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Bildung durch eigenes <strong>Schreiben</strong>?Perspektiven des kreativen <strong>Schreiben</strong>s an UniversitätenMartin Beyer und Sebastian LerchOtto-Friedrich-Universität BambergZusammenfassungEigenes Denken anregen, gemeinsames Reflektieren ermöglichen und Freude am <strong>Schreiben</strong> wecken – diese Aspektewerden häufig als Ziele in Übungsbüchern zum kreativen <strong>Schreiben</strong> benannt. Dieser Beitrag überprüft dies,indem er theoretische Überlegungen zum kreativen <strong>Schreiben</strong> mit universitären Praxiserfahrungen (Seminare,Schreibwerkstatt, Tandem-<strong>Schreiben</strong>) in den Feldern Erwachsenenbildung und Germanistik verbindet. Dabei gehter von der Annahme lernender Subjekte aus, die über die üblichen Lernzielvereinbarungen und Modulziele hinausdurch eigenes Denken und Handeln mehr Bildung vollziehen können.1 Vom kreativen und anregenden Potentialdes <strong>Schreiben</strong>sAngesichts zunehmenden Markt- und Verwertungsdenkensdes gesamten Bildungs- und Erziehungswesens,das sich auch in der universitären Bildung mitihrer Kompetenzausrichtung zeigt, besteht die Tendenz,dass universitäre Lehre zur bedarfsgerechtenZurichtung menschlicher Arbeitskraft sowie zur systemkonformenSteuerung menschlicher Beziehungenbeiträgt. Die mit Bildung verbundenen emanzipatorischenForderungen nach Subjektorientierung undMündigkeit drohen dabei auf der Strecke zu bleiben.Natürlich ist es nicht ratsam, sich als Dozierender oderStudierender ausserhalb des gegebenen Rahmens zustellen, aber innerhalb der Inhalte und Methoden ist esdurchaus möglich, kreative Momente zu fördern unddas Denken in Kategorien der Optimierung und der unmittelbarenVerwertbarkeit momentweise einzustellen.Zum Teil ist das irritierend, denn sowohl Studierendeals auch Lehrende haben sich bereits an die Logik vonKompetenzzuwachs, Lernmodulen, Punktesystem undCo. gewöhnt. Vor diesem Hintergrund scheinen kreativeSchreibübungen eine Anstrengung eigener Art zusein, von der aus nicht immer ein sofort sichtbarer Nutzenzu erkennen ist.In den folgenden Kapiteln werden praktische Übungenund Erfahrungen von Seminaren aus der Erwachsenenbildungund Germanistik beschrieben, zuvor Differenzen,Schwierigkeiten und Möglichkeiten der Umsetzungdieser Übungen reflektiert. Im Mittelpunkt steht dabeidie Annahme, dass sich Teilnehmende in Seminarennicht nur theoretische Zugänge aneignen sollen, sondernsich auch durch reflektierte Auseinandersetzungmit sich bilden. Kreatives <strong>Schreiben</strong> ist eine wichtigeMöglichkeit, eine solche Auseinandersetzung anzuregen.www.zeitschrift-schreiben.eu Online publiziert: 7. Dezember 2012


2 Reflexionen über den Zusammenhang vonkreativem <strong>Schreiben</strong> und Bildung2.1 <strong>Schreiben</strong> als Selbst- und GruppenprozessSowohl bei universitären Kursen, deren Gehalt auftheoretischen Einsichten liegt, als auch bei Kursen,die dem Kompetenzerwerb dienen, lassen sich Übungenzum kreativen <strong>Schreiben</strong> integrieren. Ein wichtigesZiel ist es hierbei, Perspektivvielfalt anzuregen und dieWahrnehmung der Studierenden durch Inhalte zu irritieren,die nicht dem üblichen Stoff- und Themenkanonzugehören (vgl. Clark 2006, S. 106 f.). Für Studierendeist das nicht immer einfach, und auch für Lehrendeselbst kann das ein anstrengender Prozess des Aushaltensoder der Verunsicherung sein. Die