutung, die genauso wenig geplant<br />

war, wie die deutsche Gonorrhoe-Anspielung bei unserer ersten<br />

LP«, erläutert Rasmus. Casper ergänzt: »Es geht immer<br />

um Überraschungen, um neue Richtungen, wobei wir uns<br />

nach und nach einem überdimensionalen Gesamtbild annähern.«<br />

Von Anfang bis Ende<br />

Während sich Casper, der auch schon einen Soundtrack<br />

für einen Animationsfilm beigesteuert hat, wünscht, dass<br />

man ihr Album »mindestens drei Mal von Anfang bis Ende<br />

hört, um es zu verstehen«, zeichnet sich die Kommunikation<br />

innerhalb der neunköpfigen Live-Band dann doch<br />

zum Teil durch Missverständnisse aus: Auf die Frage, ob<br />

die Tatsache, dass es insgesamt 11 Songs sind, ein weiterer<br />

Fußball-Insider sei, kann selbst kollektives Gelächter den<br />

anwesenden (und hier leider namenlosen) Gastmusiker<br />

aus den USA nicht von der perplexen Zwischenfrage abhalten:<br />

»Wirklich? Krass.« Rasmus’ Retourkutsche: »Schau,<br />

das ist europäischer Humor, es gibt ihn doch!«<br />

»Parades« von Efterklang ist bereits bei The<br />

Leaf Label/Hausmusik/Indigo erschienen<br />

20 1 töne<br />

töne 1 21


Erhaben über das Zerstörte<br />

Mit der Black-Flag-Reminiszenz »Rise Above« gelingt David Lengstreth und seiner Band<br />

dirty projectors ein neuer spiritueller Umgang mit einem historisierten Kunstwerk<br />

und ein großartiges Assoziations-Album<br />

Dave Longstreth wollte sehen, ob er das Black Flag-Album »Damaged« selbst<br />

machen könne, nicht als Cover, sondern als »original creative act«.<br />

text: fabian saul fotos: christoph voy<br />

27. Juli 1984, Newport, Jockey Club. Betrete den großen<br />

Raum. Bar links, auf der Rechten die Toiletten. Du<br />

musst, aber nicht so nötig, noch nicht. Pretty good crowd.<br />

Hmm. Get a Foster. Da ist Shorty. Der Sound ist gut. Jimmy<br />

D schmeißt heute den Laden. Wer ist auf der Bühne?<br />

Näher, noch ein Stück näher... Black Flag! Rise Above!<br />

We’re born with a chance / Rise above, we’re gonna rise above<br />

/ I am gonna have my chance / Rise above, we’re gonna rise<br />

above / We are born with a chance / Rise above, we’re gonna<br />

rise above / And I am gonna have my chance / Rise above,<br />

we’re gonna rise above / We are tired of your abuse / Try to<br />

stop us, it’s no use.<br />

Punk ist Geschichte. Offensichtlich kann man den ganzen<br />

großen Popgeschichts-Baum durchschauen, kann den einen<br />

Ast auf den größeren, an dem er hängt, zurückführen.<br />

Punk, das war der eine Ast dort. Da hängt Hardcore dran.<br />

Der amerikanische Auswuchs. Und dort sind auch Black<br />

Flag. Wisst ihr noch? 27. Juli. Jockey Club.<br />

Jetzt, 23 Jahre später, kann man das erklären. Man<br />

kann sehen und hat verfolgt, dass Hardcore, dass Black<br />

Flag, weitere Triebe sprießen ließen. Da sind unzählige<br />

neue dazugekommen. Und so ein Ast, der hat bekanntlich<br />

Kurven, kaum sichtbare Abzweigungen, einiges, was<br />

man nur mikroskopisch erblicken kann, unzählige Quer-<br />

verbindungen. Aber, gewiss ist: Das ging immer weiter, da<br />

war und ist ein Weg. Was damals, aus der Perspektive der<br />

gewesenen Gegenwart, sich vielleicht als Vision abzeichnete<br />

– try to stop us, it‘s no use – verkommt gar lächerlich<br />

zur Passage zwischen einem A an einem und einem B am<br />

anderen Ende. Das Kunstwerk selbst, das Album, der<br />

Song, der Klang, wird entmystifiziert, während fleißig<br />

historisiert wird. Die Größe der Äste bestimmt sich dabei<br />

immer aus dem Blick und aus der Distanz, die man einnimmt.<br />

Mit Blick und Distanz der westlichen (Pop-)Kultur<br />

ist Punk in jedem Fall ein Ast beachtlichen Durchmessers.<br />

Am Ende dieses Prozesses der Geschichtsschreibung hat<br />

man feine, kleine, historisierte Kunstwerke vorliegen und<br />

kann auf sie zugreifen: Black Flag, »Damaged«, 1981. So<br />

wollte man das ja. Und das funktioniert. Nun kann man<br />

fein säuberlich ein Ästlein brechen und ihm neues Leben<br />

einhauchen.<br />

Covern: Das Kleid des Anderen noch einmal aufpolieren,<br />

noch einmal anziehen und dabei ein wenig vom eigenen<br />

Schweiß in ihm hinterlassen. Die Platte, das Album, der<br />

Song sind dabei geschlossene, fertige Kunstwerke, eine<br />

recht inflexible Masse, die man zwar neu färben kann,<br />

selten aber wirklich neu formen. Das Visionäre am Kunstwerk<br />

bleibt ein historisches Zitat. Man zitiert die Vision<br />

von damals. Vielleicht kann man sie noch transportieren,<br />

vielleicht sogar in die Gegenwart übersetzen: Das was<br />

damals galt, könnte, aha!, eben auch noch jetzt gelten.<br />

Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht bleibt es<br />

nur ein weiteres Stück im stets wieder zu belebenden Pop-<br />

Museum. Ein Wachsfigurenkabinett! Sucht euch eine aus!<br />

Anhauchen genügt! Ja, die funktionieren noch!<br />

7. November 2007, Berlin, West Germany. Wer ist auf der<br />

Bühne? Näher, noch ein Stück näher... Dirty Projectors.<br />

Rise Above.<br />

David Longstreth ist ein Getriebener. Ein schier endlos<br />

dahinsprudelndes Fass unvergleichlicher Energie. Visionär.<br />

Sein Studium in Yale abgebrochen, widmet er sich<br />

seit 2002 mit ganzer Leidenschaft der Musik. Album, EP,<br />

Live, Folk, Pop, Punk: Stets sich neu erfindend, Herausforderungen<br />

suchend, und dennoch nie kurz gedacht, immer<br />

intelligent, fordernd. Gast auf der neuen LP von Chris<br />

Schlarb, zusammen mit Zach Condon von Beirut auf der<br />

»Friend EP« von Grizzly Bear, mit seinem Kollektiv Dirty<br />

Projectors auf David Shrigleys »Worried Noodles«. Und<br />

nun die siebente eigene Veröffentlichung binnen fünf Jahren:<br />

»Rise Above«. Der Titel der Platte ist dem Eröffnungssong<br />

der Platte »Damaged« von Black Flag aus dem Jahre<br />

1981 entliehen.<br />

Das Kunstwerk selbst, das Album, der Song, der Klang, wird<br />

entmystifiziert, während fleißig historisiert wird.<br />

Und damit steht am Anfang die Proklamation: Die ist eine<br />

Black-Flag-Reminiszenz. Dies ist dann auch schon das einzige<br />

wirklich konzeptionelle, was Lengstreth macht. Dann<br />

beschließt er, statt der eigentlichen Platte sein Gedächtnis<br />

zu benutzen. Die Platte selbst hat er vor Jahren gehört.<br />

Und so ist es nicht die »Damaged« von 1981, sondern<br />

das, was Longstreth von ihr im Kopf hat, um das es geht.<br />

Longstreth ist der Filter, durch den die Platte gegangen ist,<br />

noch bevor sich das zu Hörbarem geformt hat. So kommt<br />

das bei Coverversionen übliche Spiel mit den bestehenden<br />

Themen und Arrangements, ihre teils wohl behutsame<br />

Neuordnung, ihr teils absichtlich schludriges Übergehen,<br />

bei dieser Platte nicht zum Tragen.<br />

Die immer auch rhythmisch vielfältige Soundlandschaft<br />

zehrt sich aus Holzbläsern, Violinen, Drums, Klavieren,<br />

Gitarren, choralen Gesängen, teils arrangiert, teils<br />

improvisiert; Themen werden aufgenommen, abstrahiert,<br />

verworfen, Originaltexte mischen sich mit eigenem lyrischem<br />

Material.<br />

So gesehen handelt es sich um kein Konzeptalbum, sondern<br />

um ein Assoziations-Album. Das Original ist dabei<br />

ein Fundus von Ideen, Inspirationen, Themen, auf die<br />

man frei zugreifen kann. Das ist weit entfernt von der<br />

klassischen Coverversion. Vielmehr nähern sich die Dirty<br />

Projectors dem Kern des Materials. Sie legen die in ihm<br />

verborgene Rohmasse frei, formen sie neu, spüren dem<br />

Geist nach. Longstreth ist mehr Spiritueller als Visionär,<br />

geht mehr assoziativ denn konzeptionell vor. Das eröffnet<br />

eine prinzipielle Dimension im Umgang mit bestehenden<br />

Kunstwerken und zeigt an diesem gelungenen Beispiel<br />

neue Möglichkeiten auf.<br />

Er wollte sehen, ob er das Album selbst machen könne,<br />

nicht als Cover, sondern als »original creative act«. Und<br />

so wird zwar im Albumtitel der direkte (historische) Bezug<br />

proklamiert, doch das, was tatsächlich passiert, ist etwas<br />

Anderes: Die Dirty Projectors verändern den Zugriff, in<br />

dem sie sich über das eigentliche historisierte Kunstwerk<br />

erheben, auch über dessen eigenhändige Zerstörung, und<br />

dem Extrakt nachspüren. David Longstreth hat ihn nicht<br />

mehr vorliegen, den Ast. Er weiß gar nicht mehr so genau,<br />

wie der aussah. Aber einmal, da hat er ihn gesehen. Und er<br />

pflanzt dessen Geist fort, ohne dabei das Geschichtsbuch<br />

zur Hilfe zu nehmen. Er will es nicht und er braucht es<br />

nicht einmal. Weil das hier vorliegende Kunstwerk, »Damaged«<br />

von Black Flag, plötzlich auch sein eigenes geworden<br />

ist.<br />

»Rise Above« von Dirty Projectors ist bereits bei Rough<br />

Trade/Beggars Group/Rough Trade erschienen<br />

»Worried Noodles« von David Shrigley und anderen<br />

ist bereits bei Tomlab/Indigo erschienen<br />

22 1 töne<br />

töne 1 23


Rave hinter<br />

geschlossenen Türen<br />

Vom Schwarzwald an die amerikanische<br />

Westküste: Die Musikerin und Künstlerin<br />

michaela melian weiß, dass es<br />

manchmal nur ein kleiner Schritt von<br />

»Baden Baden« nach »Los Angeles« ist<br />

text, interview: nina scholz<br />

Los Angeles ist ein mythischer Ort. Vielleicht wie bei keiner<br />

anderen Stadt, schießen einem sofort Bilder in den<br />

Kopf: glitzernde Metropole, heiße Sonne, braungebrannte<br />

Bikinimädchen, aber auch düstere Motels, alternde Filmstars,<br />

Gangs. Um diese Klischees und Wahrheiten zu kennen,<br />

muss man nicht dort gewesen sein. »Los Angeles«<br />

heißt auch das zweite Album von Michaela Melian, und<br />

das hat mit dem Vorgänger »Baden Baden« mehr gemein<br />

als zwei Städte im Titel, deren offensichtlichste Bilder sich<br />

um Glam und Trash drehen. »Los Angeles« ist kein raues,<br />

hartes, lautes Album geworden. Zwar verhandelt es Orte,<br />

die mit Schmerz, Wissen, Traurigkeit, Exzessen, Versprechungen<br />

und Hoffnungen durchzogen sind, die Tracks<br />

sind aber, selbst dort wo sie tanzbar sind, sanfte Einladungen<br />

zum Zu- und Wiederhören. Das zentrale Stück<br />

»Föhrenwald«, das genau wie alle Musikstücke Michaela<br />

Melians zu ihren Ausstellungsstücken produziert wurde,<br />

loopt ein Stück traditionelle, jüdische Musik, dass sie im<br />

Archiv Föhrenwald bei ihren Recherchen gefunden hatte.<br />

Am Anfang hätte sie gar nicht gewusst, dass »Föhrenwald«<br />

so groß wird, erzählt sie im Gespräch. Aber dann sei ihr die<br />

Monstrosität des Themas immer mehr bewusst geworden.<br />

Föhrenwald, das nah an ihrem Wohnort Wolfratshausen<br />

liegt, ist eine Ende der 1930er gebaute Siedlung, die erst<br />

als Lager für Zwangsarbeiter, nach dem Krieg als exterritoriale<br />

Siedlung für jüdische displaced persons, später<br />

dann zur Unterbringung heimatvertriebener Familien<br />

genutzt wurde. »Ich dachte, ich kenne mich mit Nachkriegsgeschichte<br />

aus, vieles weiß man ja auch, aber da liegt auch<br />

noch einiges vergraben.« Und so begann sie zu suchen,<br />

zu recherchieren und Beteiligte in sensiblen Gesprächen<br />

auf Tonbänder aufzunehmen. Es entstanden die Bilder,<br />

bei denen sie Schemen der Gebäude erst nachzeichnete,<br />

dann abnähte, um diese dann per Projektor an eine Wand<br />

werfen zu lassen. Der gleichförmige Loop des jüdischen<br />

Stückes mit dem ruhigen Basslauf, die beunruhigenden,<br />

sich überlagernden Tonbandstimmen, das Klicken des Diaprojektors<br />

ziehen den Betrachter an, lassen ihn nicht los,<br />

verstören. Die Installation lädt ein, aber erklärt und tröstet<br />

nicht. »›Föhrenwald‹ war das schwierigste Stück. Egal wen<br />

ich gefragt habe – von den Holocaustüberlebenden bis hin zu<br />

den Vertriebenen – alle haben schlimme Geschichten erlebt,<br />

genauso wie die Leute, die dort gelebt haben. Die Tragweiten<br />

kann man natürlich nicht vergleichen, deswegen habe ich die<br />

jüdischen Personen absichtlich ins Zentrum gestellt.« Dass<br />

der Track auf der Platte melancholisch und beruhigend<br />

klingt, einer ihrer schönsten ist, stört sie nicht weiter: Ihre<br />

Musikstücke lässt sie noch viel mehr los als ihre Kunstwerke<br />

in Ausstellungen. Auf der einen Seite sind ihre Arbeiten<br />

Produkte sehr genauer Recherche und Überlegungen, auf<br />

der anderen Seite vertraut sie ihnen und den Freiräumen,<br />

die sie lassen. »Ich finde das macht nichts. Man kann das<br />

Stück ohne das Wissen hören. Vieles kann man trotzdem dadurch<br />

erfahren und vielleicht macht es ja auch neugierig.«<br />

Oft sind die Stücke für das Album von ihr noch einmal<br />

umprogrammiert und neu gestaltet worden. Teilweise, um<br />

die Effekte in den Ausstellungen, ohne deren Exponate die<br />

Tracks auskommen müssen, deutlicher hervorzuheben,<br />

teilweise aber auch einfach, weil sie sonst in dem Konzept<br />

des Albums störend und nicht stimmig gewirkt hätten.<br />

»Convention« war zuerst eine Installation im Hamburger<br />

Club The Better Days Project, wurde dann nachgebaut<br />

und in der Gender-Ausstellung »Das achte Feld« im Kölner<br />

Museum Ludwig gezeigt. Hinter einer Tür hört man<br />

Technomusik, der Pawlow’sche Rave-Effekt ist schon nach<br />

wenigen Sekunden erreicht: Man möchte hinter diese Tür<br />

gelangen und all die Versprechungen einlösen lassen, die<br />

der Club impliziert. Der Track »Convention« erfüllt genau<br />

dies, aber dafür musste er umgeschrieben und aus seiner<br />

Monotonie erlöst werden: Was wie ein klassischer Einspieler<br />

eines Filmsoundtracks beginnt, sich erstmal den<br />

ruhigeren Stücken auf »Los Angeles« anschließt, zieht nach<br />

und nach an, bis das Discoversprechen deutlich hervortritt<br />

und ein Dancefloorstück ausbricht, man das erste und einzige<br />

Mal zu wippen, ja zu tanzen beginnt. »Convention«<br />

ist, genau wie das Nico-Cover »Manifesto«, welches das<br />

Album beschließt, ein Bekenntnis zu Pop, Glam und Disco.<br />

Michaela Melian ist sich der Schönheiten, Abgründe und<br />

Komplexitäten bewusst. Sie verdeutlicht und beleuchtet<br />

die Situation, um im nächsten Augenblick wieder den Vorhang<br />

herunterzulassen. Um all das zu transportieren, muss<br />

Michaela Melian keine schweren Geschütze auffahren. Die<br />

Reduktion der Produktionsmittel reflektieren, kontrastieren<br />

und verdeutlichen das sogar noch. Besonders klar wird<br />

das bei »Stift«, das durch wenige Loops, die übereinander<br />

gelegt wurden, den Hörer in eine positive Gefangenschaft<br />

nimmt, nicht mehr loslässt, aber auch nie in eine Melodie,<br />

einen Refrain entlässt. Die Spannung entsteht durch die<br />

leisen Widersprüche in ihrer Musik, genau wie in ihrer<br />

Kunst gestaltenden Arbeit. So wachsen kleine und große<br />

Fragezeichen, die den Betrachter und Hörer binden. »Es<br />

wird einem ja erstmal nicht viel geboten, es schreit ja keiner<br />

rum, wie das sonst öfter der Fall ist. Aber natürlich soll es<br />

neugierig machen, ohne einen einzulullen.« Das hat sie in<br />

jeder Hinsicht erreicht: »Los Angeles« ist eine komplexes<br />

und großartiges Popalbum.<br />

»Los Angeles« von Michaela Melian ist<br />

bereits bei Monika/Indigo erschienen<br />

Zeit zum Erinnern<br />

Manchmal ist das Paradox nicht weit:<br />

feu thérèse erschaffen Neues aus<br />

ihrer Erinnerung<br />

text, interview: sebastian hinz<br />

Längst ist es so, dass die zeitgenössische Musik in<br />

ihren Grundzügen festgelegt ist: Folk, Rock, Pop,<br />

HipHop, Techno, Jazz. Selbst eine Verfeinerung<br />

dieser Musikstile bis in die kleinsten Differenzierungen<br />

hat stattgefunden. Es gibt scheinbar<br />

nichts mehr, was es nicht gibt. Und wo die Neuerfindung<br />

so schwer fällt, setzt das (meist schlechte) Gedächtnis ein.<br />

Zitat, Sample, Remix oder Coverversion sind wesentlicher<br />

Teil der postmodernen Musikwelt. Doch so wichtig Montage,<br />

Collage und Kopie als Techniken für die Popmusik<br />

sind, ihnen obliegt es durch die kulturelle Revolution der<br />

neuen elektronischen Medien externer Speicherung (also:<br />

des künstlichen Gedächtnisses) stets etwas Vollendetes,<br />

oder eben leicht – per Mausklick – Verfügbares. Allerdings<br />

gibt es zunehmend Künstler, die dieses Zu-Ende-Gekommene<br />

als Gegenstand der Erinnerung und kommentierender<br />

Aufarbeitung weiterleben lassen; auch Feu Thérèse<br />

gehörten dazu.<br />

»To play with static sounds which are deconstructed by<br />

sounds in motion.«<br />

luc ferrari<br />

Die kanadischen Musiker Jonathan Parant, Alexandre St-<br />

Onge, Stephen Oliveira und Luc Paradis erinnerten sich<br />

zunächst an den französischen Komponisten Luc Ferrari,<br />

der am 22. August 200 , unmittelbar vor Beginn der Arbeit<br />

an ihrem selbst betitelten Debütalbum »Feu Thérèse«,<br />

im italienischen Arezzo gestorben ist. Luc Ferrari galt als<br />

einer der wichtigsten Repräsentanten der Musique concrète,<br />

einer Spielart der modernen Komposition, welche<br />

die Manipulation von Geräuschen aus Natur, Umwelt und<br />

Technologie in den Mittelpunkt stellt. Doch für das Quartett<br />

aus Montréal war es weniger Konkretes, nicht das Verwenden<br />

von Arbeitstechniken oder die Neuinterpretation<br />

von Stücken, sondern der Geist der Musik von Luc Ferrari,<br />

der sich dann auf dem Debüt nebst dem Eröffnungsstück<br />

»Ferrari en Feu« wiederfinden ließ. »Für jeden einzelnen<br />

von uns ist die Musik von Luc Ferrari sehr wichtig,<br />

allerdings auf sehr unterschiedliche, individuelle Art<br />

und Weise«, erklärt Schlagzeuger Luc Paradis. »So sehr uns<br />

seine Arbeit auch beeinflusst hat, ist er eher dahingehend eine<br />

Inspiration für uns, wie grenzenlos Musik sein kann.«<br />

»One thing is certain: even if they don’t know where<br />

they’re going they all go the same.«<br />

alexandre st-onge<br />

Aus neurowissenschaftlicher Sicht sei jede Erinnerung nur<br />

Erfindung, sagte der Hirnforscher Wolf Singer einmal,<br />

was auch als Charakterisierung der kreativen Prozesse<br />

von Feu Thérèse gut passen würde. Die vier Musiker, die<br />

auch bei Fly Pan Am, Et Sans oder Shalabi Effect spielen,<br />

beweisen auch auf ihrem zweiten Album »Ça va cogner«<br />

(engl: It’s gonna hit) eine stilistische Breite, die Krautrock<br />

und französischen Chanson, Musique concrète und Vierviertelpop<br />

umfasst. Es ist eine Erinnerung an einen Sound<br />

und eine Zeit, als Pop noch Subkultur war. Doch nicht als<br />

Nostalgie präsentiert, sondern als avancierter Vorschlag<br />

für die Gegenwart. Luc Paradis: »Es gibt eine Menge Bands,<br />

welche die Musik von den 1960er bis zu den 1980er Jahren<br />

recyceln, ohne dieser etwas ihnen Eigenes zu verleihen. Sie<br />

bevorzugen, diese zu imitieren. Feu Thérèse hingegen glauben<br />

an die Kraft der Rockmusik, Hemmnisse und Grenzen<br />

zu überwinden und machen daher Musik, welche bekannte<br />

Klänge in neue Klänge übersetzt. We are not afraid of sound<br />

and music!«<br />

»Ça Va Cogner« von Feu Thérèse ist bereits<br />

bei Constellation/Alive erschienen<br />

24 1 töne<br />

töne 1 2


Pure Bodies Of Truth<br />

Mit dem kongenialen »Dry Land« beleben a Whisper in the noise<br />

alte Wahrheiten und treffen dabei einen wunden Punkt unserer Zeit<br />

text, interview: fabian saul<br />

»As we were«. Dies sind die ersten Worte, die nach einer<br />

halben Minute losbrechen, und es gehört zur Genialität<br />

der soeben vorgelegten Platte von A Whisper In The Noise,<br />

die zentrale Botschaft dem Gesamtwerk im ersten Satz<br />

voranzustellen.<br />

A Whisper In The Noise ist das Musikprojekt von<br />

West Thordson aus Minnesota. Nach drei in Eigenregie<br />

veröffentlichen Alben in den letzten vier Jahren, erscheint<br />

– zunächst nur in Deutschland – ihr Debüt auf Exile On<br />

Mainstream Records. Und das, was Thordson mit »Dry<br />

Land« geschaffen hat, ist zunächst ein vollkommen unzeitgemäßes<br />

Album. Denn gemäß unserer Zeit hat das Album<br />

als Kunst-Format so gut wie ausgedient. Gemäß unserer<br />

Zeit ist das Vertrauen in eine wie auch immer geartete Authentizität<br />

gering. Gemäß unserer Zeit gilt es, Wahrheiten<br />

entsprechend zu verschlüsseln, sollen sie einen Empfänger<br />

erreichen. Diese Gefallen tun uns A Whisper In The<br />

Noise nicht. Und genau das ist ihre Qualität.<br />

Die klaren Impulse<br />

»Dry Land« ist zunächst eine dichte, geschlossene Platte.<br />

Stetig ist da Thordsons sanftes Piano. Wechselnd umgibt<br />

sich dieses mit Violinen, Cello, Gitarren, Drums, Synthesizern.<br />

Es ist erstaunlich, wie wenig Aufmerksamkeit und<br />

Präsenz die einzelnen Klangelemente benötigen, wie sehr<br />

die Gleichzeitigkeit der Elemente dennoch eine Nachdrücklichkeit<br />

erzeugt. Sie werden nicht in ein Gefüge aufgenommen,<br />

sondern bilden dieses erst selbst. Ein dicht<br />

gewobener Teppich. Es passt gerade eine Melodie durch<br />

die Maschen. Thordsons Stimme und die choralen Varianten<br />

aus dem Background erheben sich dann leicht, nur<br />

ganz leicht, eben deutlich, über diese Basis. Das erinnert<br />

erstaunlich an die Beschaffenheit von »The Western Lands«,<br />

der diesjährigen Veröffentlichung von Gravenhurst.<br />

»Ich versuche immer eine Spannung zwischen harmonischen<br />

Klängen und dunklen, mystischen Klängen zu<br />

kreieren. Es schafft gewissermaßen eine Sehnsucht nach<br />

meiner Heimat.« Stets scheinen die Klänge auf Bilder zu referieren.<br />

Sei es das schroffe, wechselvolle Minnesota oder<br />

eine andere Landschaft der Extreme: Filmisch-bildhafte<br />

Assoziationen begleiten die Musik essenziell. Und das<br />

funktioniert nur durch den großen Bogen, den A Whipser<br />

In The Noise über die elf Songs der Platte spannen. »Dry<br />

Land« passt eben nicht in das mp3-Zeitalter des ständigen<br />

Zugriffs, der zufälligen Wiedergabe, der Ohrstöpsel in der<br />

U-Bahn. »Dry Land« ist ein Album, und das braucht Zeit.<br />

Das Werk muss sich entfalten können. In dieser Hinsicht<br />

kann es hilfreich sein, auf die ganz kleinen Impulse, auf<br />

das Flüstern im Rauschen zu achten. Es ist das kaum hörbare<br />

Rauschen, das wir allzu oft komprimiert haben: Wir<br />

hören es schlichtweg nicht mehr. Die Ästhetik dieser Platte<br />

möchte einen zwingen, noch einmal die großen Boxen<br />

sanft erklingen zu lassen.<br />

»True love will find you in the end«<br />

Für Thordson bleibt die entscheidende Operation die des<br />

Verbindens. Wirkliche Verbindung schaffen in einer Zeit<br />

der Gleichzeitigkeit von totaler Vernetzung und vollkommener<br />

Entfremdung des Individuums von seiner Umgebung.<br />

»Es ist einfach, die Verbindung zu verlieren in einer<br />

Zeit, in der der größte Teil der Interaktion mit Musik durch<br />

Computer passiert.« Es geht um Verbindung zur Musik,<br />

zwischen den einzelnen Stücken, zwischen Konsument<br />

und Künstler.<br />

So ist nicht nur die Studioarbeit, sondern auch die<br />

Live-Performance, die vielleicht rohste Form des Verbindens,<br />

für Thordson von großer Bedeutung. Er ist es, der alle<br />

Stücke komponiert, zumindest deren Idee, deren Kern.<br />

»Meistens beginnt es mit einer Art Gefühl von einem Lied.<br />

Und dann beginne ich der Idee einen Körper zu geben, der<br />

mir pur und wahr erscheint.« Neben der Gesamtheit, die<br />

»Dry Land« als Kunstwerk ausmacht, sind es eben diese<br />

direkten und kaum verschlüsselten Wahrheiten, die diese<br />

Platte genial unzeitgemäß und damit schon wieder treffend<br />

machen. »True love will find you in the end.« Dass<br />

man das vermeintlich Wahre so aussprechen kann, geht<br />

nicht mehr, Hey, geht gar nicht. Doch. Thordson spricht<br />

genau diese Wahrheiten, in Worten wie in Klängen, aus,<br />

und wir blicken mit eben noch hart-kaltem und gleich<br />

schon verheult-gequollenem Gesicht auf und bemerken:<br />

Darf ich? »Dry Land« antwortet nicht »Ja«, sondern: Ihr<br />

müsst! Und vielleicht haben wir nur auf jemanden gewartet,<br />

der das so sagt. Altes, wiedergeboren in einer neuen<br />

Zeit, wird wieder neu.<br />

»Dry Land« von A Whisper In the Noise ist bereits<br />

bei Exile On Mainstream Records erschienen<br />

Umgestülpte Popmusik<br />

Vom Knochenmark ins Außenrum und dann von oben wieder zurück.<br />

kapital band 1 zählen sich durch ihre eigenen Mikrokosmen, »Playing by Numbers«<br />

