13.07.2015 Aufrufe

Lehrbuch der Oralen Medizin - Verlag Systemische Medizin

Lehrbuch der Oralen Medizin - Verlag Systemische Medizin

Lehrbuch der Oralen Medizin - Verlag Systemische Medizin

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Erich Wühr, Wolfgang H. Koch (Hrsg.)<strong>Lehrbuch</strong><strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>Grundlagen und Praxiskonzepte<strong>der</strong> <strong>Systemische</strong>n ZahnmedizinHerausgeberDr. med. dent. Erich Wühr, MSc, Professor amGesundheitscampus <strong>der</strong> Technischen Hochschule DeggendorfDr. med. dent. Wolfgang H. Koch, Zahnarzt, Umwelt-Zahn<strong>Medizin</strong>, orales Gesundheitsmanagement; Zentrum fürGanzheitliche Zahn<strong>Medizin</strong>, Tagesklinik für MetallfreieImplantate, HerneAutorenDr. med. Frank Bartram, WeißenburgTanja Blank, Lauf an <strong>der</strong> PegnitzDr. med. dent. Uwe Drews, RodgauDr. med. dent. Wolfgang Funk, Bad Kötzting und RegensburgHardy Gaus, StraßbergDr. med. dent. Wolfgang H. Koch, HerneDr. med. dent. Wolf-Dieter Seeher, MünchenDipl.-Psych. Martin Simmel, RegensburgDr. med. Roland Werk, WürzburgDr. med. dent. Thomas Weidenbeck, DeggendorfDr. med. dent. Ann Wittenberg, BochumProf. Dr. Erich Wühr, MSc, Bad Kötzting und DeggendorfErich Wühr, Wolfgang H. Koch - <strong>Lehrbuch</strong> <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>Copyright © 2013<strong>Verlag</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Medizin</strong> AG


Dr. med. Frank BartramFacharzt für Allgemeinmedizin, Kurative und PräventiveUmweltmedizin in Weißenburg/BayernSeit 1993 eigene überregionale Spezialpraxis für KurativeUmweltmedizin, Praxisschwerpunkte: umweltmedizini scheDiagnostik und Therapie, europaweite Beratung von Firmenin belasteten GebäudenTanja BlankZahntechnikerinAusbildung zum Zahntechniker, 2006 Gesellenprüfung,2009 Betriebswirt des Handwerks, danach einjährige Tätigkeitin zahntechnischen Laboren in Marburg und Warburg,seit 2011 bei Zahntechnik Blank in Lauf a.d. Pegnitz;Arbeitsschwerpunkt: Verarbeitung von Kunststoffen,AbrechnungDr. med. dent. Uwe DrewsZahnarzt1978–1985 Studium <strong>der</strong> BWL und Zahnmedizin, seit 1988Nie<strong>der</strong>lassung in Rodgau, 2003 Gründung des Zentrumsfür ganzheitliche Zahnmedizin mit eigenem Meisterlabor,2005 QM-Zertifizierung, Ressortleiter UmweltZahn<strong>Medizin</strong>in <strong>der</strong> GZM, Referent und Autor von FachartikelnDr. med. dent. Wolfgang FunkZahnarztStudium <strong>der</strong> Zahnmedizin an <strong>der</strong> LMU in München, von1976 bis 2010 eigene Praxis in München, seit 2006 Partnerschaftin <strong>der</strong> Zahnarztpraxis Dr. Erich Wühr in Bad Kötzting,seit 2013 Partnerschaft in <strong>der</strong> Praxisgemeinschaft <strong>Systemische</strong><strong>Medizin</strong> in Regensburg, Praxisschwerpunkte:Kraniofaziale Orthopädie, <strong>Systemische</strong> Zahn<strong>Medizin</strong>Hardy GausZahnarzt und HeilpraktikerSeit 1984 nie<strong>der</strong>gelassen als Zahnarzt in Straßberg/Zollernalbkreis,Heilpraktikertätigkeit seit 1996, Praxisschwerpunkte:Ganzheitliche Zahnmedizin und Schmerztherapie,Akupunktur, Störherdbehandlung, Homöopathie; seit 1996Dozent für Akupunktur, Ganzheitliche Zahnmedizin undSchmerztherapieDr. med. dent. Wolfgang H. KochZahnarztDr. Koch leitet das Zentrum für Ganzheitliche Zahn<strong>Medizin</strong>mit angeschlossener Tagesklinik für Metallfreie Implantatein Herne. Als engagierter Umwelt-Zahnarzt referiert erauf Symposien und nimmt an zahlreichen, fachübergreifendenKolloquien teil. Als kritischer Autor etablierte er diewissenschaftlich orientierte, ganzheitliche Zahn<strong>Medizin</strong>national und internationalDr. med. dent. Wolf-Dieter SeeherZahnarzt1979 Staatsexamen in München, seit 1982 nie<strong>der</strong>gelassen inMünchen, von 1999 bis 2007 Vizepräsident <strong>der</strong> DGFDT.Lehrer für Funktionslehre in <strong>der</strong> APW, beim ZahnärztlichenArbeitskreis Kempten und beim GnathologischenArbeitskreis Stuttgart. Spezialist für Funktionsdiagnostikund -therapie (DGFDT). Spezialist für rekonstruk tiveZahnmedizin, Ästhetik und Funktion (EDA)Dipl.-Psych. Martin SimmelDiplom-PsychologeLangjähriger Abteilungsleiter an <strong>der</strong> Ersten Deutschen Klinikfür TCM in Bad Kötzting, seit 2012 Geschäftsführer <strong>der</strong>Professor Wühr und Simmel Gesundheits MANAGE-MENT Systeme in Regensburg mit Schwerpunkt BetrieblichesGesundheitsmanagement, Mitbegrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Praxisgemeinschaft<strong>Systemische</strong> <strong>Medizin</strong> in Regensburg,Lehrbeauftragter an <strong>der</strong> Hochschule RegensburgDr. med. dent. Thomas WeidenbeckZahnarztStudium <strong>der</strong> Zahnmedizin an <strong>der</strong> RWTH Aachen, 1993Nie<strong>der</strong>lassung in Hengersberg, seit 2010 in Deggendorf,Praxisschwerpunkte: Endodontie, Parodontologie, Funktionsdiagnostik,seit 2002 sachverständiger Gutachter fürProthetik, Konservierende Zahnheilkunde und FunktionsanalyseDr. med. Dipl.-Biol. Roland WerkArzt für Mikrobiologie, Arzt für Laboratoriumsmedizin,MikrobiologeStudium <strong>der</strong> Mikrobiologie, Molekularbiologie, <strong>Medizin</strong>,seit 1984 wissenschaftlicher Leiter des BABENDE Institutsin Würzburg mit Schwerpunkt <strong>Systemische</strong> Mikrobio logie,nie<strong>der</strong>gelassener MikrobiologeDr. med. dent. Ann WittenbergKieferorthopädinStudium an <strong>der</strong> Rheinischen Friedrich-Wilhelms-UniversitätBonn, seit 1991 nie<strong>der</strong>gelassen in eigener Praxis in Velbert,seit 2009 zusätzliche Nie<strong>der</strong>lassung in Herne in <strong>der</strong>Kin<strong>der</strong>zahnarztpraxis Dr. Koch; Praxisschwerpunkte: Kieferorthopädie,CMD, Kraniofaziale OrthopädieProf. Dr. Erich Wühr, MScZahnarzt, Osteopath DROM, MSc KieferorthopädieSeit 1983 als Zahnarzt in Bad Kötzting nie<strong>der</strong>gelassen, seit1994 in privater Praxis mit Praxisschwerpunkt KraniofazialeOrthopädie bzw. myofasziale Schmerzen innerhalb undaußerhalb des Kausystems, seit 2012 Professur für das LehrgebietGesundheitsför<strong>der</strong>ung und Prävention am Gesundheitscampus<strong>der</strong> Technischen Hochschule DeggendorfErich Wühr, Wolfgang H. Koch - <strong>Lehrbuch</strong> <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>Copyright © 2013<strong>Verlag</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Medizin</strong> AG


Zuschriften, Verbesserungsvorschläge und Kritik<strong>Verlag</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Medizin</strong> AGMüllerstraße 7 – 93444 Bad Kötztinginfo@verlag-systemische-medizin.deWichtiger Hinweis für den LeserDurch Forschung und klinische Erfahrungen unterliegen die Erkenntnisse in <strong>Medizin</strong> und Naturwissenschaften einembeständigen Wandel. Die Autoren haben sorgfältig geprüft, dass die in diesem Werk getroffenen therapierelevantenAussagen und Angaben dem <strong>der</strong>zeitigen Wissensstand entsprechen. Hierdurch wird <strong>der</strong> Leser dieses Werkes jedoch nichtvon <strong>der</strong> Verpflichtung entbunden, ggf. auch anhand an<strong>der</strong>er Werke zu diesem Thema zu prüfen, ob die dort getroffenenAussagen und Angaben von denen in diesem Werk abweichen. Der Leser trifft seine Therapieentscheidung in eigenerVerantwortung. Ggf. erwähnte Produktnamen sind geschützte Marken o<strong>der</strong> eingetragene Markenzeichen <strong>der</strong> jeweiligenEigentümer, Unternehmen o<strong>der</strong> Organisationen, auch wenn sie im Einzelnen nicht ausdrücklich als solche gekennzeichnetwurden.Bibliografische Information <strong>der</strong> Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in <strong>der</strong> Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über abrufbar.Alle Rechte vorbehalten1. Auflage 2013Das Werk ist, einschließlich aller seiner Teile, urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb <strong>der</strong> durch dasUrheberrechtsgesetz gesetzten Grenzen ist ohne ausdrückliche und schriftliche Zustimmung des <strong>Verlag</strong>es unzulässig undstrafbar. Dies gilt insbeson<strong>der</strong>e für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung undVerarbeitung in digitalen On- und Offlinemedien bzw. -systemen.Lektorat: Lisa Lorz, BayreuthRedaktion: Lisa Lorz, Bayreuth; Sabine Neumann, MalmöFotos: siehe Abbildungsnachweis im AnhangIllustrationen: Stefan Dangl, MünchenSatz und Herstellung: SZ Publishing Support, MünchenDruck und Bindung: aprinta druck GmbH, WemdingUmschlaggestaltung: Mogwitz Schwarz Rusitschka, München LeipzigISBN 978-3-86401-005-7Aktuelle Informationen finden Sie im Internet unter www.verlag-systemische-medizin.deErich Wühr, Wolfgang H. Koch - <strong>Lehrbuch</strong> <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>Copyright © 2013<strong>Verlag</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Medizin</strong> AG


VIIInhaltVorwort <strong>der</strong> HerausgeberVIIITeil I | Grundlagen <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong> 1Kapitel 1 | <strong>Systemische</strong> Grundlagen <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong> 3Kapitel 2 | Anatomisch-strukturelle und neuroanatomische Grundlagen 17Kapitel 3 | Toxikologische und immunologische Grundlagen 35Kapitel 4 | Schmerzmedizinische Grundlagen 45Kapitel 5 | Mikrobiologische Grundlagen 59Kapitel 6 | Psychologische und psychosomatische Grundlagen 85Kapitel 7 | Anamnese in <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong> 97Teil II | Teilgebiete <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong> 105Kapitel 8 | Umwelt-Zahn<strong>Medizin</strong> und Umwelt-ZahnTechnik 107Kapitel 9 | Parodontologie und Immunologie 137Kapitel 10 | Kraniofaziale Orthopädie 155Kapitel 11 | <strong>Systemische</strong> Restaurative Zahnmedizin 179Kapitel 12 | <strong>Systemische</strong> Kieferorthopädie 195Kapitel 13 | Oralmedizinische Prävention und systemische Kin<strong>der</strong>zahnheilkunde 213Kapitel 14 | Schmerzzahnmedizin 229Kapitel 15 | Psychische Erkrankungen und ihre Manifestationen im Mundraum 269Teil III | Organisation und praktische Umsetzung <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong> 283Kapitel 16 | Networking 285Kapitel 17 | Wissenschaftliches Qualitätsmanagement 297Anhang 301Abkürzungsverzeichnis 303Abbildungsnachweis 304Stichwortverzeichnis 305Nachwort <strong>der</strong> Herausgeber 316Erich Wühr, Wolfgang H. Koch - <strong>Lehrbuch</strong> <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>Copyright © 2013<strong>Verlag</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Medizin</strong> AG