in Kapitel3 vorgestellt Methode «Wo ist der Lichtschalter?» isthierzu eine wichtige Übung, die sich ohne grossen Zeitaufwandin den Seminaralltag integrieren lässt.Das kreative <strong>Schreiben</strong> kann folglich zum einen derWahrnehmungserweiterung, dem – mit E. T. A. Hoffmannformuliert – wirklichen Schauen (vgl. Hoffmann1994, S. 64) dienen, das die Dichotomie von «Innenwelt»und «Aussenwelt» erfahrbar und veränderbarmacht. Diese Zweiteilung scheint für das Auftreten vonSchreibblockaden typisch zu sein (vgl. Pyerin 2001, S.17). Zugleich unterstützt das eigene <strong>Schreiben</strong> aberauch ganz konkret die Bearbeitung von Fragestellungenund theoretischen Problemen. Kreatives <strong>Schreiben</strong>und die Produktion eigener und gemeinsamer Textekönnen helfen, sich zwanglos vorgegebenen oder eigenszu suchenden Themen zu nähern oder neue Anregungenzu bereits bekannten Themen zu gewinnen.Bereits hier wird die Verflechtung von Subjekt undObjekt, Mensch und Material deutlich: Das Materialdieser Gestaltung, der Text, liegt zwar ausserhalbdes Selbst, aber zugleich hat das Tätigsein, die Findungund Formung des Materials, aber auch der Rückwegder Formung des Selbst durch das Material Auswirkungenauf die eigene Person (vgl. Lerch 2010, S.143–146): Die Objektkunst ist stets verflochten mitder Subjektkunst, weil jede Arbeit eines Individuumsan einem Objekt bereits Rückwirkungen auf das Selbsthat (vgl. Knoll 2007, S. 18). Das Werk, der alleine odergemeinsam produzierte Text, wird nicht mehr nur alsdas fertige, gestaltete Ding betrachtet, sondern bereitsder Akt des Kunstschaffens tritt als Werk in Erscheinung(vgl. Zirfas 2007, S. 165).Daher sind nicht nur die Durchführung der Übungen,sondern auch das Vorlesen der Textergebnisse, dasReflektieren und das gemeinsame, offene Gespräch ineinem vertrauensvollen Umfeld für den gesamten kreativenProzess so wichtig. Eine grosse Herausforderungfür den Dozierenden besteht darin, diese Atmosphärean einem Lernort zu kreieren, der sonst von einemLeistungs- und Nützlichkeitsprinzip geprägt und dementsprechendfunktional gestaltet ist. Zur Anregungvon kreativen Schreibprozessen ist es folglich einerseitswichtig, eine methodische Offenheit zu etablieren,d. h., es wird nicht vorgeschrieben, wie gearbeitet oderwas bearbeitet wird, sondern das bewusste Zulassendes Findens, des Suchens, des Gelingens oder der Umgangmit Brüchen ist Teil des pädagogischen Konzepts.Es steht eher das achtsame Registrieren innerer undäusserer Prozesse im Vordergrund, die zunächst keinerBewertung, Beurteilung oder methodischen Eingliederungunterworfen sein müssen. Im Gegenteil: Sichaugenblicksweise von Paradigmen der Kompetenzentwicklung,des Lernerfolgs und der -geschwindigkeit zulösen, vermag es, Bildungsdruck abzubauen oder garSchreibblockaden zu lösen. Eine andere Möglichkeit,die Rahmung für die kreativen Schreibübungen zu verbessern,besteht darin, den Lernort zumindest zeitweisebewusst zu verlassen und den kreativen Austauschin ein privates oder öffentliches Umfeld (Park, Garten)zu verlagern.2.2 <strong>Schreiben</strong> in der neuen Struktur universitärerLehreDie von Jorge Luis Borges geprägte Formel «zu suchen,was mich erstaunt» (vgl. Borges 1995, S. 25) istfür das akademische Leben und Arbeiten seit PlatonsAkademie eine wichtige Maxime. Das Staunen über dieWelt zu erklären, es also in wissenschaftliche Theoremezu überführen, verlangt methodische