text: dan gorenstein<br />

Noch bevor ein Ton erklingt, muss gezählt werden, muss<br />

der gemeinsame Rhythmus aus der Polyrhythmik des<br />

Universums gehoben werden, damit man sich einig wird<br />

und Musik erklingt. Den Unterschied zwischen dem Stimmen<br />

eines Instrumentes und dem Augenblick, in dem das<br />

dann zu Musik wird, macht letztlich nur eine Zahlenfolge<br />

aus, der Rhythmus, sei es nun Beat oder Off-Beat. Wenn<br />

man so will, ist jeder Umgang mit Musik ein Ausmessen<br />

des von ihr erzeugten Zeitstrahls, ein Abzählen der Baumringe<br />

einer CD oder Platte, des Tapebandwurms, der eigenen<br />

Gehörgänge.<br />

Der rote Faden Zeit<br />

Das neue Album der Berlin-Wien-Connection Kapital Band<br />

1 ist, genau genommen, nichts weiter als eine Feier dieses<br />

Umstandes. Fast schon eine Beweisführung. An der Grenze<br />

zwischen der kalten Logik eines mathematischen Satzes<br />

und dem warmen Klang eines Musikinstrumentes blüht diese<br />

Platte, neben dem Grenzpfeiler. Bald neigt sie sich zur<br />

einen Seite, bald zur anderen. Ein Triptychon des Marsches<br />

durch die Sphären der gezählten Musik. Schon das Titelgebende<br />

Stück »Playing by Numbers« skizziert den Beat, zwischen<br />

On und Off, den roten Faden Zeit, auf dem wir die<br />

nächste halbe Stunde balancieren werden. Aber wir werden<br />

ihn nie in der Hand halten, wir wissen nur ungefähr, wo er<br />

liegen sollte. Die Musik umspielt den Beat, trifft ihn aber<br />

nicht, denn auf den Punkt kann er gar nicht getroffen werden.<br />

Wir suchen ihn im kleinstmöglichen Intervall. Musikalisch<br />

und auch vom Namen her ist Track eins die Pforte in<br />

das Hauptstück der Platte: »Playing the Night in Vienna«.<br />

Wo vorher noch ein Musikstück mit einem zumindest<br />

ideellen Beat durchmessen werden konnte, ist nun nur<br />

noch die Nacht. Kein Song, sondern Geräuschkulisse.<br />

Doch auch die wird mit denselben Instrumenten durchzählt,<br />

dem Musiksein unterworfen. Der Wind pfeift, Autos<br />

brummen, man hört ein Murmeln, die Position des<br />

Mikrofons wird zum Instrument, die Lautstärke wird zum<br />

Instrument, es sind noch immer die Instrumente aus dem<br />

ersten Stück zu hören, sie gliedern sich ein. Die Musik<br />

stülpt sich nach außen, das Instrument wird zum Geräusch<br />

und das Geräusch zum Instrument. Irgendwann hört man<br />

Musik, verzerrt von den Straßenschluchten, durch Wände<br />

gedämpft. Einen Augenblick lang ist da so eine Hoffnung,<br />

sind da andere, die noch nicht alles zählen, doch auch das<br />

verebbt im sphärischen Rauschen der Wiener Nacht.<br />

Manifest des Zwangsverstärkers<br />

Fast schon ironisch der Ausklang des Albums, das einzige<br />

Stück mit Gesang: Manifest eines Zwangsgestörten, verdammt,<br />

die Ewigkeit zu zählen, die Wellen, die Sterne, die<br />

Stufen, die Tage. Einer, der gegen die Götter anzählt, dem<br />

jede Ordnung zwischen den Fingern zu zerrinnen scheint<br />

und der sie sich deshalb immer wieder erzählen muss. Aber<br />

auch das ist Kalkül, denn jede gute Abhandlung bringt ihre<br />

eigene Kritik schon im Appendix mit sich, und natürlich<br />

muss jede Ordnung auch erzählt werden, ansonsten ist sie<br />

nichts weiter als Wahn.<br />

»Playing By Numbers« von Kapital Band 1 ist<br />

bereits bei Mosz/Hausmusik erschienen<br />

26 1 töne<br />

töne 1 27


zwiegespräch<br />

immer diese<br />

begrifflichkeiten<br />

Gespräch mit frank bretschneider<br />

und sun electric<br />

text, interview: jens pacholsky fotos: tilman junge<br />

Minimal ist nicht gleich Minimal und das Gegenteil auch<br />

nicht – nun ja – Vangelis. Manchmal können gerade in der<br />

elektronischen Musik, die letztlich auf Sound an sich basiert,<br />

die vermeintlich leeren Räume voller Leben stecken.<br />

Sun Electric, die als Erfinder des Ambient House und somit<br />

als Vertreter der Fülle gelten, veröffentlichen mit »Lost<br />

+ Found (1998-2001)« wiederentdeckte Stücke, die ganz<br />

und gar nicht überbordend zwischen Jazz, Electronica<br />

und Ambient grooven. Frank Bretschneider hat dagegen<br />

als Minimalist ein komplexes Album geschaffen. Dabei liegen<br />

sie recht nah beieinander im Gespräch über Minimal,<br />

Gerüche, Zufälle und ihre Basis im Einzelklang.<br />

Eure aktuellen Alben repräsentieren nicht gerade den Ruf,<br />

der ihnen vorauseilt. Macht ihr Euch überhaupt Gedanken<br />

um diese Differenzierung der Stile?<br />

Frank bretschneider: Minimalismus war immer Bestandteil<br />

der elektronischen Musik. Und es wird immer<br />

die Pole geben, von der minimalen Musik aus Kalifornien<br />

aus den 19 0er Jahren und dem Bombastischen wie Vangelis<br />

zum Beispiel.<br />

max lodenbauer: (lacht) War das jetzt eine Anspielung?<br />

tom thiel: Nicht Minimal heißt ja nicht aufgebläht. Es<br />

kann auch heißen, dass Brüche drin sind, die das Ganze in<br />

eine andere Richtung bringen, neue Sounds reinkommen.<br />

Ich denke, es ist auch ein Unterschied, ob man allein Musik<br />

macht oder zu zweit.<br />

ml: (lacht) Zwei Leute ist schon mal weniger Minimal, als<br />

nur einer.<br />

tt: Ich glaube, es ist auch unterhaltsamer, zu<br />

zweit zu spielen. Wenn man allein spielt, hat<br />

man eben alles unter Kontrolle.<br />

Fb: Das ist wahrscheinlich auch so etwas.<br />

Ich bin wirklich ein Control Freak. Was ich<br />

mache, soll so sein, wie ich es mir vorstelle.<br />

Da ist relativ wenig Raum für Improvisation<br />

oder Zufälle.<br />

ml: Aber Du hast doch sicher auch kleine Sachen,<br />

die sich leicht verändern und wo durch<br />

andere Kombinationen Anderes entsteht.<br />

Fb: Ja, aber ich bin da in dem Sinne schon eher Komponist.<br />

Das sind dann Sachen, wo ich ganz sorgfältig bestimmte<br />

Breaks plane, baue und konstruiere. Natürlich kommen<br />

Einzelteile auch durch Zufall.<br />

ml: Zufall im Sinne von Terry Rileys »In C«? Da sind Änderungen<br />

ja auch vorgegeben, aber trotzdem eben nicht<br />

genau, wann.<br />

Fb: Ich habe schon eine ganz genaue Vorstellung, wie<br />

sich der Track entwickelt. Wenn der sich entwickelt, dann<br />

entwickelt sich auch diese Vorstellung und kommt auf einen<br />

bestimmten Punkt. Und den möchte ich ganz gezielt<br />

erreichen. Wenn jetzt was reinkommen würde, das gut<br />

passen, aber den Charakter des Tracks verändern würde,<br />

würde ich das gnadenlos rausschmeißen, weil…<br />

ml: …es gehört nicht zum Stück.<br />

Frank, kannst Du Dich eigentlich mit dem Begriff Minimal<br />

identifizieren?<br />

Fb: Aber ohne jetzt auf diesem alten Minimal-Begriff zu<br />

sitzen.<br />

ml: Wegen des Vergleichs mit Terry Riley?<br />

Fb: Ja, das verbinde ich eben mit Minimal. Aus welchem<br />

Grunde Richie Hawtin unter Minimal läuft, weiß ich nicht.<br />

Das hat sich so eingebürgert.<br />

ml: Das ist die neue Form des Minimal, die hat nichts mit<br />

den alten Jungs zu tun.<br />

Fb: Das ist so wie bei R&B.<br />

ml: Minimal waren ursprünglich Leute wie Philip Glass,<br />

Terry Riley, Steve Reich. Diese repetitiven…<br />

Fb: …Komponisten und Computer-Komponisten. Sehr<br />

frühe elektronische Musik aus den 19 0er Jahren, die oftmals<br />

nur auf einem Pattern beruhte.<br />

ml: Repetitiv und auf den ersten Blick immer das Gleiche…<br />

Fb: …mit minimalen Veränderungen…<br />

ml: …wo man, wenn man genau hinhört, merkt, dass sich<br />

da etwas tut.<br />

Das passiert bei Richie Hawtin allerdings auch…<br />

tt: Das ist ja eigentlich auch die Grundidee von Techno,<br />

dass die eigentliche Geschichte auf die Basis draufmoduliert<br />

ist.<br />

Fb: Aber der Begriff kommt aus einem anderem Kontext.<br />

Damals kam das aus der akademischen Musik. Und heute<br />

ist es eine Funktionsmusik, die für einen ganz bestimmten<br />

Zweck hergestellt ist – für den Dancefloor.<br />

ml: Mit dem Ambient war es auch so. Im Ursprung war<br />

Ambient, diese Erfindung von Brian Eno, reine Funktionshintergrundmusik.<br />

Oder wie Erik Satie meinte: »Die<br />

Musik soll sein wie ein Duft im Raum«.<br />

Das ist dann viel ausschweifender geworden, wie bei The<br />

Orb und Future Sound Of London.<br />

ml: Ja ja, das ist Bombast.<br />

Das sind keine kleinen Gerüche mehr…<br />

ml: (lacht) Da stinkt es dann schon.<br />

Die Begriffe ändern sich natürlich. Aber es ist auch eine<br />

Frage des Ansatzes, z.B. aus wenig viel zu machen. Frank<br />

Bretschneiders Album ist sehr minimal, nur Rhythmus und<br />

perkussive Elemente, das aber unheimlich dicht klingt.<br />

Fb: Das ist jetzt Deine Wahrnehmung. Das kann ich erstmal<br />

gar nicht so nachvollziehen. Für mich ist es immer<br />

noch relativ mager. Es gibt maximal vier bis fünf Spuren.<br />

tt: Was mir an Deinen Sachen sehr gefällt, ist diese gewisse<br />

funkiness.<br />

Ich denke, dieser Funk-Aspekt macht das Album auch so voll.<br />

Fb: (lacht) Dann habe ich scheinbar wirklich was erreicht,<br />

was ich schon lange erreichen wollte.<br />

Das liegt vielleicht auch am Ansatz elektronischer Musik,<br />

die viel stärker als andere Stile vorrangig auf dem Sound<br />

an sich basiert.<br />

Fb: Ich arbeite auch immer gleichzeitig am Stück und am<br />

Sound – sowohl des ganzen Stücks als auch der einzelnen<br />

Bestandteile.<br />

ml: Du kannst im Prinzip prima ein ganzes Stück machen,<br />

das einfach nur ein Ton ist, der sich verändert.<br />

»Aus welchem Grunde Richie Hawtin<br />

unter Minimal läuft, weiß ich nicht.<br />

Das hat sich so eingebürgert.«<br />

frank bretschneider<br />

Fb: Das gibt es aber bei anderen Musikarten auch. Denk<br />

nur mal an Mönchsgesänge.<br />

ml: Ja, aber man kann schon mit der Modulation viel machen,<br />

z.B. wenn man den einen Ton rhythmisch moduliert<br />

und dann nichts von all den Melodien spielt, dann ist das<br />

tonal keine Komposition im herkömmlichen Sinn. Weil<br />

das Stück nicht aus irgendwelchen Harmonien entsteht.<br />

Obwohl die dann wieder in so einem Sound immanent<br />

sind.<br />

tt: Da gibt es aber auch eine Entwicklung. In der Mitte<br />

der 1990er war es immer das Ziel, möglichst ausgefallene<br />

Klänge zu finden. Das hatte sich irgendwann ausgereizt.<br />

Du kannst heute damit niemanden mehr hinter dem<br />

Ofen hervorlocken. Daniel Möller hat dazu mal etwas<br />

sehr Gutes gesagt. Dass in den 1980er Jahren diese ganzen<br />

elektronischen Geräte missbraucht wurden. Und heute<br />

kauft man diese Sachen, und die ganzen Sounds, die darin<br />

abgespeichert sind, sind bereits pre-abused. Heute kommt<br />

es nicht mehr auf diesen besonderen Einzelsound an, der<br />

alles schlägt, sondern auf das Gefüge.<br />

Die elektronische Musik versucht auch seit einigen Jahren,<br />

aus dem Repetitiven heraus zu kommen, gerade mit<br />

Electronica. Max, Du gehst mit Deinem anderen Projekt<br />

Chica & The Folder ja eher in Richtung Songs.<br />

ml: Die Wellen gehen immer rauf und runter, genau wie<br />

analog und digital.<br />

Fb: Die andere Antwort wäre so etwas wie Jan Jelinek, der<br />

mit »Tierbeobachtungen« ein ganz stark loopbasiertes Album<br />

gemacht hat. Es gibt immer Leute, für die bestimmte<br />

Dinge gerade zu Ende sind, und andere Leute greifen genau<br />

das wieder auf.<br />

ml: Und dann hörst Du den einen und denkst, »jetzt kann<br />

ich den Loop aber nicht mehr hören…«<br />

Fb: Genau.<br />

ml: …dann kommt der andere doch mit einem Loopteil<br />

und Du denkst: »Boah, ist aber doch schon geil.«<br />

tt: An Jan Jelinek musste ich jetzt auch gerade denken.<br />

Der würde jetzt nämlich sagen: »Für was anderes als geloopte<br />

Musik taugt die ganze Elektronik eh nicht.«<br />

»Lost + Found<br />

(1998-2000)« von Sun<br />

Electric ist bereits<br />

bei Shitkatapult/MDM<br />

erschienen<br />

»Rhythm« von Frank<br />

Bretschneider ist<br />

bereits bei Raster-<br />

Noton erschienen<br />

»Under The Balcony«<br />

von Chica & The<br />

Folder ist bereits<br />

bei Monika/Indigo<br />

erschienen<br />

28 1 töne<br />

töne 1 29


They are<br />

rebuilding the<br />

city<br />

Musik aus Bristol<br />

text: falko teichmann<br />

fotos: liz eve | liz@fotohaus.co.uk<br />

I<br />

Vor fast drei Jahrzehnten schuf eine Gruppe junger Musiker<br />

um den Sänger und Politdichter Mark Stewart unter<br />

dem Namen The Pop Group (gemeinsam mit dem Dubproduzenten<br />

Dennis Bovell) mit dem Album »Y« in Bristol<br />

den Urtext für vieles, was über die Jahre aus der Stadt<br />

an der Westküste Englands kommen sollte. Gleichzeitig<br />

legten sie ein Arsenal aus Bezügen, Einflüssen und Haltungen<br />

vor, das bis heute in sich stets wandelnder Form<br />

der Anwendung die Quellen eint, aus denen sich Musik<br />

in Bristol speist: Produktionsweise und Soundsystemkultur<br />

von Dub und Reggae, Weltmusik, Krautrock, psychedelische<br />

Experimente und nüchterne Anverwandlung,<br />

Popkultur als Möglichkeit jenseits ihrer selbst, ästhetische<br />

Unabhängigkeit und Hype-Resistenz. Und dabei ergibt<br />

sich trotz aller Präsenz dieser Verweise und Haltungen<br />

kein homogenes Klangbild, kein Sound of Bristol, der sich<br />

eindeutig verorten ließe. Mit Ausnahme jener Laune des<br />

Zeitgeists, die unter dem Namen Trip Hop für eine Zeit<br />

eng mit dem Namen der Stadt verbunden war und langfristig<br />

den offiziellen Blickwinkel der Berichterstattung<br />

über in Bristol entstandene und entstehende Musik bestimmt<br />

hat.<br />

Gleich zu Beginn jenes Zeitlupenhypes zur Mitte der<br />

letzten Dekade wurde damit der Blick abgelenkt von einer<br />

anderen, sich bis in unsere Tage fortschreibenden Geschichte<br />

musikalischen Schöpfergeistes in und um Bristol,<br />

in der sich singuläre künstlerische Visionen, Do-It-Your-<br />

self-Ethos, fein gewobene Verknüpfungen von Individuen<br />

und Kollektiven und einige der brillantesten Veröffentlichungen<br />

und Werkkörper der zurückliegenden Jahre zu<br />

einer vielfach in sich verschlungenen Chronologie bündeln,<br />

deren nun folgende Untersuchung den Bereich gesicherter<br />

Fakten und historischer Genauigkeit gelegentlich<br />

hinter sich lassen muss, um zwischen Fansein und Feldforschung<br />

einen eigenen Weg durch die Echokammer der<br />

Erinnerung zu finden.<br />

II<br />

Für »Loveless«-Junkies auf Entzug oder Hörer, denen<br />

Slowdive zu wenig »psycho candy« waren, ersetzten Flying<br />

Saucer Attack um 1993 herum »shoegazing« durch<br />

»bliss«, und so weit sie dabei ausholten, so sehr blieben<br />

Dave Pierce und seine Mitstreiter doch bei sich, in ihrem<br />

Haus aus Melancholie und Feedback. Unzählige Singles<br />

und ein halbes Dutzend Alben zeichnen den Weg nach,<br />

auf dem sich verzerrter Garagenpop, das ambiente Ende<br />

von Krautrock, pastorale Folkmelodien und furchtloses<br />

Driften einen Weg zwischen Retro und Experiment<br />

bahnten. Ein regelmäßiger Gast bei den psychedelischen<br />

Seancen der ersten Jahre war ein junger Mann namens<br />

Matt Elliott, der kurze Zeit später zu seinem eigenen Weltraumflug<br />

durch weißen Krach, Bewusstseinserweiterung<br />

und sakralen Drum’n’Bass aufbrechen sollte, um darüber<br />

zu einer Schlüsselfigur für die Bristolszene der 1990er Jahre<br />

zu werden.<br />

Aus Matt Elliotts unerreichter Synthese von ma-<br />

nischen Breakbeats, Indie, White Noise, orthodoxen<br />

Chören und seelenvollem Industrial, die er unter dem Namen<br />

The Third Eye Foundation entwickelte, entstanden<br />

klassische Werke wie »Ghost«, »You Guys Kill Me« und »In<br />

Version«, wobei letzteres wie ein Familienalbum die Protagonisten<br />

der Mittneunziger-Bristol-Szene mit Elliots an<br />

Dubtechniken geschulten Neubearbeitungen von Bands<br />

wie Crescent, Amp und Hood (die zwar in Leeds lebten<br />

und aufnahmen, aber personell und soundästhetisch dem<br />

musikalischen Geschehen in Bristol immer nahestehen<br />

sollten) versammelt, um am Ende der LP in einer letzten<br />

atemberaubenden Zusammenarbeit mit Flying Saucer<br />

Attack zu gipfeln, bei der die Erinnerung an den gemeinsamen<br />

Aufbruch in nostalgische Elektroakustik zerfällt<br />

und mit der Titelreferenz an David Bowman, Hauptfigur<br />

in Kubricks »2001«, das ursprüngliche Selbstverständnis<br />

als Klangkosmonauten im inneren Raum zu einer finalen<br />

Überhöhung führt.<br />

Sowohl Flying Saucer Attack als auch The Third Eye<br />

Foundation sollten sich in Folge auf dem noch jungen Plattenlabel<br />

Domino wieder finden, und mit den dort ebenfalls<br />

veröffentlichenden Movietone in der zweiten Hälfte<br />

der 1990er Jahre die kleine Bristolfraktion im Programm<br />

dieser Stil prägenden Londoner Plattenfirma bilden.<br />

Mit besagten Movietone, der Band von Kate Wright<br />

und Rachel Brook, und dem Projekt Foehn von Debbie<br />

Reynolds formulierten weibliche Stimmen dann die musikalischen<br />

Bruchstellen weiter aus: Im Fall von Foehn in<br />

Form fiebriger Fragmente aus Klangclustern, Minimalkrach<br />

und Sehnsuchtsmelodien, während Movietone ihr<br />

elliptisches Songwriting immer weiter aus dem Kontext<br />

urbaner Geräusche in monochrome ländliche Szenarien<br />

überführten – eine Entwicklung, die sich auch im Werk<br />

von Crescent, einer der langlebigsten, und wandelbarsten<br />

Bands Bristols, wiederfindet.<br />

Wie sich die Band um den Sänger und Komponisten<br />

Matt Jones dabei über einen Zeitraum von fünfzehn<br />

Jahren immer näher auf den emotionalen Kern ihrer Vision<br />

zubewegt hat, bis hin zum jüngst erschienen Album<br />

»Little Waves«, erschließt sich wahrscheinlich am ehesten<br />

indem man die Bandgeschichte über den Tonkopf der<br />

Geschichte rollen lässt und bei den verzerrten Epen des<br />

Frühwerks beginnt, auf denen Matt und sein Bruder Sam<br />

Jones mit Unterstützung von u.a. Matt Elliott Factory-Gitarren<br />

und Jazz aus einem Kellerloch zusammen denken<br />

und sich im weiteren Verlauf über Dubabstraktionen, Noisereduzierung<br />

und verschleppten Cineastenblues immer<br />

klarer die Konturen eines großen Songwriting-Talents<br />

herausstellten, das nach Jahren des Umherwanderns Ende<br />

des letzten Jahrzehnts eine späte Heimat bei Fat Cat<br />

Records fand. In den Jahren bis dahin sorgten zwei kleine,<br />

für die Musikszene Bristols in den 1990er Jahren jedoch<br />

maßgebliche, Labels für die Veröffentlichung zentraler<br />

Werke Crescents.<br />

Das Debüt mit dem lakonischen Titel »Now« erschien<br />

1994 beim Label Planet Records, das für viele der bereits erwähnten<br />

Künstler als wichtige Plattform fungierte. Mit ihrem<br />

dritten Album »Collected Songs« platzierten sie sich<br />

am Ende des Jahrzehnts in einem erweiterten Kontext von<br />

Musikern aus Bristol und veröffentlichten auf dem<br />

30 1 töne<br />

töne 1 31


von der lokalen Musiklegende Fat Paul betriebenen<br />

Label Swarffinger, auf dem neben The Experimental<br />

Popband, Spleen (dem Soloprojekt von PJ Harveys erstem<br />

Schlagzeuger Rob Ellis) und Morning Star einige der<br />

unfassbarsten Veröffentlichungen der späten Neunziger<br />

von Bands wie Teenagers in Trouble, Voices of Kwahn und<br />

Pregnant herauskamen. Die mit Swarffinger einsetzende<br />

endgültige Atomisierung jeglicher ästhetischer Parameter<br />

sowie die Auflösung von Trennlinien zwischen musikalischen<br />

Gruppierungen markiert den endgültigen Beginn<br />

dessen, was sich heute als Bristols Multiversum der Mikroszenen<br />

darstellt.<br />

III<br />

Nach der Jahrhundertwende wurde es für eine Weile still<br />

um die Musik aus Bristol. Es wollte sich nach der Implosion<br />

der 1990er-Jahre-Szene, dem Verschwinden von Planet<br />

Records und Swarffinger sowie einem eher spärlichen Fluss<br />

an Veröffentlichungen, aus denen Alben von Crescent,<br />

Movietone und Manyfingers hervorstachen, nicht mehr<br />

jene Begeisterung einstellen, die über Jahre von Interessierten<br />

mit dem Wort Bristol verbunden wurde. Selbst die<br />

frühen Platten des jungen Nick Talbot, der als Gravenhurst<br />

nach seinem sich zum Teil der Liebe zur Musik der Stadt<br />

verdankenden Umzug nach Bristol seine ersten Songs auf<br />

Warp veröffentlichte, stimmten eher nostalgisch, mit ihren<br />

verfeinerten Variationen von in den zehn Jahren zuvor<br />

Eine sorgfältige Auswahl<br />

von 10 Alben aus Bristol<br />

»Y« von The Pop<br />

Group 1979<br />

Politik, Punk<br />

und Funk treffen<br />

Satie, Lee Perry und<br />

Amnesty International<br />

unten auf dem<br />

Schulhof. Agit Prop,<br />

Tribalismus und die<br />

zornigen Kinder<br />

des Kalten Krieges.<br />

Ein ideologischer<br />

Veitstanz. Visonärer<br />

Wahnsinn.<br />

»Aftermath EP«<br />

von Tricky 1994<br />

Die dunkle Seite des<br />

Sound Systems, er<br />

selbst nannte es Hip<br />

Hop Blues, Mark<br />

Stewart hat koproduziert,<br />

Japans<br />

»Ghosts« und die<br />

Tonspur von Blade<br />

Runner driften<br />

durch den Mix,<br />

während Tricky und<br />

Martina vom Ende<br />

der Welt singen.<br />

Looking for People.<br />

»Flying Saucer<br />

Attack« von Flying<br />

Saucer Attack 1994<br />

Breitwand-LoFi aus<br />

dem Wohnzimmerstudio.<br />

David Pearce<br />

bricht zu seiner ekstatischen<br />

Pilgerfahrt<br />

auf, tiefer hinein<br />

in den magischen<br />

Sound aus Psychpop,<br />

Ambientkraut<br />

und Traumwaffen.<br />

etablierten Versatzstücken jenes verschwindenden Klangs,<br />

den eine kleine Szene von Bands aus Bristol über einige<br />

Zeit in die Welt getragen hatte.<br />

Dass sich natürlich trotzdem im Abseits medialer<br />

Beachtung und jenseits offiziell zirkulierender Veröffentlichungen<br />

immer noch einiges im Westen Englands tat, ließ<br />

sich dann 2004 durch die von Matt Jones zusammengestellte<br />

und als CD-R herausgegebene Compilation »Little<br />

Waves« (nicht zu verwechseln mit dem bereits erwähnten<br />

letzten Album von Crescent) erahnen. Neben einigen<br />

vertrauten Namen fanden sich auf dieser Zusammenstellung<br />

viele unbekannte Künstler, die selbst, wie sich später<br />

herausstellen sollte, nur einen kleinen Ausschnitt eines<br />

viel größeren, sich selbst knüpfenden Netzes aus neuen<br />

Namen, Sounds und DIY-Veröffentlichungen darstellten.<br />

Wo die Bristol-Bands der 1990er Jahre zum Teil bei mittelgroßen<br />

Indielabels aufgehoben waren oder zumindest bei<br />

den überregional beachteten lokalen Plattenfirmen unterkamen,<br />

bewegten sich die meisten der neuen Bands und<br />

Künstler dieser sich anbahnenden »Bristol Renaissance«<br />

nicht mal mehr in der Nähe etablierter Veröffentlichungswege.<br />

Die neuen Technologien zur Vernetzung, Vervielfältigung<br />

und Verbreitung von Musik sehr wohl zu nutzen<br />

wissend, verzichtete man von nun an fast gänzlich auf die<br />

fadenscheinigen Verheißungen einer heißlaufenden Verwertungsmaschine,<br />

und setzte dem Profitminimalismus<br />

der Indie-Industrie ein Update erprobter DIY-Strategien<br />

entgegen.<br />

Aus den kleinen Wellen wurden Stromschnellen,<br />

kreative Wirbel, Unterströmungen und schließlich ein<br />

steter Fluss von Songs, Ideen, Konzepten und Konzerten,<br />

für den der Stadtteil Stokescroft zum Delta werden sollte,<br />

in dem sich in den letzten Jahren ein vielfältig schim-<br />

»Ghost« von<br />

The Third Eye<br />

Foundation 1997<br />

Die Platte, die ihr<br />

Autor am liebsten<br />

nicht gemacht hätte.<br />

Eine Reise durch ein<br />

brennendes Gehirn.<br />

Darkstep Drum and<br />

Bass, Kevin Shields<br />

Choräle, Samplerschamanismus.<br />

Musik für den Rave<br />

unter dem schwarzen<br />

Monolithen.<br />

»vs. Fat Paul«<br />

von Teenagers in<br />

Trouble 1997<br />

Postmodernes<br />

Rabaukentum, ein<br />

Bandname wie ein<br />

T-Shirt-Slogan, der<br />

Pate an den Reglern,<br />

und die Kids feiern<br />

auf dem Müllhaufen<br />

der Geschichte:<br />

Slacker Core,<br />

Allman Brothers,<br />

Dusty Springfield,<br />

Break Beats, Free<br />

Jazz, Grand Funk<br />

Railroad, The Godz.<br />

Weit draussen.<br />

merndes Biotop außergewöhnlicher Musik entwickelt hat.<br />

Das schlagende Herz jener urbanen Enklave ist das Cube<br />

Microplex Cinema, ein in Konzept, Ökonomie und Architektur<br />

außergewöhnlicher Ort. Eine sich stetig personell<br />

erneuernde Gruppe von (unendgeldlich arbeitenden)<br />

Enthusiasten erfüllt seit neun Jahren das kleine Auditorium<br />

mit dem Erlebnis Underground, das weit über den<br />

begrenzten Ereignishorizont von Medien und Marketing<br />

hinaus die Legende über ein mit der Kunst versöhntes Leben<br />

weiterspinnt. Und wie sich von diesem Vortex aus die<br />

Musik Bristols in den letzten Jahren zu einem Kaleidoskop<br />

von Stilen entwickelt hat, in dem jede Band, jeder Künstler<br />

für ein ureigenes Genre zu stehen scheint, lässt die Ver-<br />

»Operation Dismantled<br />

Sun« von<br />

Voices Of Kwahn<br />

1998<br />

Zart verglühende<br />

post-industrielle<br />

Landschaften.<br />

Feldaufnahmen,<br />

wie aus einem<br />

Katastrophengebiet,<br />

in dem ein Alien<br />

Liebeslieder singt.<br />

Elektrische Traumtraktate<br />

und letzte<br />

Rituale. Eine der<br />

seltsamsten Platten<br />

der 90er Jahre.<br />

»Collected Songs«<br />

von Crescent 1999<br />

Ihr Opus Magnum.<br />

Bristol Beatnik Noir.<br />

Weisse Räume.<br />

Sonnenaufgänge in<br />

Schwarzweiss. Tape<br />

Echos, Ölfässer,<br />

Mikrophone, Schellackplatten.<br />

Songs<br />

wie Asche und Rost,<br />

Poesie wie träger<br />

Schnee. Als würde<br />

Ian Curtis den Blues<br />

singen mit den<br />

Geistern des Dub.<br />

»The Blossom<br />

Filled Streets« von<br />

Movietone 2000<br />

Der Frühling nach<br />

dem Winter von<br />

»Collected Songs«,<br />

somnambuler<br />

Swing, Amateur<br />

Bossa Nova, das<br />

träge Fliessen von<br />

Nachmittagen,<br />

überbelichtete Urlaubsfotos,<br />

Jazz Age<br />

Lyrik, handkolorierteSonnenuntergänge,<br />

Fußabdrücke<br />

im Sand. Ein Juwel.<br />

mutung zu, dass in unserer Zeit, nach dem endgültigen<br />

Ende des Konsens zwischen Kritikern und Konsumenten,<br />

die universale Sprache des Pop sich oft am deutlichsten in<br />

ihren lokalen Dialekten artikuliert.<br />

Um diesem babylonischen Dorf unabhängigen Sprechens<br />

gerecht zu werden, setzt sich dieser Artikel im Digitalen<br />

fort und ergänzt in Form eines Bristol Index aus<br />

Namen, Veröffentlichungen, Beziehungen und Veranstaltungen<br />

(angereichert durch Verlinkungen und knapp<br />

gehaltene Kommentare), nebst einer Liste persönlicher<br />

Lieblingsplatten, die Darstellung einer der faszinierendsten<br />

und virilsten Musikszenen unserer Zeit.<br />

»Manyfingers« von<br />

Manyfingers 200<br />

Die erste Soloarbeit<br />

von Chris Cole,<br />

kongenialer Drummer<br />

bei Crescent,<br />

Movietone und Matt<br />

Elliott, auf der sich<br />

multiinstrumentales<br />

Flechtwerk, virtuoses<br />

Looping, akkustischer<br />

Ambient und<br />

sonore Schwermut<br />

zu einem postelektronischenMeisterwerk<br />

versammeln.<br />

»Wrong Faced Cat<br />

Feed Collapse« von<br />

SJ Esau 2007<br />

Sam Wisternoff ist<br />

Bristols Mann bei<br />

Anticon. Exzentrisches<br />

Songwriting,<br />

sympathischer<br />

Irrsinn, gesamplete<br />

Hauskatzen, Hip-<br />

Hop-Hybride und<br />

experimenteller<br />

Indie. Der Beginn<br />

einer großen Underground<br />

Karriere.<br />

32 1 töne<br />

töne 1 33


epiphany outlet text: renko heuer<br />

Eine spannende Ansicht von Rasmus Stolberg, seines<br />

Zeichens Träger einer beeindruckenden Gesichtsbürste,<br />

soll als Basis und Ausgangsthese der neuesten Epiphanienstudie<br />

dienen. Der Efterklang-Mastermind Stolberg<br />

argwöhnt, dass »das Album [...] eine tote Kunstform [ist].<br />

Üblicherweise hat man doch so oder so nur drei Singles und<br />

dann noch ca. sieben Songs, die im Idealfall nicht vollkommen<br />

grottenschlecht sind. Doch sind die letztendlich auch<br />

egal, denn die Hörer wollen nur die drei Superhits hören.<br />

Insofern ist das Album leider Gottes schon längst tot, denn<br />

warum sollte eine große Firma demnächst noch Geld für die<br />

anderen sieben Songs ausgeben, wo es doch allen Beteiligten<br />

eigentlich nur um die drei Verbleibenden geht?!« Nicht<br />

schlecht, die Idee und besonders gewichtig, wenn man<br />

bedenkt, dass der Mann derartige Dinge studiert (oder<br />

zumindest so tut). Aber bewegen wir uns doch gemeinsam<br />

in den delikaten Bereich der subjektiven Empirie (sic! und<br />

somit zu slaraffenland, einem gleichfalls delikaten<br />

Signing auf Stolbergs stets stilsicherem Label Rumraket.<br />

Diese Herren aus dem »Milch- und Honigland«, ebenfalls<br />

aus Kopenhagen, bewerkstelligen es mit »Private Cinema«<br />

lockerleicht, ein vielschichtiges und doch in sich geschlossenes<br />

Werk vorzulegen, das eben jener These einen<br />

argen Hieb in den theoretischen Unterleib verpasst: Ob<br />

es nun vereinzelte Noise-Anwandlungen, Indie-Exkurse<br />

oder -zesse, Postrock-Stunts oder simple Klangpolaroids<br />

sind – von Wegwerf-Singlebörse kann hier keine Rede sein.<br />

Ebenfalls in der Nachbarschaft von Mr. Stolberg befinden<br />

sich grizzly bear, die mit ihrer »Friend EP« (Warp<br />

Records) endlich Tonträger-Nachschub abliefern. Und<br />

siehe da: Zwar erscheint die Mischung aus Cover-Songs<br />

und Daniel-Rossen-Solo-Bonustracks zunächst etwas beliebig,<br />

aber es ist und bleibt der mächtigste Brooklyn-Bär<br />

auf weiter Flur. 2:0 für die Contra-Seite. Weiter geht’s<br />

mit unserem Lieblingsschweden josé gonzález. Der<br />

Nachfolger (»In Our Nature«, Peacefrog) des einstigen Biochemie-Studenten<br />

hat zwar mit »Teardrop« (von Massive<br />

Attack), dem Cover-Nachfolger zu seiner »Heartbeats«-<br />

Sony-Bildschirm-Gummiball-Erfolgsstory, eine ausdrückliche<br />

Single im Kaffeesatz, mit der er Mann und Frau<br />

gewiss in jedem Starbucks zu begeistern weiß, doch hält er<br />

auch auf Albumlänge die Qualität des Erstlings. Auch sein<br />

Singer/Songwriter-Bruder fink, mit »Distance & Time«<br />

(Ninja Tune) ebenfalls in der zweiten Akustik-Runde, dazu<br />

mit seinem für manche Ohren schon zu weich gespülten<br />

Mastercard-Hit ähnlich singleverliebt (auf den ersten TV-<br />

Blick), hält das Level, wenn er seine minimalistischen Folk-<br />

Anekdoten weiterspinnt und zwischendurch dezent mit<br />

den Zähnen knirscht. Zähneknirschen hat auch »Breaking<br />

Kayfabe« (Big Dada) von cadence Weapon zunächst<br />

ausgelöst: Doch nun, mit dem nötigen Abstand, ist auch<br />

Rollie Pemberton, so die Tonfall-Waffe aus Edmonton<br />

bürgerlich, als Komplett-Gewinner zu bezeichnen: Nicht<br />

nur kombiniert er Aesop Rocks Kantigkeit mit Illogics<br />

gefühlvollem Tiefgang, obendrein reanimiert er den<br />

spacig-digitalen Bounce von APC und liefert ein nahtlos<br />

berauschendes Future-Rap-Masterpiece. Im Zukunftsrap<br />

bewandert ist bekanntlich auch Scott Herren, zumindest<br />

immer dann, wenn er sich prefuse 73 schimpft (»Preparations«,<br />

Warp Records). Während er alles in allem<br />

erfreulicherweise an »One Word Extinguisher« und nicht<br />

die späteren Dinge anknüpft, ist er doch der erste, der<br />

Stolbergs These unterstreicht: »Let It Ring« und »Spaced<br />

+ Dissonant« sind stellenweise einfach zu dick und deftig,<br />

um sie nicht den anderen Tracks vorzuziehen. Doch soll es<br />

bei diesem einen Punkt auch bleiben: Denn the bumblebeez<br />

(»Prince Umberto and the Sister of Ill«, Modular)<br />

rocken so krass zwischen ultraklassischen Referenzen<br />

– Beasties, Beck, Biz Markie, Jon Spencer, Timbo, Neptunes,<br />

Daft Punk etc. – und sinnbefreitem Ozzie-Wahnsinn, dass<br />

auch hier auf Albumlänge kein Auge trocken bleibt. Kommen<br />

wir zum Fazit: Herr Stolberg, so akkurat ihre These<br />

den Mainstream-Markt der Katastrophen-Britneys und<br />

Pelz-R-Kellys auch beschreiben mag, im Bereich der Epiphanien<br />

wird immer noch mittelfristig, sprich: auf Albumlänge,<br />

operiert. Der Bart muss also ab.<br />

Walking On Air<br />

Mit seinem neuen Studiowerk könnte<br />

louis philippe ungeduldigen Final-<br />

Fantasy-Fans Linderung verschaffen<br />

text: markus von schwerin<br />

Die Absicht, Owen Palletts beliebtes Ein-Mann-Orchester<br />

als eyecatcher zu nützen ist offensichtlich – aber auch legitim.<br />

Weisen doch die Alben, die der kanadische Violinist<br />

unter jenem Namen veröffentlichte, eine frappierende<br />

Ähnlichkeit mit der Arbeit des normannischen Wahl-Londoners<br />

auf: Die ausgefeilten Streicherpartituren, der leidenschaftliche<br />

Einsatz ihrer Falsettstimmen und nicht zuletzt<br />

die Vorliebe für romantische Lyrismen (man vergleiche nur<br />

Dreams of Leaving<br />

Von gebrochenen Herzen, furchtlosem<br />

Empfinden und der Fragilität des Realen:<br />

»god save the clientele«<br />

text: jochen werner foto: andy willsher<br />

»Broken hearts are for assholes«, so sang 1977 Frank Zappa<br />

und formulierte so, Ironie hin oder her, einen der dümmsten<br />

Sätze aller Zeiten. Die vier Briten von The Clientele,<br />

die bereits 200 mit »Strange Geometry« Melancholie in<br />

vollendete Popmusik gegossen haben, wissen es natürlich<br />

besser. Oft geht es in ihren Songs um das Gehen, durch<br />

Parks oder durch die nächtliche Stadt, in der violet hour<br />

am Rande der Nacht. Das ist kein Zufall, denn die Band<br />

um Sänger Alasdair MacLean ist sich dessen sehr bewusst,<br />

dass es eben um eines geht: jeden Weg ganz zu gehen, auch<br />

wenn sein Verlauf nur allzu oft festzustehen scheint. Die<br />

ätherische Schönheit der Musik von The Clientele ereignet<br />

sich stets im ganz Konkreten, das aber seltsam entrückt<br />

und so fragil erscheint, dass es bei der geringsten Berührung<br />

zu zerstäuben droht. Zunächst findet sich MacLean<br />

in einer Welt wieder, die der unseren ähnlich scheint und<br />

die doch unendlich fremd wirkt. Stimmen von Freunden<br />

34 1 töne<br />

töne 1 3<br />

review<br />

Palletts »The Sea« mit »Miss Lake« von Philippes aktuellem<br />

Album) eint diese Ausnahmemusiker. Doch gut möglich,<br />

dass Pallett seinen vermeintlichen Paten nie gehört<br />

hat. Denn nur wenige der seit 1987 erschienenen Louis-<br />

Philippe-LPs gelangten nach Nordamerika, und in Europa<br />

wurden sie gleich mehrmals Opfer von Insolvenzen. Bei<br />

den seit 2004 via Fan-Subskription ermöglichten CDs ist<br />

die Verfügbarkeit aber vorerst gesichert. Und die Begeisterung<br />

für Philippes art-by-demand-Einstand »The Wonder<br />

Of It All« ist kaum verklungen, da legt er mit »An Unknown<br />

Spring« bereits das nächste Beispiel seiner Kompositions-<br />

und Arrangierkunst vor. Stets auf dem Klavier basierend,<br />

werden die kunstliedartigen Stücke um Klangfarben ergänzt,<br />

die nicht nur den »Pet Sounds« (mit dem Plektrum<br />

gespielte Bässe, Schellenkranz, Kesselpauken etc.) entnommen<br />

sind, sondern auch Bouzouki- und Melodica-Soli<br />

mit einschließen. Faszinierend, wie in den Strophen von<br />

»House Of Sleep« das Covent Garden String Quartet Louis<br />

Philippes sanften Erzählton subtil untermalt, um dann im<br />

Refrain einen dramatischen Tempowechsel zu vollziehen,<br />

den der Sänger virtuos meistert. Überhaupt der Gesang:<br />

Was hier Louis Philippe erneut als Chor-Arrangeur geleistet<br />

hat, lässt nicht nur an Colin Blunstones legendäre<br />

Zusammenarbeit mit den King’s Singers denken, sondern<br />

zeigt auch, dass der in diesem Punkt oft gepriesene Sufjan<br />

Stevens durchaus noch dazulernen kann.<br />

»An Unknown Spring« von Louis Philippe ist<br />

bereits bei Dandyland/Cargo erschienen<br />

dringen in seinen Kopf und doch kaum zu ihm durch,<br />

denn er sieht sich mit einer Schönheit konfrontiert, die<br />

ihn gefangen nimmt, seinen Blick fesselt. In das Erleben<br />

dieser Empfindung stürzt er sich ungebremst hinein, und<br />

plötzlich scheint alles ganz einfach: »You got my name /<br />

Pick up my number / Come on darling / Let’s be lovers!« Das<br />

Ende freilich ist vorgezeichnet: »The leaving you will break<br />

my heart«. Dann schweigen The Clientele, denken still bei<br />

sich »Frank Zappa is for assholes« und lächeln ein wenig<br />

schmerzvoll, denn sie wissen: Wer nicht imstande ist, sich<br />

das Herz brechen zu lassen, der ist gar kein Mensch.<br />

»God Save The Clientele« von The Clientele ist bereits<br />

bei Pointy/Track & Field/Rough Trade erschienen


eep street text: jens pacholsky<br />

Was passiert eigentlich, wenn so ein Protonenstrahldeflektor<br />

explodiert und Musiker in den Wirkungsbereich<br />

fallen? Ganz einfach: Es knallt, das Summen der Atome<br />

verstummt »und die Erde steht still.« Behauptete zumindest<br />

Philip K. Dick vor genau 0 Jahren. Heute spüren wir<br />

es, doch keine Panik. anthony b & dejah haben einfach<br />

ihre Freunde mitgerissen und nutzen den Stillstand,<br />

um entspannt ein und denselben Titel aus allen Perspektiven<br />

zu betrachten. Auf »More Power Remixes« (Metatronix)<br />

wird der Dancehall-Banger dadurch zum Booty-Baby<br />

(Nick Fury), Baile Funk Cyborg (DMX Krew) und Science<br />

Fiction Dub (Eliot Lipp). Die Funcken-Brüder machen aus<br />

ihm einen Minimal Panjabi Hallraum (als Quench) und<br />

verfrickelte Lawinenmusik (als Funckarma), während The<br />

Bug das Sirenen-Inferno entzündet und High Priest zum<br />

Outta Space & Time Boogie aufruft. An einer Stelle hat<br />

der Laserstrahl in der Scheidewand der Zeit einen Spalt<br />

geöffnet, der tonikom die Jahre von 1992 bis 1996 zugleich<br />

erkunden lässt, als man noch Breakbeats in sanfte<br />

Ambientflächen tunken durfte, ohne für kitschig gehalten<br />

zu werden. So muss sich die als Tonik bekannt gewordene<br />

New Yorkerin auf »Epoch« (Hymen) genau deshalb hänseln<br />

lassen, wenn sie mit einfachen Klängen riesige Räume<br />

baut, die dem Kritiker zum pastellfarbenen Sonnenuntergang<br />

passen, durch ihre Ernsthaftigkeit und Vehemenz<br />

aber jedem IDM-Schüler ein Liebesflüstern entlocken. Der<br />

hänselnde Mann auf der anderen Seite ist übrigens richie<br />

haWtin, der zu diesem Zeitpunkt längst das Pompöse<br />

hinter sich gelassen hat und nun im zeitlichen Stillstand<br />

die spartanisch gesäten Einzelatome von der Wand pflückt,<br />

die er anno 1996 zu einer Minimal-Techno-Blaupause in<br />

Schwingungen versetzte. Remastered von Pole und bereits<br />

vor elf Jahren von Thomas Brinkmann mittels Timestretching<br />

und diverser String-Theorien variiert, wird das<br />

Ganze nun als »Concept 1 / Variations« (Minus) auf Doppel-CD<br />

(wieder)hörbar. Ein leichtes Brummen gibt es da,<br />

puckernd und scheinbar stagnierend, das im quantenphysikalischen<br />

Sinne aber immer wieder zu Verkrümmungen<br />

führt, die heute noch ihren Einfluss beweisen. Direkt an<br />

Richie vorbei raste auch der Kalifornier flying lotus,<br />

der auf seinem Weg klammheimlich Atome von allen<br />

Seiten klaute. Auf seiner EP (»Reset«, Warp) fusioniert er<br />

diese zu verschiedenen Verbindungen des elektrifizierten<br />

HipHop. Ganz zum versprochenen Neustart der Musikrezeption<br />

reichen die Exkurse gen House, Hinkefußgroove<br />

und hypnotische Electrotrips aber nicht. Alice Coltranes<br />

Neffe kann sein Hehlerdasein nicht dementieren und variiert<br />

zwischen den Stilen anderer. Push Button Objects, Dabrye<br />

und A Tribe Called Quest nicken auf seinen Teilchen.<br />

Auch Boxcutter, Scuba, Elemental und ihre hotflush<br />

records Kumpel schnappten sich auf ihrer Flucht in die<br />

Tiefe alle Nase lang Atome und verknüpfen diese nun zu<br />

den längsten Frequenzen für zeitlosen Dubstep. An diese<br />

koppeln sie auf »Space & Time« (Hotflush) Ambient, IDM<br />

und Acid und halten mit Referenzen zu B12 und FSOL das<br />

Kind Dubstep weiter spannend. Ganz in der Nähe hat sich<br />

Napalm Deaths Mick Harris vor Jahren schon zum scorn<br />

geschlagen und trommelt im »Stealth«-Modus (Ad Noiseam)<br />

gnadenlos seinen Metal-Dub. Dieser versank bereits<br />

vor Dubstep und Co. in endlosen Hallräumen und enorm<br />

reduzierten Bass- und Drumpattern, verwirbelt sich auf<br />

seinem elften Album aber stärker als je zuvor mit Kernspaltungssplittern,<br />

die der Gravitation Scorns anheim gefallen<br />

sind und nun bedächtig um seinen massiven Sound<br />

Ellipsen drehen. Ach, und fast hätten wir ihn direkt neben<br />

einem zerborstenen Stahlpfeiler vergessen: Mit großer<br />

Beule und jämmerlich benommen sitzt da nach vielen<br />

Geniestreichen μ-ziq. Alle die Jahre kompositorische Brillanz<br />

ist dem einzig echten Aphex-Twin-Kollaborateur beim<br />

Aufprall abhanden gekommen. Die Amnesie führt zu unmotivierter<br />

Skizzenmusik, die auf der Stelle tritt und die<br />

Komplexität und Rätselhaftigkeit des Titels »Duntisbourne<br />

Abbots Soulmate Devastation Technique« (Planet μ) nie erreicht.<br />

Holt ihn da mal bitte einer raus?<br />

In Nomine Viberti<br />

Unser liebster Eklektizist luke vibert<br />

setzt der elektronischen Musik endlich<br />

dort ein Denkmal, wo es hingehört: In<br />

Cornwall<br />

text: jens pacholsky foto: sebastian hinz<br />

Von wegen Chicago, vergesst Detroit. Redruth is the place<br />

to be. Idyllisch gelegen zwischen grünen Hainen, Sonntagsgottesdienst<br />

und den dreißig Zigaretten danach, die<br />

Luke Vibert als designierter Kettenraucher in seiner Heimatstadt<br />

Cornwall zu genießen weiß. Ganz entspannt<br />

inmitten analoger Klanggeneratoren und digitaler Scheinwelten<br />

konstruiert der Tausendsassa nicht Musik, er spielt<br />

mit ihr. »Chicago, Detroit, Redruth« ist daher wie alle seine<br />

fünfzehn Alben: ein vor Freude strahlender Spaziergang,<br />

der weniger urbane Coolness atmet, als vollkommen luftig<br />

durch die Lande zu ziehen, wo sich auch zwischen Kühen<br />

gut raven lässt. Die perfekte Gelegenheit für Luke Francis<br />

Vibert, all seine Personae auf ein Familienfest einzuladen<br />

und deren Facetten zu verschmelzen, die sein 13jähriges<br />

Schaffen ausmachen. Da gibt es zuckersüße Schlaraffenlandmelodien<br />

über Jazz-Breaks, Acid-Pumpen mit Disco-<br />

Kitsch, oben drauf gefüllte Bassrollen und nicht zuletzt<br />

die »cornish nonchalance«, die all seinen Alter Egos so gut<br />

steht (Wagon Christ, The Ace Of Clubs, Kerrier District,<br />

Plug etc.) Im Hintergrund spielt der Pater Orgel und feuert<br />

den Knabenchor an. Die Dreifaltigkeit ist nichts dagegen.<br />

Das durfte auch Elektronikpionier Jean Jacques Perrier<br />

erfahren, dessen kunterbunte Moog Synthesizer-Klänge<br />

Luke Vibert endlich ordentlich die psychedelischen Hüften<br />

schwingen lässt. Seit der Ankündigung 2001 haben wir<br />

darauf gewartet.<br />

»Chicago, Detroit, Redruth« von Luke Vibert<br />

ist bereits bei Planet µ/NTT erschienen<br />

»Moog Acid« von Jean Jacques Perrier und Luke Vibert<br />

ist bereits bei Lo Recordings/Groove Attack erschienen<br />

36 1 töne<br />

töne 1 37<br />

review<br />

Auditives Suchspiel<br />

Der Berliner Matthias Grübel alias<br />

phon°noir schickt auf seinem zweiten<br />

Album die Wahrnehmung auf die Suche<br />

nach Geräuschen und Klängen<br />

text: vera hölscher<br />

Weniger ist manchmal mehr. Im Fall von Phon°noirs<br />

zweitem Werk »The Objects Don’t Need Us« kann man zwar<br />

nicht von wenig reden. Denn der Nachfolger vom minimalistischen<br />

LoFi-Erstling »Putting Holes Into October Skies«<br />

von 2006 ist insgesamt etwas komplexer ausgefallen, und<br />

so finden sich in den halbelektronischen, meist melancholischen,<br />

zwischen Experimental Pop und Postrock oszillierenden<br />

Tracks diesmal mehr Brüche, mehr Rhythmen<br />

und auch mehr Instrumente wieder, angetrieben durch in<br />

die Melodien verwobene Alltagsgeräusche. Aber so wie bei<br />

einem Film bestimmte Requisiten erst beim zweiten Mal<br />

bewusst ins Auge fallen, lässt sich auch die Geräusch- und<br />

Klangkulisse von Phon°noirs Musik erst nach und nach erfassen.<br />

Unter sich wiederholende Loops mischen sich wie<br />

kleine Morsezeichen zahlreiche Geräusche, mal knistert<br />

oder knackt, mal gluckst und klackert es, oder man hört<br />

Vogelgezwitscher und das Klingeln einer Kasse. Da wo Explosions<br />

In The Sky mit ihren psychedelischen Gitarren in<br />

einen Trancezustand versetzen, erreicht einen Phon°noir<br />

mit seinen zaghaften Geräuschen und Klängen, die sich<br />

übereinander schichten, miteinander verschmelzen und<br />

ihre ganz eigene Wucht entwickeln. Genauso verhält es<br />

sich mit dem Gesang. Für »The Objects Don’t Need Us«<br />

hat sich Phon°noir Gäste ins Studio geholt. Aber ohne<br />

dass man dessen im ersten Moment wirklich gewahr wird,<br />

singt beispielsweise Marie-Sophie Kanske von der Dresdner<br />

Formation Transatlanticism bei »Invisible at Last« leise<br />

im Hintergrund, versteckt sich fast hinter Phon°noirs<br />

flüsternder Stimme und bestimmt dennoch den Song entscheidend<br />

mit. Nur einer der elf »quiet explosions«.<br />

»The Objects Don’t Need Us« von Phon°noir<br />

ist bereits bei Sub <strong>Rosa</strong>/Alive erschienen


eview<br />

Von Katastrophen<br />

und anderen<br />

Kleinigkeiten<br />

Da heißt es, früher sei alles besser<br />

gewesen. Die Compilation doom &<br />

gloom: early songs of angst and<br />

disaster 1927 – 1945 erzählt das<br />

Gegenteil<br />

text: markus hablizel<br />

Als ich einmal den Süden der USA durchstreifte, stolperte<br />

ich hauptsächlich über zwei Dinge: Essen und das Böse.<br />

Ersteres war gemeinhin frittiert, letzteres war etwas<br />

einfallsreicher und kam in mannigfaltiger Gestalt daher:<br />

Mord, Totschlag, Überschwemmung, Feuer, Ehebruch,<br />

Politik, Liebe, Alkohol, Drogen, Waffen, Sklaverei, Satan,<br />

Gott, Nachbarn, Frau, Mann, Hund. Alles eine Frage der<br />

Perspektive. Mir waren die Erzählungen über all die Katastrophen<br />

und Schicksale meist ein willkommener und Nackenhaar-aufstellender<br />

Digestif nach allzu viel Frittiertem.<br />

»Doom & Gloom: Early Songs Of Angst And Disaster 1927<br />

– 1945«, dieses (wieder einmal) fantastisch kompilierte Trikont-Album,<br />

will und kann aber selbstredend mehr. Zwar<br />

Portrait of<br />

the artist as a<br />

young girl<br />

vashti bunyan revidiert<br />

mit einer Retrospektive der<br />

Jahre 1964 – 67 ihr Folk-<br />

Image<br />

text: markus von schwerin<br />

Zwei Jahre ist es her, dass Vashti Bunyans Rückkehr international<br />

gefeiert wurde – außer in Deutschland, wo lediglich<br />

die Geschichte von der fallengelassenen Entdeckung des<br />

Stones-Managers aufgegriffen wurde, die 1968 mit einer<br />

Kutsche zu den Hebriden aufbrach und die Selbstversorger-Idylle<br />

auf ihrem lange verkannten Album-Debüt »Just<br />

Another Diamond Day« stilisierte. Diesen Liedern, deren<br />

melodischer Zauber erst zwei Generationen später entdeckt<br />

wurde, verpasste damals Produzent Joe Boyd mittels<br />

Banjos und Blockflöten ein Folk-Gewand, das gar nicht im<br />

Sinne der Sängerin war. Die auf dem im Jahre 2000 wieder<br />

erzählen Big Bill Broonzy, Charley Patton, die Carter Family,<br />

Bessie Smith, Roy Acuff und all die anderen, weniger<br />

bekannten Protagonisten US-amerikanischer roots music<br />

ebenfalls Geschichten von Explosionen, Kriegen, Feuern<br />

oder geborstenen Dämmen aus ihrer jeweils ganz eigenen<br />

Perspektive, doch in der Gesamtschau ergibt sich deutlich<br />

mehr als bloß ein Gruselkabinett von Natur- und anderen<br />

Katastrophen. Die 24 Songs evozieren das Bild einer sich<br />

zunehmend säkularisierenden (westlichen) Gesellschaft,<br />

die immer wieder über die eigene Geschwindigkeit, den<br />

ihr eigenen Willen zur Macht und ihre eigenen Heilsversprechen<br />

stolpert und dann erstaunt feststellt, dass<br />

Fortschritt und Technik nicht nur Gutes mit sich bringen.<br />

Zeppeline gehen in Flammen auf, Kriege werden angezettelt,<br />

Züge entgleisen, Atombomben vernichten, unsinkbare<br />

Schiffe sinken und Dämme brechen. Was sich wie ein<br />

feuchter Unterrichtsmaterial-Traum kulturpessimistischer<br />

Zeigefinger-Pädagogen anhört, ist in Wahrheit aber eine<br />

Sammlung unfassbar einnehmender Songs.<br />

Die Compilation »Doom & Gloom: Early<br />

Songs Of Angst And Disaster 1927 – 1945« ist<br />

bereits bei Trikont/Indigo erschienen<br />

aufgelegten Debütalbum (und nun auch auf der Compilation<br />

»Some Things Just Stick In Your Mind«) enthaltenen Bonusstücke<br />

von 1966/67 hatten da schon mehr mit Bunyans<br />

Comeback-Album »Lookaftering« gemein. Nicht nur, was<br />

die sparsame Begleitung betrifft, sondern auch inhaltlich:<br />

Während »Just Another Diamond Day« von Flora- und Fauna-Beobachtungen<br />

lebte, verarbeiteten Bunyans Texte davor<br />

und danach hauptsächlich Emotionales – ohne dabei<br />

auf Naturmetaphern zu verzichten. Welch poetische Kraft<br />

ihrer Liebeslyrik immer schon innewohnte, dokumentiert<br />

nun diese Sammlung an (größtenteils bis dato) unveröffentlichten<br />

Frühwerken. Bunyans gehauchte Reflexionen<br />

über die Kurzlebigkeit aller Glücks- und Sicherheitsgefühle<br />

sollten einen dabei nicht über den Humor und die<br />

dramaturgischen Kniffe ihrer Texte hinwegtäuschen. Dazu<br />

wurden die eingängigen Melodien von der Autodidaktin<br />

mit einer Selbstverständlichkeit auf der Akustischen umgesetzt,<br />

wie man es erst Jahre später bei Joni Mitchell und<br />

Leonard Cohen beobachten sollte. Songs, die auch Hits<br />

für die Herman’s Hermits hätten abwerfen können und<br />

Vashti Bunyans Selbstverständnis als »pop artist« (siehe<br />

Linernotes) mehr als plausibel machen.<br />

»Some Things Just Stick In Your Mind« von Vashti Bunyan ist<br />

bereits bei Fat Cat/PIAS/Rough Trade erschienen<br />

Angestoßen durch das neue Soloalbum (»Trees Outside The<br />

Academy«, Ecstatic Peace) von thurston moore, Gitarrist<br />

von Sonic Youth, ist es zu einem Nachdenken über das<br />

Ergebnis des Musizierens in der Gruppe kontrastiert mit<br />

dem einer Einzelperson gekommen. In aller Deutlichkeit<br />

ist hier ja ein Gegensatz zu den Werken seiner Hauptband<br />

hörbar, erkennbar vor allem durch die Abkehr vom elektronisch<br />

verzerrten Klang. Zwar beginnen die Songs oft lärmend,<br />

doch wird’s danach regelrecht freundlich: Thurston<br />

wollte mal was mit Geigen machen! In Abgrenzung zu den<br />

meisten anderen Songwriter-Platten, die monatlich im<br />

Dutzend ihre Veröffentlichung erfahren, umweht einen<br />

hier wenigstens noch transitorisch Flüchtiges und Unseriöses,<br />

das also, was Pop-Musik einst so spannend machte,<br />

von Leuten, die Captain Beefheart, Arto Lindsay, Iggy Pop,<br />

Scott Walker, Lou Reed, John Cale hießen. Auch kompositorisch<br />

ist das aufregender, um nur »Honest James«, das<br />

exzellente Duett mit Christina Carter zu erwähnen, das<br />

sich in den ersten zwei Dritteln auf eine David-Grubbsgleiche<br />

Verknüpfung von Akustikgitarren konzentriert,<br />

um dann den Fokus komplett auf das Zusammenwirken<br />

zweier Stimmen zu verlagern. Die Stimmkunst Christina<br />

Carters ist mehr als je zuvor auch der Kern der neuesten<br />

Veröffentlichung (»Likeness«, Kranky) der charalambides,<br />

ihrem gemeinsamen Projekt mit Tom Carter, bei<br />

der sich die Selbstlaute über die bedingungslos langsam<br />

vorgetragenen traditionals ziehen und dabei mal ins Flirren,<br />

mal ins Schweben, mal ins Umkippen geraten, was<br />

dieses Album quasi ununterscheidbar von Christina Carters<br />

Solowerken macht. Polarisierend verhalten sich die<br />

jüngsten Werke von oren ambarchi. In der Tradition<br />

von Keith Rowe, dem Begründer des Improv-Ensembles<br />

AMM, mit dem Ambarchi bereits mehrfach zusammenarbeitete,<br />

und dem es nicht um die Flachheit der Oberfläche<br />

geht, sondern um die Gestaltung von etwas, das sich auf<br />

der Oberfläche abspielt, ist hier (»In The Pendulum’s Embrace«,<br />

Touch) jede Note so gewählt und pointiert gesetzt,<br />

dass ein einzelner Ton zum Erlebnis wird. Den Stücken<br />

text: sebastian hinz the relay<br />

Sun I’ll Be the Same<br />

des 38jährigen Australiers wohnt ein Ertasten der Welt mit<br />

skeptischer Vorsicht inne. Seine Kollaboration mit Chris<br />

Townend ist da die genaue Antithese: Diese Formation<br />

trägt völlig verdient den Namen sun. Die Musik auf ihrem<br />

zweiten Tonträger (»I’ll Be The Same«, Staubgold) ist<br />

eine chancenreiche Öffnung, eine der Welt zugewandte<br />

Bejahung. Nicht »Fever, A Warm Poison«, sondern »Mosquito«,<br />

»Right Now« oder »Smile« heißen die Stücke hier<br />

frohlockend. Noch einmal anders verhält es sich beim norwegischen<br />

Trompeter arve henriksen. Während seine<br />

Soloarbeiten, wie das kürzlich erschienene »Strjon« (Rune<br />

Grammofon) den Sound betreffende Fragen ins Zentrum<br />

stellen, also wie es möglich ist, dass eine Trompete nur<br />

selten nach Trompete klingt, sondern eher nach Flöte, verschnupfter<br />

Lerche oder Plattenspieler ohne Nadel, geht es<br />

bei supersilent (»8«, Rune Grammofon), dessen vierter<br />

Teil Henriksen nunmehr seit zehn Jahren ist, um die Unmittelbarkeit<br />

eines kollektiven Musizierens, was hier leider<br />

zu oft in temperamentarme Synthesizerskizzen und hüftsteife<br />

Arhythmik mündet. Supersilent ist die Kakophonie<br />

für den Augenblick, Arve Henriksens Trompetenspiel das<br />

ungläubige Kopfschütteln für die Ewigkeit. Ebenfalls einer<br />

der Weltbesten an seinem Instrument ist der Schlagzeuger<br />

Steve Reid, der ja bereits mit James Brown, Dionne Warwick,<br />

Miles Davis, Archie Shepp oder im Sun Ra Arkestra<br />

arbeitete. Seit einiger Zeit werkelt er nun mit Kieran Hebden<br />

herum, dessen Produktionen als Four Tet auch diesen<br />

zu einem der wichtigsten Protagonisten zeitgenössischer<br />

Musik werden ließen. Beide zusammen sind die Köpfe<br />

des steve reid ensembles, und man kommt beim<br />

Hören dieser Musik (»Daxaar«, Domino) nicht umhin zu<br />

glauben, dass diese Zusammenkunft genau jene aufgrund<br />

von fehlendem Know-How entstandenen Leerstellen der<br />

Solowerke zu komplettieren versucht. Musikalisch ist es<br />

genau das Album geworden, das seit Jahren von Doug<br />

Scharins Rasselbande Him erwartetet wird; daneben ist es<br />

eine geniale Zusammenführung der Talente zweier hervorragender<br />

Einzelmusiker.<br />

38 1 töne<br />

töne 1 39


worte<br />

Illustration:<br />

bruno<br />

colajanni,<br />

ludaG.com<br />

worte<br />

»In der Antarktis<br />

umzukommen, ist<br />

ziemlich einfach.«<br />

Die Schriftstellerin jean mcneil,<br />

Polarromane<br />

Seite 48<br />

»Ein Kind zu sein, ist heute<br />

wahnsinnig gefährlich.«<br />

jonathan meese<br />

Seite 2<br />

»Ich möchte Sachen<br />

dokumentieren, die von<br />

der herrschenden Kultur<br />

nicht anerkannt werden.«<br />

chuck palahniuk über seine<br />

Rolle als Schriftsteller<br />

Seite 44<br />

42 <strong>Chuck</strong> Palahniuk<br />

46 Polarliteratur<br />

48 Larissa Böhning<br />

49 Mark M. Danielewski<br />

0 Jonathan Meese<br />

reviews<br />

4 performativ<br />

Adam Olschewski<br />

Roman Simić<br />

6 Virginie Despantes<br />

Michael Lentz<br />

7 Monika Maron<br />

8 »Propaganda«<br />

»Machiavelli«<br />

9 das dispositiv


<strong>Meeting</strong><br />

<strong>Chuck</strong> –<br />

<strong>Sex</strong> & <strong>Gewalt</strong><br />

Dabei ist er doch nur eine Art Buchhalter: der Autor chuck palahniuk<br />

text, interview: matthias penzel übersetzung: rebecca pohl<br />

fotos: andreas chudowski<br />

<strong>Chuck</strong> Palahniuk, studierter Journalist und gelernter Lkw-<br />

Mechaniker schrieb seinen ersten Roman über Frauen<br />

und was sie bewegt, also Vogue, Diät- und Beauty-Fetischismus,<br />

Supermodels. Triefend vor schwarzem Humor,<br />

wurde »Invisible Monsters« von allen Verlagen abgelehnt.<br />

Zu krass. Palahniuk zog daraus seine Konsequenzen, begab<br />

sich mit seinem nächsten Roman noch tiefer in die<br />

Katakomben US-amerikanischer Unkultur, schrieb über<br />

Männer und was die bewegt – wenn nichts mehr für<br />

wahre Gefühle sorgt. »Fight Club« wurde – auch Dank<br />

Finchers Verfilmung – zum Hit. Andere Alpträume der<br />

Hinterhöfe kamen in »Flug 2039« (Suizidsekte), »Der Simulant«<br />

(<strong>Sex</strong>manie), »Lullaby« (killende Kinderliedchen),<br />

»Das Protokoll« (Immobilien und Kunst), »Die Kolonie«<br />

(Künstlerdorf) zum Ausdruck, dazwischen zwei hierzulande<br />

unveröffentlichte Essaybände (über <strong>Sex</strong> und <strong>Gewalt</strong><br />