VIIIVorwort <strong>der</strong> HerausgeberVorwort <strong>der</strong> HerausgeberIn den vergangenen Jahren wurden in Politik und Medienimmer wie<strong>der</strong> Stimmen laut, Forschung und Lehre<strong>der</strong> Zahnmedizin aus den medizinischen Fakultäten<strong>der</strong> Universitäten an die Fachhochschulen zu verlagern– sozusagen aus einer medizinischen Disziplin eineDisziplin <strong>der</strong> angewandten Ingenieurwissenschaften zumachen. Diese Meinungen spiegeln weitgehend dasImage <strong>der</strong> zahnärztlichen Berufsausübung in unserermo<strong>der</strong>nen Zivilisationsgesellschaft wi<strong>der</strong>: Der Zahnarztals „besserer“ Handwerker – Löcher bohrend undwie<strong>der</strong> abfüllend, Prothesen handwerklich herstellend,auf Kosmetik und Aussehen achtend. Und seien wirehrlich: Dieses Image ist weitgehend auch berechtigt.Die Zahnmedizin wird in einem eigenen Studium gelehrtund geprüft. <strong>Medizin</strong>ische Disziplinen werdennur peripher vermittelt und abgefragt. Zahnmedizinersind tatsächlich als „Schmalspurmediziner“ ausgebildet.Ihr Berufsleben verbringen sie mehr o<strong>der</strong> wenigerisoliert von an<strong>der</strong>en medizinischen Fachdisziplinen.Nur vereinzelt und rudimentär werden Schnittstellenpraktiziert: Notfallmedizin, Berücksichtigung <strong>der</strong>Wirkung systemischer Medikamente in <strong>der</strong> Oralchirurgie,immunologische Aspekte in <strong>der</strong> Parodontologie,<strong>der</strong> Zusammenhang von Diabetes und Parodontopathieno<strong>der</strong> von kraniomandibulären Form- und Funktionsstörungenund orthopädischen Befunden undSymptomen.Dabei stellen sich tagtäglich viele Patienten mit Anliegenund Fragestellungen beim Zahnarzt vor, die vomZahnarzt interdisziplinäres medizinisches Denken,Entscheiden und Handeln erfor<strong>der</strong>n. Zum Beispiel:❚❚❚❚❚❚„Ich leide unter Allergien. Vertrage ich die zahnärztlichenMaterialien, die ich im Mund habe?“.O<strong>der</strong>: „Vertrage ich die Materialien, die in meinemMund eingesetzt werden sollen?“„Ich leide unter Parodontitis. Ist mein Immunsystemzu schwach?“„Ich leide unter Kopf- und Nackenschmerzen. Hatdas was mit meinen schiefen Zähnen zu tun?“„Ich leide unter Schlafstörungen. Können Sie alsZahnarzt etwas für mich tun?“„Ich habe Angst vor <strong>der</strong> zahnärztlichen Behandlung.Können Sie mir die Angst nehmen?“„Mein Kind hat schiefe Zähne. Welche Rolle spieltdas für seine körperliche Entwicklung?“❚ „Mein Kind leidet unter einer Skoliose. Hat das wasmit seinen schiefen Zähnen zu tun?“❚ „Ich leide unter chronischen Schmerzen? Was könnenSie als Zahnarzt für mich tun?“Außerdem: Der Zahnarzt ist <strong>der</strong>jenige Facharzt, denMenschen routinemäßig und regelmäßig aufsuchen.Daraus ergeben sich für uns Zahnärzte die Gelegenheitund die allgemeine ärztliche Verantwortung, eine umfassendeAnamnese zu erstellen und medizinische Problemerechtzeitig zu erkennen sowie dem Betroffenenvertiefende Untersuchungen und geeignete Lösungenanzuraten.Das Problem: Die meisten Patienten erwarten vonihrem Zahnarzt nicht, dass er sich auch um medizinischeProbleme kümmern kann und muss. Sie kommenzum „Nachschauen“ und zur Zahnsteinentfernung.Sie wissen nicht, dass zahnärztliche Befundeauch medizinische Befunde sind und dass beides oftmiteinan<strong>der</strong> zusammenhängt.Es liegt an uns Zahnärzten – an jedem Einzelnenvon uns –, dass sich dies än<strong>der</strong>t. Es ist die Aufgabe <strong>der</strong><strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>, die Zahnmedizin wie<strong>der</strong> mitten imKreis <strong>der</strong> medizinischen Disziplinen zu platzieren – imBewusstsein unserer Patienten und im Bewusstseinvon uns Oralmedizinern.Die Orale <strong>Medizin</strong> umfasst diagnostische und therapeutischeMethoden und Vorgehensweisen für Patientenanliegenund Probleme, die über die lokale Perspektive<strong>der</strong> Zahnmedizin hinausgehen und diesystemisches und interdisziplinäres Wahrnehmen,Denken, Entscheiden und Handeln erfor<strong>der</strong>n. DieNotwendigkeit dazu ergibt sich daraus, dass das KraniomandibuläreSystem intensiv mit an<strong>der</strong>en Teilsystemendes biologischen Systems Mensch vernetzt ist. DieseVernetzungen beschreiben wir im ersten Teil des Buchsüber die Grundlagen <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong> auf verschiedenenEbenen: <strong>der</strong> anatomisch-funktionellen und neurophysiologischenEbene (▶ Kap. 2), <strong>der</strong> immunologischenund toxikologischen Ebene (▶ Kap. 3), <strong>der</strong>schmerzmedizinischen (▶ Kap. 4), <strong>der</strong> mikrobiologischen(▶ Kap.5) und <strong>der</strong> psychologischen Ebene(▶ Kap.6). Im ersten Kapitel besprechen wir außerdemdie Grundlagen <strong>der</strong> <strong>Systemische</strong>n <strong>Medizin</strong>. Sie erklärtdas Prinzip <strong>der</strong> Selbstregulation und die Möglichkeit,dass Form- und Funktionsstörungen des Kranioman-Erich Wühr, Wolfgang H. Koch - <strong>Lehrbuch</strong> <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>Copyright © 2013<strong>Verlag</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Medizin</strong> AG


Vorwort <strong>der</strong> HerausgeberIXdibulären Systems auf die vernetzten Systeme belastendwirken und umgekehrt (▶ Kap. 1).Bei zahnärztlichen Befunden und Symptomen stelltsich die Frage, welche belastenden Wechselwirkungenaus vernetzten Systemen neben lokalen Belastungenvorliegen. Und umgekehrt: Bei systemischen Befundenund Symptomen müssen wir fragen, welche belastendenWechselwirkungen aus dem KraniomandibulärenSystem bestehen. Die übliche zahnärztliche Anamneseund Befun<strong>der</strong>hebung wird deshalb in <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>deutlich erweitert. In Kapitel 7 beschreiben wir,wie <strong>der</strong> Oralmediziner von einer Basisanamnese ausgehtund entsprechend <strong>der</strong> individuellen Patientensituationschrittweise die Anamnese und Befun<strong>der</strong>hebungerweitert, um zu einer umfassenden Bewertung des Patientenund seiner Lebensbedingungen zu kommen.Die Orale <strong>Medizin</strong> umfasst verschiedene Teildisziplinen,von denen <strong>der</strong> zweite Teil des Buchs in den Kapiteln8 bis 17 handelt:❚❚❚❚Die Themen von Kapitel 8 sind die Umwelt-Zahn-<strong>Medizin</strong> und die Umwelt-ZahnTechnik. Die Umwelt-Zahn<strong>Medizin</strong>beschäftigt sich als Teilgebiet <strong>der</strong>Umweltmedizin mit <strong>der</strong> Verträglichkeit (Biokompatibilität)zahnärztlicher Werkstoffe aus immunologischerund toxikologischer Sicht. In <strong>der</strong> Umwelt-ZahnTechnikgeht es um die Herstellung vonZahnersatz unter Berücksichtigung von möglichenWechselwirkungen <strong>der</strong> verwendeten Materialienmit <strong>der</strong> individuellen Verträglichkeit <strong>der</strong> Patienten.In Kapitel 9 werden chronische Entzündungen imKausystem besprochen. Parodontopathien und an<strong>der</strong>echronische Entzündungen im Kausystem belastendas Immunsystem und können entsprechendeFernwirkungen haben. Und umgekehrt: Bei <strong>der</strong> Diagnostikund Therapie von Parodontopathien müssenimmunologische Zusammenhänge berücksichtigtwerden.Kapitel 10 ist <strong>der</strong> Kraniofazialen Orthopädie gewidmet.Sie ist ein interdisziplinäres Konzept zur Diagnostikund Therapie von Patienten mit MuskelundGelenkschmerzen innerhalb und außerhalb desKraniomandibulären Systems.In Kapitel 11 wird die <strong>Systemische</strong> RestaurativeZahnmedizin diskutiert. Die restaurative bzw. prothetischeZahnmedizin hat die Aufgabe, Form undFunktion des Kraniomandibulären Systems wie<strong>der</strong>herzustellen.Die eingesetzten Methoden reichen❚❚❚❚❚von <strong>der</strong> Füllungstherapie bis zur Implantatprothetik.Thema von Kapitel 12 ist die <strong>Systemische</strong> Kieferorthopädie.Ausgeprägte Form- und Funktionsstörungendes Kraniomandibulären Systems müssenkieferorthopädisch behandelt bzw. vorbehandeltwerden, und zwar bei Erwachsenen ebenso wie beiKin<strong>der</strong>n. Die <strong>Systemische</strong> Kieferorthopädie berücksichtigtdabei die Vernetzungen und Wechselwirkungenmit an<strong>der</strong>en Teilsystemen des Körpers. Geradebei Kin<strong>der</strong>n ist die körperliche, emotionaleund mentale Entwicklung maßgeblich von <strong>der</strong> Entwicklung<strong>der</strong> Form und Funktion des KraniomandibulärenSystems abhängig, und umgekehrt.In Kapitel 13 werden Prävention und systemischeKin<strong>der</strong>zahnheilkunde besprochen. Volkskrankheitenwie Karies und Parodontopathien sind nichtnur lokale Beschwerden, son<strong>der</strong>n wirken systemischauf den ganzen Körper. Zahnfehlstellungen undKieferanomalien sind überwiegend genetisch angelegt,entstehen jedoch zum Teil aufgrund belasten<strong>der</strong>Lebensbedingungen. Eine präventive Lebensweisemuss von klein auf geübt werden und kannsogar schon in <strong>der</strong> Schwangerschaft beginnen.Kapitel 14 ist eine ausführliche Darstellung <strong>der</strong>Schmerzzahnmedizin, die sich als Teilgebiet <strong>der</strong>Schmerzmedizin mit <strong>der</strong> Diagnostik und Therapievon orofazialen Schmerzen beschäftigt. Dabei kommendie unterschiedlichen Schmerzformen, mit denen<strong>der</strong> Oralmediziner konfrontiert wird, ebensozur Sprache wie die medikamentöse allopathischeSchmerztherapie und komplementärmedizinischeMethoden zur Schmerzbekämpfung.In Kapitel 15 werden psychische Erkrankungen undihre Manifestationen im Mundraum besprochen.Statistisch betrachtet, leidet je<strong>der</strong> vierte Patient ineiner Zahnarztpraxis an einer psychosomatischenbzw. psychiatrischen Krankheit. Dies kann diezahnärztliche Behandlung unter Umständen erheblichbeeinflussen. Der Oralmediziner sollte deshalbin <strong>der</strong> Lage sein, psychosomatische und psychiatrischeStörungen bei seinen Patienten zu erkennenund entsprechende Maßnahmen einzuleiten.In Kapitel 16 geht es um das Thema Networking.Komplexe Patientenanliegen und Probleme erfor<strong>der</strong>neine interdisziplinäre Zusammenarbeit vonZahnärzten, Ärzten und weiteren Therapeuten.Schritt für Schritt wird besprochen, wie interdiszi-Erich Wühr, Wolfgang H. Koch - <strong>Lehrbuch</strong> <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>Copyright © 2013<strong>Verlag</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Medizin</strong> AG


XVorwort <strong>der</strong> Herausgeber❚plinäre Netzwerke aufgebaut, gepflegt und unterhaltenwerden.Im abschließenden Kapitel 17 wird das wissenschaftlicheQualitätsmanagement in <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>besprochen. Die Orale <strong>Medizin</strong> steckt aus wissenschaftlicherSicht noch in den Kin<strong>der</strong>schuhen.Viel Grundlagenforschung und klinische Studienmüssen noch betrieben werden. Die Komplexität<strong>der</strong> Zusammenhänge macht es schwierig, geeigneteund praktikable Konzepte dafür zu finden. Einfacherdurchzuführen sind dagegen Praxisstudien:Bei jedem Patienten kann <strong>der</strong> behandelnde Zahnarztim Behandlungsverlauf abfragen, ob und inwelchem Maße sich die Lebensqualität des Patientenverbessert hat. Am Beispiel <strong>der</strong> KraniofazialenOrthopädie wird in fünf Schritten dargelegt, wieein solches Konzept des Qualitätsmanagements erarbeitetund in die Praxis eingeführt werden kann.Der Anhang des Buches umfasst ein Abkürzungsverzeichnis,den Abbildungsnachweis und ein ausführlichesStichwortverzeichnis.Dieses Buch soll Wissen und Fähigkeiten vermitteln,die einen Zahnmediziner wie<strong>der</strong> mehr zum <strong>Medizin</strong>ermachen. Es soll helfen, die Trennung von Zahnmedizinund <strong>Medizin</strong> zu überwinden und die Zahnmedizinwie<strong>der</strong> mitten im Kreis <strong>der</strong> medizinischen Teildisziplinenzu platzieren. Durch die Orale <strong>Medizin</strong> wird dieZahnmedizin (wie<strong>der</strong>) zur Zahn-<strong>Medizin</strong> – und <strong>der</strong>Zahnarzt wird zum Zahn-Arzt. Er wird zum Oralmediziner.Erich WührBad Kötzting,im Sommer 2013Wolfgang H. KochHerne, im Sommer 2013Erich Wühr, Wolfgang H. Koch - <strong>Lehrbuch</strong> <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>Copyright © 2013<strong>Verlag</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Medizin</strong> AG