Genauigkeit,ist aber ohne Kreativität, gewissermassen sogar ohneeine kreative Ursprünglichkeit kaum zu denken. Ohnedie Diskussion hier mit all ihren Verästelungen aufrollenzu können, so zeichnet sich doch immer mehr ab, dassdiesem anfangs häufig im wahrsten Sinne zwecklosenStaunen an den Universitäten immer weniger Raum gegebenwird bzw. gegeben werden kann. Das BachelorundMastersystem fördert nicht ausschliesslich, abervorrangig ein effizientes Training on the job, und dafürgibt es angesichts globaler Wettbewerbsstrukturenauch gute Gründe. Wichtig wäre es allerdings, daraufzu achten, dass dies die universitären Bildungsmöglichkeitenund Möglichkeitsräume nicht in einem Mas-Beyer / Lerch: «Bildung durch eigenes <strong>Schreiben</strong>?» www.zeitschrift-schreiben.eu 7.12.2012 Seite: 2 /6


se einschränkt, dass letztlich allein ein von jedwederSubjektorientierung losgelöster Qualifizierungsbegriffübrig bliebe (vgl. Meueler 2005; Lerch 2012).So mag das Bereithalten und Durchführen von Übungen,die in einer universitären Modulstruktur auf Freiräumeabzielen, zwar auf den ersten Blick verwundern.Es ist aber erklärbar und in unseren Augen für denuniversitären Lehrbetrieb elementar. Innerhalb vonsolchen Denkräumen entsteht ein individueller und gemeinschaftlicherBildungsprozess, es entwickeln sich –um in der Logik des Verwertbarkeitsdenkens zu bleiben– mitunter auch kreative Kompetenzen (oder auch nurschlicht kreatives Potential). Der Kursleiter hält sich indiesem Prozess zurück, ist zugleich jedoch stets präsent,so dass er zu thematischen oder künstlerischenFragen jederzeit ansprechbar ist; freilich greift er auchdann aktiv ein, wenn er die Schreibübung anleitet odernach einer gemeinsamen Diskussion noch einmal Ergebnisseund Fragen aufgreift und bündelt.Wie im vorherigen Abschnitt bereits erwähnt, sollte dieLernatmosphäre dabei von einer offenen, kollegialenArt zwischen den zumeist Laien-Künstlern bestimmtsein. Hierdurch wird künstlerisches und handwerklichesSehen und Lernen ermöglicht: Denn, um bei Borgeszu bleiben, um das Eigene zu erkennen, muss dasFremde angeschaut werden.Ein weiterer Aspekt kommt hinzu, wenn die Ergebnisseder Schreibübungen öffentlich gemacht, sie also universitätsinternoder sogar einer breiten Öffentlichkeitzugänglich werden. So kam es im Sommersemester2009 an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg zueiner hochschulinternen Ausstellung der Texte aus demSeminar «Zugänge zum Subjekt in der Erwachsenenbildung».Ausgehend von Texten, die sich mit Subjektorientierungbeschäftigen (u. a. Aigner 2001, Faulstichu. Ludwig 2004, Meueler 1998²), wurde in diesem Seminarneben dem Lesen und Interpretieren auch derZugang zum eigenen Subjektsein durch Schreibübungenangeregt. Durch die Ausstellung der im Reihumschreiben(siehe 3.) entstandenen Texte konnte anderenStudierenden und Lehrenden nicht nur ein Zugangzum Thema, sondern auch die gemeinsame reflektierendeArbeit veranschaulicht werden.Ein weiteres Beispiel aus Bamberg: Jeweils im Sommersemester2011 und 2012 wurden die studentischenAnthologien «Zeichen & Wunder» und «Stirb & Werde»im Rahmen des extra dafür etablierten LiteraturfestivalsBamberg liest an drei Terminen in der Stadtpräsentiert, bei zwei Veranstaltungen bewusst losge-löst vom akademischen Rahmen. Das Verhältnis derUniversität zum öffentlichen Raum wurde dadurch gestärkt,die Studierenden eher in ihrer Rolle als Künstler,weniger in ihrer