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N O VEMBER 2013 - Nationaltheater Mannheim

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MEIN SCHWARZER WILDER WESTENAutor Thomas Arzt zu seinem neuen Stück In den Westen (UA)Die Angst hat ein Gesicht. Das Gesicht eines totenJungen. Ein Bild aus der Vergangenheit. Dieses Bildstammt aus einem Archiv, einem Polizeiakt. Es istder Akt des neunzehnjährigen Alois Samer, der 1953in der Südsteiermark erschossen wurde. Das Foto,auf das ich durch Zufall gestoßen bin und das Auslöserwar, mich mit seiner Geschichte zu befassen,hat etwas Unschuldiges. Und etwas Kindliches.Ich weiß nicht genau warum, aber im Totenbild desAlois Samer steckt eine Kindheitserinnerung. Erstim Schreiben habe ich meine eigenen Erinnerungendarin erkannt.Ich erinnere mich an einen Sommer, als ich neunJahre alt war. Damals hatte ich begonnen, die altenSpielfiguren meines Vaters zusammenzusuchenund in einem Haufen Sand zu postieren. Die Figurenwaren aus Plastik. In ihnen waren die Gesichter vonKriegern und Soldaten, von Cowboys, Trappern undIndianern geschnitzt. Ihnen fehlten oft die Glieder.Aber solange sie alle eine Waffe besaßen, waren siegut genug fürs kindliche Kriegsspiel.Im selben Sommer rekrutierte uns einer der Nachbarjungen,der schon etwas älter war, als Soldaten.Wir spielten nun Krieg, nicht mehr, wie ich esdavor getan hatte, mit den Figuren im Sand, sondernwir selbst waren die Körper, die beschossenwurden. Wir wurden gefangen gehalten, vomFeind, im Dachboden einer alten Garage. Einerder Nachbarjungen hielt Wache. Um hier rauszu kommen, mussten wir laufen, schreien undum uns schlagen. Das war das Ende eines Sommers,in dem mir klar wurde, dass ich einer derSchwächeren und Kleineren und Feigeren war.Nach dem Sommer kam der Herbst und in derSchule stellte ich fest, es gab die noch Schwächerenund die noch Feigeren. Wir hatten es in derGruppe auf den dicken Brunner abgesehen. Wir foltertenihn mit hässlichen Sprüchen und hinterhältigenSpielen.Nach dem Herbst kam der Winter und es war derWinter nach einem tatsächlichen Krieg, der nochweitere Kriege nach sich zog. Am Balkan, wo ichimmer nur meinen Winnetou auf dem Pferd in derPrärie reiten gesehen hatte, schoss man sich nuntatsächlich die Schädel ein und Massengräberwurden errichtet. Ich bekam davon nichts mit. Ichwusste nur, es waren neue Mitschüler in meinerKlasse, die nicht meine Sprache konnten. Sie wohntenin alten Häusern, zusammen mit anderen, dienicht meine Sprache konnten, am Rande des Dorfes,und da ging man nicht hin. In der Nacht, hießes, waren die Väter der neuen Kinder unterwegs,denn sie alle hätten keine richtige Arbeit und siealle wären kriminell. Nun wusste ich, dass nicht ichund nicht einmal der Brunner der Schwächste imDorf sein mussten, sondern es waren die Ex-Jugoslawen.Nun sah ich, dass die Schwächsten und dieFeigsten und die Kleinsten am Ende zum Feindbildeines ganzen Dorfes werden konnten. Damit endeteein Jahr meiner Kindheit und ich ging bald aufsGymnasium. Da waren weder ein Brunner noch dieEx-Jugoslawen und ich merkte, mehr unbewusst,als bewusst, ich war auf der Seite der Starken.Ich bin noch immer auf der Seite der Starken. Dasist die Konsequenz einer enormen Ungerechtigkeit.Denn ob ich will oder nicht, diese Tatsache entscheidetbeinhart über mein Glück und das UnglückThomas Arzt wurde 1983 im oberösterreichischen Schlierbach geboren. Er studierteTheater-, Film- und Medienwissenschaft sowie