172Anatomisch-strukturelleund neuroanatomischeGrundlagenErich Wühr22.1 Anatomisch-strukturelle Vernetzungen des Mundraums 182.1.1 Anatomisch-strukturelle Vernetzung im Fasziensystem 182.1.2 Histologie und Funktion des Bindegewebes 212.2 Neuroanatomische Vernetzung des Mundraums 232.2.1 Funktionen des Nervus trigeminus 232.2.2 Vernetzung <strong>der</strong> sensiblen Kerne des Nervus trigeminus 242.3 Gleichgewichtsregulation und Körperhaltung 262.3.1 Gleichgewichtsregulation als Funktion desPosturalen Systems 262.3.2 Reflexapparat 272.3.3 Kortikale und subkortikale Zentren 272.3.4 Nervus trigeminus 282.3.5 Kleinhirnsystem 282.3.6 Emotionaler Anteil <strong>der</strong> Psyche 282.4 Ätiologie und Pathogenese von Körperfehlhaltungenund Beweglichkeitseinschränkungen 292.4.1 Irritierende und belastende Lebensbedingungen 292.4.2 Pathohistologie des Bindegewebes 312.4.3 Klinische Manifestationen im Fasziensystemals Körperfehlhaltung und Beweglichkeitseinschränkung 322.5 Praktische Konsequenzen für die Orale <strong>Medizin</strong> 33Erich Wühr, Wolfgang H. Koch - <strong>Lehrbuch</strong> <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>Copyright © 2013<strong>Verlag</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Medizin</strong> AG


18 2 Anatomisch-strukturelle und neuroanatomische Grundlagen2Die Orale <strong>Medizin</strong> geht über die lokale Perspektive <strong>der</strong>Zahnmedizin hinaus. Die Notwendigkeit für einen erweitertenBlickwinkel ergibt sich aus den intensivenVernetzungen des Mundraums mit an<strong>der</strong>en Teilsystemendes biologischen Systems Mensch (▶ Kap. 1.1). Indiesem Kapitel werden die anatomisch-strukturellenund neuroanatomischen Vernetzungen des Mundraumsbeschrieben.2.1 Anatomisch-strukturelle Vernetzungen des MundraumsDie anatomisch-strukturellen Vernetzungen des Mundraumsbetreffen das Selbstregulationssystem Bindegewebe– und zwar auf einer strukturell-mechanischenEbene. Die Bedeutung des SelbstregulationssystemsBindegewebe auf biochemischer Ebene ebenso wie beiimmunologischen Prozessen werden in Kapitel 3 beschrieben.2.1.1 Anatomisch-strukturelle Vernetzungim FasziensystemDer Mundraum ist mit dem Fasziensystem im Sinneeines ubiquitären Bindegewebsorgans (▶ Kap. 1.2.2)vernetzt. Histologisch lassen sich verschiedene Artenvon Bindegewebe unterscheiden:❚❚❚❚❚❚❚❚Lockeres faseriges Bindegewebe: Dies ist das interstitielleBindegewebe zwischen den und um die parenchymatösenZellen.Straffes faseriges Bindegewebe: Dieses Bindegewebebildet u.a. das Parodontium, die Ligamente, das Periostund die Faszien von Haut, Muskeln und innerenOrganen sowie die meisten bindegewebigen Gelenke(Syndesmosen) zwischen den Schädelknochen(Suturen).Knorpelgewebe: Dieses Bindegewebe findet sich inKnochen (Gelenkköpfe) und in Gelenken (Gelenkpfannen,Disci und Menisci) sowie in <strong>der</strong> Suturaspheno occipitalis.Knochengewebe: Dieses Gewebe ist das härtesteBindegewebe und bildet das Stützgerüst des muskuloskelettalenSystems.Erich Wühr, Wolfgang H. Koch - <strong>Lehrbuch</strong> <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>Die Hautfaszie als oberflächlichsteFaszienschichtDie oberflächlichste Schicht des Bindegewebssystemsbildet die Hautfaszie (subkutanes Bindegewebe). Indiesem Bindegewebe verlaufen die versorgenden undentsorgenden Blutgefäße <strong>der</strong> Haut. In <strong>der</strong> Hautfaszieverlaufen und enden außerdem die peripheren Nervenmit ihren sensorischen Endorganen. Sie machen dieHaut zum Sinnesorgan und vermitteln den Tastsinnsowie Temperatur- und Schmerzempfinden. Mit Ausnahmedes Gesichts überspannt die Hautfaszie denganzen Körper und ist gegenüber darunter liegendenStrukturen beweglich (Van den Berg 1999, De Morree2001).Muskuloskelettales FasziensystemUnter <strong>der</strong> Hautfaszie liegt das muskuloskelettaleSystem. Jede Muskelzelle ist von interstitiellem Bindegewebeumgeben. Mehrere Muskelzellen sind wie<strong>der</strong>umdurch eine bindegewebige Membran zu einerMuskelfaser gebündelt. Mehrere Muskelfasern werdenvon einer bindegewebigen Hülle zu Muskelfaserbündelnzusammengefasst. Und schließlich wird <strong>der</strong> ganzeMuskel von dem bindegewebigen Muskelbeutel umgeben.Wie in <strong>der</strong> Haut verlaufen und enden auch imMuskel alle Blutgefäße und Nerven in den bindegewebigenStrukturen, die die Muskelzellen versorgen undentsorgen. Auch die Propriozeptoren und Nozizeptoren<strong>der</strong> Muskeln liegen in diesem Bindegewebe(Pischinger und Heine 1983, 2009, Barral und Mercier2001).Nach zentral und peripher werden alle bindegewebigenMuskelhüllen zu Muskelsehnen. Die Muskelseh-Copyright © 2013<strong>Verlag</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Medizin</strong> AG


2.1 Anatomisch-strukturelle Vernetzungen des Mundraums19nen gehen in das Periost von Knochen, in Gelenkknorpelo<strong>der</strong> in Gelenkkapseln über. Auch diese Gewebesind Bindegewebe.Vernetzung des Kraniomandibulären Systems mitdem muskuloskelettalen FasziensystemKranial ist das muskuloskelettale Fasziensystem an <strong>der</strong>Schädelbasis (Okziput, Temporalia, Sphenoid) und amUnterkiefer aufgehängt. In <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong> ist dieAufhängung am Unterkiefer beson<strong>der</strong>s wichtig, da dieräumliche Lage des Unterkiefers wesentlich von denSpannungsverhältnissen des muskuloskelettalen Fasziensystemsabhängt. Diese Zusammenhänge müssenbei <strong>der</strong> Befun<strong>der</strong>hebung (▶ Kap. 7) ebenso berücksichtigtwerden wie bei <strong>der</strong> Therapie mit einer Aufbissschiene(▶ Kap. 10.6.8).LymphozytElastischeFasernNervKapillareKollagenfasernFibrozytParenchymzellenMakrozytProteoglykannetzAbb. 2.1 Schematische Darstellung des interstitiellen Bindegewebes(Grundregulationssystem nach Pischinger) (nach Van den Berg 1999)als Grundregulationssystem (Pischinger und Heine1983, 2009 11 ).2Interstitielles BindegewebeIm Bereich <strong>der</strong> inneren Organe sind alle Parenchymzellenvon interstitiellem Bindegewebe umgeben, dashauptsächlich aus Gewebsflüssigkeit (Lymphe), faserigenBestandteilen (elastische und kollagene Bindegewebsfasern),zellulären Bestandteilen (Fibrozytenund Makrozyten) und aus einem Netzwerk von Makromolekülen(Proteoglykane und Glykosamine) besteht(▶ Abb. 2.1).Nirgendwo im Körper haben Endstrombahnen desBlutgefäßsystems und Nervenendigungen direktenKontakt zu parenchymatösen Geweben. Überall endenBlutgefäße und Nerven im vorgeschalteten interstitiellenBindegewebe. Der gesamte Stoff- und Informationsflusszur Zelle hin und von <strong>der</strong> Zelle weg muss dasinterstitielle Bindegewebe passieren. Die Makromoleküledes interstitiellen Bindegewebes bilden ein dreidimensionalesNetzwerk, das wie ein Transport- und Filtersystemfunktioniert: Schadstoffe werden iminterstitiellen Bindegewebe „herausgefiltert“ und lagernsich dort ab.Grundregulationssystem nach PischingerDas interstitielle Bindegewebe ist auch <strong>der</strong> Ort fürunspezifische Immunreaktionen auf Fremdstoffeo<strong>der</strong> Keime (Makrozytolyse). Erst nach diesenunspezifischen Abwehrreaktionen wird das spezifischeImmunsystem aktiv. Das interstitielle Bindegewebeist phylogenetisch die älteste Form einesImmun- und Regulationssystems. Pischinger undHeine bezeichnen dieses Regulationssystem deshalbErich Wühr, Wolfgang H. Koch - <strong>Lehrbuch</strong> <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>Das interstitielle Bindegewebe ist außerdem die Endstrecke<strong>der</strong> psychoemotionalen Stressreaktion. BeiStress werden Makrozyten durch nervale Impulse undBotenstoffe dazu veranlasst, Entzündungsmediatoren(Zytokine) auszuschütten. Fibrozyten bilden v.a. umdie nozizeptiven Nervenendigungen herum vermehrtkollagene Fasern. Diese „Kollagenmanschetten“ erregendie Nerven und führen zu Schmerzsensationen. In<strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong> sind diese Zusammenhänge beson<strong>der</strong>swichtig, weil psychoemotionaler Stress überdas Kraniomandibuläre System abreagiert wird. In Kapitel10 wird dargelegt, warum das KraniomandibuläreSystem eher ein Stress-Verarbeitungsorgan als ein Kauorganist.Viszerales FasziensystemDie parenchymatösen Zellgruppen innerer Organeund ihr interstitielles Bindegewebe werden durch bindegewebigeHüllen zusammengefasst. Wie bei denMuskeln verlaufen in diesen Organfaszien die Blutgefäßefür die Versorgung und Entsorgung <strong>der</strong> parenchymatösenGewebe sowie die versorgenden peripherenNerven. Ebenfalls wie bei den Muskeln sind innere Organevon einer äußeren bindegewebigen Hülle umgeben.Diese „Organbeutel“ dienen als Befestigung <strong>der</strong>Organe an Wirbelsäule, Brustkorb, Zwerchfell, BauchundRumpfwand sowie am Becken und Beckenboden(▶ Abb. 2.2) (Myers 20010, Schwind 2009, Kahle et al.1991).Die Leber wird beispielsweise durch bindegewebigeSepten in mehrere Leberlappen eingeteilt. Die äußereCopyright © 2013<strong>Verlag</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Medizin</strong> AG


20 2 Anatomisch-strukturelle und neuroanatomische Grundlagen2HerzLeberMagenLeberhülle ist über das Ligamentum coronarium unddie Ligamenta triangulare dextrum und sinistrum amZwerchfell aufgehängt und über das Ligamentum falciformean <strong>der</strong> ventralen Bauchwand befestigt. Auch untereinan<strong>der</strong>stehen die Organe über Faszien miteinan<strong>der</strong>in Verbindung, z.B. Leber und Magen über dasOmentum minus.Die Übergänge in an<strong>der</strong>e Organfaszien, in Muskelfaszieno<strong>der</strong> in das Periost von Knochen verlaufen kontinuierlichund ohne erkennbare Demarkation. ZumBeispiel ist das Perikard über die ganze Fläche des Sternumsmit dessen Periost verbunden. Auch sein kaudalerÜbergang in die Faszie des Zwerchfells ist fließendund kontinuierlich. Man kann nicht erkennen,wo genau das Perikard aufhört und das Zwerchfell beginnt.Dorsal ist das Perikard am Periost <strong>der</strong> Wirbelsäulebefestigt. Diese fasziale Aufhängung ist nicht nurim Bereich <strong>der</strong> Brustwirbelsäule zu finden, son<strong>der</strong>n bishinauf zum zweiten Halswirbel.DünndarmDickdarmAbb. 2.2 Schematische Darstellung des viszeralen FasziensystemsSchädelknochenDura materFalx cerebriDie formgebende Bedeutung des viszeralenFasziensystems für Schädelbasis und GesichtKranial ist das viszerale Fasziensystem am Tuberculumpharyngeale <strong>der</strong> Pars basiliaris des Okziputs aufgehängt.Dieser Zusammenhang lässt Rückschlüsse auf die Bedeutungvon Form und Funktion des viszeralen Fasziensystems(v.a. bei <strong>der</strong> Atmung) für die Morphogenese<strong>der</strong> Schädelbasis zu. Dies ist wie<strong>der</strong>um für die<strong>Systemische</strong> Kieferorthopädie von Bedeutung: Ob sichbei Kin<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Gesichtsschädel mesiofazial (neutralerWachstumstyp), brachyfazial (horizontaler Wachstumstyp)o<strong>der</strong> dolichofazial (vertikaler Wachstumstyp) entwickelt,hängt wohl entscheidend von Form und Funktiondes viszeralen Fasziensystems ab (▶ Kap. 12.4.7).FaszienschichtenAus anatomischer Sicht treten muskuloskelettale undviszerale Faszien an vielen Körperstellen miteinan<strong>der</strong>in Verbindung. In <strong>der</strong> Osteopathie werden unterschiedlicheFaszienschichten differenziert (Heine2006):TentoriumcerebelliAbb. 2.3 Falx cerebri und Tentorium cerebelliErich Wühr, Wolfgang H. Koch - <strong>Lehrbuch</strong> <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>❚❚❚❚❚❚oberflächliche Faszienschicht: muskuloskelettalesFasziensystem mit <strong>der</strong> Hautfaszie (s.o.),mittlere Faszienschicht: viszerales Fasziensystem(s.o.),tiefe Faszienschicht: durales Fasziensystem im Schädelund im Rückenmarkkanal <strong>der</strong> Wirbelsäule.Durales FasziensystemDie Dura mater ist eine Duplikatur <strong>der</strong> Schädelknochenund <strong>der</strong> Wirbel. Sie haftet an den InnenflächenCopyright © 2013<strong>Verlag</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Medizin</strong> AG