Rolle als angehende Akademiker wahrgenommen,was ihnen einen neuen Erfahrungsraumund auch eine andere Art des Rückmeldung auf ihreArbeit ermöglicht hat, fernab des Lernorts «Seminarraum»mit seiner ihm eigenen Gesprächskultur.3 Ausgewählte Methoden und Ergebnisseaus SeminarenMethode 1: Wo ist der Lichtschalter? Eine kleine Schuleder WahrnehmungDiese Übung gehört neben den Basisübungen desKreativen <strong>Schreiben</strong>s wie dem Free-Writing oder demClustering (vgl. Pyerin 2001, S. 57–65) zu den erstenSchreiberfahrungen der Teilnehmenden im Tutoriumfür Kreatives <strong>Schreiben</strong> an der Otto-Friedrich-UniversitätBamberg.Die Studierenden werden gebeten, für eine gewisse Zeitauf ihre Wahrnehmung zu achten und etwa den Wegzur Universität, den Aufenthalt in der Bäckerei oder dasSitzen im Zug oder im Bus mit einer besonderen Achtsamkeitzu belegen. Die Prämisse hierbei: Der «flexibleMensch» (Richard Sennett), hier im Besonderen der inden neuen Studienstrukturen sehr stark terminlich fixierteStudierende (siehe 2.2), beschreitet seine Wegeimmer häufiger mit Scheuklappen oder einem Tunnelblick,nimmt sein Umfeld kaum noch oder nicht mehroffen wahr. Nicht nur literarische oder journalistische,sondern auch wissenschaftliche Texte profitieren indesvon einer scharfen, mitunter im wahrsten Sinne verrücktenWeltsicht, die Ausdruck eines kreativen Umgangsmit der Alltagswirklichkeit ist. Diesen spontanen,entdeckerfreundlichen Zustand soll die Übung «Wo istder Lichtschalter» fördern und bewusst machen. Entlehntist sie einem journalistischen Beispiel aus denUSA (vgl. Clark 2009, S. 106), in dem über das beobachteteDetail eines zugeklebten Lichtschalters die Tragödieeiner gesamten Familie erfahrbar wird, die seitJahren darunter leidet, dass die älteste Tochter verschwundenist. Das Licht brennt immerzu und ist Ausdruckder Hoffnung, die Tochter möge zurückkehren.Über eine solche Entdeckung, die nur den wenigstenin den Blick gekommen wäre, sollen die Studierendenschreiben. Das kann ein Gegenstand sein, ein Gebäude,ein Halbsatz, den man irgendwo aufschnappt, so abernoch nicht gehört hat. Der Text soll diese EntdeckungBeyer / Lerch: «Bildung durch eigenes <strong>Schreiben</strong>?» www.zeitschrift-schreiben.eu 7.12.2012 Seite: 3 /6


einfach nur wiedergeben, ohne darüber zu reflektieren,ohne sie zu bewerten und ohne sie zu kategorisieren.Diese Übung wird von den Kursteilnehmern in der Regelmit grosser Begeisterung durchgeführt, wenngleichin den Feedbackgesprächen immer wieder zur Sprachekommt, dass es sehr schwierig sei, den Drang nachBewertung, nach (Ein-)Ordnung auszusperren. An diesemPunkt erscheint es wichtig zu betonen, dass genaudieser «Drang» Schreibblockaden fördern kann. DieseÜbung hingegen führt zu einem spontanen <strong>Schreiben</strong>,auch zu einem schnellen Schreiberfolg, der in einemweiteren Arbeitsschritt durchaus Material bieten kannfür ein anderes Textvorhaben, das dann den verschiedenenGenres – im Falle des Lichtschalters die journalistischeReportage – zugeordnet werden kann. FolgendesTextbeispiel vermag die Potentiale dieser Übung zuveranschaulichen: Ein Kursteilnehmer, ein griechischerAustauschstudent, entdeckte die in vielen deutschenStädten in die Strassen eingelassenen Stolpersteine,die auf die Deportation von Juden während nationalsozialistischerDespotie hinweisen – und machte folgendendoppelbödigen Text daraus:StolpersteineWenn man durch irgendeine deutsche Stadt spazierengeht, stösst man oft auf kleine goldene gravierteMessingplatten auf dem Bürgersteig. Diefindet man in Berlin, in Frankfurt, in SchwäbischHall. Auch in Bamberg, aus der neu angekommenenGruppe von ausländischen Studenten bemerktjemand diese seltsamen Steine.