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Die Schweiz und der Zweite Weltkrieg - Schweizerischer ...

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NFP 42 Synthesis<br />

41<br />

‚<strong>Die</strong> <strong>Schweiz</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Zweite</strong> <strong>Weltkrieg</strong>‘:<br />

zur Resonanz <strong>und</strong><br />

Dynamik eines<br />

Geschichtsbildes<br />

anhand einer Analyse<br />

politischer Leitmedien<br />

zwischen<br />

1970 <strong>und</strong> 1996<br />

Matthias Kunz<br />

Pietro Morandi<br />

Bern, Juli 2000


Nationales Forschungsprogramm<br />

„Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> Möglichkeiten <strong>der</strong><br />

schweizerischen Aussenpolitik“<br />

<strong>Die</strong> NFP 42 Synthesis fassen die Ergebnisse<br />

einzelner Forschungsprojekte zusammen.<br />

Der Inhalt verpflichtet nur die Autorinnen<br />

<strong>und</strong> Autoren.<br />

Programme national de recherche<br />

„Fondements et possibilités de la<br />

politique extérieure suisse“<br />

Les NFP 42 Synthesis résument les résultats<br />

de projets de recherche individuels.<br />

Le contenu n’engage que les auteurs.<br />

Programmleitung · Direction du programme<br />

Dr. Laurent Goetschel · Magdalena Bernath<br />

Universität Bern, Institut für Politikwissenschaft<br />

Lerchenweg 36, CH-3000 Bern 9<br />

Sekretariat Nationalfonds · Secrétariat Fonds national<br />

Dr. Christian Mottas<br />

Wildhainweg 20, CH-3001 Bern<br />

http://www.snf.ch/NFP42/


Matthias Kunz<br />

Pietro Morandi<br />

‚DIE SCHWEIZ UND<br />

DER ZWEITE WELTKRIEG‘:<br />

zur Resonanz <strong>und</strong> Dynamik eines Geschichtsbildes anhand einer Analyse politischer<br />

Leitmedien<br />

zwischen 1970 <strong>und</strong> 1996<br />

Studie im Rahmen des NFP „Aussenpolitik“<br />

Synthesebericht<br />

Soziologisches Institut<br />

Rämistrasse 69<br />

CH-8001 Zürich<br />

Tel. 01-634 21 75<br />

Fax: 01-634 49 89<br />

e-mail: mskunz@soziologie.unizh.ch<br />

www.geschichtsbildschweiz.ch<br />

Universität Potsdam<br />

Professur für Politische Theorie<br />

August-Bebel-Strasse 89, Haus 1<br />

D-14482 Potsdam<br />

e-mail: morandi@rz.uni-potsdam.de<br />

Der vorliegende Synthesebericht fasst die wesentlichen Ergebnisse des Projektes „‚<strong>Die</strong> <strong>Schweiz</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Zweite</strong> <strong>Weltkrieg</strong>‘: zur<br />

Resonanz <strong>und</strong> Dynamik eines Geschichtsbildes anhand einer Analyse politischer Leitmedien zwischen 1970 <strong>und</strong> 1996“<br />

zusammen.


INHALT<br />

1 Einleitung......................................................................................................................................................... 5<br />

1.1 Fragestellung <strong>und</strong> Datenbasis........................................................................................................... 5<br />

1.2 <strong>Die</strong> Rolle <strong>der</strong> untersuchten Zeitungen ............................................................................................... 6<br />

1.3 Definition von Geschichtsbild <strong>und</strong> theoretische Perspektive ............................................................. 8<br />

2 Gr<strong>und</strong>züge <strong>der</strong> Geschichtsbild-Kontroverse 1965 bis 1996............................................................................. 9<br />

2.1 <strong>Die</strong> Geschichtsdebatte <strong>der</strong> 60er Jahre zwischen Vergangenheitsbewältigung <strong>und</strong> Pflege patriotischer<br />

Gesinnung......................................................................................................................................... 9<br />

2.2 <strong>Die</strong> helvetische Vergangenheitsbewältigungsdebatte <strong>der</strong> 70er Jahre verwaist zwischen<br />

politischer Polarisierung <strong>und</strong> akademischer Scholastik ................................................................... 11<br />

2.3 Gr<strong>und</strong>legende Verän<strong>der</strong>ungen <strong>und</strong> erste Vorbeben in den 80er Jahren ......................................... 12<br />

2.4 Internationaler Umbruch <strong>und</strong> innenpolitische Legitimationskrise 1989: <strong>der</strong> Angriff auf in<br />

mentales Réduit <strong>der</strong> nationalen Identität ......................................................................................... 14<br />