2.1 Anatomisch-strukturelle Vernetzungen des Mundraums21<strong>der</strong> Schädelknochen und bildet das innere Periost <strong>der</strong>Schädelknochen. Gleichzeitig ist sie die äußere Hülledes Gehirns. Durch Einstülpungen entstehen die Falxcerebri und das Tentorium cerebelli (▶ Abb. 2.3).Ab dem Foramen magnum setzt sich die Dura nachkaudal bis zum Sakrum als „Duraschlauch“ fort undumhüllt das Rückenmark im Wirbelkanal. Außerdembegleitet sie jeden Spinalnerven zwei bis drei Zentimeternach seinem Durchtritt durch das Foramen vertebrale.Zwischen Duraschlauch und je<strong>der</strong> einzelnenBandscheibe bestehen feine bindegewebige Faserverbindungen.Fest angewachsen ist <strong>der</strong> Duraschlauch nur im Bereichdes Foramen magnum und am Sakrum. Deshalbwird das durale Fasziensystem in <strong>der</strong> Osteopathie auch„kraniosakrales Fasziensystem“ genannt. Das duraleFasziensystem ist als tiefe Faszienschicht über den knöchernenSchädel und die Wirbelsäule mit <strong>der</strong> oberflächlichenund mittleren Faszienschicht verbunden.Wie bei <strong>der</strong> oberflächlichen und mittleren Faszienschichtverlaufen auch in dieser Schicht alle versorgendenund entsorgenden Blutgefäße und Nerven(Randoll und Hennig 2005).Eine Beson<strong>der</strong>heit des duralen Fasziensystems bestehtdarin, dass das Nervengewebe des Gehirns unddes Rückenmarks innen und außen von Gehirnflüssigkeit(Liquor cerebrospinalis) umspült wird (▶ Abb. 2.4).Würde man das Gehirn und das Rückenmark aus seinerHülle herauslösen, bliebe das durale Fasziensystemmit Liquor gefüllt zurück. Der Liquor wird von denPlexus choroidei <strong>der</strong> Gehirnventrikel aus dem Blut gebildet(Blut-Hirn-Schranke). Vom vierten Ventrikelaus tritt <strong>der</strong> Liquor durch das Foramen Luschkae unddas Foramen Magendii in den äußeren Liquorraumüber und umspült Gehirn und Rückenmark. Im Bereich<strong>der</strong> Spinalnerven fließt er in interstitielles Bindegewebeab. Außerdem wird er im venösen Sinus sagittalissuperior ins Blut rückresorbiert. Das Liquorsystemist kein Kreislaufsystem. Der Liquor wird an an<strong>der</strong>erStelle gebildet als er rückresorbiert wird bzw. abfließt.Wir sprechen dabei von Liquorfluktuation: Das Liquorsystemist kein zirkulierendes, son<strong>der</strong>n ein fluktuierendesSystem.Die Einteilung des Fasziensystems in eine oberflächliche(<strong>der</strong>male, muskuloskelettale), mittlere(viszerale) und tiefe (durale) Schicht (▶ Abb. 2.5)hat didaktische Gründe. Tatsächlich ist es ein einzigeskontinuierliches, bindegewebiges System. VonSinus sagittalis superior3. VentrikelAquaeductus cerebri4. VentrikelForamen MagendiiPacchioni-GranulationAbb. 2.4 Das Liquorsystem: Liquor wird in den Seitenventrikeln gebildet,schützt das ZNS vor Stoß und Druck, fließt bei den Spinalnervenin interstitielles Bindegewebe ab und wird vom Sinus sagittalissuperior rückresorbiert.Bedeutung für die Orale <strong>Medizin</strong> ist die Tatsache,dass das Kraniomandibuläre System integrierter Bestandteildieses Systems ist.2.1.2 Histologie und Funktion desBindegewebesHistologisch gesehen, besteht das Bindegewebsorganaus einem Kontinuum von Bindegeweben verschiedenerDichtigkeit: lockeres faseriges Bindegewebe,straffes faseriges Bindegewebe sowie Knorpel- undKnochengewebe (▶ Kap. 2.1.1).Das interstitielle, lockere faserige Bindegewebe istim menschlichen Körper ubiquitär vorhanden. Alle parenchymatösenGewebe „schwimmen“ im interstitiellenBindegewebe und werden von ihm ver- und entsorgt.Es wird deshalb auch als Matrix (= Mutter -gewebe) bezeichnet (Heine 2006). Die Funktion <strong>der</strong>parenchymatösen Gewebe ist grundlegend von <strong>der</strong>Matrixfunktion abhängig. Nach Randoll „ist das Bindegewebedas Wasser, indem <strong>der</strong> Fisch Menschschwimmt“ (Randoll und Hennig 2005). In gleichemMaß wie <strong>der</strong> Fisch von <strong>der</strong> Sauberkeit des Wassers abhängigist, in dem er schwimmt, sind <strong>der</strong> Mensch undErich Wühr, Wolfgang H. Koch - <strong>Lehrbuch</strong> <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>Copyright © 2013<strong>Verlag</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Medizin</strong> AG2


22 2 Anatomisch-strukturelle und neuroanatomische Grundlagen2TiefeFaszienschichtMittlereFaszienschichtKraniosakralesSystemViszeralesSystemFunktionen des Bindegewebes (▶ Abb. 2.5)❚❚Sensorische Funktionen (Tast- und Temperaturempfinden,Propriozeption, Nozizeption).❚❚Ver- und Entsorgung parenchymatöser Gewebe.❚❚Unspezifische und spezifische Immunfunktionen.❚❚Hämo- und Neurodynamik.❚❚Stressreaktion.❚❚Halte- und Stützfunktion (Kraftübertragung).❚❚Aufnahme und Verteilung rhythmischer Kräfte.OberflächlicheFaszienschichtHautfaszie(Fascia superficialis)und Stütz- undBewegungsapparatAbb. 2.5 Die Schichten und Funktionen des Fasziensystems (Bindegewebsorgan)die Funktion seiner parenchymatösen Zellen abhängigvon <strong>der</strong> „Sauberkeit“ und Funktionsfähigkeit seinesBindegewebes.An seinen Grenzflächen wird das lockere Bindegewebedurch relative Vermehrung seiner Faseranteilekontinuierlich und ohne deutlich erkennbare Demarkationdichter und geht in straffes faseriges Bindegewebeüber, das sich makroskopisch in Sehnen, Faszien(Haut-, Muskel- und Organfaszien sowie Dura), Gelenkkapseln,Ligamente und Periost einteilen lässt.Bei weiterer Verdichtung des straffen faserigen Bindegewebesentstehen, histologisch gesehen, Knorpelbzw.Knochengewebe. Auch diese Übergänge verlaufenkontinuierlich und ohne deutlich erkennbare Demarkation.Da das Bindegewebsorgan den gesamten Körperdurchzieht und die Faszien ein wesentlicher Teil diesesBindegewebsorgans sind, hat sich in <strong>der</strong> Osteopathiefür das Bindegewebsorgan <strong>der</strong> Begriff „Fasziensystem“eingebürgert.Sensorische FunktionenIm Bindegewebe enden alle peripheren Nerven undliegen alle sensorischen Rezeptoren: Tastkörperchen,Temperaturrezeptoren, Propriozeptoren, Nozizeptoren.Nozizeptiver Schmerz im Mundraum (z.B.Kaumuskelschmerzen, Kiefergelenkschmerz o<strong>der</strong> Parodontalschmerz)entsteht aufgrund pathohistochemischerProzesse im Bindegewebe <strong>der</strong> betreffendenStrukturen (▶ Kap. 4.3).Hämo- und NeurodynamikAlle Blutgefäße und Nerven verlaufen und enden imBindegewebe. Der gesamte Stoffaustausch parenchymatöserGewebe findet über das Bindegewebe statt. Einereguläre Zellfunktion ist daher nur möglich, wenndas Fasziensystem diese Funktion erfüllt. Da Nervenund Blutgefäße in den Faszien verlaufen, wirkt sich jeglichepathologische Verspannung o<strong>der</strong> Distorsion <strong>der</strong>Faszien störend auf Hämo- und Neurodynamik unddamit auf die reguläre Funktion <strong>der</strong> Blut- und Nervenversorgungaus.ImmunfunktionIm Fasziensystem finden unspezifische und spezifischeImmunreaktionen statt. Diese Funktionen sind gründlicherforscht und wurden ausführlich dargestellt (Pischingerund Heine 1983, 2009, Heine 2006). Die Immunfunktionendes Bindegewebsorgans werden in denAbschnitten über die immunologischen Grundlagen(▶ Kap. 3) und die chronischen Entzündungen imMundraum (▶ Kap. 9) näher beschrieben.StressreaktionIm Bindegewebsorgan ist die physiologische Endstrecke<strong>der</strong> Stressreaktion lokalisiert. PsychoemotionalerStress führt zur Ausschüttung von Zytokinen aus denMakrozyten im interstitiellen Bindegewebe (ArnetzErich Wühr, Wolfgang H. Koch - <strong>Lehrbuch</strong> <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>Copyright © 2013<strong>Verlag</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Medizin</strong> AG