• Und was ist das? fragt er die deutsche Führerin.• Ah, das sind Stolpersteine.• Stolpersteine?• Ja, ein zusammengesetztes Wort mit vielenKonsonanten, ganz typisch Deutsch.• Und was bedeutet stolpern?• Das ist stolpern, demonstriert jemand, to stumble.• Aber stolpern Leute auch in Deutschland? Allesist so organisiert, so perfekt. Keine irregulärenFlächen.• Nur metaphorisch. Die Deutschen stolpernmanchmal über ihre Geschichte. Lesen Sie bitte!Eine Frau aus Russland liest mit nüchternerStimme:Hier wohnte Erich LübensteinJg. 1898Deportiert 1941Lodz???Hier wohnte Ella Lübenstein g. DavidJg. 1897Deportiert 1941Lodz???• Genau, das sind Stolpersteine, sagt die Führerin.Und das da hinten – das ist der Bahnhof.(Harris Hadjidas, Sommeruniversität 2011)Methode 2: <strong>Schreiben</strong> im TandemAus den Seminaren zum Kreativen <strong>Schreiben</strong> an derUniversität Bamberg sind mittlerweile zwei literarischeAnthologien (vgl. Beyer 2011; 2012) hervorgegangen,die mit einem besonderen Konzept aufwarten. DieIdee: Etablierte Autorinnen und Autoren aus Bambergund Oberfranken sowie Stipendiaten des InternationalenKünstlerhauses Villa Concordia übernehmen fürdiese Anthologie eine Patenschaft, bilden mit jeweilseinem Studierenden ein Tandem und erarbeiten proGespann zwei oder gemeinsam eine Geschichte für dasBuch. Dabei soll eine blosse Begleitungsfunktion «vonoben nach unten» vermieden und eine echte gemeinsameTextarbeit angestrebt werden.Das Thema der ersten Anthologie lautet «Zeichen &Wunder» – Zeichen zu setzen und von den kleinenund grossen Wundern des Lebens zu erzählen, das istdas Geschäft des Schriftstellers. In diesem Fall ist esgleichzeitig ein Statement: für eine generationenumspannendeZusammenarbeit, für die Bereitschaft erfahrenerKünstler, sich ihrer Anfänge zu erinnern und ineinen Dialog mit jungen Nachwuchsautoren zu treten.Bemerkenswert ist, wie unterschiedlich nicht nur dieTexte geworden sind, sondern auch, wie unterschiedlichdie Zusammenarbeit der einzelnen Tandems ausgefallenist. Darüber geben kurze Statements der Autorinnenund Autoren Auskunft, die zu den Geschichtenabgedruckt worden sind.Beyer / Lerch: «Bildung durch eigenes <strong>Schreiben</strong>?» www.zeitschrift-schreiben.eu 7.12.2012 Seite: 4 /6


Methode 3: ReihumschreibenAls ergiebige Methode gemeinsamen Arbeitens eignetsich auch das Reihumschreiben (vgl. Pyerin 2001, S.53). Mit dieser Übungsform wird nicht nur das eigeneNachdenken im <strong>Schreiben</strong> initiiert, sondern darüber hinausauch kreative Prozesse durch die Gruppendynamikerzeugt. Jemand beginnt mit zwei bis drei Sätzenzu erzählen, gibt seinen Text an den Nachbarn weiter,und so geht es weiter, bis «sein/ihr» Text wiederzurückkommt. Der Autor erhält dann die Möglichkeit,einen Schlussgedanken und eine Überschrift zu finden.Freilich ist das zunächst ungewohnt und erfordert eineoffene Kursatmosphäre, in der die Teilnehmenden auchbereit sind, die Textbausteine anderen zur Verfügungzu stellen. Als Beispiel sei folgender von Studierendenim Seminar «Zugänge zum Subjekt in der Erwachsenenbildung»produzierter, und hier leicht gekürzter,Text angeführt:Erfüllung