bzw. Portland und Marilyn Manson, dem Palahniuk die<br />

Tarotkarten legte) und nun »Das Kainsmal«.<br />

In »Invisible Monsters« rächen sich verstümmelte Models,<br />

in »Fight Club« prügelt man sich aus Jux und Dollerei. In<br />

»Das letzte Protokoll« werden Künstler im Namen der<br />

Kunst verstümmelt, in »Die Kolonie« verrückt. Warum so<br />

viel <strong>Gewalt</strong>?<br />

Für mich geht es nicht so sehr um <strong>Gewalt</strong> als eher um das<br />

Bedürfnis, sich lebendig zu fühlen und sich selbst sehr körperlich<br />

wahrzunehmen. Bücher haben meistens eine intellektuelle<br />

und eine emotionale Komponente, aber nur sehr<br />

selten eine physische. Körperliches wird tendenziell als<br />

kulturell minderwertig betrachtet – Pornographie, Horror:<br />

alles low-art. Um beim Leser Mitgefühl auszulösen, so richtig<br />

körperlich, von Kopf bis Fuß, muss man <strong>Gewalt</strong> oder<br />

<strong>Sex</strong> nehmen, oder Krankheiten, manchmal Drogen. Damit<br />

kann man Leser auf einem physischen Level einbinden, ihnen<br />

eine ganze Realität erschaffen. Das ist mein Ziel.<br />

Es sind bei mir aber immer auch Figuren, die mit einer<br />

sehr körperlichen Sache beschäftigt sind, die sich dadurch<br />

lebendig fühlen; die außerdem das zerstören, was<br />

sie um sich herum vorfinden, weil sie etwas Besseres erreichen<br />

wollen. Die Zerstörung des gegenwärtigen Wohlbefindens<br />

zugunsten eines besseren Zustands ist so ein<br />

wiederkehrendes Thema bei mir.<br />

Auch dein Ziel? Sollen auch Leser aus ihrem Wohlbefinden<br />

herausgerissen werden?<br />

Ja. Ich glaube, dass sie wollen, dass das zerstört wird. Irgendwie<br />

wollen sie durch die Erfahrung verändert werden.<br />

Sie wollen am Ende des Buchs nicht derselbe Mensch sein,<br />

der sie waren, als sie angefangen haben, das Buch zu lesen.<br />

Burroughs und Bowie unterhielten sich in einem Interview<br />

für den Rolling Stone einmal darüber, wie fantastisch es<br />

wäre, wenn Musik töten könnte – was du in »Lullaby«<br />

aufgegriffen hast. Besucher deiner Lesungen sind angeblich<br />

ohnmächtig geworden – auch phantastisch oder nur ein<br />

PR-Gag?<br />

Nein. Ich habe aus »Die Kolonie« die ›Perlentaucher‹-Geschichte<br />

vorgelesen, und dabei sind mittlerweile über 200<br />

Leute in Ohnmacht gefallen. In Brighton habe ich vor 900<br />

Leuten gelesen und 13 sind kollabiert. Die Leute vom St<br />

John’s Hospital haben die Leute rausgetragen, und am Ende,<br />

so erzählte man mir, sah die Lobby aus wie in einem<br />

Krisengebiet: überall Menschen auf Bahren.<br />

Alle vorher im Publikum vom Verlag platziert –<br />

ein PR-Coup?<br />

No no no. Gar nicht. Sogar in Italien, wo sie einen Schauspieler<br />

engagiert hatten, um es auf Italienisch vorzulesen,<br />

sind Leute ohnmächtig geworden – bis zu fünf pro Veranstaltung.<br />

Die waren richtig wütend, weil sie das Gefühl<br />

hatten, das Gesicht verloren zu haben. Das tut mir ein<br />

bisschen leid, aber ich muss natürlich den Umstand lieben,<br />

dass die Worte einer Geschichte – nur die Worte! – auf<br />

Menschen so eine Wirkung haben können. Keine Musik,<br />

keine Bilder, sondern nur Worte. Das liebe ich wirklich.<br />

Destruktion und Kicks: In einem Essay in »Stranger<br />

Than Fiction« variierst du das Thema: Da geht es darum,<br />

Zugehörigkeiten zu zerstören, um Ziele zu erreichen. Hat<br />

man die erreicht, gerät man wieder in Zugehörigkeiten,<br />

also Abhängigkeiten. Das Muster: Isolation, gefolgt von<br />

dem Bedürfnis nach Anerkennung und Zugehörigkeit,<br />

gefolgt von Isolation ...<br />

Es ist eine Formel, die man bei allen meinen Figuren<br />

findet. Sie haben alle eine ideale Isolation erreicht – in<br />

»Invisible Monsters« durch Schönheit, wo sie so attraktiv<br />

sind, dass sie Menschen dominieren, so sehr, dass die ihnen<br />

nicht zu nahe kommen; in »Das letzte Protokoll« geht<br />

das über Bildung, wo alles erklärt und somit weggewischt<br />

werden kann, sodass man jede Form von Macht mit Hilfe<br />

seiner Bildung, seines Intellekts, zerstört. In »Fight Club«<br />

ist einer mit seiner Karriere so erfolgreich, dass es ihn in<br />

seinem Job isoliert. Sie alle haben es so gewollt, und doch<br />

gehen sie hin und zerstören diese Isolation – auf sehr reale<br />

Art und Weise, sodass es sie zurück in die Gemeinschaft<br />

mit anderen Menschen zwingt. Ich schätze, das ist so ein<br />

Muster aus meinem Leben, das ich in den Leben all meiner<br />

Mitmenschen wiedererkenne.<br />

»Um beim Leser Mitgefühl auszulösen,<br />

so richtig körperlich, muss man<br />

<strong>Gewalt</strong> oder <strong>Sex</strong> nehmen, oder<br />

Krankheiten, manchmal Drogen.«<br />

Ist die Formel auch auf deinen Schreibprozess übertragbar?<br />

Auf jeden Fall. Jedes meiner Bücher ist für mich so eine Art<br />

Ausrede, ein Problem, das ich nicht lösen, aber auch nicht<br />

ertragen kann, intensiv auszuleuchten – um es so zu bewältigen.<br />

Psychologen nennen das ›Durcharbeiten‹; meine<br />

Arbeit, das Schreiben, ist so ein Durcharbeiten. Egal,<br />

um was für ein Problem es sich handelt, ich versuche<br />

42 1 worte<br />

worte 1 43


dann, so tief wie nur möglich da einzutauchen, viele<br />

Fälle zu untersuchen, mit anderen darüber zu sprechen<br />

und mit Leuten zusammenzukommen, die sich darüber<br />

irgendwie artikulieren. So bringe ich das zum Köcheln,<br />

rühre dann etwas hinzu, und verwandle es – nach der ersten<br />

oder zweiten Fassung – in etwas, wo sich mein ganzer<br />

emotionaler Ärger über das Problem erschöpft. Wenn ich<br />

mich über ein Problem nicht mehr ärgere, neigt es dazu,<br />

vollständig zu verschwinden. Das ist fast wie Magie: Ich<br />

begebe mich in das Schlimmste des Problems hinein, und<br />

dann ist meine Angst weg und das Problem verschwindet;<br />

so wird es durch die Arbeit irgendwie isoliert. Schreiben,<br />

die Gedanken und Ängste organisieren – und am Ende<br />

kommt ein Buch dabei raus, und ich begebe mich wieder<br />

unter die Menschen.<br />

Jedes Buch als Therapie für dich?<br />

So wurde es mir beigebracht, vor Jahren, als ich mit dem<br />

Schreiben anfing 1991 oder 1993: Das Schreiben selbst<br />

muss nützlich sein, so unterhaltsam und so therapeutisch,<br />

dass es egal ist, ob man sein Buch am Ende verkauft kriegt<br />

oder nicht. Es muss eine Belohnung geben, sonst kann<br />

man nicht schreiben. Also muss das Schreiben selbst eine<br />

Belohnung sein. Sogar wenn man es gedruckt kriegt, besteht<br />

die Möglichkeit, dass es sich nicht gut verkauft, dass<br />

man schlechte Kritiken bekommt oder dass ein furchtbarer<br />

Film daraus gemacht wird. Es gibt so viele Aspekte,<br />

an denen man scheitern kann, dass das Schreiben selbst<br />

ausreichend Belohnung sein muss.<br />

In »Stranger Than Fiction« schreibst du: »Man bleibt in<br />

seiner Erzählwelt, bis man sie zerstört.« Wer kontrolliert<br />

hier wen, wie kommt es, dass die Erzählwelt nicht dich<br />

zerstört? Wie versuchst du, sie zu haben, nicht von ihr – der<br />

Erzählwelt – besessen zu werden?<br />

Nein. Ich versuche nicht, wirklich nicht, sie zu besitzen.<br />

Ein befreundeter Schriftsteller meint, ich sei die Art Tier,<br />

die ihre Jungen auffrisst, und wenn ich am Ende eines<br />

Buches angekommen bin, weiß ich meistens, was bis zum<br />

Schluss des zweiten Akts im nächsten passieren wird. Darüber<br />

hinaus muss es mich dann überraschen. Es ist nicht<br />

fertig, bis es mich wirklich überrascht. Mein Vater – und<br />

wenn er mir nichts anderes beigebracht hat, so doch diese<br />

eine Sache – sagte: »Mach nie mit der einen Schluss, bevor<br />

du nicht mit der nächsten gehst««<br />

Ich weiß nicht, ob das gesund ist.<br />

Wenn man schreibt schon. Es ist die einzige Sache, die das<br />

letzte Buch löst – wenn man die nächste Idee kriegt und<br />

die so aufregend und fesselnd ist, dass es okay wird, der<br />

vorigen Idee einen Stoß zu geben. Das bestimmt den Zeitpunkt,<br />

wann ein Buch wirklich fertig ist: Wenn es mich<br />

überrascht und wenn ich die nächste Idee habe. Dadurch<br />

wird es auch leicht, das vorige loszulassen, raus in die Welt,<br />

mit der Idee eines anderen auf dem Umschlag und den<br />

Interpretationen von allen anderen und der Wertung,<br />

der Meinung von wieder anderen: alles nicht so schlimm,<br />

denn ich muss es ja nicht besitzen, weil ich mich längst in<br />

die nächste Sache verliebt habe.<br />

Deshalb schreibe ich so, wie ich es tue. Aber das Schreiben<br />

ermöglicht mir auch, mit Menschen zusammen zu<br />

sein und ich habe sehr früh entschieden, dass Schreiben<br />

meine anhaltende Entschuldigung sein würde, um mit<br />

Menschen zusammen zu sein. Wenn ich jetzt auf Partys<br />

gehe, erzähle ich den Leuten, woran ich gerade arbeite,<br />

lade sie so ein, mir von ihrem Leben zu erzählen und von<br />

den Erfahrungen, die sie mit den Motiven gemacht haben,<br />

die ich erkunde. Ich erwähne vielleicht einen kleinen Aspekt<br />

davon, woran ich arbeite, aber den Rest des Abends<br />

verbringe ich nur damit, zuzuhören. So wird meine Arbeit<br />

zu einer Spiegelung der Erfahrungen einer großen Anzahl<br />

von Menschen statt nur meiner eigenen Vorstellung.<br />

»Meine Figuren sind keine<br />

heimlichen Kannibalen«<br />

Deine Figuren sind eher Außenseiter als Exzentriker.<br />

Warum?<br />

Außen: Das ist es, wo die Zukunft ist. An den Rändern<br />

konventioneller Gemeinschaften findet man soziale Erfahrungen,<br />

man erfährt dort, wie sich Menschen selbst<br />

sehen und wie sie sich in gesellschaftlichen Strukturen zueinander<br />

in Beziehung setzen. Es findet also in der Randzone<br />

statt, dass Menschen mit verschiedenen Formen von<br />

Gemeinschaft experimentieren, auch mit verschiedenen<br />

Formen von Identität – wenn sie eine Identität finden,<br />

entweder eine Sichtweise oder eine Art, sich auszudrücken.<br />

Dort entstehen neue Gemeinschaften, die – nenn es Underground<br />

oder Randzone – dann zu Dominanten, zu Teilen<br />

des Mainstreams werden. Das Neue entsteht dort. Die<br />

Art, wie man sich die Schuhe bindet oder Klamotten trägt,<br />

ist fesselnd und irgendwie wirklich attraktiv, und dann<br />

wird sie zur vorherrschenden Mode oder zur prägenden<br />

Kunstform oder Sichtweise. Zeitgeist. Doch solche Experimente,<br />

die Ursprünge für das Neue können nur dort<br />

wirklich stattfinden.<br />

Aber die Außenseiter in deinen Büchern sind doch eher<br />

krank als Trendsetter.<br />

Tyler Durden oder Rant Casey – man braucht eine Figur,<br />

die das Verhalten irgendwie vorlebt, die eine Seinsweise<br />

vorlebt und diese irgendwie als Subkultur anstimmt. Eine<br />

Figur, die das bezwingend und interessant vorlebt. Das tun<br />

meine Figuren. Sie sind keine heimlichen Kannibalen. Sie<br />

sind eher Werbeträger, sehr lautstarke, sehr präsente, manifeste<br />

Menschen. Also sind sie nicht wie heimliche, eher<br />

wie sehr öffentliche Sonderlinge. Sie sind wie Anführer.<br />

Wie sonderlich bist du?<br />

Ich bin nicht wirklich sonderlich. Ich bin ein ziemlich<br />

langweiliger Mensch. Wie ein Buchhalter. Aber ich bin<br />

einer dieser langweiligen Leute, denen andere ihre Geschichten<br />

erzählen, weil ich die thematisch organisieren<br />

und verknüpfen kann, zur Illustration größerer Anliegen.<br />

Das ist eigentlich alles, was ich tue.<br />

So eine Art unbeschriebenes Blatt?<br />

Aber ein unbeschriebenes Blatt, das getrieben ist, Dinge<br />

zu bewahren, die ich für wertvoll halte. Wenn Leute mir<br />

Geschichten erzählen, die ich außergewöhnlich finde, bin<br />

ich gezwungen, einen Weg zu finden, diese irgendwie zu<br />

erhalten, als Teil von etwas Größerem, damit sie nicht verloren<br />

gehen, denn ich kenne die herrschende Kultur.<br />

»Jeder hat Viagra schon mal ausprobiert.«<br />

Also Historiker?<br />

Ja, die herrschende Kultur wird vieles nicht dokumentieren.<br />

Ich möchte Sachen dokumentieren, die von der herrschenden<br />

Kultur nicht anerkannt werden.<br />

In »Das Kainsmal« geht es um Unsterblichkeit und<br />

Autounfälle, Muschilecken und Ständer, Schlangen und<br />

Spinnen, Silver Clouds und Lamborghinis – ist das ein<br />

Jungsbuch?<br />

Den Fehler, so zu denken, hatte ich bei »Fight Club« gemacht,<br />

aber danach kamen so viele Frauen auf mich zu,<br />

die sagten: »Mann! Gibt es in dieser Gegend einen Fight<br />

Club? Vielleicht einen für Frauen?«, dass ich diese Unterscheidung<br />

irgendwie aufgegeben habe. Männer und Frauen<br />

haben die gleichen Impulse, und ich versuche Figuren<br />

zu schaffen, die fast ohne Geschlecht sind. Ihre Namen<br />

mögen geschlechtsspezifisch sein, sie haben vielleicht ein<br />

physisches Geschlecht in Bezug auf ihren Körper, aber<br />

mein Ziel ist es, keine wirklich gender- oder rassenbasierte<br />

Geschichte zu haben.<br />

Ein Abschnitt in »Kainsmal« konzentriert sich auf<br />

angeschwollene Penisse.<br />

Wo mein Workshop vor Lachen gebrüllt hat. Alle Frauen<br />

in meinem Workshop haben den Teil geliebt, sie haben so<br />

doll gelacht.<br />

Stimmt es, dass Gift einen Ständer verursacht?<br />

Ja.<br />

Wie hast du das recherchiert? Hast du beispielsweise für<br />

diesen Part Viagra ausprobiert?<br />

Ja. Und ich habe mit Ärzten gesprochen, und ich habe mit<br />

Toxikologen gesprochen. Sie haben bestätigt, dass Priapismus<br />

eine Nebenwirkung von Spinnengift ist.<br />

Und Viagra? Wir würden gern mehr darüber hören.<br />

Jeder hat Viagra schon mal ausprobiert! Es ist ziemlich<br />

grauenvoll. Als vor einigen Jahren mein Vater getötet<br />

wurde und wir sein Haus ausgeräumt haben, haben wir<br />

überall Rezepte für Viagra gefunden – in seinem Auto,<br />

im Schlafzimmer und in der Küche. Wir waren so aufgebracht<br />

und in Trauer, aber jedes Mal, wenn wir wieder eine<br />

halbleere Viagraflasche fanden, haben wir angefangen zu<br />

lachen. Weil es schien, dass mit seiner neuen Freundin<br />

alles gut lief, und ich habe eines dieser halbleeren Fläsch-<br />

chen mit nach Hause genommen, und aus Neugier habe<br />

ich es ausprobiert. Es ist eben so ein Produkt unserer Zeit,<br />

also musste ich es sehen.<br />

In »Das Kainsmal« erfahren wir viel über die Hauptfigur<br />

– Rant Casey — durch die Perspektiven anderer. Was willst<br />

du mit diesem Verfahren erreichen?<br />

Drei sehr gute Gründe für diese Technik. Erstens: Ich finde,<br />

mündliche Berichte sind leicht verdaubar, sehr sehr<br />

einfach zu konsumieren, so wie Snacks. Sie sind wie Kartoffelchips:<br />

so klein, dass man sich ständig dabei erwischt,<br />

wie man noch einen Chip legitimiert, andauernd, immer<br />

und immer wieder. Zweitens: oral history ist keine Form<br />

von Fiktion, und dadurch kann man so viel unglaublichere<br />

Geschichten erzählen. So wie Orson Welles, der einem in<br />

»Krieg der Welten« diese alberne Invasionsgeschichte von<br />

Marsmenschen auftischt – aber in Form von Nachrichtensendungen<br />

im Radio erzählt, wodurch das Ganze eine<br />

Glaubwürdigkeit bekommt, nämlich weil die so erzeugte<br />

Angst sehr real wird. Oder »Citizen Kane«, erzählt in Form<br />

der Wochenschau. Wieder eine nicht-fiktionale Form, die<br />

benutzt wird, um eine fiktionale Geschichte zu erzählen.<br />

Oder »Blair Witch Project«: verloren gegangenes Material<br />

eines Dokumentarfilms von Menschen, die von Hexen<br />

umgebracht wurden? Man sieht, die Form trägt die<br />

Geschichte, obwohl die Geschichte albern ist. Der dritte<br />

Grund für diese Technik ist, dass sie es mir ermöglicht, die<br />

Geschichte so zusammenzusetzen, wie es ein Cutter beim<br />

Film tun würde. Denn wir können einen Film gucken, und<br />

wir kennen jump cuts und intercutting, und wir kommen<br />

damit klar, wenn zwei Aussagen sich widersprechen, weil<br />

wir sie als Zuschauer in Beziehung zueinander setzen. Wir<br />

schaffen den Zusammenhang zwischen den Informationsbruchteilen,<br />

die uns in der fortwährenden Collage von Visualitäten<br />

zur Verfügung gestellt werden. Deshalb erlaubt<br />

es mir diese Technik, langatmige, wortreiche Übergänge<br />

zwischen zwei Perspektiven oder Informationen wegzulassen.<br />

Sie stellt sich vielmehr dar wie ein Film.<br />

Dazu kommt, dass das Präsentieren einer Figur, die<br />

nie wirklich selbst auftritt, diese Figur zu einem Symbol<br />

macht, durch die andere sich selbst präsentieren. So wie<br />

du die Welt beschreibst, lernen wir mehr über dich als<br />

über die Welt.<br />

Sind konventionelle Erzählweisen in der Welt von heute<br />

obsolet?<br />

Für manche vielleicht nicht. Aber Filme sind für ein derart<br />

anspruchsvolles Publikum gemacht worden, dass ich<br />

von neuen Büchern mehr erwarte als von früher geschriebenen.<br />

Bücher sollten mit Narration so experimentieren<br />

wie es im Film gemacht wird, bei Videos, ja, sogar im Fernsehen.<br />

»Das Kainsmal« von <strong>Chuck</strong> Palahniuk, übersetzt von Werner<br />

Schmitz, Manhattan HC, München 2007, 352 S., € 14,95<br />

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Eis, Eis, Baby<br />

Protagonist und Bühnenbild: Eislandschaften im Polarroman<br />

text, interview: kirstin werner foto: torsten sachs /<br />

alfred-wegener-institut für polar- und meeresforschung<br />

»Das Eis knackt – mal mehr, mal weniger. Es schnalzt, als<br />

würde jemand mit der Lederpeitsche peitschen. Und dabei<br />

war die von mir für eine Gletscherspalte gehaltene Kluft ja<br />

nur die Spur eines Heißwasserschlauchs.«<br />

diana magens, wissenschaftlerin am alfred-wegener-institut<br />

für polar- und meeresforschung und momentan für das<br />

internationale bohrprogramm andrill in der antarktis<br />

unterwegs<br />

Literatur handelt von Menschen, nicht von Orten. Landschaften<br />

bilden in Erzählungen oft nur die Kulisse für das<br />

zwischenmenschliche Tun. Da haben es Geschichten, die<br />

an Flecken spielen, an denen kaum jemand lebt, wohl eher<br />

schwer. Denn, wie die Schriftstellerin Tina Uebel treffend<br />

sagt: »Im Polarroman ist das Eis der Protagonist.«<br />

Am 1. März 2007 startete das Internationale Polarjahr<br />

(IPY). Mit dieser groß angelegten Kampagne machen<br />

Wissenschaftler aus weltweit mehr als sechzig Nationen<br />

auf die sensiblen Lebensräume in Arktis und Antarktis<br />

aufmerksam. »Wie sich die Natur an den Polen entwickelt,<br />

steht in unmittelbarem Zusammenhang zu den von Menschen<br />

bewohnten Gebieten«, erläutern die Polarforscher ihre<br />

gemeinsamen Projekte. Das Polarjahr dauert bis 1. März<br />

2009 an: In zwei kompletten Nord- und Südsommern werden<br />

die Gebiete jenseits der Polarkreise erkundet. Der so<br />

genannte »Outreach« spielt dabei zunehmend eine Rolle.<br />

Journalisten, Künstler und Lehrer sind eingeladen, der<br />

Allgemeinheit, vor allem der nachwachsenden Generation,<br />

ihre Eindrücke von der faszinierenden, den meisten<br />

aber unbekannten Gegend kundzutun. Auch Literatur<br />

kann einen Beitrag zu dieser Öffentlichkeitsarbeit leisten.<br />

»Der Thematik mit Literatur zu begegnen, vereinfacht es,<br />

eine Beziehung zum Eis und ein weitergehendes Interesse<br />

für die wortwörtlich weißen Flecken auf der Landkarte zu<br />

entwickeln«, meint Tina Uebel, Autorin des Polarromans<br />

»Horror Vacui«.<br />

Urlaub am Südpol<br />

Im Roman hat Tina Uebel die Eindrücke ihrer Antarktisreise<br />

auf einem russischen Eisbrecher partiell verwertet:<br />

»Die Reise war zunächst schlicht die Erfüllung eines Lebenstraumes.<br />

Erst ein halbes Jahr später wurde mir klar,<br />

dass sich die Antarktis und spezifisch der in ›Horror Vacui‹<br />

beschriebene Trip – den ich zwar nicht gemacht habe, der<br />

aber ziemlich exakt so als ›Pauschalreise‹ buchbar ist – als<br />

ideale Kulisse eignet«, erzählt die Hamburgerin. Vier Extremtouristen<br />

machen sich auf den Weg zum Südpol. Von<br />

zwei Guides geführt, quälen sie sich über das unwegsame<br />

Eis. Der Spaziergang zum südlichsten Punkt der Erde<br />

wird aus den Perspektiven der vier Urlauber geschildert.<br />

»Die Protagonisten stehen unter dem Einfluss der extremen<br />

Landschaft, deren Dimensionen gar nicht zu begreifen sind.<br />

Insofern verhalten sie sich auch jenseits der ›Normalität‹«,<br />

beschreibt die Autorin, Literaturveranstalterin und freie<br />

Journalistin die kleine Reisegruppe. In den Köpfen der vier<br />

macht sich im Verlauf der Wanderung auf unterschiedliche<br />

Weise der ›Horror vacui‹, die Angst vor der totalen<br />

Leere, breit. Dennoch ist die beeindruckende Schneelandschaft<br />

ihr Antrieb weiterzugehen, ihre Motivation ist das<br />

Eis. Zwischen Faszination und Lähmung wandeln die vier<br />

physisch und psychisch Geschwächten über das gefrorene<br />

Land: »Dass ich noch immer stehe, überrascht mich selbst.<br />

Wenn die schützende Haut des Schlafsacks, des Zeltes, der<br />

Gespräche, der Gegenwart anderer von mir abgezogen ist<br />

wie die Pelle von einer Kartoffel, scheint es mir jedes Mal<br />

verwunderlich, dass noch genug übrig bleibt, was sich auf<br />

den Weg machen könnte. Auf den Weg über das Eis. Soviel<br />

Eis, es tut fast weh.«<br />

Das Eis – Protagonist und Bühnenbild<br />

Mit dem IPY wird eine öffentliche Debatte über die Relevanz<br />

der Polargebiete für das globale Klima losgetreten,<br />

die auch in der Literatur geführt werden könnte: »Literatur<br />

kann wissenschaftliche Ideen und Szenarien transportieren.<br />

Es reicht schon aus, wenn Fragen wie der Klimawandel<br />

oder der Verlust von Ökosystemen eine Person in einer Erzählung<br />

direkt betreffen«, meint die britische Autorin Jean<br />

McNeil. Denn über die Identifikation des Lesers mit den<br />

Figuren gelingt der Roman. Die Herausforderung des<br />

Polarromans ist somit eine Gratwanderung: Das Eis ist einerseits<br />

Protagonist, andererseits nur das Bühnenbild, vor<br />

dem sich die Handlung vollzieht. Während in Romanen<br />

wie John Griesemers »Niemand denkt an Grönland« die<br />

Arktis als befremdendes Niemandsland im Hintergrund<br />

verschwimmt, dreht sich in Christoph Ransmayrs Roman<br />

»Die Schrecken des Eises und der Finsternis«, in »Fräulein<br />

Smillas Gespür für Schnee« von Peter Høeg oder in Tina<br />

Uebels »Horror Vacui« alles um das Eis und dessen Wirken<br />

auf die Romanfiguren.<br />

Geschichten vom Pol<br />

Science-Fiction-Romane versetzen ihre Handlung gern<br />

in die oft außerirdisch anmutende Umgebung der Polargebiete.<br />

»Das Zusammenspiel von klaustrophobischer<br />

Enge auf Polarstationen mit der tödlichen Weite der Landschaft<br />

begünstigt wahrscheinlich auch Krimis. Andere Geschichten«,<br />

meint Tina Uebel, »gestalten sich naturgemäß<br />

knifflig, sie setzen eine genaue Kenntnis der Umstände in<br />

den dort marginalen menschlichen Lebenswelten voraus.«<br />

Geschichten vom Pol sind auch deshalb so rar, weil die Re-<br />

cherche schwierig ist und die persönliche physische Erfahrung<br />

notwendig, wozu nur wenige Autoren Gelegenheit<br />

haben. Vielleicht sind Polarromane aber auch so selten,<br />

weil bisher kaum Nachfrage bestand. Geschrieben wurde<br />

schon seit den ersten Entdeckungsreisen ins unbekannte<br />

Land. Die Helden des heroischen Zeitalters wie Shackleton,<br />

Amundsen oder Scott haben ihre Expeditionen gewissenhaft<br />

in Tagebüchern festgehalten. »Vielleicht besteht<br />

der Antrieb Tagebuch zu schreiben darin, der unmenschlichen<br />

Landschaft etwas Menschliches einzuhauchen«, vermutet<br />

die in Kanada geborene Jean McNeil. Heute löst das<br />

Internet das Tagebuch zunehmend ab, in persönlichen<br />

Rundmails lesen Familie, Freunde und Bekannte vom Leben<br />

auf der Polarstation. E-Mails und Weblogs schützen<br />

vor dem Vergessen. »Die Eindrücke sind so extrem wie die<br />

Landschaft. Derart fremd und intensiv, nicht vergleichbar<br />

mit dem, was man in seiner Normalexistenz erlebt. Eine<br />

nachträgliche Beschreibung aus der Erinnerung müsste<br />

verwässert klingen«, beschreibt Tina Uebel die Notwendigkeit,<br />

das Erlebte noch vor Ort aufzuschreiben. »Viele der<br />

Natureindrücke in »Horror Vacui« entstammen wortwörtlich<br />

meinem Tagebuch.«<br />

Antarktisches Drama<br />

Anfang Februar 2008 wird die Schriftstellerin Jean McNeil<br />

für mehrere Wochen mit der ›Polarstern‹, dem deutschen<br />

Forschungseisbrecher des Alfred-Wegener-Instituts für<br />

Polar- und Meeresforschung, in die Antarktis reisen. Ein<br />

Künstler-Stipendium der für Antarktisforschung zustän-<br />

digen Organisation Großbritanniens, der British Antarctic<br />

Survey, ermöglichte der Autorin bereits vor einigen Jahren<br />

einen Aufenthalt im Eis. Ihre Eindrücke fasste sie in<br />

dem Genre übergreifenden Band »The Ice Diaries« zusammen.<br />

Trotz der Bezauberung, sagt sie, besäße das Leben<br />

dort etwas Beklemmendes: »Man ist mit vielen Leuten auf<br />

engstem Raum zusammen gepfercht. Da kann man nicht<br />

einfach weglaufen – in der Antarktis umzukommen, ist<br />

ziemlich einfach. Aber genau das gibt dem Ganzen etwas<br />

Dramatisches: Die Landschaft färbt das menschliche Miteinander<br />

ein. Die Antarktis habe ich daher als einen sehr<br />

inspirativen Ort zum Geschichtenerzählen empfunden.«<br />

Weiterlesen<br />

»Horror Vacui« von Tina Uebel, Kiepenheuer &<br />

Witsch, Köln 2005, 272 S., € 17,90<br />

»Die Schrecken des Eises und der Finsternis« von Christoph<br />

Ransmayr, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am<br />

Main 1987 (Neuauflage 2005), 275 S., € 8,95<br />

»Die Entdeckung der Langsamkeit« von Sten Nadolny, Piper,<br />

München 1983 (Neuauflage 2007), 368 S., € 10,00<br />

»Amundsen. Bezwinger beider Pole« von Tor Bomann-<br />

Larsen, marebuchverlag, Hamburg 2007, 703 S., € 29,90<br />

»Pole, Packeis, Pinguine« von Karoline Stürmer, Deutscher<br />

Taschenbuch Verlag, München 2007, 304 S., € 14,95<br />

tina uebel empfiehlt<br />

»Die schlimmste Reise der Welt« von Apsley Cherry-<br />

Garrard, Semele Verlag, Berlin 2006, 656 S., € 26,90<br />

46 1 worte<br />

worte 1 47


Die Drehung<br />

der Schraube<br />

larissa boehnings<br />

Roman-Debüt »Lichte Stoffe«<br />

text, interview: susanne lederle<br />

Evi geht in einem Pelzmantel in die Badenwanne und ihr<br />

Mann rasiert einer streunenden Katze das verfilzte, kotverdreckte<br />

Fell. Eine Beinahe-Affäre später liest Evi die<br />

nackte Katze von der Straße auf und wärmt sie mit dem<br />

ruinierten Pelzmantel. Dieser Pelzmantel ist das einzige,<br />

was sie aus dem Besitz ihrer verstorbenen Mutter behalten<br />

hat. Evi ist ein ›Besatzungskind‹, die Tochter eines<br />

schwarzen GI und einer Berliner Hutmacherin. Diese<br />

warnte bisweilen die Kundschaft im Geschäft vor ihrer<br />

Tochter: »Die färbt ab!«<br />

Erst nach dem Tod der Mutter erfährt Evi von einem<br />

Degas-Gemälde, unterschlagener Beutekunst, das ihr Vater<br />

einst der Mutter schenkte, dann bei seiner Rückkehr<br />

in die USA aber doch mitnahm.<br />

Versammelte Larissa Boehnings Debüt, ihr Erzählband<br />

»Schwalbensommer«, noch Geschichten über die Befindlichkeiten<br />

der ›Generation Golf‹, wächst ihr erster Roman<br />

»Lichte Stoffe« weit über die Zustandsbeschreibungen<br />

dieses So-Dahin-Lebens hinaus. Er erweitert es um die<br />

Dimension der Eltern- und Großelterngeneration, um<br />

die Frage, was Heimat sein und ob man eine brauchen<br />

könnte, um eine scheinbar erbliche Zurückweisung durch<br />

die Eltern und deren Kompensationsversuche. Diese Eltern-Kind-Störung<br />

lässt sich auf das Verhältnis der Deutschen<br />

zu den Amerikanern übertragen. Denn man »hasst<br />

doch immer nur das, was einem zu ähnlich ist«.<br />

Von Mimikry-Stoffen<br />

Boehning studierte Kulturwissenschaft, Philosophie,<br />

Kunstgeschichte und arbeitete ausschließlich als Graphikdesignerin,<br />

als das Literarische Colloquium Berlin ihre<br />

Texte zur Autorenwerkstatt Prosa annahm. Es folgten die<br />

Teilnahme beim Open Mike und das Alfred-Döblin-Stipendium<br />

der Akademie der Künste.<br />

Boehning dreht in ihren Texten Merkwürdigkeiten,<br />

die ihr als Graphik-<strong>Design</strong>erin begegnen, gern »ein<br />

Schräubchen weiter«: Evis Tochter Nele lebt als Turnschuh-<br />

<strong>Design</strong>erin in den USA. Ihre Diplomarbeit beschäftigt<br />

sich mit einer Art ziviler Tarnkleidung aus »Mimikry-Stoffen«,<br />

die ihren Träger hinter dem Stoff zurücktreten und<br />

verschwinden lassen soll, »als trage jemand die zu ihm<br />

passende Welt mit sich herum«. Als Nele an der Entwicklung<br />

einer ›transparenten‹ Turnschuh-Marke mitwirken<br />

soll, die über ihr scheinbares Nicht-Vorhandensein, »ihre<br />

vollkommen unauffällige, nicht bewusst wahrnehmbare<br />

Allgegenwart« ihren Weg an die Füße der Konsumenten<br />

finden soll, macht sie Schluss mit dem »Leben ohne Ankommen«<br />

und nimmt an Stelle ihrer Mutter die Suche<br />

nach Großvater und Gemälde auf. Diese seien die eigentlich<br />

»lichten Stoffe«, die Boehning als »Fäden, die schnell<br />

reißen, aber eigentlich überall vorhanden sind zwischen<br />

Menschen, innerhalb der Familie« beschreibt. Dort, wo sie<br />

»eigentlich am stärksten sein sollten, sind sie am lichtesten,<br />

am durchsichtigsten.«<br />

Lügen oder getarnte Turnschuh-Marken werden zur<br />

Wahrheit, »weil jemand sie glaubt«. Schließlich erfindet<br />

auch Nele eine Lüge, die zur Wahrheit wird, weil ihre<br />

Mutter sie glaubt. »Kunst kann mehr transportieren als<br />

Menschen aussprechen«, sagt Boehning. So spricht der Roman<br />

nicht mehr nur von Turnschuhen und totgeschwiegenen<br />

Vätern, sondern von Kunst und Literatur: Lügen,<br />

die die Wahrheit sprechen.<br />

Die impressionistisch leichte und schwebende Erzählweise<br />

erhellt in Vor- und Rückblenden immer genau<br />

so viel, wie notwendig ist, um eine sirrende Spannung<br />

aufrecht zu erhalten. Am Ende wundert man sich beinahe,<br />

dass aus all den einzelnen, fragilen Lichtzipfeln seiltänzerisch<br />

sicher und scheinbar mühelos ein vollständiges Bild<br />

der Geschichte entstehen konnte, das tatsächlich einem<br />

Degas-Gemälde gleicht: Eine Geschichte, die »sich auflöst,<br />

um sich zugleich spüren zu können.«<br />

»Lichte Stoffe« von Larissa Boehning,<br />

Eichborn, Berlin 2007, 324 S., € 19,95<br />

Fliehe den Pfad.<br />

mark z. danieleWskis »Das<br />

Haus. House of Leaves« ist ebenso<br />

Anleitung zum nichtlinearen<br />

Lesen wie virtuose Postmoderne-<br />

Parodie<br />

text: jochen werner<br />

»Unerachtet der prosaischen Aufklärung musste ich doch<br />

noch immer, vorübergehend, nach dem öden Hause hinschauen,<br />

und noch immer gingen im leisen Frösteln, das<br />

mir durch die Glieder bebte, allerlei seltsame Gebilde von<br />

dem auf, was dort verschlossen.«<br />

e. t. a. hoffmann<br />

»In every dream home a heartache.«<br />

roxy music<br />

und so lässt Danielewski die Erzählung von »Das Haus. House of Leaves« in zahlreiche Nebenstränge mäandern,<br />

die sich um sein enigmatisches Zentrum herum verknoten. Dieses Zentrum, daran besteht im Grunde<br />

niemals ein Zweifel, ist leer. Muss leer sein. »Das Haus. House of Leaves« ist ein Roman über Architektur und<br />

über das Nichts und wie sich die erstere über das zweitere legt und so den Anschein erweckt, aus dem Nichts<br />

ein Etwas zu schaffen. Danielewski erzählt, wie sich die Leere, das absolute<br />

Abhandensein, ihren Platz in den unsichtbaren Zwischenräumen<br />

unserer Leben neu erobert; wie sie sich, wo ihre Existenz erst einmal<br />

(an)erkannt wird, in ihrer eigenen Logik verzweigt und verästelt und<br />

immer umfassender wird, werden kann, weil sie nicht mehr an den Rahmen<br />

der Veräußerung gebunden ist. Die einzige Logik, der das Haus in Danielewskis Buch folgt, ist die des Regelwerks<br />

seiner individuellen Kombinatorik. Überdies ist »Das Haus. House of Leaves« aber auch eine furiose<br />

Parodie auf die Systematisierungsversuche des Nicht-Systematischen durch die Glätter und Schubladendenker<br />

von academia. Jede Fußnote darin, so sie nicht wieder auf einen ganz eigenen Nebenpfad führt und so den<br />