2.2 Neuroanatomische Vernetzung des Mundraums23und Ekman 2006). Diese Funktion des Bindegewebsorganskann bei nahezu allen Pathologien des Mundraumseine entscheidende o<strong>der</strong> mitwirkende Rollespielen (▶ Kap. 6, ▶ Kap. 15.4).Stütz- und BewegungsfunktionDie kontraktilen Elemente <strong>der</strong> Stütz- und Bewegungsmuskulaturentfalten ihre Kraft nicht in eine bestimmteRichtung. Erst durch die gleich ausgerichteten bindegewebigenHüllen von Muskelzellen, Muskelfaserbündeln,Muskelbeuteln und Sehnen erhält die kontraktileKraftentfaltung eine Richtung. Die Kontraktionskraftdes Muskels wird auf diese Weise auf Knochen und Gelenkeübertragen. In dieses Netzwerk ist das KraniomandibuläreSystem intensiv eingebunden: Form undFunktion des Fasziensystems bestimmen Form undFunktion des Kraniomandibulären Systems – und umgekehrt.Diese Zusammenhänge werden in den Kapitelnüber die Kraniofaziale Orthopädie (▶ Kap. 10) undüber die <strong>Systemische</strong> Kieferorthopädie (▶ Kap. 12) ausführlichbeschrieben.Aufnahme und Verteilung von KräftenDie kontraktilen Kräfte, die im Körper entstehen, könnenrhythmisch o<strong>der</strong> episodisch sein. RhythmischeKräfte entstehen z.B. bei <strong>der</strong> Atmung, beim Herzschlag,bei <strong>der</strong> Darmperistaltik, bei den Kontraktionen desDuctus thoracicus und bei <strong>der</strong> Liquorfluktuation. EpisodischeKräfte entwickeln sich bei allen möglichenwillkürlichen und unwillkürlichen Kontraktionen <strong>der</strong>Stütz- und Bewegungsmuskulatur und immer dann,wenn Kräfte von außen auf den Körper einwirken. Allediese inneren und äußeren Kräfte könnten ab einer gewissenIntensität parenchymatöses Gewebe schädigen,wenn sie nicht zerstreut und abgeleitet würden. Diesgeschieht über das Fasziensystem, das als Puffer- undKraftverteilungssystem wirkt. Die eingeleiteten Kräfteführen zu einer Eigenbeweglichkeit des Fasziensystems.Diese Faszienbewegung wird in <strong>der</strong> Osteopathieals „kraniosakraler Rhythmus“ o<strong>der</strong> „primäre Atmung“bezeichnet (Sutherland 1939). Die Theorie hierzuwird ausführlich im Kapitel über die KraniofazialeOrthopädie (▶ Kap. 10) erörtert.22.2 Neuroanatomische Vernetzung des Mundraums2.2.1 Funktionen des Nervus trigeminusDer wichtigste Nerv im Mundraum ist <strong>der</strong> Nervus trigeminus(Hirnnerv V) (Rohen 1994), <strong>der</strong> zugleich <strong>der</strong>größte Hirnnerv ist (▶ Abb. 2.6). Der Nervus trigeminusleitet afferente Berührungs-, Druck-, SchmerzundTemperaturempfindungen aus dem Gesichts- undStirnbereich, den Schleimhäuten <strong>der</strong> Nase und desMundes, den Zähnen und Parodontien, dem hartenGaumen, dem Kiefergelenk und <strong>der</strong> harten Hirnhaut(Dura). Seine propriozeptiven Afferenzen kommen ausden Kaumuskeln: M. masseter, M. temporalis, M. pterygoideuslateralis und medialis. Diese Muskeln steuert erauch somato-efferent. Viszeral-efferent innerviert <strong>der</strong>N. trigeminus die Kaumuskulatur, den M. tensor velipalatini, den M. tensor tympani, den M. mylohyoideusund den M. digastricus venter anterior.Die afferenten Nervenzellen sind pseudounipolareZellen, <strong>der</strong>en Zellkörper im Ganglion trigeminale lokalisiertsind. Dieses liegt innerhalb <strong>der</strong> Schädelbasis auf<strong>der</strong> Vor<strong>der</strong>fläche <strong>der</strong> Pars petrosa (Felsenbeinpyramide)des Os temporale. Vom Ganglion trigeminale gehendie drei großen Nervenäste des N. trigeminus aus:N. ophthalmicus, N. maxillaris und N. mandibularis.Erich Wühr, Wolfgang H. Koch - <strong>Lehrbuch</strong> <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>❚❚❚❚N. ophthalmicus (N. V 1): Kranialer Ast des N. trigeminus,<strong>der</strong> durch die Fissura orbitalis superior indie Augenhöhle tritt. Dort verzweigt er sich in einenrückläufigen Ast, <strong>der</strong> die Dura <strong>der</strong> vor<strong>der</strong>en Schädelgrubesensibel versorgt, und in einen Ast, <strong>der</strong> dasAuge und nach seinem Austritt aus <strong>der</strong> Orbita durchdas Foramen supraorbitale die Haut von Nase undStirn versorgt.N. maxillaris (N. V 2): mittlerer Ast des N. trigeminus.––Ein rückläufiger Ast des N. maxillaris versorgt alsN. meningeus medius die Dura <strong>der</strong> vor<strong>der</strong>en undmittleren Schädelgrube. Er durchdringt die Schädelbasisüber das Foramen rotundum und tritt indie Fossa pterygopalatina ein.––Ein Nebenast läuft nach kaudal und versorgtnach Durchtritt durch die Foramina palatina majusund minus sensibel den Gaumen.––Der Hauptstamm des N. maxillaris verläuft weiterdurch die Fissura orbitalis inferior und die Orbita.Hier zweigen die Alveolaräste ab, die denOberkiefer (Gingiva, Zähne und <strong>der</strong>en Parodontien)versorgen. Der Hauptstamm durchtritt dasCopyright © 2013<strong>Verlag</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Medizin</strong> AG


24 2 Anatomisch-strukturelle und neuroanatomische GrundlagenGanglion pterygopalatinumM. temporalis Ganglion ciliare2N. ophthalmicusN. maxillarisN. mandibularisGanglion trigeminaleOs temporaleForamen ovaleForamen rotundiumM. pterygoideus lateralisM. pterygoideus medialisM. masseterM. mylohyoideus M. digastricus,venter anteriorAbb. 2.6 Nervus trigeminus❚❚Foramen infraorbitale und versorgt als N. infraorbitalisdas Unterlid, den Nasenflügel und dieOberlippe sowie die Front-, Eck- und Seitenzähne.N. mandibularis (N. V 3): Kaudaler Ast des N. trigeminus,<strong>der</strong> die Schädelbasis durch das Foramenovale durchtritt. Vorher gibt er einen rückläufigenAst zur Versorgung <strong>der</strong> Dura <strong>der</strong> mittleren Schädelgrubeab. Dieser Ast beför<strong>der</strong>t als einziger Ast desN. trigeminus die motorischen Efferenzen zur Steuerung<strong>der</strong> Kaumuskulatur.Zu jedem Trigeminusast gehören ein bzw. zwei vegetativeGanglien: Ggl. ciliare (N. V 1), Ggl. pterygopalatinum(N. V 2) sowie Ggl. oticum und Glg. submandibulare(N. V 3). In diesen Ganglien werden dieparasympathischen Nervenzellen weitergeschaltet. Diesensiblen Afferenzen bzw. Äste des N. mandibularisversorgen ebenfalls die Kaumuskulatur, das Kiefergelenk,die Mundschleimhaut und den Unterkiefer (Gingiva,Zähnen und <strong>der</strong>en Parodontien) sowie die Hautvon Unterlippe und Kinn.Die anatomischen Verläufe <strong>der</strong> Äste des N. trigeminussind in <strong>der</strong> Kraniofazialen Orthopädie (▶ Kap. 10)Erich Wühr, Wolfgang H. Koch - <strong>Lehrbuch</strong> <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>und in <strong>der</strong> Schmerzzahnmedizin (▶ Kap. 14) von Bedeutung.Die hohen Kräfte, die beim Bruxismus auftreten,können das Nervengewebe an seinen Durchtrittsstellendurch die Schädelbasis und in seinemperipheren Verlauf mechanisch stark belasten undschädigen (▶ Kap. 10.4.2). Dies kann beispielsweise eineTrigeminusneuralgie auslösen.2.2.2 Vernetzung <strong>der</strong> sensiblen Kerne desNervus trigeminusDie zentralen Fortsätze <strong>der</strong> pseudounipolaren Nervenzellendes Ggl. trigeminale enden in den drei sensiblenKernen des N. trigeminus: Nucleus mesencephalicus,Nucleus principalis und Nucleus spinalis. Diese Kerngebietedes N. trigeminus reichen vom Mittelhirn bis aufHöhe des zweiten Zervikalsegments des Rückenmarksund sind damit die größten Kerngebiete aller Hirnnerven.Die große Ausdehnung <strong>der</strong> afferenten Kerne desN. trigeminus spiegelt die sensorische Bedeutung seinesVersorgungsgebiets wi<strong>der</strong>. Sein motorischer Kern istdagegen vergleichsweise klein, da er nur vier Muskelnversorgt (▶ Kap. 2.2.1).Für die Orale <strong>Medizin</strong> sind die weiteren zentralenVernetzungen <strong>der</strong> Kerne des N. trigeminus wichtig, dieCopyright © 2013<strong>Verlag</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Medizin</strong> AG


2.2 Neuroanatomische Vernetzung des Mundraums25TrigeminothalamischeProjektionNucleusmotoricusOkulomotorenobere Molaren(Meyer 1877)TrigeminozerebellareProjektionNucleusmesencephalicusNackenmuskulaturUntere Molaren(Meyer 1877)2KortikobulbäreFasernVerbindungen zuan<strong>der</strong>en Hirnnerven• N. occulomotorius• N. trochlearis• N. abducens• N. facialis• N. glossopharyngeus• N. vagus• N. accessorius• N. hypoglossusSensorischerHauptkernNeucleusspinalisReflexverbindungen• Tränenfluss(Nucleus salvatorius)• Nierenreflex(Atmungszentren)• Erbrechenreflex(N. vagus)• Zungenreflexe(N. hypoglossus)Abb. 2.7 Schematische Darstellung<strong>der</strong> Vernetzungen <strong>der</strong> Kerne desN. trigeminus (nach Parent 1996)den Mundraum mit an<strong>der</strong>en Körpersystemen verbinden.Abbildung 2.7 zeigt die Vernetzung <strong>der</strong> Trigeminuskernemit an<strong>der</strong>en Gehirnzentren. Zunächst fälltdie Projektion <strong>der</strong> sensiblen Kerne des N. trigeminus in<strong>der</strong> Großhirnrinde über die trigeminothalamischenProjektionen und die kortikobulbären Fasern auf. Indie Präzentralregion des Kortex werden alle sensiblenAfferenzen des Körpers zur bewussten Wahrnehmungund <strong>der</strong> entsprechenden funktionellen Steuerung projiziert.Dabei fällt auf, dass die Handregion und dieMund-Gesichtsregion gegenüber an<strong>der</strong>en Körperregionenüberrepräsentiert sind. Die Mundraumfunktionenhaben für das biologische System Menschexistenzielle und damit grundlegende Bedeutung.Denken wir nur an die Aufnahme von Nahrung, ohnedie wir nicht überleben könnten, o<strong>der</strong> an die Bedeutung<strong>der</strong> Sprache, ohne die das soziale Zusammenlebenund Überleben nur schwer zu bewerkstelligen ist.Die Kerne des N. trigeminus haben Verbindungen zuallen Hirnnerven mit Ausnahme <strong>der</strong> sensorischenHirnnerven (N. olfactorius, N. opticus, N. vestibulocochlearis).Von beson<strong>der</strong>er Bedeutung v.a. für dieKranio faziale Orthopädie sind die Verschaltungen zuden Augenmuskelnerven (N. oculomotorius, N. trochlearisund N. abducens), zum N. accesorius, <strong>der</strong> denM. trapezius und den M. sternocleidomastoideus innerviert,sowie zu den Spinalnerven <strong>der</strong> oberen Zervikalsegmente,die die Subokzipital- und Nackenmuskulaturversorgen. Diese neuroanatomischen VerbindungenErich Wühr, Wolfgang H. Koch - <strong>Lehrbuch</strong> <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>sind <strong>der</strong> Grund dafür, dass <strong>der</strong> Tonus <strong>der</strong> Kaumuskulatur,<strong>der</strong> Tonus <strong>der</strong> Augenmuskulatur und <strong>der</strong> Tonus<strong>der</strong> Nackenmuskulatur stark voneinan<strong>der</strong> abhängen.Die klinische Bedeutung dieser Zusammenhänge sindThema des Kapitels über die Kraniofaziale Orthopädie(▶ Kap. 10).Es sollen sogar direkte neuroanatomische Vernetzungenzwischen den Afferenzen aus den Parodontien<strong>der</strong> Oberkiefermolaren und den Augenmuskelkernensowie zwischen den Afferenzen aus den Parodontien<strong>der</strong> Unterkiefermolaren und den Nackenmuskelkernenbestehen. Impulse aus den afferenten Trigeminuskernensind außerdem an unterschiedlichen Reflexen beteiligtwie Tränenfluss, Speichelfluss, Niesreflex, WürgundErbrechenreflex (N. vagus) und Zungenreflexe(N. hypoglossus).Die intensiven Vernetzungen <strong>der</strong> Trigeminuskernemit an<strong>der</strong>en Nervenzentren legen den Schluss nahe,dass durch die Vernetzungen die Funktionen des motorischenTrigeminuskerns und damit <strong>der</strong> Tonus unddie Funktionen <strong>der</strong> Kaumuskulatur beeinflusst werden.Da die räumliche Lage des Unterkiefers wesentlichvom Tonus und von <strong>der</strong> Funktion <strong>der</strong> Kaumuskulaturbestimmt wird, müssen bei ihrer Beurteilung und Registrierungdiese neuroanatomischen Vernetzungenund Einflüsse auf den N. trigeminus berücksichtigtwerden. Die neuroanatomische Vernetzung des motorischenKerns des N. trigeminus erklärt außerdem dasPhänomen des Bruxismus: Über kortikobulbäre undCopyright © 2013<strong>Verlag</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Medizin</strong> AG