im sozialen Netz?Ja, so stand ich nun da. Das Hobby zum Beruf gemachtund jetzt nach der Kündigung schaue ichin die Röhre. Ohne Hobby und ohne Job. Ich entschlossmich dazu, in einen neuen Bereich einzusteigen,der Ausgang meines Übels war: Ich wurdeBerater und versuchte alle Menschen davon abzubringen,ihre Interessen, quasi ihre Lieblingstätigkeiten,mit den Interessen für einen Beruf zuverbinden – und fragte mich anschliessend, womeine Moral geblieben war. Irgendwie fühle ichmich schlecht mit dem, was ich tue. Es ist falsch,anderen Menschen zu raten, sie sollten nicht ihrenBeruf nach persönlichen Interessen/Hobbys wählen.Ich sehe es ja schliesslich bei mir, nie hab ichLust, auf Arbeit zu gehen, weil ich keinen richtigenSpass an der Tätigkeit finde. Aber welche Tätigkeitmacht mir überhaupt Spass? Ich kann das ausdem Bauch heraus gar nicht sagen. Es gibt so vieleMöglichkeiten zum Entscheiden oder doch keine,wenn man plötzlich arbeitslos da steht? Also kündigteich nach reiflicher Überlegung meinen Beraterjobund wurde Hartz IV-Empfänger, da mir imMoment alles zu viel war und ich Zeit zum Nachdenkenbrauchte. Nun habe ich nur noch Hobbysund keinen Beruf mehr und fühle mich richtig gut.Arbeiten, denke ich mir jetzt: Nie wieder! Am bestendie «Jugendrente» einführen. «Aber ich willnicht werden, was mein Alter ist, nein ich will nichtwerden, was mein Alter ist, ich will frei sein undpfeifen auf das Scheiss-Geld, wer weiss – wenn ichfertig bin … dann bin ich fertig mit der Welt.(11 Studierende des Seminars «Zugänge zumSubjekt in der Erwachsenenbildung»,Sommersemester 2009)Der Beispieltext zeigt zweierlei: Zum einen veranschaulichter die inhaltlichen Überraschungen, Wege,Umwege und Neubeginne eines gemeinsam im kreativenProzess entstandenen Textes. Dieser Prozessdes Unplanbaren und Brüchigen wird auch dadurchunterstützt, dass während eines Textes auch noch andereproduziert werden und die vorher geschriebenenSätze vielleicht in Stil oder Inhalt auch den folgendenbeeinflussen. Zum anderen wird mit diesem Reihumgebender eigenen Texte eine methodische Besonderheitsichtbar: Ihr Einsatz eignet sich eher nicht gleichfür den Kursbeginn, sondern setzt eine vertraute Umgebungvoraus. Ziel der als Beispieltext angeführtenÜbung war es nicht, ausgearbeitete und argumentativlogische Texte über das Subjekt zu verfassen, sonderndurch <strong>Schreiben</strong> in der Gruppe einen Zugang zumSelbst als tätiges und denkendes Subjekt zu erlangenund Freude am <strong>Schreiben</strong> zu initiieren.4 Zusammenfassung der ErgebnisseIm Prozess des <strong>Schreiben</strong>s geht es neben der Kunstals «ein praktisches, auf Herstellen zielendes Wissen,ein regelorientiertes Handwerk» (Zirfas 2007, S. 165)auch um die Realisierung der gewonnenen künstlerischensowie persönlichen Möglichkeiten. Sie könnenihren Ausdruck gerade im kreativen <strong>Schreiben</strong> erfahren.Der Beitrag analysierte und prüfte diese im Hinblickauf ihr anregendes Potential, aber auch in Bezug aufdie Reichweite im universitären Kontext. Folgende zentralenErgebnisse können zusammenfassend benanntwerden:• Kreative Schreibübungen erfordern von Studierendenund Lehrenden eine erhöhte Sensibilität,Umgang mit ungewissen Ergebnissen undMut, sich auf diese gemeinsam geteilte Erfahrungeinzulassen• Eigenes und gemeinsames <strong>Schreiben</strong> kanndazu beitragen, neue Zugänge zu Problemstellungenfreizulegen, aber auch neue Themen zuBeyer / Lerch: «Bildung durch eigenes <strong>Schreiben</strong>?» www.zeitschrift-schreiben.eu 7.12.2012 Seite: 5 /6