›Gegenstand‹ des Buches – gewandet in die Mimikry eines durch viele Hände gewanderten, von, keineswegs<br />

vertrauenswürdigen Autoren, Redakteuren und Kopisten durchgearbeiteten und in der Textwelt noch einmal<br />

verdoppelten Manuskriptes – für Dutzende von Seiten fast völlig im Stich lässt, verspottet jene Leser, Deuter<br />

oder Sortierer, die ein Sinnzentrum, einen decodierbaren Kern eines Romans erwarten oder ihn dort zu erkennen<br />

glauben, wo er per definitionem fehlen muss. Somit muss Danielewskis Buch auch so umfangreich<br />

sein, wie er es geschrieben hat – müsste im Grunde noch viel länger sein, müsste sich ebenso wie die Flure des<br />

Hauses in unendliche Weiten erstrecken, sich zusammenziehen und ausdehnen, erzählte Zeit wie Erzählzeit<br />

gleichermaßen falten, und irgendwann den Leser – den Bewohner dieses Romans – einfach verschlucken. 172<br />

Edgar Allan Poe, E. T. A. Hoffmann, Sigmund Freud,<br />

Jacques Derrida, Daniel Myrick, Eduardo Sánchez,<br />

Stephen King, Rainer Maria Rilke, Stanley Kubrick,<br />

W. J. T. Mitchell, Roland Barthes, Jorge Luis Borges,<br />

Und dabei müsste es rein gar nichts sagen, müsste nur Räume öffnen und schließen. Weil dies jedoch ein nicht<br />

erfüllbares Ideal für einen Konzeptroman dieses Zuschnitts darstellt, kommt Danielewski um eine Erzählung<br />

doch letzten Endes nicht ganz herum. Die minutiöse, dokumentarisch-protokollarische Nacherzählung des<br />

an »The Blair Witch Project« gemahnenden, fiktiven Dokumentarfilms »The Navidson Record« ordnet »Das<br />

Haus. House of Leaves«, das doch so gerne Antithese zur Erzählliteratur wäre, letztlich dann doch nur einem<br />

Genre zu: dem Schauerroman. Stephen King für Literaturstudenten. Zwischen diesen beiden Polen seiner<br />

Arbeit, in den unendlichen, schweigenden Zwischenräumen geht letztlich auch der Autor selbst verloren, was<br />

nur zu einem Schluss führen kann: »Das Haus. House of Leaves« ist mehr Spielzeug als Literatur, und<br />

172 Natürlich ist eines der grundlegenden Verfahren der Popliteratur – und wir wollen einmal davon ausgehen, dass es sich bei<br />

Danielewski um einen Pop-Autoren handelt – das schlichte Vollschreiben von Seiten. Egal, womit. Alles ist gleich viel wert.<br />

Nichts anderes verbirgt sich hinter der jüngst florierenden Listen-Literatur, und nichts anderes rechtfertigt das endlose Verzetteln<br />

in Aufzählungen, Fußnoten, Quellenangaben, mittels derer Danielewski seine Geschichte buchstäblich in Stücke schießt. 173<br />

173 Aber ebenso selbstverständlich verbirgt sich hinter dieser Methode eine schiere Finte eines<br />

Autors, der so dem Zwang entgeht, etwas zu sagen zu haben. Immer ist da ein Wall von Ironie, der<br />

zwischen Text und Gegenstand einerseits bzw. Text und Leser andererseits treten kann. Um zwischen<br />

den Fußnoten und den Fußnoten zu den Fußnoten175 nicht verloren zu gehen wie die Protagonisten<br />

in den endlos verzweigten Zwischenräumen ihrer eigenen vier Wände176 , bedarf es schon eines<br />

überwältigenden schriftstellerischen Talentes, über das Danielewski eher nicht verfügt. 174<br />

174 Dafür ist er ein furioser Handwerker und ein virtuoser Taschenspieler. Auf den immerhin über 800 Seiten von »Das Haus.<br />

House of Leaves« verblüfft er immer wieder mit formalen Spielereien, die seinen Roman durchaus zu tragen vermögen.<br />

175 Vgl. ebd.<br />

176 Ist nicht aber das des Ziel des Romans? 177<br />

177 Macht das wirklich einen Unterschied?<br />

»Das Haus. House of Leaves« von Mark Z. Danielewski,<br />

aus dem Amerikanischen von Christa Schuenke,<br />

Klett-Cotta, Stuttgart 2007, 827 S., € 29,90<br />

48 1 worte<br />

worte 1 49


»Wir müssen<br />

uns nur<br />

wieder<br />

entschnüren«<br />

jonathan meese ist mutter parsival – Performance an der Deutschen Stattsoper in Berlin am 16.3.2005<br />

jonathan meese über ein Leben<br />

im Spiel, die Diktatur der Kunst und<br />

den revolutionären Druck der totalen<br />

Veränderung<br />

text, interview: kerstin roose<br />

fotos: jan bauer / courtesy contemporary fine arts, berlin<br />

Seit 2004 bist du immer wieder an der Volksbühne tätig.<br />

Was bedeutet es für dich, gerade an diesem Haus zu<br />

arbeiten?<br />

Für mich ist das ein familiäres Energiezentrum. Da sind<br />

Leute, die ich mag. Ich kenne die, ich finde die toll. Ich<br />

habe da niemanden kennen gelernt, den ich nicht mag.<br />

Niemanden! Das gibt es nicht, weil das ja Leute sind, die<br />

an einer großen Sache arbeiten. Das ist auch in der Kunst<br />

selten zu finden, weil es dort so vereinzelt ist. Ich habe<br />

Glück gehabt, dass ich damals von solchen Leuten angesprochen<br />

wurde. Und man muss weitermachen. Man hat<br />

da angeheuert, wie auf einem Schiff und jetzt fährt man<br />

durch die Meere. Ich finde es gut, wenn man bei seinen<br />

Figuren bleibt.<br />

Könntest du rückblickend deine Begegnung mit »De Frau«<br />

beschreiben?<br />

Das war für mich ein ultimatives Kunstgeschehen. »De<br />

Frau« war die Diktatur der Kunst. Und für mich dieses<br />

Jahr das ultimative Kunstwerk – und auch für alle Zeiten,<br />

das ist nicht mehr weg zu diskutieren. Ich war auch nicht<br />

wirklich ein Regisseur. Für mich war das wie so ein Tierbabyzoo.<br />

Wie eine Insel, wo man sich getroffen hat, die<br />

geheimnisvolle Insel des Dr. No, und dort waren acht Statuen,<br />

die haben miteinander gespielt.<br />

Du meinst im wahrsten Sinn des Wortes, im<br />

ursprünglichen Sinn von ›spielen‹?<br />

Absolut. Die Kritiker konnten damit gar nicht umgehen.<br />

Das verstehen die gar nicht.<br />

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jonathan rockford (don‘t call me back) – Solo show in the Appel Museum, Amsterdam, Netherlands, 2007<br />

Im Feuilleton wurde der Inszenierung teilweise der<br />

Stempel eines ›Kindergeburtstages‹ aufgedrückt. Wie<br />

reagierst du auf solche Wertungen?<br />

Ich finde es langweilig. Weil es das auch nicht ist. Das ist<br />

die allererste Schicht im Bonbon. Die ist aber ganz dünn.<br />

Wenn du die weglutschst, dann kommt sofort etwas ganz<br />

anderes zum Vorschein. Und ich glaube, davor haben die<br />

Leute Angst. Das dreht nämlich alles um, das ist ein Paradigmenwechsel.<br />

Im Grunde genommen ist es gefährlich.<br />

Ein Kind zu sein, heute, in dieser Zeit, ist wahnsinnig gefährlich.<br />

Das merken die Leute und deshalb wollen die das<br />

auch nicht. Die sind selber so versteinert und verknöchert,<br />

die peilen auch nicht, dass man da einfach auf die Bühne<br />

geht und loslegt. Die denken, das ist geplant, strukturiert,<br />

das hat ein Ziel, einen Anfang, ein Ende, das ist Kindertheater,<br />

Kasperletheater. Stimmt ja auch! Aber das ist doch<br />

super. Was ist schöner als Kasperletheater oder Kindergeburtstag?<br />

Das ist so ernst und so herrlich, wundervoll,<br />

charmant und präzise. Da wird ein Jahr wieder neu eingeläutet:<br />

neues Spiel, neues Glück. Man selbst setzt wieder<br />

alle Hebel in Gang. Die Fahrt geht los, man nimmt Fahrt<br />

auf und manche Leute peilen das nicht. Aber das ist ihr<br />

Problem, es wird sie wegschwemmen, in ihre eigene Erstarrtheit.<br />

Mit diesem Wagnis des freien Spielens riskiert man sehr viel.<br />

Man macht sich damit auch sehr verletzbar.<br />

Ja, das stimmt. Deshalb bin ich auch sehr erschöpft. Das<br />

begreifen die Leute aber immer gar nicht. Ich bin wahnsinnig<br />

erschöpft. Aber das gehört auch dazu, das muss<br />

man sich gönnen.<br />

Woher kommt dennoch diese hypnotisch wirkende Energie,<br />

mit der du deine Arbeiten, die Performances betreibst?<br />

Ich glaube an die Revolution der Kunst. Und da kann man<br />

so frei aufspielen. Da kann man einfach Dinge machen,<br />

die man sonst nicht machen kann, da kann ich alles machen.<br />

Das wird nur nicht mehr erlaubt. Natürlich wird es<br />

erlaubt, aber man muss es sich fast schon mit Waffengewalt<br />

holen. Es ist so weit weg.<br />

Aber wird dir nicht mittlerweile relativ viel erlaubt? Weil<br />

du dich als Künstler oder auch als Jonathan Meese etwas<br />

weniger im normativen Korsett des realen Alltags bewegst?<br />

Ja, das stimmt. Ich find das auch super. Ich weiß auch nicht,<br />

wie es dazu gekommen ist. Aber das ist auch sehr anstrengend.<br />

Man soll immer in die Realität gezogen werden. Die<br />

Leute wollen mich immer wieder so anketten oder mir<br />

dann sagen, dass das alberner Scheiß ist. Natürlich ist das<br />

alberner Scheiß, aber was soll es denn sonst sein? Das ganze<br />

Leben ist ein alberner Dreck, so wie es gelebt wird heute.<br />

Wie leben denn die Menschen? Das ist doch Wahnsinn:<br />

totale Bevormundung, die Leute fühlen sich frei, sind aber<br />

komplett unfrei. Das Gefühl wird den Leuten die ganze<br />

Zeit vermittelt, keine Frage, aber wie dann letztendlich<br />

gelebt wird, dass ist eine ganz andere Sache.<br />

Ist es nicht auch nachvollziehbar, dass man sich aus<br />

gewissen Ängsten heraus bestmöglich in seinem kleinen<br />

realen Leben einrichtet?<br />

Doch. Aber das kann man sagen. Man kann das mal auf<br />

den Tisch bringen. Ich habe auch wahnsinnig viel Angst.<br />

Gerade – kurz bevor ich dich getroffen habe – habe ich<br />

gedacht, das Schlimmste ist die Angst. Uns wird so eine<br />

wahnsinnige Angst gemacht. Aber Angst vor Spielen brauchen<br />

wir nicht zu haben.<br />

Dann bildet das Spiel, die Kunst für Dich auch so etwas wie<br />

einen Schutzraum?<br />

Absolut. Da können wir auch Angst haben, aber wir wissen,<br />

dass diese Angst uns nichts anhaben kann. Das ist einfach<br />

ein wunderbarer Sandkasten. Kunst ist eh Spielzeug.<br />

Auch jemand wie Hitler ist in der Kunst ein Spielzeug. Alles<br />

ist ein Spielzeug: Wasser, ein Lolli, Scheiße – und das<br />

kannst du mischen und manschen, wie du willst. Du tust<br />

damit auch niemandem weh. Niemandem! Wer sich dort<br />

provoziert fühlt, hat selbst ein riesiges Problem. Denn die<br />

Kunst ist doch gerade dieser Ort. Man muss es sich ja nicht<br />

angucken.<br />

Lässt sich die Realität derart von ihren bösen Geistern<br />

reinigen?<br />

Absolut. Die reinigt sich nur durch den Katalysator Kunst.<br />

Und die Kunst ist mächtiger als die Realität. Und ich glaube,<br />

sie wird sie auch irgendwann ersetzen, das ist dann die<br />

Diktatur der Kunst. Wenn die Diktatur der Kunst herrscht,<br />

wenn die Kunst größer ist, so groß, dass die Realität weggedrängt<br />

wurde, dann wird eine neue Gesellschaftsordnung<br />

existieren.<br />

In welcher Gesellschaftsordnung würde man dann leben?<br />

Im Spiel. Im Grunde genommen lebt man erst dann wirklich.<br />

Wir sind noch in so einer Zwischen- oder Vorform.<br />

Wir denken immer, wir leben. Aber wir vegetieren. Die<br />

meisten. Ich auch. Wir vegetieren alle. Wir hängen alle<br />

am Tropf der Realität, dieser einen einzigen, bitteren<br />

Realität. Und es gibt so viele andere Möglichkeiten. Wir<br />

müssen unsere Chance nutzen. Wir haben uns selbst so<br />

abgeschnürt, alles. Wir müssen uns nur wieder entschnüren,<br />

das ist nicht so schwierig. Da kann man helfen (lacht).<br />

Man hat noch nichts verloren. Und die Kunst kann das<br />

regeln. Wenn ich also meine zugeschnürte Hand in die<br />

Kunst lege, dann wird sich das aufweichen, dann wird wieder<br />

Blut fließen können, dann wird wieder Stoffwechsel<br />

passieren. Das kann ich aber nicht in der Realität. Wenn<br />

ich mich zu sehr in der Realität aufhalte und glaube, dass<br />

das das Heilmittel ist, dann werde ich immer verkrampfter,<br />

ich werde mich immer mehr zuschnüren. Weil diese<br />

Realität wie ein Raum ist, der immer enger wird. Wie in<br />

diesen Horrorfilmen. Und irgendwann mal, da wirst du<br />

zu so einem kleinen Würfel zerdrückt. Dann bist du Würfelzucker.<br />

Für irgendwelche miesen Typen. Und das muss<br />

man nicht sein.<br />

Kannst Du das noch genauer erklären, also wie man<br />

sich die Ablösung vom Tropf der Realität durch die Kunst<br />

vorstellen kann?<br />

Im Grunde genommen ist das wie zwei Höhleneingänge.<br />

Bislang sind die Menschen immer nur in die eine Höhle<br />

gegangen und da ist alles zertrampelt, da ist überhaupt<br />

kein Spielraum mehr. Komischerweise sind sie trotzdem<br />

nie in die andere Höhle gegangen. Oder nur ein ganz<br />

kleines bisschen. Oder nur ganz wenige. Und das ist nicht<br />

schwierig, das ist auch nichts Besonderes. Du brauchst<br />

keine Fähigkeiten, um da rein zu gehen. Du musst es nur<br />

machen. Aber komischerweise gibt es diese eine Höhle,<br />

wo noch fast niemand drin war. Da muss man einfach<br />

reingehen. Das ist die Höhle namens Kunst. Und die ist<br />

wahrscheinlich fünf Milliarden – Tausend – Trillionen mal<br />

größer als diese eine Realität, die wir haben. Das ist aber<br />

kein Paralleluniversum.<br />

Kein Paralleluniversum, aber in welchem Verhältnis stehen<br />

diese zwei Höhlen zueinander?<br />

Die eine ist zertrampelt, überfüllt und so uncharmant,<br />

problematisch und wichtig geworden. Das ist die, in der<br />

wir uns gerade befinden. Da können wir nur noch ohnmächtig<br />

werden, weil wir keine Luft mehr zum Atmen<br />

haben. Das andere ist der revolutionäre Druck der totalen<br />

Veränderung. Das ist die andere Höhle. Die sagt eigentlich<br />

nur:»Es kann und es wird sich total verändern.« Das ist wie<br />

eine Botschaft. Die kommt aber nicht von mir, die kommt<br />

von der Höhle. Die Höhle sagt: »Ihr seid alle willkommen<br />

und hier, in dieser Höhle, kann gespielt werden.« Aber<br />

wir gehen auf dieses Angebot nicht ein, zumindest wenige<br />

und zu wenige. Das ist schade. Ich kann das auch nicht<br />

richtig erklären, weil ja noch niemand in der Höhle war.<br />

Aber ich habe schon mal reingeguckt, das kann ich schon<br />

zugeben. Und ich war auch schon ein paar Schritte drin.<br />

Und bist Du umgekehrt? Oder wurdest Du wieder raus<br />

gesogen?<br />

Ich wurde raus gesogen, ja. Meine Befindlichkeit ist auch<br />

noch zu groß. Da ist noch zuviel Ich. Aber das ist auch okay,<br />

wir sind halt so: Menschen. Aber zum Beispiel jemand wie<br />

Captain Ahab, also bestimmte Figuren aus bestimmten<br />

Büchern, die sind in der Höhle drin.<br />

Das klingt für mich doch eher nach einer Parallelwelt.<br />

Ja, aber irgendwann wird diese Parallelwelt so stark, dann<br />

wird sie die Gesetze für die reale Welt formulieren. Aber selber.<br />

Das ist wie Risse in der Höhle, und dann wird ein Austausch<br />

stattfinden. Die können wir aber nicht bauen, die<br />

Risse. Die können wir nicht selber erzeugen. Wir können<br />

nur spielen und hoffen, dass diese Risse sich selbst bilden.<br />

Das komplette Interview unter www.goon-magazine.de<br />

jonathan meese, 1970 in Tokio geboren, lebt und arbeitet in<br />

Berlin und Hamburg. Neben zahlreichen Ausstellungen und<br />

Performances weltweit ist er seit 2004 immer wieder auch an<br />

der Berliner Volksbühne tätig. Dort hat er die Bühnenbilder zu<br />

Frank Castorfs Inszenierungen »Kokain« und »Die Meistersinger«<br />

entworfen und mit »De Frau« seine erste Regiearbeit<br />

präsentiert. Im Februar 2008 wird er erneut als Bühnenbildner<br />

an Frank Castorfs »Faust«-Inszenierung beteiligt sein.<br />

2 1 worte<br />

worte 1 3


performativ text: astrid hackel<br />

Mit der Parole »Kampnagel besetzen!« hat Amelie Deuflhard,<br />

die Ex-Chefin der Berliner Sophiensæle, nicht nur<br />

die Weichen für die einstige Topadresse unter den Off-<br />

Spielstätten, eine ehemalige Maschinenfabrik in Hamburg,<br />

neu gestellt – sie macht mit der Anspielung auf die<br />

lange Tradition der Hamburger Hausbesetzungen, wie die<br />

der Roten Flora oder der Hafenstraße, auch auf die lokale<br />

Verankerung einer international arbeitenden Institution<br />

aufmerksam. Poppig, punkig und politisch ist die neue<br />

Website, aber auch global, diskursiv und interdisziplinär.<br />

Statt klassisch-konventioneller Buttons gibt es auf WWW.<br />

kampnagel.de originell-verquere Foren wie »Bühne<br />

und Beute«, »Treibstoff Wissen«, »Meins/Deins« und »Musicflash«.<br />

Deuflhard und ihr Team setzen auf einen radikalfulminanten<br />

Neubeginn und gleichzeitig auf Kontinuität:<br />

Die erfolgreiche Zusammenarbeit mit freien Gruppen wie<br />

She She Pop oder Showcase Beat le Mot soll fortgesetzt<br />

werden; die wichtigste Aufgabe sieht Deuflhard jedoch<br />

nach wie vor darin, neuen, talentierten KünstlerInnen<br />

Räume zu eröffnen und Koproduzenten für ihre Arbeiten<br />

zu finden. Der Berliner Regisseur David Marton ist so eine<br />

Entdeckung. Seine vielgelobte, musikalische Adaption<br />

»der feurige engel« nach einem Roman von Valeri<br />

Brjussow steht Mitte Dezember auf dem Programm.<br />

Marton konfrontiert eine im 16. Jahrhundert spielende<br />

Geschichte über Hexen und Dämonen mit der Gegenwart<br />

und fragt nach den Möglichkeiten, die unvorhersehbaren<br />

Momente als Zufall oder Fügung ins Leben zu integrieren.<br />

Es sind diese auf das antike Theater zurückverweisenden<br />

Konflikte, die immer wieder neu theatralisiert und aktualisiert<br />

werden, weil sie eine menschliche Grunderfahrung<br />

widerspiegeln. Die Regisseurin Britta Schreiber nimmt<br />

sich in Braunschweig gerade »us amok« vor, ein Stück<br />

über den ›Unabomber‹ Theodore Kaczynski, dessen Briefbombenattentate<br />

in den USA zwischen 1978 und ’9 für<br />

Schlagzeilen sorgten. Dessen Autor, Marc Becker, interessierte<br />

unter anderem genau dieses Moment: dass da ein<br />

hochbegabter Mathematikprofessor seinen Dozentenjob<br />

David Marton »Der feurige Engel«<br />

© David Baltzer<br />

aufgibt und seine Wohnung verlässt, um in den Tiefen<br />

der Wälder von Montana ein sehr einfaches, quasi vorindustrielles<br />

Leben zu führen. Bei Becker fungiert es als<br />

eine Art Folie für die Identitätssuche von vier jungen, mit<br />

der Gesellschaft irgendwie unzufriedenen Leuten, die am<br />

Ende des Stücks kurz vor der Entscheidung stehen, eine<br />

radikale Veränderung, eine Explosion herbeizuführen.<br />

Nach Antworten auf die gesellschaftlichen Probleme<br />

suchten auch die jungen Aktivisten der RAF. Diese stand<br />

zu Beginn der Spielzeit, als sich der so genannte Deutsche<br />

Herbst zum dreißigsten Mal jährte, nicht nur in Zeitungen<br />

und Fernsehen, sondern auch auf den Bühnen im Mittelpunkt.<br />

Ein Gros der Dramentexte fokussiert die Gesichter<br />

der RAF, allen voran Ulrike Meinhofs. Auch sie verkörpert<br />

eine radikale Wandlung – von der emanzipierten konkret-<br />

Journalistin zur Untergrund-Terroristin. »der tod des<br />

eichhörnchenmenschen« von Mal /gorzata Sikorska-Miszcuk<br />

ist ein Stück über Ulrike Meinhof. Marcin<br />

Liber brachte es zusammen mit dem Teatr ustausta/2xu<br />

aus Polen zur Uraufführung. In dem rasanten »Bühnencomic«<br />

(HAU) werden nicht nur Fragen nach Gut oder Böse<br />

und der Legitimität von <strong>Gewalt</strong> gestellt, es geht auch um<br />

die Machart von Nachrichten und wie durch sie Wirklichkeit<br />

konstruiert wird. Liber setzt auf den Wechsel schneller<br />

Spielszenen mit Foto- und Videomaterial aus den 1970er<br />

Jahren und der Gegenwart. Im Zusammenspiel mit electronoise<br />

und deutlicher Symbolik ergänzen Pop, Punk und<br />

Politik Libers diskursiv-analytische Formsprache.<br />

»Der feurige Engel«, Regie David Marton, 19., 20., 21.12.,<br />

Kampnagel Hamburg<br />

»US Amok« von Marc Becker, Regie: Britta Schreiber, 6.,<br />

7., 12., 19. und 27.12., Staatstheater Braunschweig<br />

»Der Tod des Eichhörnchenmenschen« von Malgorzata Sikorska-<br />

Miszcuk, Regie: Marcin Liber, 14., 15.12., HAU 3, Berlin<br />

Anleitung zur<br />

deutsch-polnischen<br />

Versöhnung<br />

adam olscheWskis Debütroman<br />

überzeichnet interkulturelle<br />

Liebesbeziehungen<br />

text: agnieszka mucha<br />

Deutsche Männer sind attraktiv, arbeitsam, dröge. Polnische<br />

Frauen gutaussehend, feierfreudig, arbeitsscheu,<br />

unschlagbar: Obwohl wir wissen, dass alles nur konstruiert<br />

ist, bestimmen vereinfachende Stereotype unsere<br />

Wahrnehmung.<br />

In seinem Debütroman »Ewa« bedient sich Adam<br />

Olschewski dieser Vorurteile, um einen erschreckenden<br />

»Kampf der Geschlechter und Kulturen« zu zeichnen.<br />

Protagonisten sind die junge Polin Ewa und ihr Lebensgefährte,<br />

der Deutsche Rainer. Die beiden lernen sich auf einer<br />

Zugfahrt kennen, als Ewa einen Kellner zur Schnecke<br />

macht, weil es im Bordrestaurant kein Aspirin mehr gibt.<br />

Da hilft ihr Rainer, selbstlos wie er ist, mit einer Schmerztablette<br />

aus. Statt sich einfach zu bedanken, fühlt sich<br />

Ewa herausgefordert und nervt Rainer, bis er sich mit ihr<br />

unterhält. Auf Seite 90 ist sie schon bei ihm eingezogen,<br />

und während er arbeitet, fährt sie mit seinem Benz zum<br />

Einkaufen oder liegt, eingelegte Gurken und Schokolade<br />

essend, vor dem Fernseher. Alles könnte wunderbar sein,<br />

bliebe da nicht langsam die Liebe auf der Strecke.<br />

Blitzschnell, in rasanter Sprache erzählt der 1966 in<br />

Polen geborene und in Deutschland lebende Journalist Olschewski<br />

die Geschichte einer sich stetig intensivierenden<br />

Hassliebe, die in Spott und Verachtung mündet. Virtuos<br />

wechselt er die Personenrede: der Liebesroman wird zum<br />

Thriller. Die furiose Ewa verwandelt sich in Barb Wire,<br />

Inbegriff des Kitsch und der trashig-weiblichen Heldenperson.<br />

Rainer ist nicht schuld, aber das ihm fehlende<br />

Östrogen. »The Story of Us« in Hardcore-Version. Die Gegensätze<br />

zwischen Polen und Deutschen sind nur eine der<br />

die Realität regierenden Dichotomien, deren Ausgangspunkt<br />

der scheinbar unüberbrückbare Gegensatz der<br />

Geschlechter ist. Konstruierte Klischees finden in diesem<br />

Roman auf allen Ebenen ihre Widerspiegelung.<br />

»Ewa« von Adam Olschewski, Rogner &<br />

Bernhard, Berlin 2007, 343 S., € 19,90<br />

Drei Sommer später<br />

Weil man nie ganz dahinter steigt:<br />

roman simićs »In was wir uns verlieben«<br />

text: astrid hackel foto: christian kortüm<br />

Sie atmen schwere, nasse Erde und alte Häuser oder Parfüm<br />

und Formalin, die Geschichten des kroatischen Autors<br />

Roman Simić. Leise Geschichten über Menschen, die<br />

ein Stück ihrer Bodenhaftung verloren haben und deren<br />

Gedanken, paralysiert von fremd gewordenen Kindheitserinnerungen,<br />

unablässig um ein leeres Zentrum kreisen,<br />

aus dessen unergründlichen Tiefen ab und zu ein metaphysisches<br />

Problem aufsteigt. »Ich stelle mir bisweilen vor,<br />

dass wir jede Erinnerung wieder zurückholen können, so<br />

wie eine Fotografie, die [...] erst drei Sommer später zur Entwicklung<br />

gegeben wird.«<br />

Simićs Erzählungen beziehen gerade aus der Langsamkeit,<br />

den fehlenden Worten und der Tatsache heraus,<br />

dass man nie ganz hinter die Handlung und ihre Protagonisten<br />

– die Voraussetzungen, den Ist-Zustand, die Möglichkeit<br />

einer Lösung – steigt, ein enormes Tempo. Ihm<br />

gelingt es, Alltägliches als ein Konglomerat aus Absurdität<br />

und Tragik, Nähe und ironischer Distanz zu schildern. Der<br />

Leser wird zum unfreiwilligen Zeugen einer privaten Auseinandersetzung,<br />

die keiner verbalen Äußerung bedarf<br />

und sich wie zufällig vor seinen Augen abspielt, als säße<br />

er als Anhalter bei Roko und seinem Vater oder bei den<br />

jungen Liebenden mit im Auto, die sich gerade gegen ein<br />

Kind entschieden haben, weil sie selbst kaum über die<br />

Runden kommen. Doch man spürt aus jeder zähen Sekunde,<br />

die verstreicht, wie schlecht es sich anfühlt und wie<br />

wenig sie sich gegenseitig dabei helfen können, mit dem<br />

Verlust fertig zu werden.<br />

»In was wir uns verlieben« versammelt Liebesgeschichten<br />

im weitesten Sinne, weil jede einzelne Geschichte<br />

diese Frage impliziert und variiert, wodurch die Liebe zu<br />

einer universellen Metapher für die Daseinsberechtigung<br />

jedes Einzelnen wird.<br />

»In was wir uns verlieben« von Roman Simić, aus dem<br />

Kroatischen von Alida Bremer, Buch mit Audio-CD, Voland<br />

& Quist, Dresden und Leipzig 2007, 224 S., € 18,90<br />

4 1 worte<br />

worte 1<br />

ADAM OLSCHEWSKI<br />

Ewa<br />

Roman<br />

ROGNER & BERNHARD<br />

review


eview<br />

Ausbeutung von<br />

Fremdbiographien?<br />

In »Pazifik Exil« literarisiert michael<br />

lentz Literaten<br />

6 1 worte<br />

text: annika schmidt<br />

»Letzte Ausfahrt Heimat«<br />

hieß es in Michael Lentz<br />

erstem Roman »Liebeserklärung«<br />

(2003) metaphorisch.<br />

In seinem neuen,<br />

zweiten Roman »Pazifik<br />

Exil« wird diese Phrase variiert<br />

zur wortwörtlichen<br />

»letzten Ausfahrt, Amerika«.<br />

Denn den Figuren<br />

Bertolt Brecht, Franz<br />

Werfel, Lion Feuchtwanger,<br />

Arnold Schönberg,<br />

Thomas und Heinrich<br />

Mann bleibt angesichts<br />

des NS-Regimes nur das<br />

pazifische Exil. Lentz<br />

interessiert sich dort<br />

weniger für ihre faktische Lebens-, als vielmehr<br />

ihre mögliche Gedankenwelt. Denn »Geschichte<br />

ist Geschichte, und jeder hat seine eigene Version von ihr.«<br />

Und die Variante des Lyrikers Lentz ist natürlich kein<br />

Psychogramm, kein historischer Roman, kein politisches<br />

Engagement, sondern sprachbesessene wie sprachkritische<br />

Reflexion. In kühlem, verknapptem Duktus webt<br />

er unzählige Leitmotive in den Text, wechselt ständig<br />

die Erzählperspektive und umklammert den Roman mit<br />

einer lyrisch-mythologischen Allegorie. Die zentralen<br />

Themen Exil, Erzählen und Erinnern werden – ganz nach<br />

Walter Benjamins Methode des konstellativen Denkens<br />

– in immer anderen Zusammenhängen neu kombiniert,<br />

strapaziert oder gar destruiert. Die Künstler, ihre Lebensumstände,<br />

ihre Schriften bilden dafür lediglich den Hintergrund.<br />

Sie sind nicht Motiv, nur Material. Respektlos?<br />

»Ausbeutung von Fremdbiographien? Ja, was um Himmels<br />

willen soll ein Roman denn anderes sein?«, so Lentz’ Werfel.<br />

Vielleicht eine anständige chronologische Erzählung?<br />

Aber etwas von vorn nach hinten glatt durch zu erzählen,<br />

das ginge gar nicht, so Lentz’ Schönberg. Und Emotionalität<br />

hält sein Brecht schon für emotionale Erpressung. Und<br />

was Erzählen wissen soll, weiß sein Thomas Mann auch<br />

nicht. Die Figuren von Lentz wollen bei empfindsamer Erinnerungs-Trümmer-Literatur<br />

also einfach nicht mitspielen.<br />

Und das ist literarisch und gut so.<br />

»Pazifik Exil« von Michael Lentz, S. Fischer,<br />

Frankfurt am Main 2007, 463 S, € 19,90<br />

Kein Glück, aber ein<br />

roter Hut in Mexiko<br />

monika maron hat in »Ach Glück«<br />

die Geschichte von Johanna mit<br />

neuer Stringenz und gewohnter<br />

Sprachschönheit fortgesetzt.<br />

text: patrick küppers<br />

Schlimmer als ein Feind ist es manchmal, keinen Feind<br />

mehr zu haben. Monika Maron wurde bekannt mit Geschichten<br />

von Frauen, die sich gegen das System der Enge<br />

und Langeweile in der DDR auflehnen und doch darin<br />

leben müssen. Die DDR verschwand. Die große Freiheit<br />

hielt Einzug, und dennoch steht Johanna, in ihrer frischen,<br />

schlagfertigen Intelligenz ganz eine Maron-Figur,<br />

an einem völligen End- und Totpunkt ihrer Lebensbezüge<br />

und weiß nicht, wie ihr geschah. Diesen ennui hat Maron<br />

in dem verstörend richtungslosen Roman »Endmoränen«<br />

von 2002 beschrieben. »Ach Glück« schließt an dieses<br />

Buch an, und schon die kompositorische Stringenz macht<br />

hier eine neue Dynamik in Johannas Geschichte deutlich.<br />

Sie verlässt den allerkleinsten Kreis der Lebensgewohnheiten<br />

und wagt den Sprung ins Ungewisse. Um einer<br />

ihr persönlich unbekannten Frau auf einer vagen Suche<br />

zu helfen, fliegt sie nach Mexiko. Während des gesamten<br />

Buches sitzt Johanna im Flugzeug, liest Briefe und denkt<br />

nach. Unterdessen streift ihr Mann Achim ebenso durch<br />

Berlin wie durch seine Erinnerungen.<br />

Die wendige Ironie, die spröde Schönheit in der<br />

Schreibe Monika Marons lassen »Ach Glück« nie auch nur<br />

in die Nähe von platter Glücksformelliteratur geraten. Da<br />

ist einfach Johanna, die sich fragt, ob, wenn man versucht,<br />

sich neu zu erfinden, das Alter nicht egal ist. Ihre neunzigjährige<br />

unbekannte Freundin, die mit einem roten Hut in<br />

Mexiko auf sie wartet, hat es ihr vorgelebt.<br />

Und wir tun nichts lieber, als Johanna<br />

auf dem Weg dahin und darüber hinaus<br />

zu begleiten.<br />

»Ach Glück« von Monika Maron,<br />

S. Fischer Verlag, Frankfurt<br />

a.M. 2007, 224 S., € 18,90<br />

zensiert<br />

Feministische Hure<br />

virginie despentes übt Kritik am PorNo<br />

text: annika schmidt<br />

Die deutschsprachige Veröffentlichung von Virginie Despentes<br />

pro-pornographischem Essay »King Kong Theorie«<br />

erscheint gerade rechtzeitig. Denn die konservativ-feministischen<br />

Zeitschrift »Emma« startet zum dritten Mal<br />

– nach 1978 und 1988 – eine PorNo-Kampagne. Und<br />

natürlich muss in den Artikeln – neben Film, Musik und<br />

MySpace – die Mode mal wieder als Spiegel der angeblichen<br />

Pornographisierung der Gesellschaft herhalten.<br />

text: jochen werner foto: nici.cat – fotolia.com<br />

zensiert<br />

»sei unbesorgt ich werd wenn wir uns / wiedersehn an dir<br />

vorübergehen dem / blinden der sich vor mir bückt eine /<br />

liebe vor die füsse werfen« – um Verlust, Verlangen, Melancholie<br />

geht es häufig in den Gedichten des Münchner<br />

Lyrikers Albert Ostermaier. So scheint es dann auch nur<br />

folgerichtig, dass der Suhrkamp Verlag nun unter dem<br />

Titel »Für den Anfang der Nacht« eine Sammlung von Liebesgedichten<br />

aus insgesamt sechs zwischen 199 und 2006<br />

publizierten Lyrikbänden des Dichters (von »HerzVersSagen«<br />

bis »Polar«) vorlegt. Das schmale Bändchen ist in vier<br />

thematische Abschnitte gegliedert, umfasst insgesamt 83<br />

Gedichte – darunter auch neun bisher unveröffentlichte<br />

Texte – und bietet einen durchaus brauchbaren Einstieg<br />

in das Werk Ostermaiers. Zwar sind nicht alle ausgewählten<br />

Gedichte zu den größten Würfen des Dichters zu zählen,<br />

auch leidet manch ein Text an der Herauslösung aus<br />

dem konzeptuellen Kontext des Einzelbandes – und doch<br />

scheint es immer wieder unmöglich, sich der Sprachgewalt<br />

Ostermaiers zu entziehen. Dieser ordnet seine Zeilen in<br />

mehr oder minder symmetrischen, langen und schmalen<br />

So stört sich die Leiterin des Campus Verlags Annette C.<br />

Anton am Schlüpfer-Monopol des String-Tangas, denn<br />

ihr sei es wichtig, sich selbst auch in Unterwäsche »einen<br />

halbwegs würdevollen Anblick« zu bieten und nicht »wie<br />

eine Stripperin« auszusehen. Genau diese Verknüpfung<br />

von <strong>Sex</strong>arbeit und Würdelosigkeit bemängelt die Autorin<br />

des verfilmten Romans »Baise-moi« Despentes. Denn das<br />

einzige moralische Problem an Prostitution und Pornofilmen<br />

sei die gesellschaftliche Aggressivität, mit der die<br />

working girls behandelt werden würden. Es gebe einerseits<br />

die Nachfrage nach (Bildern von) willigen Frauen.<br />

Andererseits und paradoxerweise würden die Darstellerinnen<br />

unter dem Deckmantel des Schutzes der »Würde<br />

der Frau« gerade für die Befriedigung dieser Erwartungshaltung<br />

in einen Teufelskreis von Missbilligung, Schamgefühl<br />

und Stigmatisierung gedrängt. Eine tatsächliche Hilfe<br />

wäre nach Despentes weder das Verbot ihrer Tätigkeit<br />

noch die Zensur bestimmter sexueller Darstellungs- und<br />

Ausdrucksformen, sondern die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen.<br />

Virginie Despentes möchte also, dass<br />

sich <strong>Sex</strong>arbeiterinnen von der »Einheitskategorie Opfer«<br />

im Besonderen und Menschen von festgeschriebenen<br />

Geschlechterrollen im Allgemeinen befreien. Sie erfindet<br />

die Queer-Theorie oder die »feministische Hure« (Carol<br />

Queen) nicht wirklich neu. Aber manches kann den Por-<br />

Nolern einfach nicht oft genug erklärt werden.<br />

»King Kong Theorie« von Virginie Despentes,<br />

aus dem Französischen von Kerstin Krolak,<br />

Berlin Verlag, Berlin 2007, 173 S, € 18,00<br />

gegen den wind deinem herzschlag zu<br />

review<br />

albert ostermaiers Liebesgedichte lassen die Sprache taumeln, aber nicht fallen<br />