26 2 Anatomisch-strukturelle und neuroanatomische Grundlagen2retikuläre Verbindungen werden bei psychoemotionalemStress <strong>der</strong> motorische Kern des N. trigeminusund damit die Kaumuskulatur aktiviert, was zu Knirschenund Pressen mit den Zähnen führt(▶ Kap. 10.4.2). Diese Bewegungsprogramme dienenv.a. dem nächtlichen Abreagieren und <strong>der</strong> Verarbeitunggefühlsbetonter Erlebnisse beim Träumen undkönnen als Psychohygiene verstanden werden.Von beson<strong>der</strong>er Bedeutung für die Orale <strong>Medizin</strong>sind die Vernetzungen <strong>der</strong> Trigeminuskerne mit demKleinhirn über die trigeminozerebellaren Projektionen.Über diese Projektionen ist <strong>der</strong> Einfluss <strong>der</strong> Afferenzenaus dem Trigeminusgebiet auf die Gleichgewichtsregulationund damit auf die Körperhaltung zuerklären. In <strong>der</strong> Kraniofazialen Orthopädie werdenFormstörungen des Kraniomandibulären Systems alsKörperfehlhaltungen aufgefasst, die ätiologisch mitKörperfehlhaltungen außerhalb des Mundraums engzusammenhängen (▶ Kap. 2.4). Im Folgenden werdendeshalb Gleichgewichtsregulation und Körperhaltungausführlicher beschrieben.2.3 Gleichgewichtsregulation und KörperhaltungAus osteopathischer Sicht ist die Körperhaltung eineFunktion des Fasziensystems. Aus systemischer Sichtist sie Ergebnis und Ausdruck einer lebenslangen Morphogenesedes Fasziensystems aufgrund von Regulation,Adaptation und Kompensation von Einflussfaktoren,die von innen o<strong>der</strong> in Form von Umwelteinflüssenunter genetisch determinierten Rahmenbedingungenandauernd auf das biologische System Mensch einwirken(▶ Kap. 1.3.3). Eine beson<strong>der</strong>e Rolle spielt dabeidie Regulation <strong>der</strong> räumlichen Lage des Körpers unterdem ständigen Einfluss <strong>der</strong> Erdschwerkraft als physikalischerUmweltfaktor (Gleichgewichtsregulation).Das Gleichgewicht ist die Basis jeglicher Körperbewegung.Nur im Gleichgewicht können bewusste und unbewussteKörperbewegungen angemessen, effektiv undeffizient erfolgen.2.3.1 Gleichgewichtsregulation alsFunktion des Posturalen SystemsDie Gleichgewichtsregulation ist ein komplexer Steuerungs-und Regelungsprozess und als biokybernetischerRegelkreis zu verstehen, an dem neben demFasziensystem (▶ Kap. 2.1) bestimmte Sinnessystemeund neurale Zentren beteiligt sind. Diese Teilsystemelassen sich unter dem Begriff „Posturales System“ (postural:die Körperhaltung betreffend) zusammenfassen.Die Körperhaltung ist eine Funktion des PosturalenSystems und das sichtbare Ergebnis <strong>der</strong> Gleichgewichtsregulation.Aus Sicht <strong>der</strong> funktionellen Neuroanatomie werdendrei Elementarbereiche des Nervensystems unterschieden:sensorische, sensomotorische und vegetative Systeme.Die sensomotorischen Systeme werden wiede-5 EntscheidenPlanenKortex4 OrganisierenLernenDiencephalon3 HarmonisierenKorrigierenGleichgewichterhaltenMesencephalonRhombencephalonKleinhirn2 AusführenRückenmark1 BewegungMuskuläre EndstreckeErich Wühr, Wolfgang H. Koch - <strong>Lehrbuch</strong> <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>Abb. 2.8 Funktionelle Glie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> großen sensomotorischenSystemeCopyright © 2013<strong>Verlag</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Medizin</strong> AG


2.3 Gleichgewichtsregulation und Körperhaltung27rum in fünf funktionelle Teilsysteme aufgeteilt (▶ Abb.2.8):❚❚basales sensomotorisches System (Eigenreflexapparat[1]),❚❚Schaltsysteme des Rückenmarks (Fremdreflexapparat[2]),❚❚Gleichgewichtssystem und motorische Kerne desHirnstamms in Verbindung mit dem Kleinhirn (3),❚❚subkortikale Funktionssysteme (Basalganglien,Thalamus etc. [4]),❚❚Großhirnrinde (somatomotorischer und somatosensorischerKortex, Assoziationskortex [5]).Nach Rohen (2001) ist das Nervensystem als Ganzheitzu verstehen, und alle systematischen und didaktischenUnterglie<strong>der</strong>ungen sind dementsprechend als willkürlicheGrenzziehungen einzustufen.Das konstruktive Bauelement des sensomotorischenSystems ist <strong>der</strong> geschlossene Nervenleitungsbogen von<strong>der</strong> Muskulatur zu den nervalen Zentren in Rückenmarkund Gehirn und wie<strong>der</strong> zurück zur Muskulatur.Auf <strong>der</strong> Basis dieses Bauprinzips ist <strong>der</strong> Mensch in <strong>der</strong>Lage, einfache reflektorische Bewegungen, gezielte Einzelbewegungen,Bewegungen zur Gleichgewichtsregulationbis hin zu komplexen willkürlichen und unwillkürlichenBewegungsprogrammen auszuführen. Alldiese Möglichkeiten zusammen bilden die Vielfaltmenschlichen Verhaltens.2.3.2 ReflexapparatEigenreflexapparatDas grundlegende System <strong>der</strong> Sensomotorik ist <strong>der</strong> Eigenreflexapparat.Je<strong>der</strong> Muskel wird von einem Hirnnervo<strong>der</strong> vom Spinalnerv eines Rückenmarksegmentsafferent und efferent versorgt. Afferenzen und Efferenzensind im Hirnstamm o<strong>der</strong> im Rückenmark direktmiteinan<strong>der</strong> verschaltet. Fasziale Rezeptoren (MuskelundSehnenspindeln) senden afferente Reize (z.B. Dehnungsreize)an das Rückenmark und bewirken dortunmittelbar efferente Steuerimpulse, wodurch die reflektorischeKontraktion des betroffenen Muskels ausgelöstwird (z.B. Patellarsehnenreflex). Länge und Spannung<strong>der</strong> Muskulatur werden durch die Muskel- und Sehnenspindeln<strong>der</strong> jeweiligen Situation automatisch angepasst.Das Längenkontrollsystem bezieht sich im Wesentlichenauf den eigenen Muskel, während das Spannungskontrollsystemmeist mehrere Muskeln einbezieht.Erich Wühr, Wolfgang H. Koch - <strong>Lehrbuch</strong> <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>Die Afferenzen des Eigenreflexapparats aus denMuskel- und Sehnenrezeptoren werden als Informationüber den Längen- und Spannungszustand des Muskelsund <strong>der</strong> Faszien über die Hinterstrangbahnen andas Gehirn weitergeleitet. In <strong>der</strong> Gegenrichtung überträgtdas Gehirn über die pyramidalen und extrapyramidalenBahnen Steuerimpulse auf die Efferenzen desEigenreflexapparats, <strong>der</strong> dadurch zur „gemeinsamenEndstrecke“ für alle übergeordneten sensomotorischenSysteme und Funktionen wird.FremdreflexapparatAuf <strong>der</strong> nächsthöheren Stufe ist das sensomotorischeSystem als Fremdreflexapparat organisiert, mit SchutzundAbwehrreflexen als einfachsten Bewegungsformen.Sie werden von faszialen Rezeptoren (Hautrezeptoren,Rezeptoren im Bindegewebe <strong>der</strong> innerenOrgane, Rezeptoren des Periosts) außerhalb des Muskelsausgelöst, weshalb sie Fremdreflexe heißen. DieÜbertragung <strong>der</strong> Impulse auf die Efferenzen des Eigenreflexapparatsals gemeinsame Endstrecke geschieht imRückenmark durch Schalt- und Assoziationszellen.Dabei können auch die kontralateralen Efferenzen sowiedie Efferenzen benachbarter Rückenmarksegmenteaktiviert werden. Die Aktivität des Fremdreflexapparatsführt zu sinnvollen Bewegungskombinationen, umstörende Umwelteinflüsse reflexartig zu bewältigen.2.3.3 Kortikale und subkortikale ZentrenDie Afferenzen des Fremdreflexapparats (▶ Kap. 2.3.2)werden über die Hinterstrangbahnen und die Vor<strong>der</strong>seitenstrangbahnenan übergeordnete Gehirnzentrenweitergeleitet. Die Afferenzen des Fremdreflexapparatsund die Afferenzen aus Muskulatur und Sehnen sinddie Basis für die bewusste Wahrnehmung von Druck,Temperatur und Schmerz (Oberflächensensibilität) sowiefür Körpergefühl, Muskeltonus und Gelenkstellungen(Tiefensensibilität). Diese Informationen kommenim Gyrus postcentralis <strong>der</strong> Großhirnrinde an undbilden die Grundlage für komplexe, bewusst intendierteo<strong>der</strong> automatisierte Bewegungsprogramme.Diese Programme entstehen in <strong>der</strong> Großhirnrindebzw. in den subkortikalen Kernen und greifen über diepyramidalen bzw. extrapyramidalen Bahnen auf die Efferenzendes Eigenreflexapparats als motorische Endstrecke(▶ Kap. 2.3.2) zurück. Dabei hat sich die hochdifferenzierteWillkürmotorik erst bei den höherenPrimaten und beim Menschen ausgebildet. BewusstCopyright © 2013<strong>Verlag</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Medizin</strong> AG2


28 2 Anatomisch-strukturelle und neuroanatomische Grundlagen2intendierte und geplante Bewegungsprogramme entstehenin den kortikalen Zentren des Gyrus praecentralis,die Funktionen des bewussten Denkens und Entscheidensim Assoziationskortex des Frontal- und desParietallappens.Die subkortikalen Zentren organisieren und automatisierendiese Programme. Organisieren bedeutet,dass die Bewegungsprogramme durch die subkortikalenKerne mit <strong>der</strong> Körperhaltung und dem Gleichgewichtabgestimmt werden. Die Bewegungsprogrammewerden so erlernt, dass sie schließlich automatisch undunbewusst ablaufen können. Direkte efferente Verbindungenzwischen den subkortikalen Kernen und demRückenmark existieren nicht. Sie greifen durch Rückkopplungsbahnenauf die Großhirnrinde und die Pyramidenbahnzu.2.3.4 Nervus trigeminusKranial werden die Afferenzen aus <strong>der</strong> Peripheriedurch Afferenzen des N. trigeminus vervollständigt,dessen sensibler Teil gewissermaßen die Summe <strong>der</strong>Afferenzen im Kopfbereich repräsentiert und damit dieFunktionen eines „kranialen Spinalnervs“ erfüllt. Diesensiblen, propriozeptiven und motorischen Funktionendes N. trigeminus wurden bereits weiter oben detailliertdargestellt (▶ Kap. 2.2).Komplexe kortikale Bewegungsprogramme mit demmotorischen Teil des N. trigeminus als motorischeEndstrecke ermöglichen beim Menschen die Entwicklungvon Sprache und Gesang. Automatisierte Bewegungsprogramme<strong>der</strong> subkortikalen Kerne in Kombinationmit an<strong>der</strong>en motorischen Endstrecken machendie kraniomandibulären Funktionen des Atmens, Kauens,Schluckens sowie des parafunktionellen Knirschensund Pressens mit den Zähnen möglich.Das Kraniomandibuläre System ist als Teil des Versorgungsgebietsdes N. trigeminus ebenso Teil des PosturalenSystems (▶ Kap. 2.3.1) und gibt mittels <strong>der</strong> Rezeptorenvon Mundschleimhaut, Zahnhalteapparat,Kaumuskulatur und Kiefergelenkkapseln wichtigensensiblen und propriozeptiven Input über trigeminozerebellareBahnen an das Kleinhirn, über den Thalamusan den Kortex und über kortikobulbäre Bahnen an diesubkortikalen Zentren weiter. Außerdem dient <strong>der</strong> motorischeTeil des N. trigeminus als motorische Endstreckeentsprechen<strong>der</strong> Bewegungsprogramme beim Beißen,Kauen und Schlucken. Eine beson<strong>der</strong>e Rolle spieltaußerdem die parafunktionelle motorische AktivitätErich Wühr, Wolfgang H. Koch - <strong>Lehrbuch</strong> <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>des Kraniomandibulären Systems beim Knirschen undPressen mit den Zähnen (Bruxismus) (▶ Kap. 2.2.2).Die enge neurofunktionelle Einbindung des KraniomandibulärenSystems ist wahrscheinlich dadurch begründbar,dass dieses System entwicklungsgeschichtlichauch Beutefass- und Kampforgan war. Für eineeffektive und effiziente Ausführung dieser Funktionenmusste <strong>der</strong> Trigeminusbereich mit den GleichgewichtsundBewegungssystemen des ganzen Körper ausreichendkoordiniert sein.2.3.5 KleinhirnsystemDie Basis für die komplexen willkürlichen und unwillkürlichenBewegungsprogramme <strong>der</strong> kortikalen undsubkortikalen Zentren bildet das Kleinhirnsystem alsdritte Ebene <strong>der</strong> Sensomotorik. Es gleicht die Bewegungsprogramme<strong>der</strong> kortikalen und subkortikalenZentren mit <strong>der</strong> gegenwärtigen Gleichgewichtssituationab und glättet und harmonisiert die Bewegungen,sodass das Gleichgewicht erhalten bleibt. Dabei greiftdas Kleinhirnsystem nicht direkt auf die motorischenEndstrecken des Rückenmarks zu, son<strong>der</strong>n nimmtüber den Thalamus Einfluss auf die Planungsebenenim Kortex und über die motorischen Kerne im Hirnstammauf die motorischen Zentren im Rückenmark.Afferente Information bekommt das Kleinhirnsystemvom Kortex über kortikopontozerebellare Bahnen,aus <strong>der</strong> Peripherie über spinozerebellare Bahnen, aus<strong>der</strong> Kopfgelenkmuskulatur über die kuneozerebellarenBahnen, aus dem N. trigeminus über trigeminozerebellareVerbindungen und aus den Sinnesorganen Augeund Innenohr.Das Kleinhirnsystem vermittelt demnach zwischenden beiden großen Polen des sensomotorischenSystems, dem willkürlichen Pol <strong>der</strong> kortikalen undsubkortikalen Zentren und dem unwillkürlichen, reflektorischenPol des Eigen- und Fremdreflexapparats.Diese Harmonisierungsfunktion des Kleinhirnsystemsdurch Regelung und Aufrechterhaltung des Gleichgewichtsläuft unter <strong>der</strong> ständigen Einwirkung <strong>der</strong>Schwerkraft ab (Rohen 2001). Dies bedeutet, dass dasKleinhirnsystem die zentrale Stellung im PosturalenSystem einnimmt.2.3.6 Emotionaler Anteil <strong>der</strong> PsycheEin offensichtlicher Beleg für den Einfluss des emotionalenAnteils <strong>der</strong> Psyche auf das Posturale System istdie Tatsache, dass die Gefühls- und Stimmungslage dieCopyright © 2013<strong>Verlag</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Medizin</strong> AG