finden, die weiter zu bearbeiten sind• Methoden müssen bewusst und für den jeweiligenKontext (Thema, Gruppe, institutionellerRahmen) gezielt ausgewählt werden• Ergebnisse von Schreibprozessen sind nichtsteuerbar, sondern sind vielmehr als gemeinsamerProzess und geteilte Erfahrung bewusstzu machenDas zu bearbeitende Material (z. B. ein bestimmtesThema, eine Fragestellung) dient in kreativen Schreibprozessenals Mittel. Durch die Begegnung mit demMaterial wird die Reflexion der eigenen und fremdenWahrnehmung angeregt. Diese bewusste und pädagogischbegleitete Wahrnehmung ist ein Merkmal,welches der modernen Lebenswelt mit ihren mituntervorgefertigten, standardisierten Sichtweisen («Denkenin Schubladen», Wertungen) widerläufig ist. Durch dieBeschäftigung mit dem Material erfolgt das Erkennender eigenen Ursprünge, des eigenen Wesens. Diesekreativen Prozesse in der universitären Lehre zu fördern,dafür möchte dieser Artikel werben. Die im Titelgestellte Frage ist daher mit einem klaren Ja zu beantworten.Knoll, Jörg. 2007. «Neues Leben anregen: Kunst alsKorrespondenzgeschehen.» Forum Erwachsenenbildung– Beiträge und Berichte aus der evangelischenErwachsenenbildung 4: 18–19.Lerch, Sebastian. 2010. Lebenskunst lernen? LebenslangesLernen aus subjektwissenschaftlicher Sicht.Bielefeld: Bertelsmann.Lerch, Sebastian. 2012. «Selbstkompetenz – eine neueberufliche Qualität?» <strong>Zeitschrift</strong> für Berufs- undWirtschaftspädagogik 1: 118–125.Meueler, Erhard. 1998². Die Türen des Käfigs: Wegezum Subjekt in der Erwachsenenbildung. Stuttgart:Klett-Cotta.Meueler, Erhard. 2005. «Kompetenz oder das allseitsvermessene funktionale Subjekt.» POLIS 4: 23–25.Pyerin, Brigitte. 2001. Kreatives wissenschaftliches<strong>Schreiben</strong>: Tipps und Tricks gegen Schreibblockaden.Weinheim u. München: Juventa.Schmid, Wilhelm. 1998. Philosophie der Lebenskunst:Eine Grundlegung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.Zirfas, Jörg. 2007. «Das Lernen der Lebenskunst.» PädagogischeTheorien des Lernens, hrsg. v. MichaelGöhlich, Christoph Wulf und Jörg Zirfas, 163–175.Weinheim u. Basel: Beltz.LiteraturAigner, Josef Christian. 2001. «Subjektbildung imGrenzbereich zwischen analytischer Sozialpsychologieund subjektorientierter Erwachsenenbildung.»In Bildung: Wege zum Subjekt, hrsg. v. MarkusHöffer-Mehlmer, 9–17. Baltmannsweiler: Schneider.Beyer, Martin. 2011. Zeichen & Wunder. Sieben Tandemgeschichten.Bamberg: perpetuum publishing.Beyer, Martin. 2012. Stirb & Werde. Acht Tandemgeschichten.Bamberg: perpetuum publishing.Borges, Jorge Luis. 1995. «Tlön, Uqbar, Orbis Tertius.»In El jardín de senderos que se bifurcan. ObrasCompletas, Band II. Barcelona: Emece.Clark, Roy Peter. 2009. Die 50 Werkzeuge für gutes<strong>Schreiben</strong>. Handbuch für Autoren, Journalisten &Texter. Berlin: Autorenhaus.Hoffmann, E. T. A. 1994. «Die Serapionsbrüder.» InWerke in Einzelausgaben, Bd. 4. Berlin: Aufbau.Faulstich, Peter und Joachim Ludwig. 2004. «Lernenund Lehren – aus ‹subjektwissenschaftlicher Perspektive›.»In Expansives Lernen, von Peter Faulstichu. Joachim Ludwig, 10–27. Baltmannsweiler:Schneider.Beyer / Lerch: «Bildung durch eigenes <strong>Schreiben</strong>?» www.zeitschrift-schreiben.eu 7.12.2012 Seite: 6 /6

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