Spalten an, durch die er seine Leser atemlos, ohne Punkt<br />

und Komma und mit sich stetig steigerndem Tempo hindurchtreibt.<br />

Hemmungslos emotionale Bilder auf der<br />

schmalen Grenze zum Kitsch verwebt er in waghalsige<br />

Reimschemata, die er immer dichter zuschnürt, bis die<br />

Sprache selbst ins Taumeln (aber nicht ins Fallen) gerät.<br />

Das macht ihn unter den Autoren der deutschen Gegenwartslyrik<br />

zum vielleicht entschiedensten Poeten.<br />

»Für den Anfang der Nacht. Liebesgedichte« von Albert<br />

Ostermaier, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2007, 138 S., € 6,00<br />

worte 1 7


eview<br />

Der reine<br />

Machiavelli<br />

panajotis kondylis’ Frühschrift<br />

zeigt den Renaissance-Denker als<br />

Produkt seiner Zeit und verzichtet<br />

auf die politische Nutzbarmachung<br />

text: andreas huth<br />

Zur großen Zahl von Machiavelli-Biographien<br />

und<br />

Interpretationen hat sich<br />

ein neues, aber nichts desto<br />

weniger interessantes<br />

Buch gesellt. Es stammt<br />

von dem Philosophen und<br />

Historiker Panajotis Kondylis<br />

und besticht durch<br />

seine kühle Brillanz und<br />

nüchterne Auseinandersetzung<br />

mit dem Leben des florentinischen Beamten<br />

und Gelehrten. Kondylis verfasste dieses Buch als<br />

23jähriger und obwohl er sich hier noch ganz am<br />

Anfang seiner Entwicklung befand, ist das Werk<br />

von großer Reife. Es vermeidet die so häufige<br />

Nutzung von Machiavellis Ideen für die aktuelle<br />

politische Situation und damit alle über die Renaissance<br />

hinausgehenden Interpretationen und<br />

stellt knapp, aber aufschlussreich die zeithistorischen<br />

Bedingungen dar, die das Werk Machiavellis<br />

prägen.<br />

Hier zeigt sich Kondylis, der 1948 in Griechenland<br />

geboren wurde, dort in seiner Jugend<br />

während der Diktatur wegen Mitgliedschaft in<br />

der kommunistischen Partei einige Jahre auf einer<br />

Gefängnisinsel zubringen musste und später zum<br />

Studium nach Deutschland ging, als eigenständiger<br />

Kopf, der anschaulich historische Fakten<br />

mit der wirtschaftlichen, geistigen und sozialen<br />

Entwicklung der Zeit verbindet. So ist beispielsweise<br />

seine Herleitung des ›neuen Geistes‹ in<br />

der Renaissance aus dem ab dem Anfang des 1 .<br />

Jahrhunderts dominierenden kaufmännischen<br />

Denken, aus dessen Umgang mit Zahlen, Mengen<br />

und nicht selbst produzierten, also abstrakter<br />

gewordenen Waren auch deshalb lesenswert, weil<br />

sie die üblichen geistesgeschichtlichen Muster<br />

ignoriert und die Ökonomie als wichtige Triebfeder<br />

auch von kulturellen Entwicklungen zeigt.<br />

»Machiavelli« von Panajotis Kondylis, aus dem<br />

Griechischen von Gaby Wurster, Akademie Verlag,<br />

Berlin 2007, 184 S. € 39, 80<br />

Die Mechanik der<br />

Manipulation<br />

Das Pendant der Psychoanalyse:<br />

edWard bernay’s »Propaganda«<br />

text: matthias penzel<br />

Original erschien »Propaganda«<br />

1928 in Amerika. Verfasst<br />

von einem Neffen Sigmund<br />

Freuds – Edward Bernays<br />

(1891 - 199 ) –, ist es mit seiner<br />

systematischen Darstellung<br />

von Öffentlichkeitsarbeit in<br />

unseren Alltag eingedrungen<br />

wie die Psychoanalyse. Sicht-<br />

und unsichtbar. Bernays<br />

trennt nicht groß zwischen Politik,<br />

Konsum, Kunst oder Wissenschaft,<br />

wenn er klarstellt,<br />

wie und vor allem warum die<br />

in diesen Bereichen Tätigen<br />

– Minderheiten – sich des Instrumentariums der PR bedienen<br />

müssen, um der Mehrheit zu vermitteln, warum sie sich für oder<br />

gegen Ideen, Produkte usw. entscheiden soll. Fast prophetisch<br />

stellt er fest: »Wir werden von Personen regiert, deren Namen wir<br />

noch nie gehört haben« – im Supermarkt, beim Wählen von Politikern,<br />

Hobbies, Seife. Zu den Methoden der »Public Relations« (wie<br />

er sein Buch später umbenannte) gehört an erster Stelle der Wille,<br />

zu vermitteln, den Zirkel der Elite / Minderheit zu verlassen, um<br />

auf die Mehrheit Einfluss auszuüben, und zwar mit »neutralen Experten«,<br />

Erläuterung von möglichen Synergien, Mehrwert, mehr<br />

Lebensqualität für den Verbraucher. Wertungen interessieren<br />

ihn bei diesem Mehrwert wenig – wenn er erfrischend, aber auch<br />

kühl analytisch über das Image von Museen oder Politikern oder<br />

Macy’s spricht. Daher überrascht es nicht, dass er für den Ersten<br />

Weltkrieg warb, genauso wie für Zigaretten (als Symbol emanzipierter<br />

Frauen), die Erfindungen Thomas Edisons und Henry<br />

Fords. Manchem mag aufstoßen, wie sehr sich Bernays weigert zu<br />

werten, zugleich kann man das in manchen Bereichen als bittere<br />

Pille, die es in Demokratien zu schlucken gilt, sehen. Oder man<br />

kann sich erinnern, dass der Fließband-Erfinder Ford tatsächlich<br />

nicht nur auf Profitmaximierung aus war, dass die Zeiten wirklich<br />

anders waren. In einigem ist die non-emotionale Sprache Bernays,<br />

sein Predigen für die Begreifbarkeit, also eine Art Sinnlich-machen<br />

von Ideen und Gütern, der Weltsicht von Werbe-Textern sehr<br />

nahe. Auch dazu mag man stehen, wie man will – die Mechanik<br />

der Manipulation ist ohnehin in Gang, und dieses übersichtlich<br />

geschriebene Büchlein erinnert einen daran, dass das zwar nicht<br />

immer so war, dass das aber auch nicht erst durch Saatchi & Fernsehen<br />

so geworden ist.<br />

»Propaganda« von Edward Bernays, aus dem Englischen, Orange-Press,<br />

Freiburg 2007, 158 S., € 18,00<br />

In Thomas Meineckes interessant-theoretischem Roman<br />

musik, der nun auch als Taschenbuch vorliegt, kommt es<br />

zu einem Dialog zwischen zwei Anhängern unterschiedlicher,<br />

urbaner Musikstile: HipHop (Frage) und Jazz (Antwort):<br />

»Frage: Was hat das mit dem Leben in der Großstadt<br />

zu tun? Antwort: Wo kommst du her? Frage: Von der Straße.<br />

Antwort: Du meinst, du lebst auf der Straße? Frage: Nein,<br />

aber ich weiß, was auf der Straße los ist. Antwort: Wenn<br />

du das weißt, weißt du auch, daß man genau das meiden<br />

sollte. Frage: Mann, du bist nicht hip.« Eingebettet in die<br />

paradoxe Situation, dass hier der Fragende die Antworten<br />

gibt, während der Antwortende die Fragen stellt, wird ein<br />

Diskurs über den Sound der Großstadt aufgemacht. Im<br />

Vorbeigehen wird nach Authentizität, Eindeutigkeit, das<br />

wahrheitsgemäße Abbilden einer Metropole durch die<br />

Kunst, Geschlecht und Hautfarbe, also nach großstadtrelevanten<br />

Unterscheidungsmerkmalen gefragt. Literatur<br />

schafft, das zeigt sich hier, auf 2 Zeilen mehr zu sagen als<br />

jede gescheite, wissenschaftliche Anthologie.<br />

sound and the city heißt eine fingerdicke Abhandlung<br />

zum gleichen Thema. Es geht ihr in erster Kontur<br />

um zwei Dinge: Zum einen soll der Begriff ›Sound‹<br />

akademisch nutzbar gemacht werden. Es gilt ihn vom Geräusch,<br />

Klang und Laut abzugrenzen, also als etwas Hergestelltes,<br />

Manipuliertes und Künstlerisches zu definieren.<br />

Was in der leider oft zu umständlichen Schreibe so klingt:<br />

»Der Sound der Stadt ist künstlich und daher Provokation<br />

für Kunst, auch für Musik, die provozieren will, um im<br />

Fortschritt urbanen Denkens mit fortschreiten zu können.«<br />

Zum anderen soll die Stadt als Keimzelle der populären<br />

Kultur festgeschrieben werden. An dieser Stelle wäre es<br />

spannend gewesen, dem Übergeordneten des städtischen<br />

Sounds weiter nachzugehen, beispielsweise zu thematisieren,<br />

weshalb Musik, die stilistisch von Afroamerikanern<br />

geprägt wurde (HipHop, Soul, R&B) unter der Einordnung<br />

›Urban‹ rangiert oder überwiegend von Weißen<br />

geprägte Genres wie Country oder Folk Assoziationen des<br />

Ländlichen und Natursymboliken wachrufen. Ein Reader<br />

dieses Namens ruft ja genau solche Unterscheidungen her-<br />

text: sebastian hinz das dispositiv<br />

vor. Doch leider verlieren sich die Beiträge überwiegend<br />

im Spezifischen und hängen sich an ›Markenzeichen‹, wie<br />

dem Sound gewisser Städte zu gewissen Zeiten (Bsp. Geoff<br />

Stahl: »Musicmaking and the City. Making Sense of The<br />

Montréal Scene«, oder: Christian Manfred Stadelmeier:<br />

»Die Entwicklung der afroamerikanischen Blueskultur<br />

im urbanen Kontext – das Beispiel Chicago in den 1940er<br />

und 19 0er Jahren«): Was aus journalistischer Sicht eine<br />

interessante Geschichte sein kann, ist als akademischer<br />

Beitrag dann doch zu durchsichtig.<br />

Eine Ausnahme bildet Malte Friedrichs Aufsatz »Lärm,<br />

Montage und Rhythmus. Urbane Prinzipien populärer<br />

Musik«. Er erinnert daran, dass nicht bloß der Sound der<br />

Städte etwas Produziertes ist, auch die Stadt selbst wird<br />

nur noch »in eine reine Simulationswelt transformiert«.<br />

Friedrich fragt, wie diese auf den Sehsinn abzielende Umformung<br />

der Städte damit umgeht, dass die Stadt auch<br />

Ort des steten Musikkonsums geworden ist und appelliert<br />

an eine Kulturtechnik des Hörens, die in den Cultural<br />

Studies und Kulturwissenschaften aus Gründen des Aufwandes<br />

und der Nicht-Kompatibilität mit vorhandenen<br />

Theorien bislang ausgeklammert wurde: »Es kommt hinzu,<br />

dass Musik, genauso wie andere kulturelle Artefakte, in bestimmten<br />

sozialen Kontexten entsteht, in denen auch Codes<br />

bereitgestellt werden, über die überhaupt erst die Bedeutung<br />

des kulturellen Artefakts erzeugt werden kann. Diese Codes<br />

vorausgesetzt, kommt es zur Entstehung von bestimmten<br />

Bedeutungen einzelner Musikstücke, die sich auf die zu<br />

hörenden Klänge oder ihre Verweisstruktur beziehen und<br />

insofern bedeutungsgenerierend sind.« Wo wir wieder bei<br />

Thomas Meinecke wären.<br />

»Musik« von Thomas Meinecke, Suhrkamp,<br />

Frankfurt am Main 2007, 370 S., € 10,00<br />

»Sound and the City. Populäre Musik im urbanen Kontext«,<br />

herausgegeben von Dietrich Helms und Thomas Phleps,<br />

[transcript] Verlag, Bielefeld 2007, 166 S., € 16,80<br />

8 1 worte<br />

worte 1 9<br />

© Wouter Buytaert


ilder<br />

Illustration:<br />

bruno<br />

colajanni,<br />

ludaG.com<br />

bilder<br />

TV-Serien werden zuhause<br />

geguckt, die Protagonisten<br />

ersetzen nicht selten<br />

dem Zuschauer die<br />

Familie. Deshalb ist<br />

das große Thema der<br />

TV-Serie die Heimat<br />

oder Heimatlosigkeit.<br />

Über die Poetik der tV-serie<br />

Seite 68<br />

Eltern verlassen ihre<br />

Kinder mitunter, auch<br />

wenn das nicht in die<br />

Weltsicht der CDU passt.<br />

Stillstehende Zeit, Bewegung<br />

und Wandel bei paul<br />

hornschemeier<br />

Seite 72<br />

62 Jeff Wall<br />

66 Zur Poetik der TV-Serie<br />

68 Italo Western Collection<br />

69 »The Darjeeling Limited«<br />

von Wes Anderson<br />

70 Paul Hornschemeier<br />

72 »Tim & Struppi« von Hergé<br />

74 Jiro Taniguchi<br />

7 Orange Box<br />

76 »Super Paper Mario«<br />

77 Hommage à Mega Man<br />

reviews<br />

78 white cubes<br />

79 Gilbert & George<br />

Peter Bialobrzeski<br />

80 »Persepolis« 1 »Gefahr und<br />

Begierde« von Ang Lee<br />

81 »Fullmetal Alchemist«<br />

»The Saddest Music In The World«<br />

von Guy Maddin<br />

82 »Die Simpsons – Das Spiel«<br />

»Sinking Island« & »Ankh<br />

– Kampf der Götter«<br />

83 schnittstellen


That Could Be Real<br />

overpass, 2001, Transparency in lightbox, 214 x 273,5 cm<br />

jeff Walls Arbeiten bewegen sich<br />

auf dem schmalen Pfad zwischen<br />

Fotografie, Film und Malerei,<br />

Stofflichkeit und Entmaterialisierung,<br />

Inszenierung und Dokumentation<br />

– Eine Bestandsaufnahme<br />

text: eileen seifert fotos: jeff wall,<br />

jack foster / deutsche guggenheim<br />

Eine Straße. Irgendwo in Amerika. Zu sehen drei Figuren,<br />

die nebeneinander laufen. Links ein Mann asiatischer<br />

Herkunft. Rechts ein ›weißes‹ Pärchen. Der Mann, der<br />

mit der Linken seine Freundin hält, macht mit der rechten<br />

Hand eine unauffällige Geste: Er zieht, dem Asiaten leicht<br />

zugeneigt, sein Auge in eine schlitzartige Form. Jeff Walls<br />

Fotobild »Mimic« (1982) zeigt mit einer nachäffenden<br />

Gebärde ganz unverhohlenen, öffentlichen Rassismus.<br />

Durch den winzigen Fingerzeig werden die dargestellten<br />

Menschen in ein Dreigestirn psychologischer <strong>Gewalt</strong> katapultiert.<br />

Ein Augenblick nur, der Teil einer ganz alltäglichen<br />

Situation auf der Straße sein könnte – irgendwo in<br />

Amerika. Doch wirkt dieser Moment, trotz seiner Beiläufigkeit,<br />

theatralisch, irgendwie filmisch. Der Konjunktiv ist<br />

schließlich wörtlich zu nehmen, denn die ganze Situation<br />

ist komplett inszeniert. Die Idee der Nachahmung, die Titel<br />

und Inhalt dieses einen Bildes ist, kann als Synonym<br />

für Jeff Walls gesamte Arbeitsweise gelten. Seit den 1970er<br />

Jahren sind Imitationen, Inszenierungen oder Re-Inszenierungen<br />

des Alltags substanzielles Kennzeichen für den<br />

1946 in Vancouver, Kanada geborenen Künstler. »My near<br />

documentary-pictures« nennt Wall selbst jene Trugbilder,<br />

die so real erscheinen, mit der Idee der Dokumentation<br />

eng verwandt, aber eben nur fast dokumentarisch sind.<br />

Jeff Wall hat Kultur- und Kunstgeschichte studiert<br />

und sich ausgiebig – sowohl theoretisch als auch praktisch<br />

– mit Malerei und Film auseinandergesetzt, bevor er mit<br />

der Fotografie begann. Besonders die alten Meister wie<br />

Goya, Velázquez und Tizian beeindruckten ihn. Die<br />

Was diese Künstlichkeit beschwört, ist<br />

eine Art Hyperrealität: Situationen,<br />

die eben einfach realer – und genau<br />

deshalb ja synthetischer – wirken,<br />

als die Realität selbst es je könnte.<br />

62 1 bilder<br />

bilder 1 63


war game, 2007, Gelatin-silver print, 243.8 x 289.6 cm<br />

Affinität zu den genannten Medien legte er dann auch<br />

niemals ab, sondern kombinierte deren Strategien, Gesetzmäßigkeiten<br />

und Bildtypologien als Organisationsformen<br />

im fotografischen Bildraum: »I had the feeling that it<br />

was possible to bring much of what I’d liked in the cinema<br />

of the 1960’s and 1970’s together with what I’d always liked<br />

about painting in a form of photography that […] would<br />

not start out accepting the existing canon.« Eine Neuerung<br />

in der Fotografie strebte er an – etwas, das sich zwischen<br />

Malerei und Kino, zwischen der Dokumentation und den<br />

konstruierten, filmisch-fiktiven Bildern befand.<br />

Das magische Licht<br />

Eine wichtige Rolle für die Herstellung dieses Zwischenzustands<br />

spielt die Technik, mit der Wall fast alle seine Arbeiten<br />

präsentiert: Großdias in riesigen Leuchtkästen (oft ca.<br />

2 x 4 m), die so zuvor nur aus der Werbung bekannt waren.<br />

Mit dieser Aneignung und Übertragung in den künstlerischen<br />

Bereich wird Wall ein genialer Kunstgriff nachgesagt.<br />

Nicht überraschend, denn die leuchtenden Kästen<br />

sind heute sein Markenzeichen. Die darin ausgestellten<br />

Fotos sind Bilder, die mit Präsenz strahlen und dabei die<br />

vorteilhafte Eigenart besitzen, nie flach wie bloße Fotografien<br />

zu wirken. Vielmehr ist ihnen die Verwandtschaft<br />

zu den aus sich heraus leuchtenden Bildern aus Film und<br />

Fernsehen immanent: nicht statisch, sondern changierend<br />

zwischen Stofflichkeit und Entmaterialisierung. Sich<br />

der ambivalenten Anziehungskraft dieser Technik durchaus<br />

bewusst, meint Wall, dass die Faszination um seiner<br />

Arbeiten von der verborgenen Stelle des Lichts herrührt<br />

– eine Art Kontrollraum, eine Vorführkabine, die quasi das<br />

Bild aussendet. Deshalb sind seine Arbeiten so einmalig<br />

– abgesehen davon, dass sie Unikate sind –, weil sie nur als<br />

Original auf diese Weise funktionieren. Walter Benjamins<br />

Begriff der Aura kann hier in einer anderen Dimension gelesen<br />

werden. Doch klar dürfte wohl sein, dass die Bilder<br />

in ihrer Reproduktion, abgedruckt in einem Buch etwa,<br />

etwas verlieren bzw. ›nur‹ noch Fotos sind.<br />

Malerische Kompositionen<br />

Von besagtem Licht wie die Motten angezogen, scharen<br />

sich Besucher um Walls Werke, die aber entgegen ihrer<br />

um Aufmerksamkeit heischenden Verpackung gar nichts<br />

Auffälliges zeigen: nur »landscapes«, »lifescapes« und »interiours«,<br />

wie Wall seine Motivgruppen nennt und damit<br />

eben Landschaften (doch mit brisanten Einzelheiten:<br />

»The Bridge«, 1980), nachgestellte Alltagsszenen (die sich<br />

aus Walls eigener Erinnerung speisen: »The Storyteller«,<br />

1986) und moderne fotografische Genredarstellungen<br />

(»Rainfilled Suitcase«, 2001) meint. Zudem sind es vornehmlich<br />

leere und bedrückende Räume, die Wall beschreibt.<br />

– Suburbane Zonen, Niemandsland, Nicht-Orte,<br />

die zeitlos scheinen und nur vereinzelt Figuren enthalten<br />

(»Passerby«, 1996; »Flooded Grave«, 1998-2000).<br />

Gleich einem Filmregisseur bereitet Wall das Setting vor,<br />

wie ein Maler komponiert er die Bilder bis ins Detail. In<br />

Castings werden Schauspieler und Kleidung ausgewählt,<br />

der Ort / das Studio geschmückt, Szenen, Gemütszustände<br />

gespielt, alte Stoffe transponiert. Manchmal setzt sich<br />

Wall dabei selbst ins Bild, wie z.B. bei »Picture for Woman«<br />

von 1979, welches der Künstler als ein zeitgenössisches<br />

»Remake« von Manets berühmtem Gesellschaftsportrait<br />

»Bar in den Folies-Bergères« bezeichnet.<br />

»My near documentary-pictures«<br />

nennt Wall selbst jene Trugbilder, die<br />

so real erscheinen, mit der Idee der<br />

Dokumentation eng verwandt, aber<br />

eben nur fast dokumentarisch sind.<br />

Kunstgeschichtliche Zitate tauchen auch in anderen<br />

Bildern auf (»A Sudden Gust of Wind (after Hokusai)«,<br />

1993) und reichen bis zur ausgereiften Inszenierung in<br />

dramatischer Schlacht- oder Historienbildmanier. Bei<br />

»The Vampire’s Picnic« (1991) wird dieser Bezug in einer<br />

nächtlichen Horrorszene von äußerst bizarrem Humor<br />

auf die Spitze getrieben: Das opulente Mahl – vampirische<br />

Zeitgenossen verspeisen ihre Opfer – wirkt gleichzeitig<br />

wie ein Historienbild und das Set einer Filmszene. Alles<br />

ist wohl platziert, aufeinander abgestimmt und arrangiert.<br />

Nachgeholfen wurde dabei mit der digitalen Bildbearbeitung,<br />

einzelne Fotos wurden später am Computer zum<br />

Bild komponiert. Solche Arbeiten brachten Wall auch<br />

die Baudelaire’sche Bezeichnung »Maler des modernen<br />

Lebens« ein – wäre dies kein Foto, dann mindestens ein<br />

dicker Ölschinken.<br />

»The violence you see in my pictures is social violence«<br />

Auch wenn Wall die große Museumskunst zitiert und auf<br />

traditionelle Bildstrategien zurückgreift, bewegt er sich<br />

damit eher auf formaler Ebene. Inhaltlich dreht sich alles<br />

um das Jetzt, die Gesellschaft und ihre sozialen Missstände.<br />

Die Figuren, die in den Bildern auftauchen, würden<br />

dabei repräsentative Rollen übernehmen, ohne – wie etwa<br />

im Falle des Portraits – jemals sie selbst zu sein, so betont<br />

Wall. Vielmehr sind sie Darsteller, die oft gesellschaftliche<br />

Opfer und zwanghafte, kühle, fassadenartige Figuren verkörpern:<br />

Der verschwitzte Mann unter dem Küchentisch<br />

in »Insomnia« (1994) ist so eine pathologische Scheinexistenz,<br />

die auch der Abwasch auf der Spüle nicht verschleiern<br />

kann. Oder der allein lebende Angestellte in seinem<br />

spärlichen Zimmer in »Polishing« (1998), der geschäftiges<br />

Schuheputzen mimt und dabei bedrückend unfrei wirkt.<br />

Der Charakter des Gespielten wirkt dann wie eine Momentaufnahme,<br />

nur keine Zustandsbeschreibung. Häufig<br />

scheint es, als seien die Bilder Teile von Geschichten, vor<br />

denen schon etwas passiert ist und nach denen es auch<br />

weitergehen muss. Warum überhaupt klar wird, dass Dargestelltes<br />

arrangiert wurde, ist manchmal nur auf ein sub-<br />

tiles Gefühl zurückzuführen. Zumal es schwieriger wird,<br />

dies herauszufinden, wenn keine Menschen in vielleicht<br />

doch verräterischen Posen anwesend sind.<br />

»The Destroyed Room« (1978) ist so ein Bild. Ein komplett<br />

verwüsteter Raum: menschenleer. Überall liegen<br />

Sachen herum; das Bett ist umgeworfen; die Matratze<br />

diagonal aufgeschlitzt. Auf den ersten Blick die Situation<br />

nach einem Einbruch oder ähnlichem. Chaos. Doch so<br />

sortiert, dass es unheimlich gewollt erscheint. Was diese<br />

Künstlichkeit beschwört, ist eine Art Hyperrealität: Situationen,<br />

die eben einfach realer – und genau deshalb ja<br />

synthetischer – wirken, als die Realität selbst es je könnte.<br />

Im Zeitalter der Simulation ist Wall mit einer solchen<br />

Bildstrategie absolut aktuell. Anstatt auf den mythischen,<br />

Bresson’schen Augenblick zu warten, imitiert er ihn lieber,<br />

was ihn wohl ungleich mehr Aufwand kosten dürfte.<br />

Schließlich wird beim inszenierten Zufall eben gar nichts<br />

dem Zufall überlassen.<br />

Reportage und Fiktion – ein Dialog<br />

Jeff Walls Werk könnte durchaus als Absage an die klassischen<br />

Formen der Fotografie verstanden werden – die<br />

zufällige Momentaufnahme (»der perfekte Augenblick«)<br />

und das vermeintlich Authentische (»So ist es gewesen«)<br />

scheinen in seiner Arbeit eher unwichtig. Mit seinen neuen<br />

Schwarzweiß-Bildern verneigt sich der Künstler jedoch<br />

mit einem tiefen Knicks vor der Reportage-Fotografie, von<br />

der er sich Jahrzehnte distanzierte – übrigens nicht, weil<br />

er sie nicht schätzt, sondern weil, wie er sagt, Meistern<br />

wie Walker Evans und Robert Frank kaum mehr etwas<br />

hinzuzufügen war: »The classical or canonical mode of art<br />

photography, defined form by Evans and Frank, had gotten<br />

very static, very tired in the work of their followers and supporters.«<br />

Die Deutsche Guggenheim Berlin zeigt jetzt eben<br />

solche rein dokumentarischen Arbeiten Walls, die von<br />

älteren Arbeiten flankiert werden. Im Dialog der Reportage<br />

mit der Inszenierung stellt sich die Frage nach dem<br />

fotografischen Realismus, und darüber hinaus werden, anschaulich<br />

getrennt, zwei Dinge gezeigt, die Wall zufolge eigentlich<br />

in jeder einzelnen Fotografie gleichzeitig präsent<br />

sind: der Charakter des Dokumentarischen neben dem<br />

Konstruierten, Vorgestellten und Künstlichen.<br />

Was Wall nachstellt, sind nämlich oft Momente, die<br />

sich so bestimmt schon einmal zugetragen haben. Nur<br />

weil sie nicht eindeutige Situationen der Vergangenheit<br />

darstellen oder sich gleich einem<br />

re-enactment explizit darauf beziehen,<br />

sind sie nicht weniger<br />

›wahr‹ oder aussagekräftig. Die<br />

künstlerische Fiktion, die die Realität<br />

imitiert, mag in Momenten<br />

gar die Realität verdichten. Zurück<br />

bleibt der Betrachter, mit<br />

der vagen Vermutung: That<br />

could be real.<br />

Die Ausstellung »Jeff Wall: Belichtung«<br />

ist noch bis zum 20.1.2008 in der Deutschen<br />

Guggenheim Berlin zu sehen<br />

64 1 bilder<br />

bilder 1 6


Meredith Grey wird<br />

nicht sterben<br />

Amerikanische Psychopathologie:<br />

Mit ausgereifteren Konzepten, höheren<br />

Produktionskosten und vor allem einer<br />

neuen Ernsthaftigkeit macht die TV-Serie<br />

wieder von sich reden<br />

text: dan gorenstein fotos: buena vista home entertainment<br />

© 2006 american broadcasting companies, inc.<br />

Kino und Literatur haben sich nie richtig angefreundet.<br />

Zu aufwendig, überlaufen und zugleich kurzlebig die Produkte<br />

des einen Mediums, zu behäbig, nahezu blutleer<br />

die seines Gegenübers. Wo der Film zeigt und dazu seine<br />

ganze Kraft aufwendet, da denkt die Literatur nach, verliert<br />

sich in Abschweifungen und Randnotizen. Schon die<br />

Rezeptionsdauer scheidet die beiden Kunstformen: Wo<br />

der Film kaum zwei Stunden, allenfalls drei in Anspruch<br />

nimmt, überdeckt so manches Buch ganze Jahreszeiten,<br />

geradezu Lebensabschnitte, mit seiner Präsenz. Der Leser<br />

hat stets den Vorteil, sich in seinem Kunstwerk einnisten<br />

zu können, sich darin eine gemütliche Höhle Lebenszeit<br />

zu schaufeln. Der Film weiß darauf keine Antwort zu geben,<br />

seine kleine Schwester, die TV-Serie, sehr wohl.<br />

Die Renaissance des Fernsehens<br />

Im Grunde ist es seltsam, dass es so lange brauchte, bis<br />

die TV-Serie ihr volles ästhetisches Potential ausschöpfen<br />

durfte. Lange Zeit war es nur dem Film vergönnt, die bewegten<br />

Bilder im kunst- und medientheoretischen Olymp<br />

zu vertreten, der TV-Serie standen zwar die selben künstlerischen<br />

und technischen Mittel zur Verfügung, nicht aber<br />

das nötige Geld. Gleichzeitig haben aber gerade Serien<br />

das öffentliche Bewusstsein und den Zeitgeist geprägt im<br />

Land des Fernsehens. Trotzdem blieben sie bis auf wenige<br />

Experimente wie etwa »Twin Peaks« ziemlich konservativ.<br />

Mittlerweile gibt es aber so viele von diesen Experimenten,<br />

diesen Serien von ungeahnt hoher Qualität, dass es Zeit<br />

ist, sich die Möglichkeiten dieser Erzählform näher anzusehen.<br />

Die Renaissance der TV-Serie wird gemeinhin dem<br />

amerikanischen Pay-TV-Sender HBO zugerechnet, und<br />

tatsächlich ist es so, dass die meisten aktuellen Eigenproduktionen<br />

von HBO weit über dem ansonsten recht niedrigen<br />

Niveau der gängigen amerikanischen TV-Serie, von<br />

Sitcoms ganz zu schweigen, liegen. Die erstaunlich hohe<br />

Qualität dieser Serien aber scheint die anderen Sender anzustecken,<br />

und deshalb wird nun allerorts von dem neuen<br />

Phänomen TV-Serie gesprochen. Dabei wird Qualität oft<br />

mit Produktionskosten verwechselt und Hype mit Zeitgeist.<br />

Wiedererkennung, Dauer, Kommentar<br />

Die Serie hat dem Film zuallererst ihre Länge voraus. Was<br />

früher die Erbsünde der Serie war, nämlich die Langsamkeit,<br />

fast schon Unbeweglichkeit der Erzählung, wenn es<br />

denn überhaupt eine gab, ist weitestgehend abgeschafft:<br />

Die Handlung zieht sich nicht mehr zentimeterweise von<br />

einer Folge zur nächsten, sondern umgekehrt passiert in<br />

einer Episode so viel, dass es kaum möglich ist eine auszulassen,<br />

ohne die Handlung aus den Augen zu verlieren.<br />

Es gibt keine relevanten und irrelevanten Folgen mehr<br />

wie bei »Akte X«, sondern reinen Inhalt, einen durchgängigen<br />

Plot. Die Dauer der Serie wird zu ihrem Vorteil. Ihre<br />

Spannweite ermöglicht es ihr, Plotstücke oder Randerzählungen<br />

über Wochen zu dehnen, sie von einer Staffel<br />

in die nächste mitzunehmen, verloren geglaubte Figuren<br />

nach Jahren wiederzuerwecken. Und da die Erzählung<br />

auf längere Distanz konzipiert ist, ist das eine gute Sache.<br />

Zudem können Charaktere ganz anders eingeführt und<br />

auch wieder abgeführt werden; mit zunehmendem Mut<br />

der Produzenten können sogar Hauptfiguren unverhofft<br />

oder langwierig sterben. Was nicht nur die lähmende<br />

Vorhersehbarkeit aus den Serien vertreibt, sondern auch<br />

Kunstproblem und Sparringspartner No. 1, den Tod, auf<br />

den Plan ruft.<br />

Gleichzeitig haben typischere Serien, die sich von Episode<br />

zu Episode hangeln, ihre Flexibilität entdeckt. Einerseits<br />

können sie kommentierend in öffentliche Debatten<br />

eingreifen wie »South Park«, andererseits können sie sich<br />

folgenweise aus dem vorgegebenen ästhetischen Korsett<br />

lösen und zum Experiment übergehen, wie die viel gerühmte<br />

»Buffy«-Musical-Folge.<br />

Krankenhaus und Heimatstadt<br />

Was aber allen neuen und alten, guten und schlechten TV-<br />

Serien gemeinsam ist, das ist ein fester Ort, eine Umgebung,<br />

in der sie stattfinden. Wahrscheinlich hat es damit<br />

zu tun, dass diese genuin amerikanische Erzählform eben<br />

diese emotionale Heimat, die sie ihren Zuschauern bietet,<br />

in ihrer Struktur wiedergeben muss. TV-Serien werden zu<br />

Hause geguckt, die Protagonisten ersetzen nicht selten<br />

dem Zuschauer die Familie. Deshalb ist das große Thema<br />

der TV-Serie die Heimat oder Heimatlosigkeit. Von dem<br />

zutiefst amerikanischen Versuch, Religiosität, Nächstenliebe<br />

und vor allem die Familie als sinnstiftende Werte zu<br />

etablieren, wie es in »Eine himmlische Familie« versucht<br />

wird, über die amerikanische Kleinstadt und deren allzu<br />

normalen Wahnsinn in »Gilmore Girls« bis hin zur absoluten<br />

Hoffnungslosigkeit der todesversessenen Krankenhausserien<br />

wie »Emergency Room« oder »Grey’s Anatomy«<br />

ist es stets die Frage nach Heim und Geborgenheit, die<br />

sich in den Vordergrund drängt. Das wohl prominenteste<br />

Beispiel ist die Serie »Lost«, die in wechselnder Perspektive<br />

die Untiefen ihrer Protagonisten und der Insel, auf<br />

der sie gestrandet sind, auslotet, aber auch ständig die<br />

Feindseligkeit der verlorenen Gesellschaft evoziert und<br />

mit dem naturzustandähnlichen Inselleben in Verbindung<br />

bringt. Von den klassischen Serien jedoch ist nur die<br />

Krankenhausserie wirklich dazu in der Lage, die transzendentale<br />

Obdachlosigkeit des Zuschauers wie der Figuren<br />

offen zu legen, sie darf getrost als Wegbereiter der neuen<br />

Ernsthaftigkeit im Fernsehen betrachtet werden. Kein<br />

Wunder, dass mit Lars von Triers »Geister« auch eine der<br />

anerkannten großen Kunstserien in einem Krankenhaus<br />

spielt.<br />

Was HBO dem hinzufügen kann, das ist die Verschiebung<br />

des Todes in die Familie und damit in die Gesellschaft<br />

wie z.B. in »Six Feet Under«, die Entdeckung<br />

des Todes als gesellschaftsbildender Mörtel wie in der<br />

soziologisch-historischen Planskizze »Deadwood«, oder<br />

die Entmystifizierung der Antike und deren Todeskulte<br />

in »Rom«. Trotzdem können auch diese Serien ihren territorialen<br />

Charakter nicht kaschieren, auch wenn sie die<br />

Möglichkeit des Todes in greifbare Nähe rücken: Eine<br />

gewisse Unsterblichkeit und Weichheit hängt auch ihren<br />

Protagonisten an. Denn oberste Maxime der TV-Serie ist<br />

und bleibt die Fortführung, und dazu muss sie in der Lage<br />

sein, den Zuschauer in ihre Mitte zu nehmen und ihm ein<br />

Zuhause zu geben.<br />

aktuelle Veröffentlichungen<br />

»Lost – 3. Staffel – Teil 1«, ab 6.12.2007 auf DVD<br />

(Touchstone/Buena Vista Home Entertainment)<br />

»Gilmore Girls – 7. Staffel – Teil 1«, ab 7.12.2007<br />

auf DVD (Warner Bros. Home Entertainment)<br />

»Grey’s Anatomy – 3. Staffel – Teil 2«,<br />

ab 17.1.2008 auf DVD (Touchstone/Buena<br />

Vista Home Entertainment)<br />

66 1 bilder<br />

bilder 1 67<br />

Verlosung<br />

Wir verlosen eine DVD-Box »Lost – 3. Staffel Teil 1«<br />

sowie drei Marienstatuen. Einfach Mail mit Betreff »La<br />

Isla Bonita« an tombola@goon-magazin.de senden.<br />

goon<br />

verlost


Koch Media hebt die italo Western collection aus der Taufe – und präsentiert<br />

einen eindrucksvollen Querschnitt durch ein Genre zwischen Psychedelik, Prügel und<br />

Kapitalismuskritik<br />

text: jochen werner fotos: koch media home entertainment<br />

»Was versteht man unter ›Western‹? Das ist der Ort, an dem<br />

die Sonne untergeht«, so lautet die recht offene Bilanz von<br />

Regisseur Damiano Damiani. Dabei schien das Genre seit<br />

den frühesten Tagen der Kinematographie untrennbar<br />

mit dem amerikanischen Kino verbunden und diente den<br />

USA als unbestechlicher Seismograph des politischen Klimas.<br />

Von der heroischen Verklärung des Genozids an den<br />

Indianern als Gründungsmythos bis zu den zynischen Abgesängen<br />

der Spätwestern an Heldentum und Rechtmäßigkeit<br />

des Mordens zeichnete er mal sensible, öfter grobe<br />

Skizzen nordamerikanischer Befindlichkeit. Ein seltsamer<br />

Gedanke also, einen italienischen Western zu inszenieren<br />

– und die wenigen vorherigen Versuche waren auch allesamt<br />

an fehlender kultureller Eigenständigkeit gescheitert,<br />

bis Sergio Leone 1964 mit »Für eine Handvoll Dollar« die<br />

erfolgreiche Blaupause für eine ganze Welle lieferte. Dieser<br />

nämlich wusste, dass man im Grunde alles anders machen<br />

müsste, um glaubwürdig zu wirken: Sein Film war dreckiger,<br />

zynischer, finsterer als alles, was zuvor zu sehen war<br />

und schuf so das Regelwerk für den Italo-Western. Schnell<br />

traten weitere Filmemacher auf den Plan, die das kreative<br />

oder kommerzielle Potenzial des Modegenres erkannten.<br />

So entstand eine Strömung, deren ästhetischer Einfluss<br />

bis heute sträflich unterschätzt wird. Lediglich der von<br />

Film zu Film epischere Leone wurde in den Kanon des Cinéasmus<br />

aufgenommen, die oft gar radikaleren Werke der<br />

Filmemacher in seinem Schatten sind nicht selten dem<br />

Vergessen anheim gefallen. Sie diesem zu entreißen, tritt<br />

nun die neue »Italo Western Collection« von Koch Media<br />

an – und bietet mit den ersten drei Veröffentlichungen<br />

einen durchaus repräsentativen Überblick über das Spektrum<br />

des Genres.<br />

Viva la rivoluzione!<br />

Das beginnt mit Damiano Damianis »Töte Amigo« (1966),<br />

in dem die politischen Subtexte des Italo-Western offen<br />

zutage treten. Vor dem Hintergrund der mexikanischen<br />

Revolution wird der Gauner El Chuncho vom Erzkapita-<br />

listen zum Kämpfer für die gute Sache bekehrt. Von Anbeginn<br />

war die Welt der Italo-Western als zynisches Zerrbild<br />

eines fehlgeleiteten Kapitalismus zu lesen, und mit seinem<br />

einzigen Genrebeitrag legt Damiani einen politisch<br />

bewussten wie temporeichen Höhepunkt im Subgenre<br />

des Revolutionswestern vor. Eher ästhetisch interessant<br />

präsentiert sich »Yankee« (1966) von Tinto Brass, der später<br />

mit »Caligula« (1979) sein Hauptwerk vorlegte. Dieser<br />

vermag vor allem durch einen verspielten, gelegentlich<br />

ins Psychedelische verschwimmenden Stil zu überzeugen,<br />

der zeitweise gar den Surrealismus von Alejandro Jodorowskys<br />

»El Topo« (1970) vorweg zu nehmen scheint. Als<br />

schwächster unter den Filmen der ersten Staffel muss Sergio<br />

Martinos »Der Tod sagt Amen« (1970) gelten. Der oft<br />

unterbewertete Filmemacher kurbelte seine erste Regiearbeit<br />

noch als ambitionsloses Vehikel für B-Star Anthony<br />

Steffen herunter, markierte aber doch – zufällig wohl eher<br />

– eine entscheidende Wegmarke im Italo-Western. So folgt<br />

»Der Tod sagt Amen« zwar narrativ einem bewährten Erfolgsschema<br />

des Genres, dessen Reiz auch immer nicht<br />

zuletzt in seinen grafischen <strong>Gewalt</strong>darstellungen und<br />

seiner zynischen Attitüde lag; doch durchtränken hier<br />

bereits immer dominantere Einlagen kruder Komik den<br />

rauen Grundton, die den letzten Höhenflug mit den Blödelfilmen<br />

mit Bud Spencer und Terence Hill prägen. Im<br />

Anschluss wurde der Italo-Western – von einer Handvoll<br />

Schwanengesänge wie Martinos zweitem und letztem<br />

Genrebeitrag »Mannaja« (1977) eskortiert – in einem anonymen<br />

Wüstengrab verscharrt. Schön, dass sich mit Koch<br />

Media nun eines der essenziellen deutschen Labels für B-<br />

Movies und Filmkunst seiner vergessenen Meisterwerke<br />

angenommen hat.<br />

»Töte Amigo« von Damiano Damiani,<br />

»Yankee« von Tinto Brass und »Der Tod<br />

sagt Amen« von Sergio Martino, seit<br />

19.10.2007 auf DVD (Koch Media)<br />

Begleitend zur Italo Western Collection ist der<br />

Dokumentarfilm »Denn sie kennen kein Erbarmen<br />

– Der Italowestern« von Hans-Jürgen Panitz und Peter<br />

Dollinger als DVD mit Soundtrack-CD erschienen<br />

Poetik des Abschieds<br />

Drei Brüder auf der Suche nach dem real life: »The Darjeeling Limited« von Wes anderson<br />

text: dan gorenstein foto: 20th century fox<br />

Der Zug hat schon längst die Barke als Transportmittel ins<br />

Jenseits abgelöst. Als Emblem der frühen Moderne und<br />

des alten Fortschrittglaubens hat er natürlich auch im Film<br />

seine Spuren hinterlassen. Von der frenetisch gefeierten<br />

»Ankunft eines Zuges« der Gebrüder Lumière bis zu den<br />

Melancholietransportern in Wong Kar-Wais »2046« haben<br />

Züge sich gerade wegen ihrer Abgenutztheit zu Symbolen<br />

des Abschiedes und eben des Todes gewandelt.<br />

The Businessman<br />

Am Anfang von Wes Andersons fünftem Film »The Darjeeling<br />

Limited« sieht man Bill Murray rücksichtslos einem<br />

Zug hinterher jagen. Bepackt mit Koffern und vom Alter<br />

gezeichnet wie Steve Zissou, scheint er sein Äußerstes<br />

zu geben. Er wird den Zug nicht einholen. Statt dessen<br />

wechselt der Film in Zeitlupe, und Adrien Brody zieht<br />

mit einem viel größeren Koffer in der Hand geschmeidig<br />

an Bill vorbei, springt auf den Zug und sieht dann, einen<br />

Moment nur, den alten Mann auf dem Bahnsteig zurückbleiben.<br />

Bill Murray wird in diesem Film keine Rolle mehr<br />

spielen, er bleibt der abgehetzte businessman, seine Geschichte<br />

wird hier nicht erzählt. Diese Szene ist Wes Andersons<br />

Abschied von seinem großen Schauspieler: Nach<br />

»The Life Aquatic With Steve Zissou« (»Die Tiefseetaucher«,<br />

200 ) hatte Bill Murray verlauten lassen, er würde keinen<br />

Film mehr mit Wes Anderson machen können, es sei ihm<br />

zu anstrengend.<br />

68 1 bilder<br />

bilder 1 69<br />

Real Life<br />

Im Zug angekommen, stellt sich heraus, dass Adrien Brody<br />

einer der drei Whitmanbrüder ist, Peter Whitman. Er<br />

und sein Bruder Jack (Jason Schwartzman) wurden von<br />

dem ältesten Whitmanbruder, Francis (Owen Wilson),<br />

nach Indien und auf besagte Zugfahrt eingeladen, um<br />

wieder Brüder zu sein, ihrer einjährigen Entfremdung ein<br />

Ende zu setzten. Denn vor einem Jahr war ihr Vater gestorben<br />

und die offenbar reiche Familie hatte sich, wie zuvor<br />

die »Royal Tenenbaums«, in alle Winde zerstreut. Tod, Entfremdung,<br />

Abschied. Drei Brüder reisen durch das Land<br />

des Todes und der Wiedergeburt, und dennoch braucht es<br />

den halben Film, bis sie an sich vorbeikommen, in real life<br />

und raus aus dem Zug. Nachdem sie wegen ihrer unzähligen<br />

Streitereien, Marotten und Neurosen aus dem Zug<br />

geschmissen werden, sitzen sie, hinter einer Phalanx aus<br />

Louis-Vuitton-Koffern, am Lagerfeuer und beginnen zum<br />

ersten Mal während der Reise, tatsächlich nachzudenken.<br />

Und dann auf einmal, wie stets bei Wes Anderson, schiebt<br />

sich der ganze Klamauk beiseite, beulen sich die ansonsten<br />

seltsam flach wirkenden Charaktere aus, und Jack<br />

bringt ihre Misere auf den Punkt: »I wonder if the three of<br />

us would’ve been friends in real life. Not as brothers, but as<br />

people.« Auch wenn die Filme von Wes Anderson ein wenig<br />

am Leben vorbei erzählt scheinen, und selbst wenn<br />

er sich in scheinbar unbedeutenden Nebenplots verliert,<br />

unmögliche Figuren zeichnet, an der kleinsten Kleinigkeit<br />

eines Filmsets herumtüftelt, bleibt er Chronist eben jenes<br />

Lebensgefühls, das sich in der Kluft zwischen dem real life<br />

und dem Anderen abspielt: dem Stunt, dem Flachen und<br />

von der passenden Musik Umschmiegten und dem Scheitern<br />

dahinter, dem Menschsein und der damit verbundenen,<br />

nicht tot zu kriegenden Würde.<br />

»The Darjeeling Limited« von Wes Anderson,<br />

ab 3.1.2008 im Kino (20th Century Fox)


Erinnerung ist ein<br />

Sandwich, keine<br />

Schildkröte<br />

Stillstehende Zeit, Bewegung und<br />

Wandel in paul hornschemeiers<br />

»Komm zurück, Mutter« und »The Three<br />

Paradoxes«<br />

text: mareike wöhler illustrationen: paul hornschemeier<br />

»[...] I think what has always been the most interesting to<br />

me is that there’s this exterior reality and then the interior<br />

reality of what’s going on inside people’s houses and inside<br />

their minds ...«<br />

paul hornschemeier, interview in mome #1<br />

Löwenhüter innerer Realitäten<br />

Eltern verlassen ihre Kinder mitunter, auch wenn das<br />

nicht in die Weltsicht der CDU passt. Die Mutter in Paul<br />

Hornschemeiers Comic »Komm zurück, Mutter« bringt<br />

sich aufgrund einer schweren Krankheit um und hinterlässt<br />

ihren Sohn und einen Ehemann, der ob des Verlustes<br />

depressiv wird und das Kind sowie seine Logikvorlesungen<br />

zunehmend vernachlässigt. Bereits im deprimierenden<br />

Epilog schwebt der entgleiste Vater ziellos durch eine desolate<br />

Landschaft seiner Trauer, um seine Frau zu suchen.<br />

Eine Zeit lang gelingt es dem siebenjährigen Thomas<br />

– mit Hilfe einer von der Mutter geschenkten Löwenmaske,<br />

die ihn stärker macht und seinen Schmerz vorm Leser<br />

leidlich versteckt –, den Schein zu wahren: Er versorgt den<br />

Vater und sich mit Sandwiches, versucht das im Haus zunehmende<br />

Chaos zu beseitigen und das ›Reich‹ der Mutter<br />

(Zimmer, Garten, Grab) zu hüten. Doch eines Tages<br />

macht er am Telefon einen Fehler, der alles auffliegen lässt.<br />

Die Geschichte, die Themen wie Verantwortung und das<br />

Abschiednehmen verhandelt, wird als Erinnerung des<br />

erwachsenen Thomas erzählt. Doch immer wieder übernimmt<br />

das Kind in ihm die Erzählung. Dann ändert sich<br />

der exakte, in trüben Farben gehaltene Zeichenstil des<br />

mit seiner Katze Margo in Chicago lebenden 30-jährigen<br />

Hornschemeier: In bunteren Strichzeichnungen agieren<br />

Tiere statt Menschen, füllt krakelige Schrift die Sprechblasen<br />

– eine kongeniale bildliche Umsetzung von Thomas’<br />

Überforderung und Hilflosigkeit, die sich auch in seine<br />

schweren, gleichnisreichen Träume tragen, während der<br />

schlaflose Vater in der Dachkammer über ihm die tote<br />

Mutter anfleht.<br />

Diese Geschichte von Vater und Sohn ist, einem<br />

beiden ähnelnden Foto im Anhang zum Trotz, nicht autobiografisch,<br />

sondern als Buch im Buch hochgradig konstruiert.<br />

In dieser konzeptorientierten Schreibweise lässt<br />

Hornschemeier die inneren Lebensrealitäten seiner Figuren<br />

begreifbar werden, indem er Erinnerung als Prozess<br />

auffasst, über den Thomas’ Vater, selbst Autor des fiktiven<br />

Sachbuchs »Evolution der Symbole«, vorlesen wird: »Menschen<br />

schaffen sich kleine Erklärungssysteme. / Sachen, die<br />

eigentlich gar nicht stimmen, aber die man leichter versteht<br />

als die komplizierte Wirklichkeit.«<br />

Autografische Mischpalette mit Erinnerung<br />

Während »Komm zurück, Mutter« ursprünglich in drei<br />

Heften im Rahmen der Anthologie Forlorn Funnies erschien,<br />

ist Hornschemeiers jüngste, in zwei Jahren am<br />

Stück gezeichnete Graphic Novel »The Three Paradoxes«<br />

formal extremer, brüchiger und schlüssiger zugleich. Als<br />

autobiografische Metaerzählung angelegt, geht es auch<br />

hier um die Erinnerung eines Erwachsenen, um familiäre<br />

Beziehungen sowie die Möglichkeit persönlichen Wandels:<br />

Der Erzähler, der Comiczeichner Paul – Hornschemeiers<br />

autografischer Avatar – besucht seine Eltern in deren<br />

Haus in Ohio und arbeitet dort an dem Strip »Paul and<br />

the Magic Pencil«. Als er mit der Arbeit nicht vorankommt,<br />

begleitet er seinen Vater auf einem Spaziergang zu dessen<br />

Büro und unterhält sich mit ihm. »›The Three Paradoxes‹<br />

has become, for me, an almost smothering case of life imitating<br />

art imitating life, etc., ad nauseam. For two years I<br />

have been drawing and writing a book about myself drawing<br />

and writing a book that I cannot finish, a book I cannot<br />

seem to end, and I couldn’t end the book about the book with<br />

no end. Though, maddeningly, in the book within the book, I<br />

am suffering from a conceptual block – writer’s block of sorts<br />

– while in reality it was closer to a LIVING block.«<br />

Hornschemeier, der auch als Colorist für Marvel und<br />

DC arbeitet, spielt seit langem die technischen Aspekte<br />

der Comicherstellung (Cover, Layout, Farbe, Tinte, Druck<br />

und Präsentation) durch. Sein Avatar, der auf ein Treffen<br />

mit einer Frau aus Deutschland wartet, in deren E-Mails er<br />

sich verliebt hat, fotografiert für sie während des Spaziergangs<br />

Orte, an denen ihn Flashbacks aus seiner Kindheit<br />

überfallen. Das Hin- und Herblenden zwischen fünf grafisch<br />

sehr unterschiedlichen Stories, Realitäten und Zeiten<br />

– Buntstiftskizzen in non-photo blue, Rasterpunktzeichnungen<br />

mit wackeligem Panelrahmen oder vergilbten<br />

Comicseiten aus erfundenen Heften mit ausgefransten<br />

Rändern – ist dabei mehr als ein formales Experiment: Die<br />

in sich schlüssigen Stories werden nicht nur mit-, sondern<br />

auch ineinander verschränkt, so gebrochen und doch sehr<br />

geschickt in die Gesamterzählung eingebettet.<br />

Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Stillstehende<br />

Pfeile ins Herz der Comiczeit<br />

Kern des Comics ist eine vorsokratische Superphilosophenstory,<br />

in der die Negation der Realität von Bewegung<br />

in der Zeit durch Zenon von Elea und seinen Lehrer<br />

Parmenides verhandelt wird. Zenon formulierte neben<br />

dem Paradox von Achilles und der Schildkröte auch das<br />

vom fliegenden Pfeil, der sich scheinbar bewegt. In Wirklichkeit<br />

ruht er jedoch, da er in jedem Augenblick in einem<br />

bestimmten Raumteil ist, sich die Flugbahn aus unendlich<br />

vielen solcher Augenblicke zusammensetzt und An-einem-<br />

Ort-sein eben Ruhen heißt. Dies zeigt, dass die Idee der<br />

Bewegung in der Zeit zu unmöglichen Konsequenzen<br />

führt, egal, ob Zeit Kontinuität oder Diskretheit vorgibt.<br />

Die strukturelle Praxis in Comics besteht nach Thomas<br />

A. Bredehoft nun darin, Raum zu benutzen, um<br />

Zeit zu repräsentieren. Nach Pascal Lefèvre sind Comics<br />

notwendigerweise ein diskontinuierliches, elliptisches<br />

Medium, da sie – anders als Filme – nur Fragmente von<br />

Ereignissen repräsentieren können. Und Michael Hein<br />

schlägt vor, »die Geschichte eines Comicstrips als ein Unternehmen<br />

zu betrachten, welches nicht die Zeit gestaltet,<br />

sondern Zeit verbringt im Ungewissen.« Mit dem Zenonexkurs<br />

bringt Hornschemeier mit einem uralten philosophischen<br />

Diskurs eine frische, treffende Zeitmetapher<br />

in die Ästhetik des Comics ein, deren Forscher sich mit<br />

Zeit, Bewegung sowie dem Zwischenraum zwischen den<br />

Panels befassen. Die vorgetäuschte Textur der auf alt getrimmten<br />

Comic-Materialien lässt dem Leser Vergangenheit<br />

imaginär greifbar werden. Eine Lektüre unter dem<br />

Gesichtspunkt der eingefrorenen Zeit und des negierten<br />

Wandels führt zugleich zur Feststellung von Nichtzeit und<br />

Diskontinuität im sich aus Einzelpanels zusammensetzenden<br />

Comic. Kann Erinnerung Zeit auflösen? Protagoras<br />

nimmt Zenon nach der Präsentation der Paradoxa zur<br />

Seite: »Whatever freedom, whatever solace you are seeking ...<br />

It is not in these thoughts.«<br />

Während Paul auf der narrativen Ebene auf die<br />

Schlussidee zum Comicstrip und das ersehnte Treffen<br />

wartet, gibt es auch zeichnerisch fast keine explizite Bewegungsdarstellung.<br />