2.5 Verarbeitung <strong>der</strong> Vergangenheit – Bewältigung <strong>der</strong> Zukunft: die Entdeckung Europas <strong>und</strong> die<br />

Synchronisierung des helvetischen Geschichtsbildes 1990 bis 1995.............................................. 17<br />

2.6 Ausblick 1996: die politisch-moralischen Hypotheken im Schatten des <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>s ........... 20<br />

3 Schlussbetrachtungen: das Geschichtsbild als aussenpolitischer Stolperstein ............................................. 21


1 EINLEITUNG<br />

Mit dem Ende des Kalten Kriegs fiel <strong>der</strong> orientierungsstiftende Konsens über die Bedrohung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> weg. Seit dem<br />

Ende des <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>s hatte er die Voraussetzung für die Maxime <strong>der</strong> bewaffneten Neutralität geliefert <strong>und</strong> den<br />

Gr<strong>und</strong>stein für den aussenpolitischen Alleingang gelegt, <strong>der</strong> die <strong>Schweiz</strong> ausserhalb jeglicher internationaler<br />

Bündnisverpflichtungen hielt.<br />

<strong>Die</strong> Bemühungen um eine neue Standortbestimmung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> haben in den 90er Jahren gezeigt, dass die Frage <strong>der</strong><br />

politischen Zukunft nicht von ihrem Verhältnis zur Vergangenheit abgelöst werden kann. In diesem Spannungsfeld von Aufbruch<br />

<strong>und</strong> Kontinuität, Öffnung <strong>und</strong> Beharrung geriet das breit verankerte Selbstverständnis des schweizerischen Son<strong>der</strong>falls mit den<br />

Debatten um die sicherheits- <strong>und</strong> aussenpolitischen Reformbestrebungen <strong>und</strong> um den integrationspolitischen Öffnungskurs<br />

gegenüber Europa in den Sog einer innenpolitischen Polarisierung. <strong>Die</strong>se vielfältigen aussen- <strong>und</strong> integrationspolitischen<br />

Herausfor<strong>der</strong>ungen brachten die Intarsien helvetischer Geschichtsbil<strong>der</strong> in Bewegung. Allerdings kam in diesen äusserst<br />

resonanzfähigen Geschichtsbild-Debatten zum Ausdruck, dass <strong>der</strong>en Ursache nicht nur mit den Problemen <strong>der</strong> Vergangenheit,<br />

son<strong>der</strong>n mit einer verän<strong>der</strong>ten Perspektive auf diese Vergangenheit zu tun hatte. Der Referenzpunkt <strong>der</strong> kollektiven Erinnerung<br />

hatte sich nach 1989 offensichtlich geän<strong>der</strong>t. Erst jetzt wurde einer breiten Öffentlichkeit die moralische Identifikations- <strong>und</strong><br />

Orientierungskraft jenes jahrzehntelang weitgehend unhinterfragten Geschichtsbildes des Son<strong>der</strong>falls <strong>Schweiz</strong> bewusst, das<br />

seine historischen Wurzeln in <strong>der</strong> spezifischen Verarbeitung des <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>s hatte. Das helvetische Geschichtsbild zog<br />

allerdings nicht nur die Aufmerksamkeit als aussenpolitischer Stolperstein auf sich. Vielmehr wurde es zunehmend selber als<br />

Stein des Anstosses empf<strong>und</strong>en <strong>und</strong> als Gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> innenpolitischen Entzweiung anlässlich <strong>der</strong> „Diamant“-Gedenkfeierlichkeiten<br />

angesehen. Von 1989 an entspann sich um das Geschichtsbild einer Dauerkontroverse, die sich immer stärker <strong>der</strong> Frage<br />

näherte, wie europakompatibel das helvetische Selbstverständnis sei. <strong>Die</strong> nicht mehr abbrechenden „Schattendiskurse“ über die<br />

Rolle <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> während des <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>s verstärkten die Bereitschaft auf höchster politischer Ebene, sich auf<br />

kontroverse Vergangenheitsdeutungen einzulassen <strong>und</strong> veranlassten den B<strong>und</strong>esrat 50 Jahre nach Ende des <strong>Zweite</strong>n<br />

<strong>Weltkrieg</strong>s, sich für die schweizerische Flüchtlingspolitik gegenüber den Juden zu entschuldigen. Im Zuge dieses<br />