Germanistik, Philosophie undPsychologie an der Universität Wien. In der Spielzeit 2010/2011 war er Hausautor amSchauspielhaus Wien, wo auch im Rahmen des Autorenprojekts »stück/für/stück«sein erstes Theaterstück Grillenparz entstand, das mit dem Hans-Gratzer Stipendiumausgezeichnet und in der Regie von Nora Schlocker uraufgeführt wurde. WeitereStipendien waren u. a. das Dramatikerstipendium der Stadt Wien sowie das Thomas-Bernhard-Stipendium am Landes theater Linz. Beim Heidelberger Stückemarkt2012 wurde Thomas Arzt für Alpenvorland mit dem Autorenpreis ausgezeichnet.In den Westen ist sein drittes Theaterstück und entstand als Auftragswerk für das<strong>Nationaltheater</strong> <strong>Mannheim</strong>.anderer. Das ist die eigentliche Wahrheit, die in demBild vom toten Cowboy liegt. Ich lebe recht gut aufdem Boden, der für andere unerreichbar bleibt, zumkriminellen Schlachtfeld wird oder zum sozialenAbstellgleis. Wenn Europa heute über Grenzen entscheidet,weiß ich, ich bin innerhalb der Grenzen.Und ich bin Teil des europäischen Westens – auchwenn das eine große Lüge ist. Österreich ist sicherlichnicht der Westen Europas.Es gibt ein Selbstverständnis in Europa, das sichdas Etikett westlich umgehängt hat. Und ich habelange nicht daran gezweifelt, dass das falsch seinkönnte. Auch meine Großeltern hatten ja immergesagt, dass aus dem Osten nur der Russe kommt.Und das sei gefährlich. Oder es kommt der Tscheche.Nur dass der Tscheche eigentlich aus dem Nordenkommt, wurde in diesem Ost-West-Reden übersehen.Es war ein Reden, das uns bis heute prägt.Somit hat das Reden über die Himmelsrichtungennie wirklich aufgehört. Im Gegenteil. Immer mehrIN DEN WESTEN (UA) von Thomas ArztPremiere am 23. November <strong>2013</strong> um 19.30 Uhr im Schauspielhausanschließend Premierenfeier in der Lobby WerkhausThomas Arzt © Johannes GebertInszenierung Cilli Drexel | Bühne Maren Greinke | Kostüme Janine WerthmannMusik Till Rölle / Jörg Teichert | Video Philipp Contag-Lada | Licht Robby SchumannDramaturgie Ingoh BruxMit Katharina Hauter, Michaela Klamminger, Anke Schubert; Konstantin Lindhorst, David Müller,Sascha Tuxhorn u. a.Voraufführung 21. November <strong>2013</strong> | Weitere Vorstellung 29. November <strong>2013</strong>wird wieder von Richtungen gesprochen, aus denendas Gute oder auch das Böse käme. Das Reden überdie Himmelsrichtungen ist gefährlich. Das Redenvom Westen lässt ein Territorium der Macht entstehen,das sich von anderen Territorien abgrenzt.Spätestens seit dem Sprechen über eine Finanzkrise,die eigentlich eine Demokratiekrise genanntwerden müsste, ist das Hochziehen der neuen,europäischen Grenzen deutlich geworden. Unddas Ende von Europa ist augenscheinlich zurückgekehrt.Denn das Ende von Europa ist markiertvon einer wirtschaftlichen Trennlinie. Sie verläuftgerade vor meiner Nase vorbei. Da werden sie ganzklar separiert, die Schwachen und die StarkenEuropas. Die Landkarte Europas, die Verzeichnungdes europäischen Kontinents, zerfällt. Das ist daspessimistische Bild, das bleibt. Als Autor versteheich mich nicht als jemand, der schönfärbt. Ich malegerne schwarz. IN DEN WESTEN ist sicher äußerstschwarz geworden.Thomas Arzt, September <strong>2013</strong>Der AUTORENTREFF mit Thomas Arzt am 21. November <strong>2013</strong> in der LobbyWerkhaus wurde auf 21.30 Uhr verlegt, sodass er im Anschluss an die Voraufführungvon IN DEN WESTEN (UA) besucht werden kann.

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