Benachbarte Panels zeigen oft dieselbe<br />

Topographie; die so erzeugte Langsamkeit und Kontinuität<br />

wird erst durch die grafischen Wechsel der Erzählmodi<br />

aufgebrochen. Auch das Fehlen von Seitenzahlen bremst<br />

Linearität, Kausalität und den Fluss der Erzählzeit ab.<br />

Die im Ausgelassenen, Ungewissen, Paradoxen verbrachte<br />

Zeit ist wesentlicher Bestandteil von Hornschemeiers<br />

Arbeiten, in denen man zugleich stillstehen und<br />

spazierengehen kann, um sich über dieses schwierige<br />

Leben Gedanken zu machen: »I would say that mainly a<br />

lot of the gist of the book is looking for some kind of control or<br />

certainty in life, debating whether or not that actually exists;<br />

whether or not one can actually influence anything, whether<br />

one can take control of various aspects of one’s life; whether<br />

one can change from where one has been in the past.« Manche<br />

Künstler, zumeist die besten, lassen diejenigen, die<br />

sich mit ihren Arbeiten befassen, mit Fragen statt Antworten<br />

zurück.<br />

»Komm zurück, Mutter«<br />

von Paul Hornschemeier,<br />

Carlsen, Hamburg<br />

2007, 128 S., € 16,00<br />

www.forlornfunnies.com, www.fantagraphics.com<br />

»The Three Paradoxes«<br />

von Paul Hornschemeier,<br />

Fantagraphics, Seattle<br />

2007, 80 S., $ 14,95<br />

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Der Held des<br />

(kleinen)<br />

20. Jahrhunderts<br />

Zum 100. Geburtstag hergés ein kleiner<br />

Rückblick und Ausblick auf »Tintin«,<br />

seine berühmteste Schöpfung<br />

text: patrick küppers<br />

illustration: aus »auf den spuren von tim & struppi«<br />

Die ersten Schritte führten Tintin, den unangefochtenen<br />

Star unter den Helden des frankobelgischen Comics, 1929<br />

in das »Reich der Sowjets«. Die Bilderfolgen erschienen in<br />

der Jugendbeilage des erzkatholischen Blattes Le XXe Siècle,<br />

genannt Le Petit Vingtième. Das kleine 20. Jahrhundert<br />

also, wie es Hergé, der vor nun hundert Jahren als Georges<br />

Rémi nahe Brüssel geboren wurde, in 23 »Tintin«-Alben,<br />

hierzulande wohl bekannter unter dem deutschen Titel<br />

»Tim & Struppi«, darstellte. In schöner, teilweise grandioser<br />

Zeichnung, die zunehmend nicht nur als comicgeschichtliches,<br />

sondern sogar als kunsthistorisches Ereignis<br />

gesehen wird, entfaltet sich ein globales Panorama. Außer<br />

Australien erschließt sich jeder Kontinent und sogar der<br />

Mond als Handlungsraum für die Zentralfigur.<br />

Verminte Geschichte. Vom Fassen einer Gegenmacht<br />

Wenn am 20. Jahrhundert so einiges auszusetzen ist, so<br />

gilt dies in geringerem Maße auch für dessen Kleinfassung<br />

in den »Tintin«-Comics. Schon das ›Sowjetreich‹ war eine<br />

antikommunistische Karikatur, wenngleich diese auch<br />

vom 1937 tatsächlich losbrechenden Staatsterrorismus<br />

in der UdSSR noch deutlich übertroffen wurde. Schwerer<br />

wiegt die etwas sehr harmonische Darstellung des kolonialen<br />

Kongo (»Tim im Kongo«) angesichts des abscheulichen<br />

Völkermordes, den die belgische Krone hier seit<br />

1890 betrieb. Weiter vermintes Gelände sind auch Ausrutscher<br />

Hergés in die antisemitische Ikonographie. Da gibt<br />

es nichts kleinzureden, aber doch muss man feststellen,<br />

dass Hergés Karikatur, etwa bei dem Bankier Bohlwinkel<br />

in »Der geheimnisvolle Stern«, eher einem amoralischen<br />

Kapital galt, welches dem Profit alles unterordnet. Diesem<br />

Kapital ein jüdisches Gesicht zu geben, war unter westlichen<br />

Illustratoren bis 194 leider üblich. In arabischen<br />

Ländern ist das noch immer so. Der Vorwurf eines tief<br />

sitzenden Antisemitismus ist an solchen Bildern jedenfalls<br />

kaum festzumachen, und anderenorts gab Hergé dem<br />

kritisierten Kapital etwa in den Waffenhändlern Dawson<br />

oder Basil Bazaroff auch neutralere, angelsächsische Gesichter.<br />

Ständiges Movens der Albenhandlung ist eine dunkle<br />

Gegenmacht, vor der Tintin seine Freunde und auch alle<br />

anderen Verfolgten zu bewahren sucht. Das amoralische<br />

Kapital bildet eine Seite dieser Gegenmacht. Sie findet<br />

sich wiederholt symbolisiert in dicken Geldbündeln, die<br />

Tintin zu korrumpieren suchen – freilich vergebens. Auf<br />

der anderen Seite stehen autoritäre Polizeistaaten, wie<br />

Tintin sie im Ostblockstaat »Bordurie« kennen lernt, oder<br />

auch in den Operettendiktaturen, die das südamerikanische<br />

»San Theodoros« heimsuchen. Auch Oberschurken<br />

wie der Drogen- und Sklavenhändler Rastapopoulos<br />

(zwischendurch ist er auch Filmproduzent) oder der Apparatschik<br />

Sponsz sind nur Exponenten jeweils einer Seite<br />

jener Gegenmacht.<br />

Tintin als Superheld<br />

Die Bezeichnung »Superheld« aber will auf Tintin nicht<br />

recht passen. Er ist ein Hänfling mit Hund, der kaum<br />

etwas mit den Muskellagerstätten US-amerikanischer Provenienz<br />

gemein hat. Und dennoch sehen schon mehrere<br />

Generationen von Kindern und Erwachsenen in aller Welt<br />

in ihm ein Vorbild und eine Identifikationsfigur.<br />

Tintin ist ein Kindmann. Von Alkohol, Tabak und<br />

Frauen hält er sich fern, sein Auftreten ist höflich und bescheiden.<br />

Ihn binden weder Wohnsitz noch Arbeit noch<br />

Geldnöte, sein klares, offenes Gesicht kann nichts ver-<br />

bergen. Wenn man nichts über seine Familie oder seine<br />

Vergangenheit erfährt, so liegt das daran, dass diese nicht<br />

existieren. Somit ist Tintins Bewegungsfreiheit im »kleinen<br />

20. Jahrhundert« vollkommen, wozu sich seine Befähigung<br />

trefflich fügt, jede Art von Vehikel (vom U-Boot über<br />

den Panzer bis zur Mondrakete) zu bedienen. Schließlich<br />

ist Tintin noch ein herausragender Faustkämpfer.<br />

Er entspricht damit in etwa dem, was sich viele Kinder<br />

vom Erwachsensein versprechen, und zeigt zudem in<br />

seiner Ungebundenheit und Begeisterungsfähigkeit eher<br />

kindliche Eigenschaften, deren Verlust Erwachsene oftmals<br />

als schmerzlich empfinden. Züge von Nebenfiguren<br />

entsprechen dieser Tendenz: Kinder wie der Chinese<br />

Tschang oder der Indio Zorrino verfügen über erstaunliche<br />

Reife und Mut, und bei Hauptfiguren wie den Detektiven<br />

Dupond und Dupont, dem Professor Tournesol<br />

sowie natürlich dem Kapitän Haddock und auch dem<br />

Hund Milou, fällt unentwegt die Maske des Erwachsenen<br />

zugunsten einer sympathischen Kindsköpfigkeit. Aus solchen<br />

stets vollendet gezeichneten Kontrasteffekten gewinnen<br />

die Comics eine unerschöpfliche Komik. Kontraste,<br />

wie sie bei Tintin nicht auftreten. Sein hybrider Charakter<br />

kennt keine Brüche und ist erstaunlich überzeugend.<br />

Hergé evoziert durch diesen Charakter ein Drittes,<br />

das sich den Polizeistaaten auf der einen und dem menschenverachtenden<br />

Kapital auf der anderen Seite entzieht.<br />

Ein Freiraum, in dem Menschlichkeit ohne ideologische<br />

(auch: geldideologische) Beschränkung walten kann. In<br />

Tintin legte Hergé den humanistischen Kern jener europäischer<br />

»Jugendbewegungen« wieder frei, den die verschiedensten<br />

Ideologien von ihrem Beginn um 1900 an<br />

erfolgreich zu pervertieren suchten. Die bedingungslose<br />

Freundschaft und Solidarität Tintins gegenüber Tschang,<br />

Zorrino, dem Afrikaner Coco und auch dem ewig aufmüpfigen<br />

Araber Abdallah ist dafür immer wiederkehrendes<br />

Motiv und Symbol. Tintin ist ein Pfadfinder, wie Hergé<br />

einer war. Nur hat sich Tintin völlig von dem Gedanken<br />

der »Gruppe« gelöst. Diese ›Einsamkeit‹ Tintins ist sicherlich<br />

zweischneidig. Hergé hatte aber erfahren, wie sich<br />

<strong>Gewalt</strong>staaten und Ideologien gerade dieses Gruppengedankens<br />

bemächtigten und daraus einen Gruppenzwang<br />

machten. Dagegen setzte er ein intelligentes Individuum,<br />

das selbständig, spontan und mutig zu einem richtigen<br />

und menschlichen Handeln findet.<br />

In diesem Typus und der in ihm enthaltenen Botschaft<br />

einer globalen Verständigung und Sympathie gerinnt in<br />

den »Tintin«-Alben die Hoffnung des verunglückten (kleinen)<br />

20. Jahrhunderts. In dieser Hoffnung besteht auch<br />

die ungebrochene Aktualität von Hergés Helden Tintin<br />

für das 21. Jahrhundert und darüber hinaus.<br />

Alle 21 Bände von »Tim & Struppi« sind im Carlsen Verlag erhältlich<br />

»Auf den Spuren von Tim & Struppi« von Michael<br />

Marr, Carlsen, Hamburg, 208 S., € 35,00<br />

Verlosung<br />

Wir verlosen drei Pakete mit den Alben »Kohle an Bord«,<br />

»Die Krabbe mit der goldenen Schere« und »Das Geheimnis<br />

des Einhorn«. Einfach Mail mit Betreff »Ich möchte Teil einer<br />

Jugendbewegung sein« an tombola@goon-magazin.de senden.<br />

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goon<br />

verlost


text: zuzanna jakubowski<br />

illustration: jiro taniguchi (aus »vertraute fremde«)<br />

Nicht nur von der Breite ihres Buchrückens her erinnern<br />

Jiro Taniguchis durchaus schon einmal 400 Seiten<br />

umfassende, abgeschlossene Manga-Romane an die seit<br />

den 1990er Jahren den alternativen Comicmarkt dominierenden,<br />

amerikanischen graphic novels und ihre europäischen<br />

Nachempfindungen. Auch die wiederkehrenden<br />

Themen und Motive des Aufwachsens und der Selbstfindung<br />

in einer von Anonymität bestimmten Gesellschaft,<br />

die autobiographischen Zwischentöne und die feinfühligen<br />

Charakterportraits hat das umfassende Werk des<br />

vielfach ausgezeichneten japanischen Mangaka mit dem<br />

in der westlichen Welt zuletzt szenebestimmenden Genre<br />

gemein. Schuf Taniguchi zu Beginn seiner Karriere noch<br />

klassische Fortsetzungsgeschichten im Stil der üblichen<br />

– vor speedlines und close-ups strotzenden – Krimi-, Samurai-<br />

und Science-Fiction-Genres, entwickelte er schon in<br />

den 1980ern seinen unverkennbaren, von den frankobelgischen<br />

Comics beeinflussten Realismus abseits von Bambiaugen<br />

und Stachelhaarfrisuren. Mit seiner fünfteiligen<br />

Serie »Botchan no Jidai« über Schriftsteller der Meiji-Ära<br />

(1867–1912) begründete er den literarischen Manga und<br />

schuf die erste seiner zahlreichen, sensiblen Analysen einer<br />

Kultur im Umbruch.<br />

Im Angesicht der Natur<br />

In der Tradition des in den 19 0er Jahren entstandenen<br />

Independent Manga-Genres ›gekiga‹, das sich vor allem<br />

– in Opposition zu den frühen Werken Osamu Tezukas<br />

– für eine realistischere Darstellung in japanischen Comics<br />

einsetzte, sind Taniguchis Geschichten geprägt von<br />

sozialkritischen Tönen: »Die Stadt und das Mädchen«<br />

thematisiert Kindesprostitution, allein erziehende Mütter<br />

und das korrupte Großstadtleben, »Vertraute Fremde« ab-<br />

Die Liebe zum<br />

Hintergrund<br />

jiro taniguchis poetische Autorenmangas<br />

erfassen in kleinen Gesten individuelle und<br />

gesellschaftliche Zusammenhänge<br />

wesende Väter und Alkoholismus, aber auch das Trauma<br />

des Zweiten Weltkriegs und das Wirtschaftswunder der<br />

Nachkriegszeit. In der Geschichtensammlung »Der Wanderer<br />

im Eis« steht das Individuum der gewaltigen Natur<br />

gegenüber und muss lernen, mit ihr und nicht gegen sie<br />

zu handeln: Die Helden sind Goldgräber und Walfänger,<br />

Scheidungskinder und Bärenjäger. Nach und nach fügt<br />

sich aus den einzelnen Erzählungen das feinfühlige Bild<br />

eines individuellen und gesellschaftlichen Entwicklungs-<br />

und Emanzipationsprozesses zusammen.<br />

Raum zur Kontemplation<br />

Ungewöhnlich für den üblicherweise durch Handlung<br />

und Dialog vorangetriebenen Manga ist Taniguchis – den<br />

bandes dessinées entnommene – Liebe zum Hintergrunddetail,<br />

vor dem die Figuren beinahe verwechselbar werden.<br />

Großstadtdschungel, Kleinstadtidylle und wilde Natur<br />

werden auf dem Papier lebendig; klare Linien, ausladende<br />

Tableaus und intime Perspektiven bestimmen die Panels.<br />

Die wahre Kunst dabei besteht darin, den universaltypischen<br />

Figuren – der schönen Frau mittleren Alters, dem<br />

erschöpften Geschäftsmann, dem eigenbrötlerischen<br />

Naturburschen, dem entfremdeten Jungen oder dem<br />

kessen Schulmädchen – in kleinen Gesten Individualität<br />

zu verleihen. Ein Kunststück, das Taniguchi meisterlich<br />

beherrscht. Er lässt seinen Figuren viel Raum, zeigt sie<br />

dem Leser gerade auch in handlungsfreien Momenten<br />

der Kontemplation – im Wasser treibend, am Fuß eines<br />

Berges stehend oder den Wolken nachschauend –, so dass<br />

sie trotz idealtypischer Oberfläche an Tiefe gewinnen.<br />

Von Jiro Taniguchi bisher in deutscher Übersetzung erschienen:<br />

»Der Wanderer im<br />

Eis«, Shodoku /<br />

schreiber&leser, München<br />

2006, 240 S., €14,95<br />

»Die Stadt und das<br />

Mädchen«, Shodoku /<br />

schreiber&leser, München<br />

2007, 336 S., €16,95<br />

Demnächst erscheint:<br />

»Die Sicht der Dinge«, Carlsen,<br />

Hamburg 2008, 288 S., € 14,00<br />

»Vertraute Fremde«,<br />

Carlsen, Hamburg<br />

2007, 409 S., € 19,90<br />

»Gipfel der Götter<br />

– Kamigami no<br />

itadaki«, Shodoku<br />

/ schreiber&leser,<br />

München 2007, 320 S., € 16,95<br />

Neues Töten<br />

Die PC-Spielesammlung the orange box ist eine Kaufempfehlung für alle,<br />

die einen Monat lang nichts anderes zu tun haben wollen<br />

text: robert wenrich<br />

Das Computerspiel »Half-Life 2« ist zwar betagt, aber<br />

immer noch eine grandiose Hatz durch dystopisches<br />

Gelände: Gordon Freemans Kampf gegen die extraterrestrische<br />

Faschistenbande wäre samt seines ersten und<br />

eines zweiten, brandneuen Add-ons für 40 Euro verkauft,<br />

wenn nicht billig, so doch immerhin preiswert. Nur ist die<br />

»Orange Box« mehr als eine branchenübliche ›Gold-Version‹<br />

und entzieht sich, weil sie noch mit zwei weiteren, außergewöhnlichen<br />

und heiß ersehnten Shootern aufwartet,<br />

jeder Preisdiskussion.<br />

Jenseits der Wurmlöcher: »Portal«<br />

Im Gegensatz zu »Team Fortress 2« ist »Portal« ein Vergnügen<br />

für den Herrn Einzelspieler. Als Versuchskaninchen<br />

wird man darin von einer HAL-9000-Kopie – wie das Orginal<br />

moralisch eher indifferent – durch 3D-Rätselkomplexe<br />

gelotst; stets Kuchen in Aussicht stellend, sollte man nur<br />

den nächsten Wachroboter überwinden. Die Levels sind<br />

grau und weiß und von klinischer Strenge, das Rätselinventar<br />

ist knapp. Es besteht aus Kisten, Knöpfen, Türmechaniken<br />

und Zeitdruck. Alles eher unscheinbar, wenn das<br />

Spiel nicht noch ein crazy feature zu bieten hätte: Denn bei<br />

»Portal« ist der Spieler mit einer Portalkanone bewaffnet,<br />

mittels derer er Wurmlöcher in Levelwände und -decken<br />

bohren kann. Hat man beispielsweise einen Abgrund zu<br />

überwinden, öffnet man diesseits wie jenseits ein Portal<br />

und hat die Kluft überwunden. Liegt ein Schalter auf<br />

einem entfernten Plateau, so zielt man auf die Decke darüber,<br />

schießt sich danach den Boden unter den Füßen auf<br />

und schon landet man wie gewünscht in luftiger Höhe.<br />

Ähnlich beseitigt man die Roboter: Portal über sie, Portal<br />

unter eine Kiste, und die Gravitation erledigt den Rest;<br />

die iBiester verabschieden sich stilsicher mit »No hard<br />

feelings«. So durch die Level laufend und durch Nutzung<br />

der Fallbeschleunigung fliegend, wird »Portal« zu einem<br />

großen gymnastischen Spaß – inklusive raumzeitlicher<br />

Verstörungen – und lädt trotz kurzer Dauer zu mehrmaligem<br />

Spielen ein.<br />

Unermüdliches Killerkarussell: »Team Fortress 2«<br />

Wirklich geadelt jedoch wird »The Orange Box« durch den<br />

letzten Titel, der über annähend zehn Jahre (und wie man<br />

heute sieht: erfolgreich) entwickelt wurde. »Team Fortress 2«<br />

ist ein Online-Rollenshooter, in dem der Spieler in eine von<br />

zehn Rollen schlüpft und mit seinem Team versucht – mitunter<br />

durch Verursachung von Personenschäden –, die Gebiete<br />

bzw. Dokumente des gegnerischen Teams zu erobern.<br />

Das Spiel punktet dabei mit wunderbar geschlossenem <strong>Design</strong><br />

und, bei Computerspielen so oft und so schmerzlich<br />

vermisst, mit viel Humor. Nächtelang erstürmt und verteidigt<br />

man in saftiger, an die 1940er Jahre angelegter Grafik<br />

verlassene Reservoirs, Güterbahnhöfe und Bergwerke. Als<br />

Pyro in den Stollen die Arglosen abzufackeln, die feindliche<br />

Unterstützung als getarnter Spion zu erdolchen oder<br />

als Feldarzt den halbtoten Kameraden zu zweiter Luft zu<br />

verhelfen – dank des guten Balancings ist jeder der zehn<br />

Charaktere nützlich, spielbar und liebenswert; unermüdlich<br />

dreht sich deswegen das Killerkarussell.<br />

Das taktisch fordernde »Team Fortress 2« ist ästhetisch<br />

wie dramaturgisch anspruchsvoll, im Ganzen ein bezauberndes<br />

Stück Software, und liefert handfeste Beweise,<br />

warum man Computerspiele zu den darstellenden Künsten<br />

zählt.<br />

»The Orange Box«ist für PC und X-Box 360<br />

bereits erhältlich, die Version für PlayStation 3<br />

erscheint am 17.1.2008 (Electronic Arts)<br />

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Neues aus dem<br />

Dahinterland<br />

Schreiben, Falten, Wenden<br />

– in seinem dritten Abenteuer<br />

als Papierfigur dringt<br />

mario bis in die Tiefen der<br />

Selbstreflexivität vor<br />

text: bernd weintraub<br />

Im Jahr 2000, vier Jahre nachdem er den Weg in die dritte Dimension ebnete,<br />

verlor Mario seinen Schatten. Sein zweidimensionales Alter Ego löste<br />

sich von seinem Meister und begann, auf eigene Faust das Pilzkönigreich<br />

zu erkunden, weniger aktiv, dafür jedoch gründlicher. Nun war aber der<br />

Schritt in die dritte Dimension, in die materielle Welt, schon getan, es gab<br />

kein Zurück mehr, und so wurde Marios alte Flachheit in ihr physisches<br />

Pendant, in Papier, umgemünzt.<br />

Mario und das epische Theater<br />

Schon »Paper Mario« (2000) und »Paper Mario und das Äonentor« (2004)<br />

kommentieren sich selbst und frühere Mario-Spiele. Beide Spiele problematisieren<br />

ihren eigenen Stand zwischen ihrem Genre (dem behäbigen<br />

japanischen Rollenspiel) und ihrer Hauptfigur (Mario, der Bewegung),<br />

indem sie sich eines theatralischen Filters bedienen: des Übergangs vom<br />

Papier zur Bewegung. Beide inszenieren sich als Erzählungen, die eigentlich<br />

in einem Theater stattfinden, und selbst die Kämpfe werden auf einer<br />

Theaterbühne (inklusive Publikum) ausgetragen. Wenngleich es eine<br />

Brecht’sche Bühne ist, denn der Orchestergraben ist längst zugeschüttet<br />

und die Menge bewirft die Protagonisten mit Dosen oder Items, springt auf<br />

der Bühne herum, schlägt sich in die Kulissen.<br />

Vom Theater zur Kulissenskizze<br />

Mit »Super Paper Mario« wird dieser Ansatz weitestgehend aufgegeben, das<br />

verlorene »Super« hält wieder Einzug in den Titel und damit auch ins Spiel.<br />

Super Papier-Mario ist beweglicher, er löst seine Probleme auf direktem<br />

Weg, durch Hüpfen. Dennoch ist die Handlung ebenso komplex und die<br />

Charaktere so vielfältig, wie es sich für ein Rollenspiel gehört. Der Referenzrahmen<br />

ist jedoch nun nicht mehr die Bühne, sondern die technische<br />

Bauzeichnung: Neben unzähligen Schrifttypen und Akzenten, in denen<br />

sich die Gemüter und Stimmungen der Protagonisten ausdrücken, sticht<br />

vor allem die Umgebung ins Auge, die vor dem Betreten eines neuen Kapitels<br />

in klaren, schwarzen, meist geraden Strichen auf den Bildschirm skizziert<br />

wird, ehe sie eingefärbt wird und damit die typische Mario-Ästhetik<br />

annimmt. Allein in diesem Verfahren offenbart die Welt von »Super Paper<br />

Mario« bereits ihre Gemachtheit, die V-Effekte aber reißen nicht ab.<br />

Was ist ›A‹?<br />

Der Clou des Spiels besteht in einem neuen Trick, den Mario erlernt: dem<br />

Flipping. Dadurch kann er die zweidimensionale Papierlandschaft um<br />

90 Grad in eine dreidimensionale Polygonlandschaft drehen. Wo vorher<br />

Striche waren, sind nun Flächen. Massive Berge entpuppen sich als papieren,<br />

und was zuerst als wohlgeordnete Treppe erschien, zerfasert zu einem<br />

Haufen Säulen. Die Figuren kommentieren die Steuermechanismen, ja<br />

ihre Situation als Videospielfiguren, mit Aussagen wie: »Drücke einfach A,<br />

um zwischen 2D- und 3D- Ansicht zu wechseln. Nun, was sagst du? Das zieht<br />

einem die Schuhe aus, nicht wahr? Was A ist? Sollten wir von Bewohnern einer<br />

anderen Dimension beobachtet werden … Diese Wesen würden es verstehen.<br />

Dir fehlen Bartlänge und Verstand dazu.« Mit »Super Paper Mario« erfüllen<br />

Nintendo und Intelligent Systems die obersten Kriterien moderner Kunst,<br />

Selbstreflexivität und Kommentar. Die sprichwörtliche Geduld des Papiers<br />

macht so etwas in der bewegten Welt der Videospiele möglich.<br />

»Super Paper Mario«, für die Wii erhältlich (Nintendo)<br />

Ein Hoch auf den blauen Bomber!<br />

Der Videospiel-Held mega man wird Zwanzig. Gratulation und Resümee<br />

text: dan gorenstein<br />

Seine wildesten Partys hat er schon hinter<br />

sich. Die großen Weltrettungsaktionen, die<br />

Zeit der ungebrochenen Begeisterungsstürme.<br />

Er gilt als das meistmissbrauchte Computerfirmenmaskottchen.<br />

Hat versucht, es dem Klempner<br />

nachzutun. Hat Fußball gespielt, sich mit dem Rest der<br />

Capcom-Bagage geprügelt, er ist Rennen gefahren, ja, er<br />

hat sich sogar den Kindern als neuer Yu-Gi-Oh! in seiner<br />

»Battle Network«-Reihe angebiedert. In Ehre gealtert ist<br />

der blaue Bomber Mega Man wahrlich nicht. Aber wann<br />

immer er sich in seine alte Kampfrüstung schwingt, den<br />

»Megabuster« lädt und gegen acht »Robot Master« in den<br />

Kampf zieht, ist er so jung, als wäre es noch einmal 1987.<br />

Dann gleitet er durch die Levels, als hätte er nie etwas<br />

anderes getan, und wir glauben ihm sogar, dass es so ist,<br />

drücken ein Auge zu.<br />

Rocker, Revolutionär …<br />

1987 nämlich war er ein Rocker so wie Mick<br />

Jagger, ein Revoluzzer so wie Wladimir<br />

Iljitsch Uljanow. Er mag zwar nicht<br />

Konzerthäuser gefüllt oder gar die Jugend<br />

emanzipiert haben, und auch<br />

der Sozialismus hat sich ganz ohne<br />

sein Zutun aus den Wirren der Geschichte<br />

erhoben. Aber damals hat<br />

er vielen Leuten gezeigt, wo die Reise<br />

hingehen wird, hat Seite an Seite<br />

mit seinem großen Vorbild Mario<br />

für ein besseres gameplay gekämpft<br />

und ist dabei an Orte vorgedrungen,<br />

die selbst Nintendos Klempner erst Jahre<br />

später entdecken sollte. Mario hat uns<br />

damals zwar den Levelfluss gebracht, hat<br />

uns aus den eng begrenzten Einzelbildschirmen<br />

herausgeführt, Mega Man aber hat als erster die<br />

Level als Ganzes verlassen. Jeder seiner Widersacher<br />

brachte seinen eigenen, frei anwählbaren Level<br />

mit sich. Der Spieler konnte die Reihenfolge, in der<br />

er gegen die Kampfroboter antreten wollte, selbst<br />

wählen; das mag heute banal klingen, aber ohne<br />

diese Neuerung hätte es weder »Grand Theft Auto«<br />

noch »Super Mario Bros. 3« gegeben.<br />

… und Tänzer<br />

Überhaupt sind es weniger die Levels,<br />

die die »Mega Man«-Spiele<br />

ausmachen als vielmehr die<br />

Roboterbosse. Jeder hat seinen<br />

eigenen Rhythmus, sei-<br />

ne Stärken und Schwächen. Sie kündigen sich stets durch<br />

eine Schleusentür an, dahinter die Schleuse; eine Aufforderung,<br />

sich zu sammeln, den Level zu vergessen und sich<br />

ganz auf den Kampf gegen den Boss zu konzentrieren.<br />

Mega Man wird in Japan Rock Man genannt; den Namen<br />

trägt er tatsächlich als Verweis auf den Musikstil, und vor<br />

allem an den Endgegnern zeigt sich warum. Denn der<br />

Kampf auf engstem Raum, auf einem Bildschirm, kann<br />

nichts anderes sein als ein Tanz: Das akribische Einprägen<br />

und flüssige Absolvieren klar definierter Schrittfolgen.<br />

Tanz und Musik sind tatsächlich die beiden Momente,<br />

welche die Spielreihe bestimmen. Die klassischen »Mega<br />

Man«-Tracks gehören zum Besten, was eine 8-Bit-Konsole<br />

je an Sound produziert hat, und auch heute noch tragen<br />

die Melodien auf dem DS im neuesten Spiel »Mega Man<br />

ZX« den Spieler wie selbstverständlich durch die nach<br />

wie vor liebevoll gestalteten Levels. In seinen besten Momenten,<br />

heute wie damals, ist Mega Man,<br />

genauso wie sein alter Kampfgefährte<br />

Mario, reine Bewegung, Flow; kein<br />

Bomber, sondern ein Tänzer.<br />

»Mega Man ZX« ist für den Nintendo DS erhältlich (Capcom)<br />

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white cubes text: eileen seifert<br />

Norbert Bisky: »Armageddon« (2007), Öl auf Leinwand, 280x400cm, Courtesy Galerie Crone, Berlin;<br />

Leo Koenig Inc., New York, © VG-Bild Kunst Bonn 2007<br />

»Kunst für alle« – so tönte es demokratisch im kunstolympischen<br />

Jahr 2007. Das öffentliche Interesse an Veranstaltungen<br />

wie documenta 12, Skulpturenprojekt Münster<br />

oder der Biennale in Venedig war groß und reflektierte<br />

ähnlich den Schlangen vor einschlägigen Schauen, dass<br />

die einst elitäre Hochkultur endlich wieder im Volke angekommen<br />

ist. Nachdem die Neue Nationalgalerie zuletzt<br />

Platz für die »Schönsten Franzosen« geschaffen hatte,<br />

wurden diese nun zurück zum Big Apple gesendet und<br />

wurde die eigene Sammlung neu arrangiert. Dazu gibt es<br />

eine Retrospektive des griechisch-italienischen Arte Povera-Begründers<br />

Jannis Kounellis zu sehen, der bereits seit<br />

den 1960er Jahren so genannte ›arme‹ Materialien in der<br />

Kunst verwendet und damit in einer Liga mit ehemaligen<br />

Kollegen wie Beuys spielt. Kounellis’ größter Coup war<br />

die Ausstellung lebendiger Pferde in einer blütenweißen<br />

Galerie – inklusive Stallgeruch. Ein durchaus ironisch-kritischer<br />

Angriff auf die glatte Kunstwelt. Im labyrinth<br />

– einem Irrgarten aus rund 160 Stahlelementen – zeigt<br />

Kounellis jetzt etwa 20 Arbeiten aus insgesamt 0 Jahren.<br />

Auf eine mindestens ebenso lange Zeit bezieht sich der<br />

Titel der neuen Ausstellung in den Kunstwerken: history<br />

Will repeat itself. Die künstlerische Variante<br />

des populären re-enactments – der historisch korrekten<br />

Inszenierung und Aufführung vergangener gesellschaftlicher<br />

Ereignisse – ist durch die Befragung der Gegenwart<br />

im Hinblick auf ihre Vergangenheit geprägt. Dabei setzen<br />

sich internationale Künstler kritisch mit einer medial<br />

präsentierten Geschichte auseinander, die wiederum<br />

auf die Medienbasiertheit unseres kollektiven Gedächtnisses<br />

verweist. Welch starke Bilder die Medien beim<br />

Betrachter hinterlassen, ist auch die Frage, die Norbert<br />

Bisky in seiner Malerei beleuchtet. Seine Gemälde voller<br />

Blondschöpfe und Blauäugigkeit verlinken sich mit propagandistischen<br />

Helden-Bildern deutscher Geschichte<br />

und zeitgenössischer Werbe-Ästhetik. Nur manches Mal<br />

wird ein strahlender Himmel von schwarzen Fliegern<br />

verdunkelt, die goldschnittige Jungenhaftigkeit durch<br />

Foto: Bernd Borchardt<br />

abgetrennte Häupter getrübt – Abgründe, die unter der<br />

kitschig-klischeehaften Oberfläche lauern. ich War’s<br />

nicht lautet das unschuldige Statement, unter dem Biskys<br />

aktuelle Bilder gemeinsam mit Arbeiten zu sehen sind,<br />

auf die sie sich beziehen (u.a. von Georg Baselitz, Walter<br />

Leistikow, Jim Dine). Mit der heutigen, schnelllebigen,<br />

durch Mobilität und Migration geprägten Zeit, in der die<br />

eigene Identität zum Zufluchtsort geworden ist, beschäftigt<br />

sich hingegen die Ausstellung neue heimat in der<br />

Berlinischen Galerie, eine interessante Zusammenschau<br />

von 29 in Berlin lebenden deutschen und internationalen<br />

Künstlern. Die Definitionen des Heimatbegriffs drehen<br />

sich um Lebensräume, Behausungen, Erinnerungen. Im<br />

Hamburger Bahnhof residiert – in Form seiner schier unerschöpflichen<br />

Sammlung – ja immer wieder Herr Flick.<br />

Diese Tage ist eine erste umfassende Ausstellung, zusammengestellt<br />

aus seiner Sammlung und Leihgaben, zum<br />

Künstler Roman Signer zu sehen. Signers Werke – Objekte,<br />

Zeichnungen, Fotografien, Super-8-Filme, Videos und eine<br />

Außenskulptur im Innenhof – geben Aufschluss über<br />

sein Schaffen seit den 1970er Jahren. Doch auch besinnt<br />

man sich des alten Museumsauftrags besonnen und zeigt<br />

daneben die nicht unwichtigen Neuerwerbungen zeitgenössischer<br />

Videokunst und Malerei. von bill viola bis<br />

aernout mik reicht das von der Arbeit »Refraction« des<br />

Niederländers Mik dominierte Spektrum. Zudem gibt es<br />

Filme von Jack Goldstein und der Künstlergruppe Die<br />

tödliche Doris sowie Gemälde von Dexter Dalwood, Eberhard<br />

Havekost, Raoul de Keyser und Chris Newman zu<br />

bestaunen.<br />

»Janis Kounellis: Labyrinth«, Neue<br />

Nationalgalerie, Berlin, bis 24.2.2008<br />

»History Will Repeat Itself – Strategien des Reenactment in der<br />

zeitgenössischen Kunst«, Kunstwerke, Berlin, bis 13.1.2008<br />

»Norbert Bisky – Ich war’s nicht«,<br />

Haus am Waldsee, Berlin, bis 13.1.2008<br />

»Neue Heimat – Berlin Contemporary«,<br />

Berlinische Galerie, bis 7.1.2008<br />

Nimm 2<br />

gilbert & george<br />

haben für die Kunst<br />

das Duo erschaffen. Ein<br />

fruchtbarer Entwurf,<br />

wie die diesjährige<br />

Retrospektive im<br />

Münchener Haus der<br />

Kunst verriet<br />

text: sebastian hinz<br />

foto: »george the cunt and gilbert<br />

the shit«, hatje & cantz, abb.6<br />

Don Quijote y Sancho Panza. Terence Hill e Bud Spencer.<br />

Paul Simon and Art Garfunkel. In Literatur, Film und<br />

Musik ist es ein bewährtes Konzept, eine Doppelspitze in<br />

die Welt zu schicken. Ungleiche Paare, zwei fremdelnde<br />

Charaktere und doch zwei Seiten derselben Medaille. Für<br />

die Bildende Kunst haben Gilbert Prousch und George<br />

Passmore diese Idee nutzbar gemacht und sich selbst als<br />

die Figuren Gilbert & George inszeniert, bis diese nicht<br />

mehr von den Künstlern Prousch & Passmore zu unterscheiden<br />

waren. Sie sind zu ›lebenden Skulpturen‹ geworden<br />

und halten das nach eigenen Aussagen für ihre<br />

Cyborgs der<br />

Globalisierung<br />

peter bialobrzeski zeigt in seinen<br />

Fotografien urbane Totenräume und<br />

verlorene Orte des Übergangs<br />

text: jens pacholsky fotos: peter bialobrzeski<br />

Anträge auf Bau- und Neustrukturierungsprojekte sind<br />

wie kleine Utopien. Sie erzählen von der Zusammenführung<br />

der Menschen, der Überbrückung architektonischer<br />

Gegensätze, vom Fortschritt und der Spiegelung des Technologiezeitalters.<br />

Modern möchten die Stadtverwalter ihre<br />

Reviere erscheinen lassen, glänzend und einladend. Orte<br />

des Lebens sollen sie sein, selbst wenn der tausendste Standardbau<br />

eines Konsum- oder Bürotempels, der äußerlich<br />

Individualität vortäuscht, in ein Neubaugebiet verpflanzt<br />

wird. Peter Bialobrzeski hat sich mit seiner alten Kamera<br />

in die Räume dieser Neuerschließungen begeben und gleichermaßen<br />

beeindruckende wie desillusionierende Bilder<br />

aus 28 Städten und 14 Ländern gefunden. Dabei ging es<br />

dem Fotografen und Dozenten an der Hochschule für<br />

Künste in Bremen weniger um die Architektur an sich.<br />

Vielmehr ihre (fehlende) Verbindung zur Umwelt, die<br />

größte Erfindung. Ob in knallbunten Pop-Art-Gebilden,<br />

kaleidoskopischen Prismen, roten Fotografien oder Kohlezeichnungen,<br />

seit ihrem ersten Zusammentreffen am 2 .<br />

September 1967 in der Skulpturenklasse der Kunsthochschule<br />

im englischen Oxford (»Es war Liebe auf den ersten<br />

Blick«), zieren sie die Mehrzahl ihrer Werke gemeinsam. So<br />

sind die Ausstellungsstücke nicht nur eine Beschäftigung<br />

mit der Gegenwart, mit Politik, Gesellschaft, Kunst, sondern<br />

ebenso eine Projektion der zwei beiden in der Zeit.<br />

Die Kunst von Gilbert & George ist auch die Geschichte<br />

von Gilbert & George.<br />

»Gilbert & George. Die große Ausstellung« fand<br />

Schaffung von globalen und globalisierten »Un-Orten«, ist<br />

es, die sich in seinen breitformatigen Aufnahmen offenbart<br />

– modernisierte Räume, die im Übergang verloren gingen.<br />

Ein goldener Shoppingpalast steht da vor zerfallenden<br />

Ziegelhütten, deren Wellblechdächer mit dem Debris der<br />

Stadt am Boden gehalten werden. Einsame Inseln der Industrie<br />

und des Kapitals, zuweilen mitten im Nichts, die<br />

gerade im Zwielicht der Dämmerung, nach Feierabend,<br />

zu entleerten Totenräumen transformieren und in den<br />

simplen Perspektiven des 46-Jährigen zu unbezwingbaren<br />

Cyborgs erstarren.<br />

»Lost in Transition« von Peter Bialobrzeski,<br />

Hatje Cantz, Ostfildern 2007, 128 S., € 39,80<br />

78 1 bilder<br />

bilder 1 79<br />

review


eview<br />

Chronik einer<br />

doppelten<br />

Vertreibung<br />

persepolis ist eine außergewöhnlich<br />

gelungene Verfilmung des gleichnamigen<br />

Comics von Marjane Satrapi<br />

text: patrick küppers illustration: prokino<br />

Ein Kind träumt eine Welt, die dem Traum eines Verrückten<br />

gleicht. Während ihr Onkel Anouche der achtjährigen<br />

Marjane die Geschichte seines Exils erzählt, sieht sie sein<br />

scharfes Profil durch in betörende Arabesken erstarrte<br />

Landschaften wandern. Die Reisen des Onkels sind der<br />

epische Weg eines Prinzen aus tausendundeiner Nacht.<br />

Er hat aber zur Enttäuschung Marjanes keine Prinzessin<br />

mitgebracht, und seine Hoffnungen nach dem Sturz des<br />

Schahs zerschlagen sich schnell. Auch die neuen, religiösen<br />

Machthaber sperren ihn ein, richten ihn sogar hin.<br />

Für die Zeichnerin Marjane Satrapi bedeutet »Persepolis«<br />

das Glück der Kindheit und ein großes, reiches Land, in<br />

Fehler im System<br />

ang lees »Gefahr und Begierde« stellt auf eindringliche Weise<br />

die Unberechenbarkeit des anarchischen Herzens dar<br />

text: vera hölscher foto: tobis film<br />

Kontrolle und Macht sind zwei der Dinge, nach denen der Mensch strebt. Doch selbst<br />

in Zeiten des elektronischen Fingerabdrucks und Google Earth bleibt ihm die Kontrolle<br />

über ein vitales Element verwehrt: das Herz. Der Unberechenbarkeit des Herzens<br />

widmet Regisseur Ang Lee sich auch in seinem neuen Film »Gefahr und Begierde« und<br />

legt den Schauplatz dieses leise agierenden Dramas in das von Japan besetzte China der<br />

1940er Jahre. Ebenso unfreiwillig wie die junge Studentin Wang Jiazhi (Tang Wei) in den<br />

Widerstand geraten ist, kann sie sich ihrer Gefühle für den Geheimdienstler Mr. Yi (Tony<br />