2.4 Ätiologie und Pathogenese von Körperfehlhaltungen und Beweglichkeitseinschränkungen29Körperbewegung und Körperhaltung maßgeblich mitbestimmen(▶ Kap. 6.2). Emotionen (lat.: emotus = hinausbewegt)entstehen im limbischen System(Archaeo kortex), das sich im Laufe <strong>der</strong> Evolution vomolfaktorischen System abgespalten und weiterentwickelthat. Äußere Sinnesreize und kortikal konstruierteinnere Wahrnehmungen veranlassen das limbischeSystem zur Aktivierung unbewusster Bewegungs- undHaltungsprogramme, die über die subkortikalen Kerneund über die motorischen Kerne im Hirnstamm ausgeführtwerden. Zentrale Schaltstelle im limbischenSystem ist <strong>der</strong> Mandelkern (Amygdala), wo archetypischeund triebhafte Bewegungsprogramme wieKampf o<strong>der</strong> Flucht abgelegt sind (Bauer 2004). Sie laufenautomatisch ab, wenn sie durch innere und äußereWahrnehmungen aktiviert werden. Auf diese unbewusstenund triebgesteuerten Bewegungsprogrammekann allerdings vom Assoziationskortex des Frontallappensnur über eine synaptische Verbindung bewusstEinfluss genommen werden. Nur <strong>der</strong> Mensch hat dieseFähigkeit <strong>der</strong> bewussten Steuerung <strong>der</strong> Gefühls- undStimmungslage, die als „emotionale Intelligenz“ bezeichnetwird (Goleman 1999). Emotionale Intelligenzsetzt sich aus fünf Teilkompetenzen zusammen: die dreipersonalen Kompetenzen <strong>der</strong> Selbstwahrnehmung,Selbstregulierung und <strong>der</strong> Selbstmotivation und diezwei interpersonalen Kompetenzen <strong>der</strong> Empathie (Einfühlungsvermögen)und <strong>der</strong> Beziehungskompetenz.22.4 Ätiologie und Pathogenese von Körperfehlhaltungenund Beweglichkeitseinschränkungen2.4.1 Irritierende und belastendeLebensbedingungenUnter irritierenden und belastenden Lebensbedingungen(▶ Kap. 1.3) entstehen Form- und Funktionsstörungendes Fasziensystems. Formstörungen werdenim Posturalen System als Körperfehlhaltungen sichtbar,Funktionsstörungen als Einschränkungen <strong>der</strong> Beweglichkeit.In <strong>der</strong> Praxis werden Irritationen und Belastungenin vier Kategorien eingeteilt: mechanische, (bio-)chemische,psychische und physikalische bzw. physiologischeBelastungen. Tabelle 2.1 gibt (ohne AnspruchTab. 2.1 Einteilung von Irritationen und Belastungen als Ursache für Körperfehlhaltungen und BeweglichkeitseinschränkungenMechanischMechanische Dysfunktionen im FasziensystemUnfälle, Verletzungen und OperationenHabits, Fehlhaltungen, ParafunktionenKörperliche Überlastungen (Beruf und Sport)Körperliche Unterfor<strong>der</strong>ungMorphologische Verän<strong>der</strong>ungen bzw. DegenerationenNarben, Ulzerationen, Wundheilungsstörungen(Bio-)ChemischUmweltbelastungenAllergeneMangelzuständeErnährungsfehlerHormonelle DysfunktionenImmunologische Dysfunktionen (v.a. Darm, chronische Entzündungen)StoffwechseldysfunktionenDysfunktionen im Säure-Basen-HaushaltPsychischPsychoemotionale StörungenPsychosoziale StörungenPsychomentale Störungen und Unterfor<strong>der</strong>ungPhysikalisch bzw. physiologisch Dysfunktionen im Zentralnervensystem (sensorisch, sensomotorisch, vegetativ)Dysfunktionen des peripheren NervensystemsBelastungen durch äußere physikalische Störfel<strong>der</strong>Erich Wühr, Wolfgang H. Koch - <strong>Lehrbuch</strong> <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>Copyright © 2013<strong>Verlag</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Medizin</strong> AG


30 2 Anatomisch-strukturelle und neuroanatomische Grundlagen2auf Vollständigkeit) Anhatspunkte zu möglichen Belastungen.Ein biologisches System besitzt Selbstregulationssysteme,die Irritationen ausregulieren und Belastungenadaptieren und kompensieren können und die Ordnungim System wie<strong>der</strong>herstellen bzw. versuchen, dieOrdnung trotz belasten<strong>der</strong> Einwirkungen auf bestmöglicheWeise aufrechtzuerhalten (▶ Kap. 1.3.3).Beispiel: okklusaler FehlkontaktWird durch eine Zahnfüllung ein überhöhter okklusalerKontakt etabliert, ist dies eine mechanische Irritation<strong>der</strong> Funktion des Kraniomandibulären Systems(▶ Abb. 2.9). Die Okklusionsstörung wird unmittelbarneurophysiologisch registriert.Akute IrritationRegulative Prozesse werden in Gang gesetzt. Um denüberhöhten Kontakt zu umgehen und/o<strong>der</strong> „wegzuknirschen“,wird die Muskulatur aktiviert. Diese regulativenVorgänge können symptomlos und damit unbemerkto<strong>der</strong> symptomatisch bzw. schmerzhaftablaufen. Schmerzen <strong>der</strong> Kaumuskulatur und <strong>der</strong> Kiefergelenkekönnen ebenso auftreten wie Zahnschmerzen,Schmerzen im Parodontium o<strong>der</strong> neuralgiformeBeschwerden. Diese akuten Symptome sind unmittelbareund lokale Reaktionen auf eine akut einwirkendeIrritation. Diagnostik und Therapie erfolgen rein lokalim betroffenen System, und die Therapie führt in <strong>der</strong>Regel schnell und sicher zu vollständiger Beschwerdefreiheit.Bei akuten Beschwerden im KraniomandibulärenSystem wird <strong>der</strong> Zahnarzt den okklusalen Fehlkontaktmeist schnell entdecken und eliminieren.Diese Vorgehensweise entspricht dem Prinzip einerkausalen Therapie. Die Beschwerden klingen innerhalbkurzer Zeit nach Eliminierung <strong>der</strong> Ursache ab und tretennicht wie<strong>der</strong> auf.Chronische BelastungWird <strong>der</strong> okklusale Fehlkontakt nicht entfernt und bestehtals chronische Belastung weiter, kommt es imLaufe <strong>der</strong> Zeit zu lokalen funktionellen und strukturellenAdaptationen. Muskuläre Verspannungen werdenvon faszialen Umbauprozessen unterstützt. ImKiefergelenk und im Zahnhalteapparat bzw. im Alveolarfortsatzkommt es zu Umbauvorgängen in Form einerIntrusion o<strong>der</strong> Kippung des betroffenen Zahns.Zahnhartsubstanz wird „weggeknirscht“. Das Resultatsind dauerhafte Befunde in <strong>der</strong> Muskulatur, in den Gelenken,im Zahnhalteapparat und an <strong>der</strong> Zahnhartsubstanzals Ausdruck adaptativer Vorgänge. Solche Befundesind we<strong>der</strong> bei Belastung noch spontanschmerzhaft. Der akute Schmerz verschwindet aufgrund<strong>der</strong> Adaptation.Bleibt die ursprüngliche okklusale Belastung weiterbestehen, wird die Anpassungsleistung des KraniomandibulärenSystems zunehmend beansprucht undOkklusaleStörungUnmittelbarRegulation• Muskelbelastung• Gelenkbelastung• Pulpabelastung• Parodontalbelastung• TrigeminusbelastungAkut• Muskelschmerz• Gelenkschmerz• Zahnschmerz• NeuralgischeBeschwerdenZeitFunktionelle undstrukturelle Adaptation• Muskel• Gelenk• Zahn• ParodontiumBefunde, aber keinSchmerz, auch keinBelastungsschmerzZeit und zusätzliche BelastungenKompensationaußerhalb desKraniomandibulärenSystems• Muskuloskelettal• Viszeral• DuralErich Wühr, Wolfgang H. Koch - <strong>Lehrbuch</strong> <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>Befunde,Belastungsschmerz,aber kein spontaner Abb. 2.9 RegulationspathologieamSchmerz, späterchronischer Schmerz Beispiel eines okklusalenFehlkontaktsCopyright © 2013<strong>Verlag</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Medizin</strong> AG


2.4 Ätiologie und Pathogenese von Körperfehlhaltungen und Beweglichkeitseinschränkungen31schließlich voll ausgeschöpft und überlastet, sodass eszu einer Kompensation kommt. Nachbarsysteme übernehmenkompensatorisch die Entlastung des ursprünglichbetroffenen Systems. Für das KraniomandibuläreSystem sind das die faszialen Systeme desSchädels, des Halses, des Nackens und des Schultergürtels.Es entstehen muskuläre und artikuläre Befunde inden kompensierenden Teilsystemen. Im Gegensatz zuAdaptationsbefunden sind Kompensationsbefunde beiBelastung o<strong>der</strong> spontan schmerzhaft. Mit <strong>der</strong> Zeit werdenauch diese Kompensationsleistungen überbeansprucht.Weitere Nachbarsysteme greifen kompensatorischein, sodass regelrechte Kompensationskettenentstehen.Regulation akuter IrritationenDie Beschreibung <strong>der</strong> Belastung durch einen okklusalenFehlkontakt gilt beispielhaft auch für alle an<strong>der</strong>enIrritationen (▶ Abb. 2.10): Eine akute Irritation bedeuteteine Störung <strong>der</strong> Ordnung im System, die dazuführt, dass die Selbstregulationssysteme aktiv werdenund versuchen, die Irritation zu eliminieren und dieOrdnung wie<strong>der</strong>herzustellen. Dies geschieht tausendfachin je<strong>der</strong> Sekunde unseres Lebens, ohne dass wiretwas davon bemerken. Manche Irritationen bewirkenjedoch <strong>der</strong>art intensive Regulationsvorgänge, dass dieSymptome einer akuten Erkrankung entstehen. In diesemFall ist in <strong>der</strong> Praxis eigentlich nichts zu tun, dawir <strong>der</strong> Regulation die Arbeit überlassen können. Optimalerweisewird die Regulationstätigkeit z.B. durchRuhe, Fasten, Vitalstoffzufuhr o.Ä. unterstützt. Auf keinenFall darf die Regulation durch den Versuch einerSymptomunterdrückung behin<strong>der</strong>t werden. Nur in lebensbedrohlichenSituationen wie z.B. bei lebensbedrohlichhohem Fieber muss symptomatisch eingegriffenwerden.Regulation, Adaptation und Kompensationchronischer BelastungenBei chronisch einwirkenden Belastungen versucht dasbetroffene System zunächst zu regulieren. Dann passtes sich an. Dann kompensieren die direkten Nachbarsysteme,schließlich die Nachbarn <strong>der</strong> Nachbarn etc.Im Laufe seines Lebens ist <strong>der</strong> Mensch vielen chronischenIrritationen ausgesetzt. Je<strong>der</strong> einzelne dieserProzesse ist eine lineare Kette von Regulation, Adaptationund Kompensation, wobei jede Adaptation undjede Kompensation einen funktionellen und morphologischenBefund bewirkt. Die einzelnen Ketten könnensich in unterschiedlichen Körpersystemen überschneidenund sich gegenseitig beeinflussen. Schoneine geringe Zahl sich überschneiden<strong>der</strong> Kompensationskettenlässt komplexe Wechselwirkungen und Mustervon funktionellen und morphologischen Befundenentstehen. Diese Zustände sind nicht mehr linear imSinne von Ursache und Wirkung zu erklären. Auf neuhinzukommende Belastungen reagieren solchenicht-linearen Kompensationsmuster unvorhersehbar(▶ Abb. 2.11). Ein einfacher linearer Zusammenhangwie z.B. zwischen Kieferanomalien und Körperfehlhaltungenexistiert also nicht und kann deshalb mit denüblichen statistischen Methoden nicht nachgewiesenwerden. Hier stößt die wissenschaftliche <strong>Medizin</strong> anihre Grenzen.Früher o<strong>der</strong> später erreicht irgendein beson<strong>der</strong>s belastetesTeilsystem die Grenze seiner Kompensationskapazitätund wird überlastet. Die entsprechenden Befundewerden vom betroffenen Menschen als Symptomwahrgenommen. In <strong>der</strong> Praxis können wir durch dieBehandlung am Ort des Symptoms bestenfalls dieKompensationskapazität des Teilsystems wie<strong>der</strong> verbessernund das Symptom lin<strong>der</strong>n. Dieser Therapiee rfolgist aber nicht von Dauer, da die eigentlichen Belastungenaußerhalb des betroffenen Systems weiter bestehen.Solange wir dort nicht entlasten, wird das Symptomtherapieresistent o<strong>der</strong> rezidivierend bleiben. Diechronische Krankheit ist „geboren“. O<strong>der</strong> das Symptomverschwindet, weil sich das System an<strong>der</strong>e Kompensationswegesucht. Letzteres ist ein gefährlicher Prozess,weil in <strong>der</strong> Regel ernsthaftere Kompensationsmusterentstehen, z.B. kommt es durchaus vor, dass sich auseinem „erfolgreich“ behandelten chronischen Rückenschmerzeine chronische Colitis ulcerosa entwickelt.Therapieerschwerend kommt hinzu, dass bei solchenProzessen in <strong>der</strong> Regel die ärztlichen Fachgebiete wechseln,sodass diese Muster und Zusammenhänge meistunerkannt bleiben.2.4.2 Pathohistologie des BindegewebesDas anatomische Substrat <strong>der</strong> regulativen, adaptativenund kompensatorischen Abläufe ist das Bindegewebe.Für die pathohistologischen Verän<strong>der</strong>ungen im Bindegewebeaufgrund einwirken<strong>der</strong> Irritationen und <strong>der</strong>entsprechenden Prozesse gibt es verschiedene Erklärungsmodelle.2Erich Wühr, Wolfgang H. Koch - <strong>Lehrbuch</strong> <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>Copyright © 2013<strong>Verlag</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Medizin</strong> AG