Revisionsprozesses überragte im Herbst 1995 die Skandalisierung des schweizerischen Finanzplatzes durch die USA alle<br />

an<strong>der</strong>en Geschichtsbild-Kontroversen. Ihre For<strong>der</strong>ung nach Genugtuung in Sachen Raubgold <strong>und</strong> nach <strong>der</strong> Suche von<br />

sogenannt nachrichtenlosen Vermögen ehemaliger, zumeist jüdischer Opfer des Nationalsozialismus, bewegten B<strong>und</strong>esrat <strong>und</strong><br />

Parlament 1996 zur Einberufung einer internationalen <strong>und</strong> unabhängigen Expertenkommission, besser bekannt als Bergier-<br />

Kommission. <strong>Die</strong> Ernennung von Fachhistorikern als Experten <strong>der</strong> Vergangenheitsaufarbeitung demonstrierte symbolisch das<br />

zur Disposition stehende Geschichtsbild über die Rolle <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> im <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>, dessen mangelnde Glaubwürdigkeit<br />

<strong>und</strong> defizitäres Anpassungsvermögen einer kritischen Überprüfung unterzogen werden sollte.<br />

1.1 Fragestellung <strong>und</strong> Datenbasis<br />

<strong>Die</strong> Einberufung <strong>der</strong> Bergier-Kommission sensibilisierte einerseits für die Notwendigkeit einer verantwortungsvollen<br />

Vergangenheitsbewältigung, an<strong>der</strong>erseits warf sie die Frage nach <strong>der</strong> Funktion nationaler Identifikationsmuster <strong>und</strong> Erinnerungsbil<strong>der</strong><br />

auf. Letzteren kam über die ganze Nachkriegszeit hinweg nicht nur in offiziellen Gedenkanlässen, son<strong>der</strong>n<br />

namentlich in <strong>der</strong> Flüchtlings-, Aussen-, Sicherheits- o<strong>der</strong> Neutralitätspolitik eine zentrale Bedeutung zu. Aufgr<strong>und</strong> dieser Resonanzfähigkeit<br />

des Geschichtsbildes im öffentlichen Diskurs setzte sich die vorliegende Analyse mit <strong>der</strong> Frage auseinan<strong>der</strong>,<br />

welchen Einfluss das Geschichtsbild auf das Verhältnis von Binnenintegration <strong>und</strong> Aussenpolitik <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> ausübte <strong>und</strong><br />

welche Integrationsfunktionen diese Identitätsdebatten im sozialen Wandel leisteten.<br />

Historische Erfahrung <strong>und</strong> politische Erwartung lassen sich in <strong>der</strong> Analyse des massenmedialen Diskurses erschliessen. In<br />

<strong>der</strong> Analyse von öffentlich geführten Geschichtsdebatten sind allerdings zwei Betrachtungsweisen von Geschichte ineinan<strong>der</strong><br />

verschränkt, die es bei <strong>der</strong> Berichterstattung <strong>der</strong> Printmedien zu berücksichtigen gilt: Erstens geht es um die Betrachtung von<br />

Geschichte in ihrem eigenen Licht; diese Aufgabe fällt in erster Linie den Fachhistorikern zu <strong>und</strong> findet im Normalfall relativ<br />

unspektakulär ausserhalb des redaktionellen Stammteils einer Zeitung statt. <strong>Zweite</strong>ns handelt es sich um die Betrachtung von<br />

Geschichte im Lichte neuer Standpunkte, die nach <strong>der</strong> Erfahrung von gravierenden Enttäuschungen o<strong>der</strong> Überraschungen über<br />

den Gang <strong>der</strong> Geschichte jeweils bezogen werden. Der Prozess <strong>der</strong> Korrektur besteht nun darin, dass im öffentlichen Diskurs<br />

ein Geschichtsbild erst Geltung erlangt, wenn es öffentlich plausibel erscheint, d.h. mit <strong>der</strong> Erwartungshaltung einer breiteren<br />

Öffentlichkeit vereinbar geworden ist. Im wissenschaftlichen Diskurs wird das Geschichtsbild an die von den Historikern für<br />

massgeblich erkannten Fakten <strong>und</strong> Fakteninterpretationen angeglichen. Gesellschaftliche Erwartungen <strong>und</strong> Vergangenheitsinterpretationen<br />

werden solange modifiziert <strong>und</strong> aneinan<strong>der</strong> angepasst, bis sie sich zu einem resonanzfähigen Geschichtsbild<br />

zusammenfügen. Damit ist das Geschichtsbild gleichsam ein Kompromiss zwischen einem hauptsächlich wissenschaftlich<br />

motivierten Erkenntniswillen von Historikern <strong>und</strong> den Vorstellungen über plausible Vergangenheitsinterpretationen eines breiteren<br />