Leung Chiu Wai), welcher durch ihre Hilfe ermordet werden soll, nicht erwehren.<br />

Während beide nach und nach in einen Sog aus körperlicher Obsession, Leidenschaft,<br />

Liebe und Hass geraten, muss Jiazhi den inneren Konflikt zwischen auszuführendem<br />

Auftrag und Gefühlen austragen.<br />

Zur Darstellung der emotionalen Beziehung zwischen Wang Jiazhi und Mr. Yee bedient<br />

sich Lee weniger an Worten, es sind vielmehr kleine Gesten und Blicke, unter deren<br />

zurückhaltender, ruhiger Oberfläche sich die unterdrückte Leidenschaft, die innere<br />

Zerrissenheit und die Ambivalenz zwischen gegenseitigem Miss- und Vertrauen umso<br />

heftiger regen und in explosiven, atemberaubend intensiven und ehrlichen <strong>Sex</strong>szenen<br />

zum Ausbruch kommen. Verstärkt wird der Ausdruck widersprüchlicher Empfindungen<br />

noch durch die wunderschöne, ebenso wie die Charakterzeichnung dezente und unaufdringliche<br />

Szenerie des damaligen, von einer gespaltenen Gesellschaft geprägten China<br />

und die klassische, schwermütige Musik, und am Ende scheint einmal mehr klar, dass<br />

der Gedanke des freien Willens eine einzige Illusion ist.<br />

80 1 bilder<br />

»Gefahr und Begierde« von Ang Lee, seit 18.10.2007 im Kino (Tobis)<br />

dem sie aufwuchs. Beides versank vor den großen Augen<br />

der kleinen Marjane in einem Strudel von Blut, <strong>Gewalt</strong><br />

und Terror, und aus beidem wurde sie vertrieben. In zwei<br />

erfolgreichen Comicbänden hat Satrapi, die heute in Paris<br />

lebt, ihre Geschichte in eine Art phantastisch-expressionistischen<br />

Realismus gefasst. Gerafft und mit einer überarbeiteten<br />

Linienführung, liegt davon nun eine gelungene<br />

Filmfassung vor. Der Film, für den Satrapi mit Vincent<br />

Paronnaud zusammenarbeitete, entwickelt den unverkennbaren<br />

Stil der Comics zu einer eigenen Sprache weiter<br />

und bringt zugleich die Comicbilder zur vollen Entfaltung;<br />

einige Passagen zu Beginn des Films werden dadurch zu<br />

großen Momenten des Zeichentrick überhaupt. Es bleibt<br />

also am Ende der Triumph der Phantasie. Der unbedingte<br />

Widerstand dagegen, sein Träumen aufzugeben, ist die ästhetische<br />

Kraft des Comics und nun auch des Films.<br />

»Persepolis« von Marjane Satrapi & Vincent<br />

Paronnaud, seit 22.11.2007 im Kino (Prokino/Fox)<br />

Teile, verbinde,<br />

herrsche!<br />

Der Anime fullmetal alchemist<br />

beschreibt die aufgeteilte Welt als einen<br />

traurigen Ort voller unerlöster Figuren<br />

text: dan gorenstein illustration: panini video<br />

In einem Land, in dem es scheinbar nur zwei gesicherte<br />

Wissenschaften gibt – die Alchimie und die Kunst des Prothesenbaus<br />

– sind die Brüder Edward und Alphonse Eldric<br />

Staatsalchimisten: »Hunde des Militärs«, wie sie sich selbst<br />

nennen. Beide sind nach einem Experiment verkrüppelt:<br />

Edward hat eine Arm- und eine Beinprothese, Alphonse<br />

ist gar völlig körperlos, sein Bewusstsein alchimistisch an<br />

eine leere Ritterrüstung gebunden. Gemeinsam suchen<br />

diese seltsamen Existenzen ihre Tragödie rückgängig zu<br />

machen, das Kernproblem der Alchimie zu überwinden:<br />

das Gesetz des äquivalenten Tausches. Denn Alchimie<br />

betreiben heißt in erster Linie Opfer bringen. Um etwas<br />

zu bekommen, muss man etwas anderes aufgeben. Die<br />

einzige Möglichkeit, dieses Prinzip zu umgehen, ist der<br />

sagenumwobene Stein der Weisen. Und wie sich im Verlauf<br />

der Anime-Serie »Fullmetal Alchemist« herausstellt,<br />

ist auch der nur durch erhebliche (Menschen-)Opfer zu<br />

erlangen.<br />

Jedes Element der Serie lässt sich durch das Gesetz<br />

des äquivalenten Tausches beschreiben: Ed opfert seine<br />

Freiheit, um Zugang zu den vom Militär verwalteten Bibliotheken<br />

zu erhalten. Dennoch bleibt der Eindruck bestehen,<br />

dass jeder Tausch auch Verlust in sich trägt. Der<br />

Prozess fordert seinen Tribut; es wird eben nicht nahtlos<br />

das Eine in das Andere übersetzt, sondern es gibt Abnutzungserscheinungen.<br />

Die meisten Figuren, denen die Brüder<br />

begegnen, haben diese Einsicht schon längst hinter<br />

sich, sind allesamt seelisch und körperlich verstümmelt,<br />

jagten einst hehren Zielen nach, die längst zur Pragmatik<br />

oder Menschenverachtung verkommen sind. Die Teile<br />

sind eben doch weniger als ihre Summe.<br />

»Fullmetal Alchemist« erscheint fortlaufend<br />

auf 12 DVDs bei Panini Video<br />

A Crown of<br />

Frozen Tears<br />

Eine sensationelle Edition von<br />

»The Saddest Music in the World«<br />

würdigt das Werk des kanadischen<br />

Filmemachers guy maddin<br />

text: jochen werner foto: cinema surreal<br />

review<br />

Wie müsste sie wohl klingen, die traurigste Musik der<br />

Welt? Diese Frage nimmt die kanadische Brauereimogulin<br />

Lady Port-Huntly (»If you’re sad and like beer, I’m<br />

your lady!«) zum Anlass, einen Wettbewerb in Winnipeg,<br />

Kanada – der »Welthauptstadt der Sorgen« – auszurufen,<br />

der klären soll, welche Nation über das traurigste Liedgut<br />

verfügt. Vor diesem skurrilen Hintergrund kleidet Guy<br />

Maddin ein familiäres Fünfecksmelodram in die Mimikry<br />

eines Länderkampfes zwischen Kanada (»Red Maple Leaves«),<br />

den USA (Broadway!) und – Serbien. Der leidgeprüfte<br />

›Gavrilo The Great‹ nämlich tritt an, um das Leid der<br />

neun Millionen Gefallenen des auf serbischem Boden begonnenen<br />

Ersten Weltkriegs zu besingen ... Guy Maddin<br />

gehört seit 20 Jahren zu jenen bedeutenden Regisseuren<br />

des Weltkinos, deren Werk in Deutschland nahezu vollständig<br />

ignoriert wird. Mit einer ganz individuellen Handschrift<br />

versehen und mit Techniken und Stilmitteln des<br />

frühen (Stumm-)Films inszeniert, bersten seine Filme nur<br />

so vor visueller und narrativer Imaginationskraft – und<br />

lassen doch nie vergessen, dass sie im Grunde auf bizarre<br />

Weise autobiografische Tragödien sind, verschüttet unter<br />

dicken Schichten von Ironie und Selbstreferentialität. Mit<br />

»The Saddest Music in the World« erscheint nun die erste<br />

deutsche DVD eines Maddin-Films in einer sensationellen<br />

Edition, die zusätzlich vier Kurzfilme sowie mit »Cowards<br />

Bend the Knee« einen weiteren Langfilm des Regisseurs<br />

enthält. Eine kleine Werkschau und vielleicht die wichtigste<br />

DVD des Jahres.<br />

»The Saddest Music in the World« von Guy Maddin, seit<br />

2.11.2007 auf DVD (Cinema Surreal/b-ware!media)<br />

bilder 1 81


eview<br />

Das Buch zum Buch<br />

zum Spiel<br />

Mit einem Parforceritt durch die<br />

Philosophie des Gnothi Seauton<br />

verschaffen sich die gelben Springfielder<br />

nach Jahren der Verwurstung endlich<br />

Zutritt zum Olymp der erwähnenswerten<br />

Videospiele: die simpsons – das spiel<br />

text: dan gorenstein<br />

Jedes Zeitalter findet seine eigene Metaphorik, um die<br />

Welt zu beschreiben. Mal ist sie ein Buch, dann wieder ein<br />

Uhrwerk, und schließlich: ein Videospiel. Und trotzdem<br />

lässt es sich nicht wegdiskutieren: Das Buch prägt noch bis<br />

heute unsere Sicht auf die Welt, gliedert sie in Seiten, Abschnitte<br />

und Kapitel. So auch für Bart, der in seinem Spiel<br />

eben jenes, nämlich die Anleitung zum Simpsons-Game,<br />

aus dem Himmel vor die Füße geworfen bekommt. In den<br />

Epistemologien seiner Zeit geschult, schlägt er darin natürlich<br />

sofort seine Videospiel-Kräfte nach, an eine Einleitung<br />

scheint er nicht zu denken.<br />

Nach und nach erfahren alle Simpsons von ihren neuen<br />

Kräften und toben sich sofort in der ihnen zu Füßen liegenden<br />

Welt aus, bis sie mit einer neuen Kraft konfrontiert<br />

werden: dem Plot. Die Aliens Kang und Kodos besetzen<br />

Springfield, und weil mit großer Videospiel-Power große<br />

Verantwortung kommt, versuchen sich die Simpsons als<br />

Weltretter. Nur leider sind ihre Kräfte nicht stark genug,<br />

und also müssen sie ins Herz der Videospiele reisen, um<br />

den Cheating-Guide zu finden. Natürlich wirft dies Fragen<br />

auf, und so wird aus der Suche nach neuen Kräften<br />

die Suche nach demjenigen, der ihnen das angetan hat:<br />

dem Schöpfer, Matt Groening. Der aber denkt nicht daran,<br />

Rede und Antwort zu stehen; nein, er bombardiert die<br />

Simpsons mit Anwälten und »Futurama«-Charakteren.<br />

Und während Kang und Kodos weiterhin munter die Welt<br />

zerstören, bleibt den Simpsons keine andere Wahl, als sich<br />

mit dem Schöpfer Groenings kurzzuschließen: dem Weltenautor,<br />

-uhrmacher und -spieler, mit Gott.<br />

»Die Simpsons – Das Spiel«, für Nintendo DS,<br />

Nintendo Wii, PlayStation 2, PlayStation 3, Sony<br />

PSP und XBOX 360 erhältlich (Electronic Arts)<br />

Das Artefakt<br />

und die Spur<br />

Daedalic Entertainment treibt mit<br />

zwei neuen Veröffentlichungen die<br />

Renaissance des point-and-clickadventures<br />

voran<br />

text: bernd weintraub<br />

Der Blick, den wir auf die Welt werfen, bestimmt, was<br />

wir sehen. Bei Computerspielen ist es tatsächlich so, dass<br />

nur dieser Blick uns die virtuelle Welt sehen lässt. Denn<br />

ohne ihn, ohne das, was wir auf Monitoren oder Fernsehern<br />

zu sehen bekommen, findet die virtuelle Welt nicht<br />

statt. Momentan dominiert der immersive Blick, der Blick<br />

durch die Windschutzscheibe des Schädels, der gefälschte<br />

Blickausschnitt des Egoshooters. Ohne weitere Hilfsmittel<br />

kann sich die Spielwelt wohl kaum enger um den Spieler<br />

schließen. Es gibt aber auch noch eine andere Möglichkeit,<br />

den Spieler an seine virtuelle Umgebung zu fesseln: das<br />

Detail. Während Egoshooter davon leben, Raumveränderung<br />

und Bewegung in eins zu setzen, macht das Pointand-Click-Adventure<br />

das exakte Gegenteil; es etabliert<br />

einen unveränderlichen Raum, der zur Aufgabe wird und<br />

dadurch in das Bewusstsein des Spielers eindringt. Dieser<br />

wird zum Forensiker in einer Welt, die weniger dynamisch<br />

als vielmehr pittoresk ist. Die Spuren und Gegenstände<br />

werden aus ihrer Umgebung herausgelesen, in neue Umgebungen<br />

imaginiert, zweckentfremdet und vor allem<br />

kommentiert wie in »Ankh – Kampf der Götter«, denn das<br />

Point-and-Click-Adventure war schon immer selbstrefentiell<br />

und auf eigene Kosten komisch. Mit »Sinking Island<br />

– Mord im Paradies« erreicht dieses ein wenig in die Jahre<br />

gekommene Genre jedoch eine Ernsthaftigkeit und Spannung,<br />

die sowohl in der Intensität als auch inhaltlich mit<br />

den großen Egoshootern mithalten kann, und auf seine<br />

Art ist auch »Sinking Island« selbstreferentiell, denn es<br />

legt den Grundmechanismus seines Genres offen: die Polizeiarbeit.<br />

»Ankh – Kampf der<br />

Götter«, für PC erhältlich<br />

(Daedalic/Xider/Deck 13)<br />

»Sinking Island – Mord im<br />

Paradies«, für PC erhältlich<br />

(Daedalic/Xider/White Birds)<br />

Bislang galten Videospiele als Zeitverschwendung. Ein lukratives<br />

Geschäft für Händler und Hersteller, denn es gab<br />

ja den Markt und die entsprechenden Abnehmer, aber<br />

eine Nullnummer für den Endverbraucher. Die Spiele wurden<br />

gespielt, vom Standpunkt der Produktivität jedoch hat<br />

man dabei nur verloren. Deshalb waren Videospiele bis<br />

jetzt eher Kinderkram; sobald das Individuum sich vollständig<br />

in die Gesellschaft eingegliedert hatte, war fürs Spielen<br />

keine Zeit mehr. Gleichzeitig brachte die Heimcomputerrevolution<br />

der 1980er Jahre eine Reihe von Erkenntnissen<br />

mit sich, die von den Herstellern als Repräsentanten der<br />

produktivitätsorientierten Gesellschaft fruchtbar gemacht<br />

werden konnten: Inhalte werden schneller und exklusiver<br />

aufgenommen, wenn sie über einen Bildschirm vermittelt<br />

werden (das wusste man schon von der Einführung des Kinos<br />

bzw. des Fernsehens), und durch die Interaktion des<br />

Konsumenten mit den Inhalten wird die Verbindung gar<br />

noch weiter intensiviert. Je intuitiver das Interface, desto<br />

größer die Bereitschaft, sich mit den Inhalten auseinander<br />

zu setzen. Die Unzufriedenheit mit der unproduktiven<br />

Nutzung von Computerspielen und den Möglichkeiten,<br />

die sie auf der anderen Seite boten, mündete zunächst<br />

in einen Haufen Lernsoftware für Kinder. Wenn Kinder<br />

schon Computerspiele spielen mussten, dann konnten sie<br />

doch wenigstens etwas dabei lernen, so die Idee. Das wahre<br />

Potential aber lag im Umkehrschluss: Wenn man schon etwas<br />

lernen muss, warum es nicht spielerisch tun? Nintendo<br />

hat 200 diese Idee konsequent mit dr. kaWashimas<br />

gehirn-jogging – Wie fit ist ihr gehirn? marktfähig<br />

gemacht. Ende 2004 bereits ist der Nintendo DS in<br />

Japan erschienen, die erste groß angelegte Konsole mit<br />

einem Touchscreen; und ohne dieses Eingabeschema, diese<br />

Schnittstelle, wäre »Gehirn-Jogging« niemals zu einem<br />

derart großen Erfolg geworden. Das Konzept ist einfach<br />

perfekt: vom promovierten Wissenschaftler im Titel, der<br />

für die nötige Seriosität sorgt, über den an Intelligenztests<br />

erinnernden sparsamen Umgang mit Farben bis zum<br />

Versprechen, das Training nehme nur ca. zehn Minuten<br />

in Anspruch, fördere aber bei regelmäßigem Absolvieren<br />

text: dan gorenstein schnittstellen<br />

die geistige Flexibilität. Es stimmt einfach alles: Einfache<br />

Kopfrechenaufgaben, Leseübungen und natürlich Sudoku.<br />

Die einfachen logikorientierten Zahlenrätsel sind nicht<br />

zufällig nahezu zeitgleich von Japan nach Europa herübergeschwappt.<br />

Mit dem Erfolg kamen die Nachahmer<br />

und Nachfolger. So das jüngst erschienene big brain<br />

academy für die Wii. Das prominenteste Feature dieser<br />

wesentlich verspielteren Reihe, die ihr Debüt ebenfalls<br />

auf dem DS gab, ist ein als »Gehirn-Sprint« bezeichneter<br />

Modus. Hier treten die Spieler nicht mehr gegen die Zeit,<br />

also gegen sich selbst, sondern gegen bis zu drei andere<br />

Spieler an, was das Ganze näher an Party-Games heranrückt.<br />

Für den DS ist nun auch ein zweiter Teil zum Originalspiel,<br />

dr. kaWashima: mehr gehirn-jogging,<br />

erschienen: andere Trainingsaufgaben, optimierte Handschriftabfrage,<br />

neue Sudoku. Der notwendige Nachfolger<br />

für all diejenigen, die seit fast zwei Jahren täglich mit ihrem<br />

Gehirn um den Block laufen. Eindeutiger im Hinblick auf<br />

die Ergebnisse sind das Programm english training<br />

– spielend englisch lernen sowie der Nachfolger<br />

practise english! meistern sie typische alltagssituationen.<br />

Mit den für »Gehirn-Jogging« entwickelten<br />

Methoden werden spielend Aussprache und<br />

Vokabelfülle verbessert. Dieses Programm ist nun eindeutig<br />

an ein erwachsenes Publikum gerichtet, denn man lernt<br />

die Sprache nicht neu, man entrostet sie. Jüngster Zuwachs<br />

in der von Nintendo als »Touch! Generations« bezeichneten<br />

Spielefamilie ist augen-training – trainieren und<br />

entspannen sie ihre augen. Wie der Name sagt,<br />

handelt es sich hierbei um ein Programm zur Schulung der<br />

visuellen Auffassungsgabe – ein extrem wichtiges Training<br />

für professionelle Computerspieler.<br />

»Augen-Training – Trainieren und entspannen<br />

Sie ihre Augen« (Nintendo DS)<br />

»Big Brain Academy« (Nintendo DS, Nintendo Wii)<br />

»Dr. Kawashimas Gehirn-Jogging – Wie fit ist Ihr Gehirn?« (Nintendo DS)<br />

»Dr. Kawashima: Mehr Gehirn-Jogging« (Nintendo DS)<br />

»English Training – Spielend Englisch lernen« (Nintendo DS)<br />

»Practise English! Meistern Sie typische Alltagssituationen« (Nintendo DS)<br />

82 1 bilder<br />

bilder 1 83


das goon® abo + prämie*<br />

Sun Electric<br />

Lost + Found:<br />

1998 – 2000<br />

cd | shitkatapult<br />

A Whisper<br />

In The Noise<br />

Dry Land<br />

cd | exile on<br />

mainstream<br />

Frank<br />

Bretschneider<br />

Rhythm<br />

cd | raster noton<br />

Richie Hawtin<br />

Concept 1 /<br />

Variations<br />

2cd | minus<br />

V.A.<br />

Space &<br />

Time<br />

cd | hotflush<br />

ADAM OLSCHEWSKI<br />

Ewa<br />

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ROGNER & BERNHARD<br />

Bernd M. Scherer<br />

und Detlef Diederichsen<br />

(hrsg.)<br />

Das vermessene<br />

Paradies. Positionen<br />

zu New York<br />

sachbuch | verlag<br />

theater der zeit<br />

Adam<br />

Olschweski<br />

Ewa<br />

roman | rogner &<br />

bernhard<br />

Roman Simić<br />

In was wir uns<br />

verlieben<br />

erzählungen + cd |<br />

voland & quist<br />

<strong>Chuck</strong> Palahniuk<br />

Das Kainsmal<br />

roman | manhattan<br />

verlag / randomhouse<br />

Niclas Östlind,<br />

Louise Fogelström<br />

(hrsg.)<br />

Fiction Is No<br />

Joke<br />

bildband | hatje cantz<br />

zuzahlung €<br />

Jiro Taniguchi<br />

Gipfel der<br />

Götter 1 – Kamigami<br />

no<br />

itadaki<br />

comic | shodoku /<br />

schreiber & leser<br />

zuzahlung €<br />

Guy Maddin<br />

The Saddest<br />

Music In The<br />

World<br />

dvd (amaray-version)<br />

| cinema surreal<br />

/ b-ware!media<br />

Tinto Brass<br />

Yankee<br />

dvd | koch media<br />

home entertainment<br />

magazin für kulturtheorie<br />

no.2 1 winter 2007<br />

text: zuzanna jakubowski illustrationen: anna rosa stohldreier (www.rosadesign.de)<br />

»The best that has been thought and<br />

tellektuelles Interesse an der vermeintlichen<br />

said in the world.« So stellte Mathew<br />

low culture. Nicht zufällig eröffnet ein Inter-<br />

Arnold –Verteidiger der binären<br />

view mit dem britischen Germanisten An-<br />

high culture/low culture Opposithony<br />

Waine anlässlich seiner aktuellen<br />

Die goon® kommt zu Dir nach<br />

Hause in deinen Briefkasten. Nur für<br />

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wegnehmen, und dazu gibt’s auch<br />

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für 20 € (Deutschland),<br />

32 € (Österreich/Schweiz)<br />

Auch als Geschenkabo zu haben!<br />

tion des vorletzten Jahrhunderts<br />

– die haftende Definition von<br />

Kultur auf. Der Titel seines Werks<br />

»Culture and Anarchy« bringt seine<br />

kanonisierte Position auf den<br />

Punkt: Anarchie, das ist die Popu-<br />

Veröffentlichung zu Literatur und Pop in<br />

Deutschland diese zweite Ausgabe »Zeichen«<br />

und verortet die historischen und<br />

aktuellen Geschmackskriege um high<br />

und low, Kitsch und Kunst auch auf dem<br />

Kontinent. Jenseits von Feuilleton und<br />

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lärkultur. Raymond Williams for-<br />

Fanzine besteht erneut das Unterfangen,<br />

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ihnen ein in-<br />

zeichen 1 8


From Gutter to Kitsch. Von Alltag und Pop<br />

Ein Interview mit dem britischen Germanisten anthony Waine anlässlich seiner<br />

aktuellen Veröffentlichung zu Literatur und Pop in Deutschland<br />

text, interview: mathias penzel<br />

»Theorien der Populärkultur«, »Populäre Kultur«, ja, sogar<br />

»Kulturschutt« ist nun auch auf den Schreibtischen<br />

hiesiger Wissenschaftler angekommen, wie Sebastian<br />

Hinz in der letzten Ausgabe des goon Magazins festgestellt<br />

hat – und sich sodann wunderte, wie konfus Gegenstand<br />

und Termini verhandelt werden. Wie Pop hierzulande das<br />

Licht der Welt erblickte – beginnend mit ersten Befruchtungen<br />

bis hin zu den Komplikationen der Geburt – erläutert<br />

nun das Werk eines Engländers. Anthony Waines<br />

»Changing Cultural Tastes« zeigt auf, weshalb hierzulande<br />

Intelligenzija und ›der kleine Mann‹ immer wieder aneinander<br />

gerieten. Es geht um das Bildungsbürgertum auf<br />

der einen Seite, auf der anderen um Volk, Kitsch und Pop.<br />

Es geht um Kultur und Ideologie, um Eliten und Demimonde,<br />

um Josef von Sternberg und Jelinek, Brecht und<br />

Brinkmann, Erwin Piscator und Hans Fallada. Zu seinem<br />

äußerst beeindruckenden Buch stand Anthony Waine Rede<br />

und Antwort.<br />

Es ist ja noch nachvollziehbar, wenn sich ein Germanist der<br />

Lancaster University mit Martin Walser, Bertolt Brecht und<br />

Anna Seghers beschäftigt – wie kommt er aber dazu, auf<br />

240 Seiten darauf zu pochen, die Deutschen hätten ihren<br />

eigenen Weg ins Pop-Zeitalter gefunden?<br />

Zur Entstehung des Buches und zum persönlichen Ansatz:<br />

Ich stamme aus der englischen East Midlands-Arbeiterklasse.<br />

Als Kind, d.h. in den Nachkriegsjahren bis in die<br />

frühen 60er Jahre hinein, haben mich meine Eltern in eine<br />

bunte, bodenständige und vor allem solidarische und<br />

Wärme stiftende Fabrikarbeiterkultur eingeführt, und ich<br />

nahm mit Freude daran teil. Hinzu kommt die Tatsache,<br />

dass meine Mutter in den Bergwerkerdörfern der nordostenglischen<br />

Grafschaft Durham aufgewachsen ist, und<br />

wir fuhren in den Schulferien zu dieser zweiten Heimat<br />

im Norden, die ebenfalls eine sehr stark integrierende,<br />

kommunale Populärkultur für die Freizeitgestaltung der<br />

Bergwerkerfamilien angeboten hat. Hier habe ich wieder<br />

eine ganz andere Lebensweise einer weiteren Schicht der<br />

Arbeiterklasse kennen und schätzen gelernt. Diese konkreten<br />

Erlebnisse haben meine Vorstellung von the people<br />

und deren culture, d.h. way of life, für immer mitgeprägt.<br />

Was bedeutet das für Dein Schreiben?<br />

Für das Buch bedeutet das: Ich gehe nicht von Theorien<br />

aus. Sie interessieren mich kaum. Ich bleibe so pragmatisch<br />

wie möglich. Doch mein ursprüngliches Interesse<br />

an Deutschland bezog sich nicht gleich auf deren ›popular<br />

culture‹. Es begann mit dem Studium der klassischen<br />

deutschen Literatur – 1964 in Newcastle. Während ich<br />

Goethe, Eichendorff und Hebbel las, konnte ich – selbst-<br />

verständlich – miterleben, wie die englische Pop-Musik<br />

entstand. Die britische Pop-Revolution lief ja schon auf<br />

vollen Touren. Einer meiner Kommilitonen war beispielsweise<br />

der damalige Fine Art-Student Bryan Ferry,<br />

der später mit Roxy Music, dann solo wichtige Akzente<br />

setzte. 1966 kam ich dann für ein Jahr nach Deutschland<br />

ins schläfrige Ammerland zwischen Oldenburg und Leer.<br />

Hier erlebte ich so eine Art Pop-Kolonialisierung des<br />

norddeutschen Jugendbewusstseins. Dieses Phänomen<br />

verfolgte ich noch intensiver als Lektor an der Universität<br />

Hamburg von 1968 bis 1970. Hier verwebte sich populäre<br />

Kultur, versinnbildlicht durch die Beatles und den Star<br />

Club, mit der Politisierung der die Welt auf den Kopf stellenden<br />

Studentenbewegung.<br />

Aus all diesen sozialen, politischen und persönlichen<br />

Erfahrungen schöpft mein Buch. Es ist der in meinem<br />

Kopf permanent ablaufende Dialog zwischen Großbritannien<br />

und Deutschland, auch zwischen dem intellektuell<br />

Erlernten und dem sinnlich Reizbaren, der mich mit der<br />

Masse der gewöhnlichen Menschen verbindet, zu der ich<br />

gehöre.<br />

Der erste Teil des Titels Deines neuen Buches »Changing<br />

Cultural Tastes« kann auf zweierlei Weise verstanden<br />

werden: ›Changing‹ als Gerundium, als substantiviertes<br />

Verb, das den bzw. die Wechsel kultureller Geschmäcker<br />

betrifft, aber auch als Aktionswort.<br />

Genau. Das soll auf zweierlei Weise verstanden werden.<br />

Ein bisschen hochtrabend ausgedrückt, will ich auf die Dialektik<br />

des Kulturprozesses hinweisen. Schriftsteller, Theaterproduzenten,<br />

Künstler, Filmemacher spiegeln nicht<br />

nur die gesellschaftliche Wirklichkeit wider, sondern sie<br />

produzieren neue Realität und helfen dem Individuum, an<br />

dem Wandel der Geschmäcker mitzuarbeiten. Noch lieber<br />

als ›Wechsel‹ würde ich das Wort ›Wandel‹ verwenden, es<br />

klingt durchdringender und auch evolutionärer.<br />

»Changing Cultural Tastes« dokumentiert die<br />

Grabenkämpfe zwischen ernster, anspruchsvoller<br />

Leitkultur und dem als trivial bezeichneten Gossenkind,<br />

dem Populären.<br />

Mir gefällt dein Ausdruck ›Grabenkämpfe‹, denn erst als<br />

das Manuskript fertig war, ist mir klar geworden, wie über<br />

Jahrhunderte hinweg regelrechte Schlachten in der Arena<br />

der Kultur ausgetragen wurden, und die Hauptwaffe der<br />

Kulturbesitzenden war Geschmack. Man könnte fast von<br />

Geschmackskriegen in den europäischen Gesellschaften<br />

seit dem Mittelalter sprechen. In meinem Land sprach<br />

ein Matthew Arnold von dem Kampf der culture gegen<br />

die anarchy. In Deutschland wurde diese Schlacht seit der<br />

Mitte des 18. Jahrhunderts besonders bitter und aggressiv<br />

geführt, insbesondere von dem aufsteigenden Bürgertum.<br />

Eigentlich aus politischer Ohnmacht heraus hat sich das<br />

Bürgertum gegenüber dem dekadenten Adel ganz oben<br />

und dem geschmacklosen Pöbel ganz unten zu behaupten<br />

versucht. Seinen einmaligen Status festigte es durch Sprache,<br />

Bildung und Geschmack.<br />

Gerade bei standesbewussten Gesellschaften – wie der<br />

französischen oder auch der englischen – erwartet man<br />

solche Trennlinien.<br />

Stimmt. Es ist, um einen englischen Ausdruck zu gebrauchen,<br />

purer Snobismus. Aber in welch anderem Land, in<br />

welch anderer Sprache außer Deutsch, gibt es die so tolle<br />

und totalitäre Demarkation wie in dem meines Erachtens<br />

bewusst alliterativen Wortpaar ›Kunst‹ und ›Kitsch‹?<br />

Kitsch ist so einmalig als ein Stück Kriegspropaganda gedacht,<br />

dass es in jede andere Sprache der Welt vollkommen<br />

unverändert eingeführt worden ist.<br />

Das klingt fast so, als wären diese Reinheitsgebote für<br />

Kultur eine Grundlage für die Ideen von reinrassigen<br />

Menschen, entarteter Kunst ...<br />

Ganz so ideologisch anti-deutsch würde ich das nicht<br />

sehen. Es hat vielmehr mit Klasse, Status und Diskriminierung<br />

zu tun. Durch meine philologischen<br />

Recherchen für das Buch entdeckte ich, dass das<br />

Schlüsselwort ›Geschmack‹ bis ins 18. Jahrhundert<br />

auf zweierlei Weise verwendet wurde: für den über<br />

den Mund und den, der über die Nase wahrnehmbar<br />

war. In gewissen süddeutschen Dialekten<br />

ist dieser zweite Sinn von ›schmecken‹ noch gebräuchlich.<br />

Häufig wurde das nasale Schmecken<br />

für etwas Unangenehmes verwendet.<br />

Die von dir so bezeichneten Reinheitsgebote<br />

für Kultur lassen sich nun sehr schön an<br />

dem Wort ›Kitsch‹ illustrieren. Kein Mensch<br />

weiß, was der eigentliche Ursprung von<br />

›Kitsch‹ ist. Da es in einigen Dialekten das Wort<br />

›Kitsche‹ gegeben hat, als Bezeichnung für einen<br />

Stock, mit dem man zum Beispiel Kot von<br />

der Straße entfernt, vermute ich, dass die Prägung<br />

von ›Kitsch‹ um 1880 auf übel riechenden<br />

Straßendreck anspielen sollte. Kitsch ›schmeckt‹<br />

schlecht. Kunst entspricht dem Reinheitsgebot, während<br />

Kitsch ... na ja ... Scheiße ist. Übrigens haben 40<br />

Jahre später die guten Dadaisten (Mathew Arnolds<br />

Anarchisten!) den Spieß umgedreht. Einer ihrer Slogans<br />

hieß lapidar: Kunst ist Scheiße.<br />

In der Rubrik Das Dispositiv hat Sebastian Hinz<br />

in einer der letzten goon Ausgaben die Verwirrung<br />

beschrieben, die aufgrund der Begriffsvielfalt im<br />

deutschen Diskurs entsteht, wenn es um die Übersetzung<br />

des englischen Konzepts von »popular culture« geht. Was ist<br />

Deine Position zu dieser Problematik?<br />

Das ganze erste Kapitel meines Buches setzt sich mit der<br />

Geschichte der Kultursprache in Deutschland gewissermaßen<br />

›von außen betrachtet‹ auseinander. Es geht von<br />

dem Begriff ›Volk‹ aus, über ›Kitsch‹ bis hin zu ›Pop‹. Das<br />

Buch endet mit dem Versuch, zwischen dem volkskund-<br />

lichen Begriff ›Alltagskultur‹ und dem englischen ›Popular<br />

Culture‹ zu unterscheiden – ohne für oder gegen das Eine<br />

oder Andere zu argumentieren. Deutschlands Weg in die<br />

moderne Kultur ist anders verlaufen als unser anglo-amerikanischer<br />

Weg, und das schöne anglo-amerikanische<br />

Modell, so sehr ich es persönlich mag, darf für mich nicht<br />

als Maßstab gelten. Zumal die Begriffsvielfalt in Deutschland,<br />

wie ich in meinem Buch zeige, sehr stark historisch<br />

begründet ist, so dass sie auch in Zukunft weiterhin Probleme<br />

aufwerfen wird.<br />

In diesem Zusammenhang möchte ich aber betonen,<br />

dass mein Buch sich nicht auf das Phänomen ›Pop‹ konzentriert.<br />

Pop culture ist zwar ein Teil von popular culture<br />

und wird als solches auch erwähnt; das Buch untersucht<br />

jedoch das Gesamtbild von popular culture, die sich in<br />

einem fortlaufenden Entwicklungsprozess seit dem Beginn<br />

der Menschheit befindet. Insofern betrachtet mein<br />

Buch popular culture von einem anthropologischen wie<br />

auch von einem sozialhistorischen Blickwinkel aus.<br />

»Changing Cultural Tastes. Writers and the Popular in<br />

Modern Germany« von Anthony Waine, Berghahn<br />

Books, New York, 2007, 240 S., $ 80,00 / £47,00<br />

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Mensch essen Seele auf<br />

Die Antwort von Anime und Wissenschaft<br />

auf das Zeitalter globaler selbstzerstörung<br />

text: sabine lenore müller<br />

»Im Gegensatz zum buddhistischen Kulturkreis ist Tierethik<br />

heute d e r blinde Fleck in der abendländischen Theologie-<br />

und Philosophiegeschichte.«<br />

franz alt<br />

Anima, die Seele, die Kraft, die die leblose Materie bewegt.<br />

Der winzige Funken Pneuma, auf den wir so stolz sind,<br />

den wir in diverse Jenseitsszenarien zu retten bestrebt<br />

oder den wir wenigstens näher kennen zu lernen gewillt<br />

sind. Anima, nach C. G. Jung die innere Persönlichkeit,<br />

der »Archetyp des Lebens […] von Urzeiten herkommende<br />

und dem lebenden System eingegrabene Erbmasse«. Schon<br />

Aristoteles sieht ›Seele‹ als Ursache des Lebens und der<br />

Wahrnehmung, als treibendes Prinzip aller Lebewesen<br />

– Pflanzen, Tiere, Menschen. Allerdings unternimmt er<br />

Klassifizierungen und beschreibt unterschiedliche Anteile<br />

an »Seelenvermögen«. Demzufolge besitzen Pflanzen<br />

nur ein vegetatives Vermögen, Tiere darüber hinaus die<br />

Fähigkeit zu Wahrnehmung und Emotion, der Mensch<br />

allein aber Vernunft, basierend auf phantasia, der Kraft<br />

zur Durchdringung der Wahrnehmungseindrücke, der<br />

Fähigkeit zu kreativer Vorstellung, und orexis, dem Strebevermögen.<br />

Diese idealistische Vorstellung geht leider<br />

nicht auf: Das Strebevermögen hat dermaßen überhand<br />

genommen, dass die Vorstellungskraft darüber auf der<br />

Strecke geblieben ist. Die Zerstörung der natürlichen<br />

Ressourcen des Planeten, das Anheizen des Klimas durch<br />

exzessiven Kohlendioxidausstoß ist nicht vernünftig! Der<br />

Verlust der aktiven Vorstellungskraft hat zu einem Verlust<br />

der Vernunft und des Mitgefühls geführt. Es ist der Verstand,<br />

der sich von der Erkenntnis seiner Eingebundenheit<br />

und Verbrüderung mit allen Lebensformen entfernt<br />

hat, der so zur Superwaffe wird, die in der Lage ist, alles<br />

was lebt und auch sich selbst auszulöschen. Diesen Verstand<br />

zu re-integrieren, die Bombe zu entschärfen und<br />

Ideen für ein alternatives Weiterleben zu entwickeln, ist<br />

Ziel der relativ jungen geisteswissenschaftlichen Schule<br />

des Ecocriticism, die nicht nur den Zusammenhang<br />

zwischen »Kunstwerken und der Umwelt« (Glotfelty) in<br />

Augenschein zu nehmen bestrebt ist, sondern diesen Zusammenhang<br />

auch auf seine »ökologische Vernünftigkeit«<br />

(Buell) befragen und letzten Endes einen »Wandel in der<br />

Wahrnehmung und im menschlichen Handeln« (Etok) bewirken<br />

will. Essentiell dabei ist, dass die Position des Wissenschaftlers<br />

auch neu bestimmt wird und nicht mehr als<br />

eine dem betrachteten Gegenstand überlegene, sondern<br />

eine spezifisch mit der Materie verwobene gedacht wird.<br />

Auch in der deutschen Wissenschaft sind diese Gedanken<br />

angekommen.<br />

Ökologische Ästhetik<br />

So will zum Beispiel Lars Hannings »Ökologische Ästhetik.<br />

Theoretische Kunstbetrachtung aus materialistisch-konstruktivistischer<br />

Sicht« einen »integrativen Naturalismus«<br />

entwerfen, der es ermöglicht, dass derjenige, welcher<br />

sich mit Naturwissenschaft, Natur und Kunst beschäftigt,<br />

nicht mit dem betrachteten Gegenstand jedes Mal die<br />

»Kosmologie oder die Wissenschaftstheorie wechseln muss«.<br />

Dass jede Perspektive konstruiert und damit arbiträr ist,<br />

allerdings der in die Welt eingebundenen Wahrnehmung<br />

als objektiv erscheint, führt Hanning zu der Überlegung,<br />

dass, wenn der Mensch sich über die komplexen Perspektiven<br />

und »kulturell-ästhetischen Situationen« ein Bild<br />

machen will, er am Besten damit beginnt, sich auf seine<br />

Eingebundenheit in das »Supersystem Natur zu besinnen«.<br />

Die Wiederentdeckung der Seele im Sinne der Anima, als<br />

treibende Lebenskraft, die Menschen, Tiere, Pflanzen glei-<br />

Sie sind immer in Feierlaune, etwas<br />

dümmlich, aber im Rudel sehr<br />

mutig – kurz: sehr menschlich.<br />

chermaßen bewegt und in dieser Bewegung verbindet, ist<br />

ein tief verwurzeltes menschliches Begehren. Der Schmerz<br />

über die imaginäre Entfremdung und Isolation kann gerade<br />

im urbanen und medialen Kontext fortschreitender<br />

Globalisierung oft nur über den Konsum von ›Natur‹ in<br />

Form von Parks, Filmen, Zoos und dem Einverleiben von<br />

Fleisch überwunden werden. Darin aber vertieft sich die<br />

Kluft: Der Verlust von Seele kann überhaupt nur dann<br />

überwunden werden, wenn die Position der Überlegenheit<br />

in Frage gestellt wird. Randy Malamud, der sich mit<br />

Zoos und der Kontemplation von Tieren befasst, fragt sich<br />

daher, ob unsere Erlösung nicht vielleicht in der Unwissenheit<br />

liegt, denn es sei denkbar, dass eine Verbindung<br />

besteht zwischen der Unwissenheit im Sinne Francis Bacons<br />

und der Animalität. Wenn sich Kunst kontemplativ<br />

mit Tieren befasst, so werde immer das betrachtet, »was<br />

der Mensch nicht ist« – daher könnte die Beschäftigung<br />

mit Tieren und ihren Repräsentationen uns Wege aus der<br />

intellektuellen Entfremdung zeigen, die die globale ökologische<br />

Krise verursacht.<br />

»Marderhunde, Marderhunde, wollt ihr etwas spielen?«<br />

Als ein gutes Beispiel dafür erweist sich ein auf einer Erzählung<br />

von Kenji Miyazawa basierender Anime. Die Idee<br />

zu diesem Film hatte Hayao Miyazaki, der durch seine<br />

Filme immer wieder daran erinnert, dass sich Anime von<br />

animare herleitet – zum Leben erwecken! Und die Filme<br />

des Studio Ghibli erwecken zuerst die phantasia, die<br />

Vorstellungskraft für die großen Zusammenhänge des<br />

Schuldigwerdens an der Natur und die Notwendigkeit<br />

der demütigen Abbitte des Menschen, die niemals eine<br />

qualvolle Bußübung, sondern ein glückliches Eintauchen<br />

in den harmonischen Urzustand ist. Die Protagonisten<br />

von Isao Takahatas »Pom Poko« (1994) sehen aus wie<br />

eine Kreuzung aus Waschbär und Schakal, heißen Marderhunde<br />

und sind das Neozoon in deutschen Wäldern<br />

schlechthin. Seit ein gieriger Pelzhändler versuchte, sie<br />

in der Ukraine anzusiedeln, hat sich ihr Lebensraum bis<br />

nach Finnland und nunmehr auch bis westlich der Elbe<br />

ausgebreitet. Sie fressen alles, sehen aus wie Muffs auf vier<br />

Beinen, knurren und haben Ganovengesichter, soweit das<br />

westliche Wissen über unsere neuen Mitbewohner. In Japan<br />

allerdings weiß man aus vielen Jahrhunderten intensiven,<br />

weil räumlich gedrängten Zusammenlebens einiges<br />

mehr: Tanuki sind fähig, sich in jede denkbare Form zu<br />

verwandeln und gehen nur dann auf vier Beinen, wenn<br />

Menschen in der Nähe sind. Sie sind immer in Feierlaune,<br />

etwas dümmlich, aber im Rudel sehr mutig – kurz: sehr<br />

menschlich. Zur Handlung: In den späten 1960er Jahren<br />

rotten sich Marderhundkampfgruppen zusammen, um<br />

den Bau der Vorortsiedlung Tama New Town bei Tokyo<br />

zu verhindern. In der Erkenntnis, dass der Mensch ihr<br />

eigentlicher Feind ist, überwinden die Anführer der verschiedenen<br />

Gruppen ihre Zwistigkeiten und beschließen<br />

den ganz großen Kampf: Dazu muss zunächst die vergessene<br />

Kunst der Verwandlung wiedererlernt werden. Als<br />

Menschen getarnt, mischen sich die Tanuki unter die<br />

Bevölkerung und sorgen für Unruhen und Störung der<br />

Baumaßnahmen. Mit Hilfe der Marderhundoberpriester<br />

fokussieren sie ihre magischen Kräfte so weit, dass sie eine<br />

Geisterparade zuwege bringen, die allerdings als Werbegag<br />

eines Vergnügungsparks von den Medien entschärft wird.<br />

Aller Widerstand schlägt fehl und die Marderhunde teilen<br />

sich in zwei Gruppen: Die einen leben als Menschen weiter,<br />

die anderen, die sich nicht verwandeln können oder wollen,<br />

bleiben Marderhund. Am Ende des Films stößt der als<br />

Mensch lebende Karriere-Tanuki Shokichi zufällig auf eine<br />

Gruppe alter pelziger Freunde, die sich auf einer Lichtung<br />

zum Feiern treffen. Schnell sind Aktenkoffer und Schlips<br />

fortgeworfen und ein Freudenfest wird gefeiert.<br />

Vielleicht war die Menschwerdung letztendlich keine<br />

gute Idee? Zurück in den Wald, mal wieder ausgelassen<br />

feiern? Wer ähnliche Fragen und Symptome an sich entdeckt,<br />

sollte »Pom Poko« sehen, damit die Antwort auf<br />

obige Frage nicht lautet: »Wir können nicht, wir können<br />

nicht, wir lernen noch!«<br />

»Ökologische Ästhetik« von<br />

Lars Hanning, Königshausen<br />

& Neumann, Würzburg<br />

2007, 422 S., € 49,80<br />

»Pom Poko« von Isao<br />

Takahata, seit 11.06. auf DVD<br />

erhältlich (ufa/Universum)<br />

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90 1 zeichen<br />

Blind und haltlos<br />

In »Panische Stadt« verliert der Raum-Forscher<br />

paul virilio die Bodenhaftung<br />

text: annika schmidt<br />

»Worauf werden wir warten, wenn wir nicht mehr warten müssen um anzukommen«,<br />

fragte sich 197 der Geschwindigkeits-Theoretiker und Verschwindens-Ästhetiker<br />