32 2 Anatomisch-strukturelle und neuroanatomische Grundlagen2Pischinger und Heine (Pischinger und Heine 1983,2009) legen den Fokus auf die unspezifischen regulativenVorgänge im interstitiellen Bindegewebe, dienach ihrer Ansicht unabhängig von <strong>der</strong> Art <strong>der</strong> Irritationimmer die initialen und grundlegenden Regulationsprozessesind. Erst danach setzen spezifischeRegulationsmechanismen (z.B. spezifische Immunregulationen)ein. Sie bezeichnen das interstitielle Bindegewebedeshalb als „Grundregulationssystem“.Travell und Simons (2002) beschreiben mit ihremTriggerpunktmodell die pathologischen Verän<strong>der</strong>ungenim muskulären Bindegewebe, die wahrscheinlichanalog für alle Verän<strong>der</strong>ungen im straffen faserigenBindegewebe gelten und bereits als adaptativeund kompensatorische Verän<strong>der</strong>ungen angesehen werdenkönnen. Sie sind dauerhafte Mikrokontrakturenmuskulärer und faseriger Elemente im sauren undischämischen Bindegewebsmilieu und stellen sich klinischals tastbare knotige Verquellungen, Verspannungenund Verhärtungen in <strong>der</strong> Muskulatur dar(Randoll und Hennig 2005). Auf lange Sicht kann essogar zu Kalzifizierungen von Faseranteilen des Bindegewebeskommen. Im Bereich von Knorpel- und Knochengewebeführen adaptative und kompensatorischeVorgänge zu Abbau- bzw. Umbauprozessen.2.4.3 Klinische Manifestationen imFasziensystem als Körperfehlhaltung undBeweglichkeitseinschränkungDie klinischen Manifestationen <strong>der</strong> pathohistologischenVerän<strong>der</strong>ungen sind Dysfunktionen und Dysmorphien<strong>der</strong> betroffenen Bewegungssysteme. Funktionelläußern sich die pathohistologischen Verän<strong>der</strong>ungenals Beweglichkeitseinschränkungen, wobei alleBewegungssysteme betroffen sein können. In <strong>der</strong> schematischenDarstellung hat ein Bewegungssystem eineRuheposition und ein o<strong>der</strong> mehrere Freiheitsgrade(▶ Abb. 2.10, ▶ Abb. 2.11). In allen Bewegungsrichtungenhat das System einen aktiven Bewegungsraumbis zur sogenannten physiologischen motorischen Barriere.Diese aktive Beweglichkeit wird muskulär undligamentär geführt. Durch passive Krafteinwirkungkann die physiologische motorische Barriere überwundenwerden, bis das Bewegungssystem an seiner anatomischenBarriere nicht mehr ohne Verletzung weiterbewegtwerden kann.Eine pathologische motorische Barriere entsteht,wenn es durch pathohistologische Verän<strong>der</strong>ungen(Mikrokontrakturen) in <strong>der</strong> bewegenden Muskulaturo<strong>der</strong> in den führenden Ligamenten und Gelenkkapselnzu Einschränkungen des Bewegungsraums kommt(▶ Kap. 2.4.2). Diese Beweglichkeitseinschränkungführt auch zur Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Ruhehaltung. Sie wirdzur Schonhaltung und ist dadurch gekennzeichnet,dass sie weg von <strong>der</strong> pathologischen motorischen Barrierezur beweglichen Seite hin abweicht.Eine Körperfehlhaltung kann als die Summe solcherAbweichungen <strong>der</strong> Ruhepositionen von Bewegungssystemenerklärt werden und ist demnach Ausdruck pathohistologischerVerän<strong>der</strong>ungen im Bindegewebeaufgrund vielfältiger regulativer, adaptativer und kompensatorischerReaktionen auf akute und chronischeIrritationen im ganzen Fasziensystem. Die Verän<strong>der</strong>ungmanifestiert sich zunächst funktionell und führtauf Dauer zur Formverän<strong>der</strong>ung: Die Form passt sich<strong>der</strong> verän<strong>der</strong>ten Funktion an. Die Dysfunktion manifestiertsich als Dysmorphie.Das Kraniomandibuläre System ist Teil des Fasziensystems.Deshalb eignet sich das beschriebene Erklärungsmodell<strong>der</strong> Ätiologie und Pathogenese von Körperfehlhaltungenbzw. von Dysfunktionen undDysmorphien im Fasziensystem auch zur Erklärungfunktioneller und morphologischer Verän<strong>der</strong>ungen(Formstörungen) im Kraniomandibulären System(▶ Kap. 12). Kieferanomalien entwickeln sich individuellunterschiedlich über einen längeren Zeitraum undNeutralpositonbei FlexionsläsionPathologischemotorische BarrierePhysiologischemotorische BarriereAnatomischemotorische BarrierePathologischemotorische BarrierePhysiologischemotorische BarriereGelenkFlexionunbehin<strong>der</strong>tGelenkExtensionbehin<strong>der</strong>tAnatomischemotorische BarriereAbb. 2.10 Physiologische und anatomische Bewegungsgrenzeneines BewegungssystemsAbb. 2.11 Beweglichkeitseinschränkung und „Schonhaltung“ wegvon <strong>der</strong> pathologischen Bewegungsgrenze Copyright © 2013<strong>Verlag</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Medizin</strong> AG


2.5 Praktische Konsequenzen für die Orale <strong>Medizin</strong>33unter dem Einfluss zahlreicher chronischer Irritationen(mechanisch, chemisch, psychisch, physikalisch-physiologisch,▶ Tab. 2.1) auf das ganze Fasziensystem.Körperfehlhaltungen und Kieferanomaliensind somit Ausdruck ein und <strong>der</strong>selben ätiologischenund pathogenetischen Prozesse im Fasziensystem. EineKieferanomalie lässt sich demnach als Körperfehlhaltungim Bereich des Kraniomandibulären Systems verstehen.Kieferanomalien und Körperfehlhaltungensind klinisch oft vergesellschaftet und immer das Ergebniseines komplexen Kompensationsmusters desganzen Fasziensystems aufgrund vielfältiger mechanischer,chemischer, psychischer und physikalischerIrritationen und Belastungen.22.5 Praktische Konsequenzen für die Orale <strong>Medizin</strong>Kieferanomalien und Zahnfehlstellungen und die entsprechendenFunktionsstörungen sind Körperfehlhaltungenund Beweglichkeitseinschränkungen im KraniomandibulärenSystem. Form- und Funktionsstörun gendes Kraniomandibulären Systems müssen außerhalb desKraniomandibulären Systems kompensiert werden undbewirken dort Form- und Funktionsstörungen an<strong>der</strong>erTeilsysteme des Fasziensystems. Umgekehrt könnenForm- und Funktionsstörungen an<strong>der</strong>er Teilsysteme desFasziensystems im Kraniomandibulären System kompensiertwerden und bewirken dort Form- und Funktionsstörungen.Diese Zusammenhänge sind in <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>relevant bei <strong>der</strong>❚❚❚❚❚❚Diagnostik und Therapie von Muskel- und Gelenkschmerzeninnerhalb und außerhalb des KraniomandibulärenSystems (▶ Kap. 10: KraniofazialeOrthopädie),Diagnostik und Therapie von Form- und Funktionsstörungenim Kraniomandibulären System(▶ Kap. 12: <strong>Systemische</strong> Kieferorthopädie) sowie bei<strong>der</strong>restaurativen bzw. prothetischen Wie<strong>der</strong>herstellungvon Form und Funktion des KraniomandibulärenSystems (▶ Kap. 11: <strong>Systemische</strong> Restaurative Zahnmedizin).LiteraturArnetz BB, Ekman R (Ed.) (2006): Stress in Health and Disease. Weinheim:WileyBarral JP, Mercier P (2001): <strong>Lehrbuch</strong> <strong>der</strong> Viszeralen Osteopathie, Bd.1. München: Elsevier/Urban & FischerBauer J (2004): Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen undLebensstile unsere Gene steuern. 18. Aufl. München: PiperDe Morree JJ (2001): Dynamik des menschlichen Bindegewebes.Funktion, Schädigung und Wie<strong>der</strong>herstellung. München: Urban& FischerGoleman D (1999): Emotionale Intelligenz. 11. Aufl. München: dtvHeine H (2006): <strong>Lehrbuch</strong> <strong>der</strong> biologischen <strong>Medizin</strong>. 3. Aufl.Stuttgart: HippokratesKahle W, Leonhardt H, Platzer W (1991): Taschenatlas <strong>der</strong> Anatomiefür Studium und Praxis. 6. Aufl. Stuttgart: ThiemeMyers TW (20010): Anatomy Trains. Myofasziale Meridiane. 2. Aufl.München: Elsevier/Urban & FischerParent A (1996). Carpenter’s Human Neuroanatomy. 9 th ed.,Baltimore: Lippincott Williams and WilkinsPischinger A, Heine H (1983, 200911): Das System <strong>der</strong> Grundregulation:Grundlagen einer ganzheitsbiologischen <strong>Medizin</strong>.Heidelberg: HaugRandoll UG, Hennig FF: Matrix-Rhythmus-Therapie für Zeit-Strukturenund Prozesse. GZM Praxis und Wissenschaft 2005;10(1):20–25Rohen J (1994): Anatomie für Zahnmediziner. Ein <strong>Lehrbuch</strong> <strong>der</strong>makro- und mikroskopischen Anatomie des Menschen nachfunktionellen Gesichtspunkten. 3. Aufl. Stuttgart: SchattauerRohen J (2001): Funktionelle Neuroanatomie. 6. Aufl. Stuttgart:SchattauerSchwind P (2009): Faszien- und Membrantechnik. 2. Aufl. München:Elsevier/Urban & FischerSutherland WG (1939): The Cranial Bowl. A Treatise Relating ToCranial Articular Mobility, Cranial Articular Lesions andCranial Technic. Mankato: Free Press CompanyTravell JG, Simons DG (2002): Handbuch <strong>der</strong> Muskel-Triggerpunkte.Obere Extremität, Kopf und Rumpf. Bd. 1. 2. Aufl. München:Urban & FischerVan den Berg F (1999): Das Bindegewebe des Bewegungsapparatsverstehen und beeinflussen. Bd. 1: Angewandte Physiologie.Stuttgart: ThiemeErich Wühr, Wolfgang H. Koch (Hrsg.) - <strong>Lehrbuch</strong> <strong>der</strong> <strong>Oralen</strong> <strong>Medizin</strong>Copyright © 2013<strong>Verlag</strong> <strong>Systemische</strong> <strong>Medizin</strong> AG

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!