Paul Virilio. Die panischen Auswirkungen des Verschwindens der (Warte-)Zeit,<br />

der Räumlichkeit und letztendlich sogar der Endlichkeit durch die Unmittelbarkeit<br />

audiovisueller und virtueller Welten untersucht der französische Architekt<br />

und Städteplaner in seinem jetzt erschienenen Essayband »Panische Stadt«.<br />

Politik der Psychose<br />

So verschwinde beispielsweise die Wirklichkeit im »INFOWAR«. Denn das Recht<br />

des Stärkeren liege heutzutage auf Seiten des wirklichkeitsauslöschenden »<strong>Gewalt</strong>streichs,<br />

des Medienputsches, in dem die Geschwindigkeit die rohe <strong>Gewalt</strong>, die<br />

materiale Kraft in den Schatten stellt. Und diese Geschwindigkeit ist die des Lichts<br />

elektromagnetischer Wellen, ohne das die Globalisierung der Macht wie eine Luftspiegelung<br />

verschwände.« Die »Hyperterroristen« bedienen sich laut Virilio der<br />

manipulativen Massenkommunikationsmittel. Aber die durch Schockästhetik generierte<br />

»Psychose [sei auch] ein terroristisches Regierungsmittel, dessen wir uns seit<br />

dem 20. Jahrhundert auf das schändlichste bedienen.« Denn wir befänden uns jetzt<br />

in einer Phase der »ekstatischen Kommunikation« und ihrer »hysterischen Umschaltung«.<br />

Die Bilder sind kriegsentscheidend. Das »ikonoklastische Delirium« löse<br />

die öffentliche Meinung zugunsten einer »globalisierten kollektiven Erregung«<br />

– einer »Gefühlsdemokratie« – auf, die zu einer politischen Trance führe, wie sie<br />

auch die Massenpropagandaveranstaltungen des NS-Regimes auslösten.<br />

Poetik der Paranoia<br />

Virilios Verständnis der wirklichkeits- und sinntorpedierenden Struktur des Terrorismus<br />

und der meinungszersetzenden Panik-Mache der staatlichen Kriegsführung<br />

ist nur allzu sinnvoll, jedoch beschrieb Jean Baudrillard dies schon vor dreißig<br />

Jahren in seiner Simulationstheorie, und das begrifflich schärfer. Auch die Ausführungen<br />

Virilios hier zu der »Ortsdämmerung« oder der gentechnischen »Wüste<br />

der Serie« sind weniger erhellende Begriffs- und Theoriebildungen, als vielmehr<br />

nebulöse Wortspielereien. Wenn er der Popkultur jegliche Subversivität abspricht<br />

und der Gleichgültigkeit des Expressionismus und des Surrealismus die Begünstigung<br />

Auschwitz, zuschreibt, verfällt er der eigenen polemischen Panik-Poesie.<br />

Und letztendlich verliert er jeglichen Lebensweltbezug und kippt vom poetischprophetischen<br />

vollends ins paranoid-psychotische Universum: »Schließlich wird<br />

der Tag verklingen und das Dämmerlicht eines verlassenen Planeten in der Nacht<br />

verlöschen, in der dunklen Nacht einer elektromagnetischen Leere, wo die ZAHL den<br />

NAMEN, alle Namen ablöst und das Wahrscheinliche mit all seiner Rechenkraft das<br />

Erscheinende unterwirft. [...] Heißt das, wir sind am Ende? Nein, denn jetzt – blind<br />

und haltlos unterwegs – ist auch ein Ende nicht mehr abzusehen.«<br />

»Panische Stadt« von Paul Virilio, aus dem Französischen von<br />

Maximilian Probst, Passagen Verlag, Wien 2007,147 S., € 19,90<br />

Fiktion ist kein Witz<br />

Die Künstlerin sophie tottie etabliert<br />

das Bild als eine selbständige Sprache<br />

text: zuzanna jakubowski foto: sophie tottie<br />

Als junge Kunststudentin hat die zwischen Berlin, Stockholm<br />

und Malmö lebende Sophie Tottie die Wände ihres<br />

Universitätsateliers gelb bemalt, um ein Bild des Raumes<br />

selbst zu schaffen. Nun zeugt ein präzise gestalteter und<br />

unter Mitwirkung der Künstlerin entstandener Katalog zu<br />

ihrer diesjährigen Ausstellung »Fiction Is No Joke« davon,<br />

dass ihre auf keine greifbare Bedeutung reduzierbaren Installationen<br />

weiterhin immer auch um die Dimensionen<br />

Die Polyphonie der Großstadt<br />

Ein Ausstellungs-Reader spürt den<br />

beWegungen neW yorks nach<br />

text: zuzanna jakubowski<br />

»Betrachten wir noch einmal die Stadt. Sie ist mehr als nur ein Geflecht von Beziehungen<br />

und eine Ansammlung von Gebäuden, sogar mehr als ein geopolitischer<br />

Schauplatz – sie ist eine Folge sich vollziehender historischer Prozesse.« Bis zum 4.<br />

November war im Berliner Haus der Kulturen der Welt die interdisziplinäre Ausstellung<br />

»New York« mit Filmprogramm, Musik, Konferenzen, Lesungen, Performances<br />

und natürlich auch ausgestellter Kunst zu Gast. » Das vermessene Paradies.<br />

Positionen zu New York«, so der vollständige Titel des Begleit-Readers zur Ausstellung,<br />

verlängert nun die Faszination für den Big Apple. Neben Aufsätzen aus den<br />

unterschiedlichsten Disziplinen beinhaltet der innovative Band auch Gedichte,<br />

Anekdoten, Kurzgeschichten, Comics, Fotos (Gregg LeFevres wunderbare Körperstadt/Stadtkörper!),<br />

Straßenkarten und Interviews mit Künstlern, DJs, New<br />

Yorkern. Performativität zwischen geschmackvollen Buchdeckeln; im Kleinen wird<br />

vollzogen, was im Großen veranschaulicht wird: Das Paradies wir vermessen, die<br />

Stadt aus allen Richtungen eingekreist, ihre Spuren bis ins 19. Jahrhundert verfolgt.<br />

Immer wieder sind die Boroughs, die Kieze New Yorks von Bedeutung, eine<br />

Struktur die den Berliner an seinen eigenen dezentralisierten Lebensraum erinnert.<br />

Zwischen Gentrifizierung (»Latte macchiato in Harlem«) und der sich wandelnden<br />

Clubszene in New York (»Wie es war und wie es ist«) wird im Sinne der Urban<br />

Studies hier ein Portrait der Großstadt entworfen, das gelungen zwischen persönlichem<br />

und sozialwissenschaftlichem changiert.<br />

»Das vermessene Paradies. Positionen zu New York«, herausgegeben von Bernd M.<br />

Scherer und Detlef Diederichsen, Verlag Theater der Zeit, Berlin 2007, 280 S., € 15,00<br />

review<br />

und Zeichen der Ausstellungsorte ergänzt werden. Der<br />

Katalog selbst nimmt dabei in seiner Abbildung und Interpretation<br />

der Arbeiten aus u.a Berlin, Helsinki, Malmö<br />

und Bagdad eine Multiperspektivität ein, die nur im Sinne<br />

der Künstlerin sein kann. Totties Arbeiten, die mit suggestiven<br />

Titeln wie »Hegel’s House«, »Einstein RGB« und<br />

»Ktitic Voyager« auf eine tiefer liegende Bedeutung zielen,<br />

sind Rätsel, die nicht gelöst werden wollen. Die Künstlerin<br />

selbst attestiert in einem dem Band beigefügten Interview<br />

dem kunstinteressierten Publikum eine auf Konsum ausgerichtete<br />

Wahrnehmung: »Diese Haltung stößt auf Probleme<br />

in einer Zeit, die danach giert, rasch zu verstehen,<br />

›worum es geht‹, um das Bild damit abhaken und weitergehen<br />

zu können«. Interpretationsversuche forciert Tottie<br />

daher durch eine Vielzahl von Zeichen und Symbolen, nur<br />

um den Betrachter durch ihre Unschlüssigkeit wieder auf<br />

die Oberfläche zurückwerfen. Der geglückte Katalog ist in<br />

seiner Komplexität selbst mehr Durchführung als Einstieg<br />

in das Netzwerk Sophie Totties.<br />

»Fiction Is No Joke« herausgegeben von Niclas Östlind,<br />

Louise Fogelström, Vorwort von Bo Nilson, Texte von<br />

Stefan Jonson, Jessica Morgan, Niclas Östlind, Margaretha<br />

Rossholm Lagerlöf, Sophie Tottie, detsch/englisch,<br />

Hatje Cantz, Stuttgart, 2007, 184 S., € 35,00<br />

zeichen 1 91


eview<br />

Auf der Suche nach dem<br />

Realitätsinkompatibilitätsklassifikator<br />

simon spiegel obduziert den Science-Fiction-Film und führt die Organe seiner<br />

Wirkung ans Licht<br />

text: stefan murawski illustration: don davis<br />

In seinem streng analytischen und grundlagenbildenden<br />

Werk zum Science-Fiction-Film distanziert sich Simon<br />

Spiegel vom gängigen Verständnis der Science Fiction als<br />

Genre; vielmehr als ein Modus sei sie zu begreifen. Aufbauend<br />

auf dieser These untersucht er anschließend anhand<br />

Embleme des<br />

Ungesicherten<br />

Von metaphorisierten geistern zu<br />

geisterhaften Metaphern findet der<br />

Reader »New Ghost Entertainment-<br />

Entitled« nahezu alles, was in der Welt der<br />

Essayistik zu dem Thema gedacht werden<br />

könnte<br />

92 1 zeichen<br />

text: dan gorenstein<br />

illustration: michanolimit<br />

Dieser knappe Reader entstand aus<br />

einer Kooperation zwischen dem<br />

Kunsthaus Dresden und der Or Gallery<br />

Vancouver. Im Rahmen einer<br />

Kunstausstellung mit Filmprogramm<br />

haben sich die Autoren<br />

dem Thema Geister gewidmet.<br />

Wie sich herausstellt ein fruchtbares<br />

Thema. Denn das Halbvorhandene,<br />

das abwesend Anwesende sind zentrale<br />

eines großen Kanons ausgewählter Filme deren Poetik<br />

und erläutert ihre Wirkung auf den Zuschauer anhand<br />

der Analyse von Bildern, Effekten, Themen, Konzepten<br />

und Strukturen, welche er mit bekannten Beispielen belegt.<br />

Ein weiterer zentraler Punkt ist die Klassifikation der<br />

Science Fiction, die seiner These nach stets ein Novum<br />

biete und dadurch nicht kompatibel mit der realen Welt<br />

sei. Über den rein filmischen Aspekt hinaus bietet Spiegels<br />

Buch einen interessanten historischen Überblick über ihre<br />

Ursprünge in der Literatur und den daraus resultierenden<br />

Boom der Science-Fiction-Filme. Auf der beigelegten<br />

DVD befinden sich, als Ergänzung zum Text, sechzehn<br />

Ausschnitte aus im Buch besprochenen Filmen, die jedoch<br />

leider recht willkürlich gewählt erscheinen, sodass nicht<br />

zu jedem Kapitel ein passender Clip existiert. Die meisten<br />

Ausschnitte werden jedoch dem Science-Fiction-Kundigen<br />

ohnehin bekannt sein. Alle anderen dürften zweifellos einen<br />

schweren Zugang zu dieser rein akademischen Arbeit<br />

finden.<br />

»Die Konstitution des Wunderbaren. Zu einer Poetik<br />

des Science-Fiction-Films« (Buch & DVD) von Simon<br />

Spiegel, Schüren, Marburg 2007, 385 S., € 24,90<br />

Kategorien und Denkmuster moderner Kulturwissenschaft.<br />

Ihren prominentesten Paten haben die Gespenster<br />

im jüngst verstorbenen Jacques Derrida und dessen Marxbuch<br />

gefunden, welches hier auch reichlich zitiert wird.<br />

Vom Mystizismus gereinigt und zur Denkfigur umgearbeitet,<br />

entwickelt das Phänomen Gespenst oder<br />

auch Geist eine ungeheure Spannkraft, die von der Beschreibung<br />

japanischer Horrorfilme, über Winkelzüge<br />

amerikanischer Außenpolitik, bis hin zu W. G. Sebalds<br />

phantomhafte Schmetterlingsjäger reichlich Gedankenspiele<br />

zulässt. Zwischen den Aufsätzen finden sich<br />

Fotografien, Ausstellungstücke, Gedankenfetzen zu einzelnen<br />

Kunstprojekten und Filmstills, die vor allem die<br />

ästhetische Tiefe der Metapher zur Geltung bringen. Auch<br />

wenn es an manchen Stellen knarrt und knackt, bietet der<br />

Reader einen guten Einstieg in wie auch Überblick über<br />

das komplexe Problem des Geisterhaften, evoziert mögliche<br />

Arbeitsweisen und stellt nicht zuletzt unter Beweis,<br />

dass eine schön gewählte Metapher ein weites Feld kultureller<br />

Phänomene nicht nur rezipierbar, sondern sogar<br />

interessant macht. Eine Bibliografie zum Weiterlesen wäre<br />

schön gewesen.<br />

»New Ghost Entertainment-Entitled« herausgegeben von<br />

Karin Pesch, Verbrecher Verlag, Berlin 2007, 96 S., € 8,00<br />

Social Networking mit der Axt<br />

conan der barbar, texanische Zivilisationskritik, ist wieder da<br />

text: robert wenrich illustration: cary nord<br />

Drei Tage vor dem Tod seiner komatösen Mutter, der er die<br />

letzten Jahre gewidmet hatte, nimmt sich Ron E. Howard<br />

dreißigjährig das Leben. Zu diesem Zeitpunkt existieren<br />

etwa zwei Dutzend Geschichten um den Barbaren Conan,<br />

von denen er zeitlebens 17 in der Zeitschrift Weird Tales<br />

veröffentlichen kann. Dadurch lernt er Lovecraft kennen<br />

und schätzen, wenngleich er nie zu dessen Horror-Posse<br />

gehörte. Dieser Lovecraft, selbst nie frohgemut, stirbt ein<br />

Jahr nach Howards Tod, zuletzt bei seiner Tante lebend, an<br />

Krebs; beide Eskapisten.<br />

Das Versagen des Überbaus<br />

Doch während Lovecrafts Metier stets die Beschreibung<br />

kosmischen Übergrauens in Providence, RI bleibt,<br />

träumelt sich Howard aus Versatzstücken halbseidener<br />

Rassentheorie und europäischer Frühgeschichte seinen<br />

Gegenentwurf zu einem Leben zusammen, das er nie<br />

wirklich akzeptieren konnte. Conans Welt ist vorantik,<br />

gerade erst beginnt sich die Zivilisation herauszubilden,<br />

Staaten sind nicht mehr als Reichsflecken um eine Hauptstadt,<br />

und das vormals geerdete Dasein bekommt nun<br />

Höhe und Hierarchie. Allerdings sieht der von den Wirren<br />

des Ölbooms und der Prohibition geprägte Howard darin<br />

das Übel. Staatliche Willkür, Übergriffe, Rechtsunfreiheit<br />

und -ungleichheit und die enorme Korruption seiner Zeit:<br />

Wenn die Institutionen die Diskurshoheiten stellen, ist die<br />

eigentliche Barbarei zwischen den Menschen eingerichtet.<br />

In Conans Epoche jedoch gibt es noch kein zementiertes<br />

staatliches <strong>Gewalt</strong>monopol. Die Moral entsteht zwischen,<br />

thront aber nie über den Menschen, und die Selbstjustiz<br />

steht noch in Konkurrenz mit der des Reiches. Gerechtigkeit<br />

kann noch installiert werden, indem man kriminellen<br />

Hierophanten die Schädel einschlägt.<br />

Das Herz eines Boxers<br />

Nur der einzelne Mann aber und sein Handschlag zählen,<br />

wenn die Institutionen versagen. Conan geht keine Verträge<br />

ein, sondern Schwüre. Howard, selbst Amateurboxer,<br />

inszeniert so gut wie alles als Kampf. Etwas naiv vielleicht,<br />

genealogie der superhelden<br />

aber wirksam. Seine absolute Freiheitsphantasie gondelt<br />

seit mittlerweile siebzig Jahren durch die amerikanische<br />

Kultur, brachte neben vielen Spin-Offs auch die indiskutablen<br />

Conan-Filme der 1980er Jahre hervor und begründete<br />

das heute so beliebte Fantasy-Genre mit: Dass »Der<br />

Herr der Ringe« ohne Howards Conan nicht möglich gewesen<br />

wäre, ist sicher keine gewagte These.<br />

Nun erscheint bei Dark Horse seit 2003 eine neue<br />

Conan-Serie. Autor ist der berühmte Kurt »Astro City«<br />

Busiek, Illustrator der Kanadier Cary Nord – könnte es<br />

denn einen Geeigneteren geben? Die beiden inszenieren<br />

Howards Abenteuer mit einer überzeugenden Werktreue.<br />

Besonders der Wechsel zwischen der menschenleeren<br />

Wildnis und den Städten, die aus wenig mehr bestehen als<br />

Schenken, Schatzkammern und Karzern, gelingt ihnen.<br />

Nords dynamisches Zeichnen verdient dabei ein großes<br />

Lob. Direktkoloriert ergeben sich vor allem bei den Kämpfen<br />

bemerkenswerte Panels, und das große Leben, das sich<br />

der bange Muttersohn Howard ausmalte, wird zwischen<br />

Schlangengeistern und Eisfesten – am Fluchtpunkt aller<br />

Jugendträume – Ereignis.<br />

»Conan« von Kurt Busiek und Cary Nord ist in vier<br />

Sammelbänden bei Panini erschienen<br />

Der fünfte Band »Conan: Die Juwelen von Gwahlur und Die<br />

Töchter von Midora« von P. Craig Russell, Jimmy Palmiotti<br />

und Mark Texeira ist soeben bei Panini erschienen<br />

Howards Geschichten können beim australischen<br />

Gutenberg-Projekt als Hypertext gelesen werden<br />

Die Genealogie der Superhelden wird im nächsten Heft fortgesetzt.<br />

zeichen 1 93


goon<br />

präsentiert<br />

goon<br />

präsentiert<br />

termine<br />

musik<br />

11 Years Icon –<br />

The elecTronIc sessIon<br />

7.12. Berlin, Icon<br />

11 Years Icon –<br />

The Drum & Bass sessIon<br />

8.12. Berlin, Icon<br />

amanDa rogers<br />

6.12. Berlin, NBI<br />

BarBara morgensTern<br />

16.12. Berlin, Kleist-Haus<br />

Booka shaDe<br />

18.1. Augsburg, Ostwerk<br />

Bruno PronsaTo<br />

21.12. Zürich | CH, Q Club<br />

25.12. München, Harry Klein<br />

18.1. Brüssel | B, P3P<br />

25.1. Zürich | CH, City Fox<br />

26.1. Köln, tba.<br />

16.2. Berlin, Watergate<br />

carIBou<br />

2.12. Schorndorf, Manufaktur<br />

5.12. Nürnberg, MUZ Club<br />

6.12. Wien | A, B72<br />

7.12. Berlin, Lido<br />

8.12. Hamburg, Uebel&Gefaehrlich<br />

DelBo<br />

6.12. Hamburg, Uebel&Gefaehrlich<br />

7.12. Hannover, Kulturpalast<br />

8.12. Münster, Amp<br />

13.12. Greifswald, Klex<br />

14.12. Halle, Druschbar<br />

15.12. Leipzig, Ilses Erika<br />

DJ VaDIm & Yarah BraVo<br />

14.12. Leipzig, Distillery<br />

15.12. Münster, Skaters Palace<br />

28.12. Hamburg, Naitclub (Vadim only)<br />

29.12. Berlin, Cassiopeia<br />

30.12. Dresden, Schleife<br />

DuDleY PerkIns &<br />

georgIa anne mulDrow<br />

20.12. Berlin, Bohannon<br />

21.12. Antwerpen | B, Trixx<br />

22.12. Jena, Kassablanca<br />

27.12. Breda | NL, tba<br />

29.12. Bern | CH, Wasserwerk<br />

30.12. Winterthur | A, Albani<br />

goon<br />

präsen-<br />

tiert<br />

goon<br />

präsen-<br />

tiert<br />

goon<br />

präsen-<br />

tiert<br />

goon<br />

präsen-<br />

tiert<br />

enon<br />

10.12. München, Orangehouse<br />

11.12. Köln, Tsunami<br />

12.12. Leipzig, UT Connewitz<br />

13.12. Dresden, Starclub<br />

ewan Pearson<br />

21.12. Berlin, Watergate<br />

FooD For anImals<br />

6.12. Düdingen | CH, Fr Katz Festival Bad<br />

Bonn<br />

10.12. Konstanz, Kantine<br />

11.12. Berlin, M12<br />

12.12. Hamburg, MS Stubnitz<br />

14.12. Den Haag | NL, State X Festival<br />

Iron & wIne<br />

16.1. Wien | A, Szene<br />

17.1. Dachau, St. Jacob-Kirche<br />

18.1. Brüssel | B, Ancienne Belgique<br />

20.1. Hamburg, Fabrik<br />

21.1. Aarhus | DK, Voxhall<br />

25.1. Kopenhagen | DK, Vega<br />

26.1. Köln, Kulturkirche<br />

27.1. Amsterdam | NL, Paradiso<br />

28.1. Frankfurt, Mousonturm<br />

29.1. Bielefeld, Forum<br />

30.1. Berlin, Passionskirche<br />

JamIe lIDell<br />

22.12. Saarbrücken, Electricity Festival<br />

kIlll<br />

6.12. Linz | A, Qujochoe<br />

7.12. Düdingen | CH,<br />

Fr Katz Festival Bad Bonn<br />

11.12. Hamburg, Kampnagel<br />

12.12. Berlin, Lido<br />

13.12. Brüssel | B, Recyclart<br />

14.12. Den Haag | NL, State X<br />

luke VIBerT<br />

11.1. Berlin, Icon<br />

lullaBYe orchesTra<br />

9.12. Leipzig, UT Connewitz<br />

olaFur arnalDs<br />

14.12. Den Haag | NL, State X New Forms<br />

15.12. Münster, Gleis 22<br />

16.12. Leipzig, Café Panam<br />

18.12. Marburg, Kfz<br />

19.12. Jena, Rosenkeller<br />

21.12. Karlsruhe, Lutherkirche<br />

PaPIer TIgre<br />

8.12. Lille | F, Le CCL<br />

9.12. Kopenhagen | DK, Lades<br />

10.12. Hamburg, Fundbüro<br />

11.12. Opava | CZ, Jam<br />

goon<br />

präsen-<br />

tiert<br />

goon<br />

präsen-<br />

tiert<br />

goon<br />

präsen-<br />

tiert<br />

12.12. Dresden, AZ Conni<br />

13.12. Berlin, Schokoladen<br />

goon Magazin Release-Party<br />

14.12. Prag | CZ, Klub 007<br />

15.12. Halle, Objekt 5<br />

17.12. Wien | A, Fluc<br />

18.12. Rosenheim, Asta Kneipe<br />

19.12. Innsbruck | A, tba.<br />

20.12. Nürtingen, Klub Provisorium<br />

ParTY & laBor<br />

3.12. Leipzig, tba<br />

4.12. Würzburg, Café Cairo<br />

5.12. Esslingen, Komma<br />

ParTY arTY Vol. 24 – a nIghT oF<br />

VIBes From DIFFerenT TrIBes<br />

15.12. Berlin, 103 Club<br />

rockY VoTolaTo<br />

11.2. Berlin, Bassy<br />

12.2. Köln, Metropolis Kino<br />

13.2. Münster, Gleis 22<br />

14.2. Bremen, TBA<br />

15.2. Erlangen, E-Werk<br />

16.2. München, Feierwerk<br />

17.2. Wien | A, B72<br />

18.2. Zürich | CH, Hafenkneipe<br />

19.2. Karlsruhe, Cafe Nun<br />

22.2. Giessen, MuK<br />

23.2. Braunschweig, Nexus<br />

scouT nIBleTT<br />

1.12. München, Bavarian Open<br />

@ BR Funkhaus<br />

3.12. Wien | A, Chelsea<br />

4.12. Leipzig, UT Connewitz<br />

5.12. Berlin, Lido<br />

10.12. Hamburg, Uebel&Gefaehrlich<br />

12.12. Köln, Gebäude 9<br />

sTars oF The lID<br />

16.12. Dresden, Scheune<br />

The heaVY<br />

5.12. Berlin, Cassiopeia<br />

The herBalIser<br />

28.12. Berlin, Icon<br />

Volcano The Bear<br />

6.12. Genf | CH, L’écurie<br />

7.12. St. Gallen | CH, Palace<br />

8.12. Düdingen | CH, Fr Katz Festival Bad<br />

Bonn<br />

94 1 termine<br />

termine 1 9<br />

töne 1 9<br />

Henisiusstr. 1 - 86152 Augsburg - 0821-4300757 -<br />

www.duophonic.de - info@duophonic.de<br />

goon<br />

präsentiert<br />

termine<br />

food for animals<br />

Vergesst Public Enemy, vergesst Dälek. Hiergegen<br />

sind die einen gebrochene Rentner, die anderen<br />

mittlerweile gelangweilte Poeten. Vulture<br />

V und Ricky Rabbit haben uns ja wirklich lange<br />

warten lassen, mit der »Scavenger EP« im Eigenvertrieb und einer raren 7 Inch<br />

auf dem entschlafenen Bomb Mitte Label immer nur angefüttert. Nun wird<br />

mit Rapper Hy als Verstärkung und dem Debütalbum »Belly« endlich die volle<br />

Ladung Noise-Hop in den Rachen geprügelt. Zerbrochene Beats, Krachgewitter<br />

und soziopolitische Manifeste heißt das bei Food For Animals, HipHop aus<br />

purer Energie. Und live haben die Jungs aus Maryland, Georgia bisher noch<br />

jeden Laden zum kopfnickenden Moschen gebracht.<br />

goon<br />

präsentiert<br />

Food For Animals vom 6. – 14.12 in Deutschland und angrenzenden Staaten<br />

papier tigre<br />

Musik aus Frankreich, das bedeutet für die ältere<br />

Generation vor allem Serge Gainsbourg, Jacques<br />

Brel und Edith Piaf, die Jüngeren denken da<br />

schon eher an Elektro-Bands wie Daft Punk, Air<br />

oder das momentan hoch gehandelte Duo Justice.<br />

Dass es jedoch mal wieder Zeit ist für guten französischen Rock á la Noir Désir,<br />

beweist die dreiköpfige Combo Papier Tigre aus Nantes. Während Bands wie die<br />

Britpopper Keane die Gitarre aus ihrer Musik verbannt haben, verzichten Papier<br />

Tigre lieber auf einen Bass und legen auf die aussagekräftigen sechs Saiten der<br />

Gitarre besonderen Wert. So schmeißen sie einem auf ihrem im Frühjahr bei<br />

Collectif Effervescence erschienenen selbstbetitelten Debütalbum ihre frickeligen,<br />

dröhnenden Gitarren, kombiniert mit exaltiertem Gesang und gejagt vom<br />

donnernden Schlagzeug, um die Ohren. Und wenn die Jungs am 13. Dezember<br />

auf der Releaseparty der Goon 24 im Schokoladen richtig loslegen, wird es auch<br />

am nächtlichen Berliner Himmel garantiert »No Stars Or Clouds« geben.<br />

goon<br />

präsentiert<br />

Papier Tigre zur Releaseparty der 24. Ausgabe am 13.12. im Schokoladen<br />

enon<br />

Stillstand ist Rückschritt, dieses Motto hat sich<br />

CM<br />

die Indierock-Band Enon aus dem US-amerikanischen<br />

Osten offenbar ganz besonders zu Herzen<br />

MY<br />

genommen. Das gilt zwar zum Einen selbstver-<br />

CY<br />

ständlich für die Musik. Enon versuchen mit jedem<br />

neuen Album, sich weiter und vor allem auch immer einen etwas anderen<br />

CMY<br />

Sound zu entwickeln, dabei aber natürlich trotzdem ihrem Easy Listening-Rock<br />

K<br />

und ihre stets mit einem Augenzwinkern versehenen gesellschaftskritischen<br />

Texte beizubehalten. Doch die musikalische Komponente allein macht das<br />

Weiter in der Entwicklung von Enon nicht aus. Ebenso hat sich bei dem Trio in<br />

seiner bisherigen Bandgeschichte nach zwei der bisher drei Alben die Besetzung<br />

geändert, so dass von der Anfangsbesetzung seit dem Album »High Society« aus<br />

dem Jahre 2002 nur noch John Schmersal dabei ist. Nun aber veröffentlichen<br />

Enon, zu denen neben Schmersal seit einigen Jahren also auch Toko Yasuda und<br />

Matt Schulz gehören, im Oktober hierzulande ihr viertes Studioalbum »Grass<br />

Geysers…Carbon Clouds«, das wie all die vorigen Alben in ungewohnter Kontinuität<br />

bei Touch & Go erscheinen wird. Und wir wollen hoffen, dass Enon<br />

auf ihrer Deutschlandtour im November und Dezember in hoffentlich gleich<br />

gebliebener Zusammensetzung ein paar ihrer neuen Songs spielen werden.<br />

Enon vom 27.11. bis 13.12. unterwegs in Deutschland<br />

C<br />

M<br />

Y<br />

Anzeige goon okt 07 .pdf 26.10.2<br />

VINYL-<br />

DUBPLATES-<br />

PRESSUNGEN<br />

500 12" LP 1155 €<br />

zzgl. Mwst.<br />

inkl. Überspielung und Vollentwicklung, 2 Testpressungen,<br />

s/w Etiketten, Papierinnenhülle,4 farbiges Cover<br />

12 “ Maxi 28 €<br />

Einzelanfertigung zzgl. Mwst.<br />

duophonic


goon<br />

präsen-<br />

tiert<br />

termine<br />

aufführungen<br />

Betrunken genug zu sagen<br />

ich lieBe dich<br />

von Caryl Churchill<br />

Regie: Benedict Andrews<br />

5.12. Berlin, Schaubühne<br />

Breaking news –<br />

ein tagesschauspiel<br />

Regie: Helgard Haug / Daniel Wetzel<br />

(Rimini Protokoll)<br />

5. – 10.1. Berlin, HAU 2<br />

cinema Fury: the imitation<br />

Regie: Caden Manson, Big Art Group,<br />

NYC<br />

25. – 27.1., Berlin, HAU 1<br />

das leBen ein traum<br />

Musiktheater nach Pedro Calderon de la<br />

Barca, Regie: Johan Simons, NT Gent<br />

4. – 6.1. Berlin, HAU 1<br />

das letzte Feuer<br />

von Dea Loher<br />

Regie: Andreas Kriegenburg<br />

26.1. Hamburg, Thalia Theater<br />

der Feurige engel<br />

von David Marton<br />

19. / 20. / 21.12. Hamburg, Kampnagel<br />

der tod des<br />

eichhörnchenmenschen<br />

von M. Sikorska-Miszcuk<br />

Regie: Marcin Liber<br />

14./15.12. Berlin, HAU 3<br />

deutschlandsaga –<br />

die 50er Jahre<br />

Drei Uraufführungen:<br />

Fräuleinwunder, Backfischtod in Bad<br />

Nauheim und Rialto<br />

1./2.12. Berlin, Schaubühne<br />

gertrud nach Einar Schleef,<br />

Regie: Armin Petras<br />

21.12. Frankfurt/M., Schauspiel Frankfurt<br />

goB squad‘s kitchen<br />

(You‘ve never had it so good)<br />

13.12. Berlin, Volksbühne<br />

little dance garage<br />

Tanz-Solo von Régine Chopinot<br />

5. – 9. / 12. – 16. / 19. – 21.12., Berlin,<br />

Kunsthaus Tacheles<br />

mamma medea<br />

von Tom Lanoye, Regie: Stephan Kimmig<br />

8.12. München, Kammerspiele<br />

us amok<br />

von Marc Becker, Regie: Britta Schreiber<br />

6. / 7. / 12. / 19. / 27.12., Braunschweig,<br />

Staatstheater<br />

ausstellungen<br />

christine hill<br />

Volksboutique Official Template<br />

Interaktives Ausstellungswerk<br />

2.11. – 27.1., Berlin, ifa-Gallerie<br />

JeFF wall<br />

noch bis 20.1., Berlin,<br />

Deutsche Guggenheim<br />

mawil Ausstellung zur Eröffnung des 2.<br />

Comicfestival Hamburg, Vernissage:<br />

6.12. Hamburg, Kunstverein Linda<br />

reza aBedini Wenn Schrift Bild wird<br />

Zeitgenössisches Grafikdesign<br />

30.11. – 27.1., Stuttgart, ifa-Gallerie<br />

textBild Werke von Jürgen Palmtag<br />

und Oliver Grajewski<br />

Comic Ausstellung<br />

4.11. – 20.1., Albstadt, Galerie Albstadt<br />

walter Bortolossi<br />

It isn’t only Pop (but I like it)<br />

Malerei<br />

24.11. – 26.1., Berlin, Egbert Baqué Contemporary<br />

Art<br />

festivals<br />

58. internationale<br />

FilmFestspiele Berlin<br />

7. – 17.2. Berlin<br />

ÄpFel, nüsse, Fink und star<br />

2. Comicfestival Hamburg<br />

7. – 9.12., Hamburg, Kulturhaus 73<br />

around the world in 14 Films<br />

30.11. – 8.12. Berlin, Babylon Mitte<br />

cinema! italia!<br />

Neues italienisches Kino<br />

29.11. – 5.12. Heidelberg, Karlstorkino<br />

1. – 7.12. Frankfurt/M., Deutsches Filmmuseum<br />

6. – 12.12. Freiburg, Kino Friedrichsbau<br />

6. – 12.12. Tübingen, Kino Museum<br />

13. – 19.12. Berlin, Babylon Mitte & Filmkunst<br />

66 Fantasy Filmfest<br />

Focus asia nights<br />

Filmprogramm: »13 Beloved«, »A Battle of<br />

Wits«, »Alone«, »Flash Point«, »Highlander:<br />

The Search for Vengeance«, »Protégé«,<br />

»Soo«, »XX«<br />

1./2.12. Berlin, CinemaxX Potsdamer Platz<br />

1./2.12. Hamburg, CinemaxX Dammtor<br />

Festival des gescheiterten<br />

Films<br />

22. – 31.12. München, Maxim<br />

11. – 13.1. Wien | A, BSL<br />

17. – 20.1. Frankfurt/M., Orfeos Erben<br />

23. – 29.1. Berlin, Babylon Mitte<br />

21.2. Bremen, Schauburg<br />

22. – 24.2. Köln, Filmhaus<br />

lesungen<br />

Finn-ole heinrich<br />

liest aus »Räuberhände«<br />

7.12. Cuxhaven, Café Ringelnatz<br />

18.1. Hannover, enercity expo café<br />

poezone 5: Bella triste – Junge Texte<br />

und neue Autoren mit Sina Ness, Christian<br />

Schloyer und Thomas von Steinaecker,<br />

moderiert von Martin Kordic<br />

1.12. Heidelberg, Deutsch-Amerikanisches<br />

Institut<br />

lyriktreFFen – ein tunnel<br />

üBer der spree<br />

mit Nora Bossong, Ulrike Draesner, Daniel<br />

Falb, Matthias Göritz,<br />

Hendrik Jackson, Monika Rinck, Hendrik<br />

Rost, Christian Schloyer,<br />

Kathrin Schmidt, Volker Sielaff und Jan<br />

Wagner<br />

4.12. Berlin, Literarisches Colloquium<br />

roman simić<br />

liest aus »In was wir uns verlieben«<br />

12.12. Berlin, südost Europa Kultur e.V.<br />

14.12. Leipzig, Horns Erben<br />

15.12. Dresden, Büchers Best<br />

17.12. Hildesheim, Kulturfabrik<br />

verstransFer: soFia – Berlin<br />

Mit Ekaterina Yossifova, Uljana Wolf,<br />

Georgi Gospodinov und Uwe Kolbe,<br />

moderiert von Alexander Gumz<br />

18.12. Berlin, Literaturwerkstatt<br />

96 1 termine<br />

termine 1 97<br />

töne 1 97<br />

goon<br />

präsentiert<br />

termine<br />

gob squad’s kitchen<br />

(you‘ve never had it so good)<br />

Ausgehend von Andy Warhols Film »Kitchen« aus<br />

dem Jahre 196 begibt sich Gob Squad, unterwegs<br />

in Hamburg, Nottingham und Berlin, auf eine<br />

Zeitreise durch Video-, Performance-, Tanz- und<br />

Soziokultur, hinein in die New Yorker Kunst- und Underground-Szene der<br />

1960er Jahre. Jeden Abend rekonstruieren sie aufs Neue diese Ära des Auf-,<br />

Ab- und Umbruchs. »Kitchen« zeigt Menschen, die in einer Küche abhängen,<br />

viel mehr passiert nicht. Dennoch bringt es die hedonistische experimentelle<br />

Energie der aufkommenden Popkultur auf den Punkt.<br />

»If tomorrow I find somebody who is pretty much like me and I put her here to<br />

sing, she can be Nico while I go and do something else.« (Nico)<br />

goon<br />

präsentiert<br />

13.12. Berlin, Volksbühne<br />

äpfel, nüsse,<br />

fink und star<br />

Die junge deutsche Comicszene hat in Hamburg ihre<br />

Hochburg, jetzt hat sie dort auch ein kleines aber feines<br />

Comicfestival: Zum zweiten Mal findet dieses Jahr Ȁpfel,<br />

Nüsse, Fink & Star« statt. Neben einer kleinen Comicmesse<br />

im Kulturhaus 73 mit Verlagen und Zeichnern aus Deutschland, der<br />

Schweiz, Italien und Russland wird es eine Werkschau des Berliner Comiczeichners<br />

Mawil in der Galerie Linda e.V., eine Ausstellung in der Galerie<br />

Hinterconti mit Beteiligung bekannter Grössen der Hamburger Off-Szene<br />

wie Moki oder Nina Braun und auch eine Ausstellung des aus Bologna stammenden<br />

Comickollektivs Canicola in den Räumen des Vorwerkstift geben.<br />

Vernissage am 6. Dezember, es folgt ein ganzes Wochenende mit verschiedenen<br />

Eröffnungen, Partys und jeder Menge Comics.<br />

goon<br />

präsentiert<br />

6. – 9. Dezember: Hamburg, Comicfestival »Äpfel, Nüsse, Fink und Star«<br />

asian hot shots<br />

berlin<br />

Das asiatische Kino ist ja im Verlauf der letzten<br />

Jahre nach einem langen Schattendasein in den<br />

Nischen des Obskurantismus endlich nach und nach in das Bewusstsein der<br />

deutschen Kino- bzw. Videothekengänger eingesickert. Dem sich zwangsläufig<br />

aufdrängenden Übersättigungseffekt durch das mit den High- und Lowlights<br />

einher kommende, zahlreiche Mittelmaß tritt nun mit den Asian Hot<br />

Shots Berlin erstmals ein ambitioniertes Filmfestival entgegen, das es sich zur<br />

Aufgabe gemacht hat, aufregende und (noch) unbekannte Produktionen aus<br />

Independent-, Arthouse-, Mainstream- wie Experimentalfilm auf die große<br />

Leinwand des Berliner Kinos Babylon Mitte zu bringen. Zusätzlich zu den<br />

sechs Sektionen des Filmprogramms bieten die Asian Hot Shots ein umfangreiches<br />

Rahmenprogramm mit Podiumsdiskussionen, Vorträgen, Workshops<br />

bis hin zu Konzerten und Partys, so dass für den asiaphilen Kulturjunkie eigentlich<br />

keine Wünsche offen bleiben.<br />

Asian Hot Shots Berlin, vom 16. – 22.1.2008 im Babylon Mitte, Berlin


kolumne text: lea streisand foto: brock landers<br />

Wahnsinn in Gesellschaft<br />

»Man sagt uns, dass eine Zahl Gefangener simillini feminis<br />

mores stuprati et constupratores« (Das ist nicht sein<br />

Ernst?!), »dass sie ex hoc obscaeno sacrario cooperti stupri<br />

suis alienisque zurückkämen«, wütend schlage ich das Buch<br />

zu: »Der Typ hat ja wohl’n Rad ab!« Franzi nimmt erstaunt<br />

einen zerkauten Bleistift aus dem Mund. Ein Pfeilhagel<br />

von Blicken prasselt auf mich nieder. Bibliotheken sind<br />

sakrale Orte. Hier wird gedacht. Niedere Tätigkeiten wie<br />

Essen, Trinken, Rauchen, Reden sind verboten. In diesen<br />

Tempeln des Wissens geben wir uns der Illusion hin, der<br />

Mensch sei tatsächlich eine geistreiche Kreatur. Hier tun<br />

wir so, als ob die Aufklärung doch irgendwas gebracht<br />

hätte. Und genau hier überfallen uns unsere körperlichen<br />

Gelüste und Gebrechen mit umso größerer <strong>Gewalt</strong>. Zuerst<br />

kommt der Hunger: »Toblerone«, schießt es mir durch<br />

den Sinn, »Oder einfach nur ne Stulle.« Zehn Minuten<br />

und einen Schokoriegel später lese ich: »Die Correction, die<br />

der Ort der schwersten Strafe in der Anstalt ist, enthielt ...«<br />

da rutscht mein Ellenbogen vom Tisch. Das ist Phase zwei:<br />

Müdigkeit! Kaffeegestärkt sitze ich wieder und beneide<br />

meine Freundin um die Leidenschaft, mit der sie in ihrem<br />

Pschyrembel blättert. Mediziner beschäftigen sich mit<br />

realen Problemen, nicht mit den kruden Hirngespinsten<br />

irgendwelcher Franzosen. Ihr Bruder macht irgendwas<br />

mit Kommunikation, auch was Anständiges mit Zukunft,<br />

nicht so sinnlos Künstler und Geisteswissenschaftler wie<br />

unsereiner. Er hat ihr ein neues Telefon besorgt mit integriertem<br />

Diktiergerät. Zurück zu Foucault: »Stets herrscht<br />

(...) diese schockierende Mischung von jungen, leichten<br />

Mädchen mit alten Frauen, die ihnen nur die zügelloseste<br />

Kunst der Verderbnis zeigen können.« Mein Kopfkino<br />

spielt plötzlich dreckige kleine Samstagabendfilme:<br />

Schulmädchenreport 1 bis 3 und so. Ich schaue mich um<br />

und bemerke diesen Jungen: Eine seidig schimmernde<br />

Haarsträhne fällt ihm ins Gesicht, wenn er sich über den<br />

Brockhaus beugt. Gedankenverloren wandert seine Hand<br />

98 1 kolumne<br />

in den Nacken und bleibt dort liegen. Die Hände! Groß<br />

und kräftig und – zurück zur Lektüre: »Diese Visionen<br />

werden lange Zeit mit Nachdruck die späten Abende des 18.<br />

Jahrhunderts beleben.« Ja, das kann ich mir vorstellen! Ich<br />

gucke hoch, was Adonis macht: Oh mein Gott, er streckt<br />

sich, reibt sich die Schläfen, streicht mit den Fingern über<br />

die geschlossenen Lider. Lass mich das machen! Da öffnet<br />

er die Augen, guckt ... und ich falle tot um. Wer glaubt,<br />

die Atmosphäre in Diskotheken sei hormongeschwängert,<br />

der soll einmal eine Bibliothek besuchen. Es ist jedes Mal<br />

dasselbe: Erst kommt der Hunger, dann die Müdigkeit<br />

und zum Schluß die Geilheit. Adonis sieht mit einem Mal<br />

so hinreißend verschlafen aus, dass es meiner kompletten<br />

Willenskraft bedarf, nicht eine Seite aus meinem Foucault<br />

heraus zu reißen und zu notieren: »Willst du mit mir schlafen?<br />

Kreuz an: Bei mir, bei dir, oder gleich hier.« Hab ich<br />

ein Glück, dass Gedanken frei und unleserlich sind! Ich<br />

wäre schon längst eingesperrt worden. Apropos: »Für<br />

einen Augenblick werden sie durch das unerbittliche Licht<br />

des Werkes von de Sade herausgeschnitten ...« Ein Geräusch<br />

zerschneidet die Stille. Es ist die aufgezeichnete Stimme<br />

eines Mobiltelefons, erst leise, dann immer lauter: »Nimm<br />

ihn in den Mund. – Nein. – Du nimmst ihn sofort in den<br />

Mund! – Nein!.« Alle im Raum sind jetzt wach. »Unverschämtheit«,<br />

grunzt jemand. Ich gucke zu Franzi: Schulterzucken.<br />

Sie schaut Adonis an, der zu mir, ich schüttele den<br />

Kopf. Unsere Blicke wandern zu der Tasche neben Franzi.<br />

»Nimm ihn in den Mund«, sagt die Tasche, »Nein«. Meine<br />

Freundin ist kreideweiß. Wir beide wissen, dass die Tasche<br />

nicht mir gehört. Franzi zittert. »Mach es aus«, flüstere<br />

ich. »Nein«, ruft die Tasche. Und dann ist es vorbei.<br />

Zornesbleich murmelt Franzi: »Ich bring ihn um«, und<br />

meint wohl ihren Bruder. Adonis grinst und beugt sich<br />

nach vorn. »Zigarette danach?« fragt er mit abgrundtiefer<br />

Stimme. Heirate mich, denke ich.<br />

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