Publikums.<br />

In <strong>der</strong> vorliegenden Untersuchung führen diese Gr<strong>und</strong>annahmen zu folgenden Fragestellungen:


• Wie <strong>und</strong> in welchen Zusammenhängen wurde das Geschichtsbild über die Rolle <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> im <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong> in den<br />

politischen Printmedien wie<strong>der</strong>gegeben?<br />

• Was sind die Bedingungen <strong>und</strong> Ursachen von Verän<strong>der</strong>ungen im öffentlichen Umgang mit <strong>der</strong> eigenen Geschichte?<br />

• Welche politischen Gruppen bzw. politischen Milieus trugen zu einer Verän<strong>der</strong>ung des Geschichtsbildes bei?<br />

• Existieren beson<strong>der</strong>e Charakteristiken <strong>und</strong> Merkmale sprachregionaler Erfahrungsräume in <strong>der</strong> Thematisierung <strong>der</strong> Rolle <strong>der</strong><br />

<strong>Schweiz</strong> im <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>?<br />

• Welche Rückschlüsse erlauben die Geschichtsbild-Kontroversen auf die Ausformulierung schweizerischer Identität?<br />

Zur Beantwortung dieser Fragen wurde in dieser Untersuchung ein interregionales Sample wichtiger politischer Leitmedien<br />

nach qualitativen <strong>und</strong> quantitativen Gesichtspunkten erhoben <strong>und</strong> in einer historisch-hermeneutischen Analyse ausgewertet. Für<br />

die deutschsprachige <strong>Schweiz</strong> wurden die „Neue Zürcher Zeitung“, <strong>der</strong> „Tages-Anzeiger“, die „Wochenzeitung“ (WoZ), die<br />

„<strong>Schweiz</strong>erzeit“, für die Romandie das „Journal de Genève“ <strong>und</strong> die „Voix Ouvrière / Gauchebdo“ <strong>und</strong> schliesslich für die<br />

italienischsprachige <strong>Schweiz</strong> <strong>der</strong> „Corriere del Ticino“, das „Giornale del Popolo“ <strong>und</strong> <strong>der</strong> „Mattino della Domenica“ systematisch<br />

erhoben <strong>und</strong> ausgewertet. Für den deutschschweizerischen Raum konnte zusätzlich die umfangreiche Dokumentation des<br />

<strong>Schweiz</strong>erischen Sozialarchivs (Zürich) beigezogen werden, die einen einschlägigen F<strong>und</strong>us an Artikeln aus Tages- <strong>und</strong><br />

Wochenzeitungen zum Thema <strong>Schweiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Zweite</strong>r <strong>Weltkrieg</strong> umfasst. Im Hinblick auf eine sinnvolle Periodisierung wurde <strong>der</strong><br />

Beobachtungszeitraum <strong>der</strong> Untersuchung in <strong>der</strong> französischen- <strong>und</strong> italienischen <strong>Schweiz</strong> auf die Jahre 1970 bis 1996<br />

angesetzt, währenddem in <strong>der</strong> Deutschschweiz <strong>der</strong> Anfangspunkt auf das Jahr 1965 zurückdatiert wurde.<br />

1.2 <strong>Die</strong> Rolle <strong>der</strong> untersuchten Zeitungen<br />

„Giornale del Popolo“<br />

<strong>Die</strong> Zeitung <strong>der</strong> Tessiner Katholiken, <strong>der</strong> „Giornale del Popolo“, verfolgte eine progressive, oft ethisch-moralisch begründete<br />

Haltung gegenüber den Anliegen einer aussenpolitischen Öffnung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> <strong>und</strong> Fragen <strong>der</strong> Armee o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Neutralität, die<br />

bis in die späten 80er Jahre mit einer konservativen Pflege des schweizerischen Geschichtsbildes korrespondierte. Jedoch<br />

bestand eine geringe Bereitschaft, die kritische Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> schweizerischen Flüchtlingspolitik auch auf jene<br />

des Vatikans zu übertragen. We<strong>der</strong> die Proteste <strong>der</strong> 68er Generation noch jene <strong>der</strong> 80er Jahre nahmen wesentlichen Einfluss<br />

auf die historische Einschätzung <strong>der</strong> Rolle <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> während des <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>es, die als Deutschschweizer Problem<br />

wahrgenommen wurde. Aufgr<strong>und</strong> seiner relativ indifferenten Haltung gegenüber <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> im <strong>Zweite</strong>n<br />

<strong>Weltkrieg</strong> fiel es dem „Giornale del Popolo“ nach <strong>der</strong> Wende 1989 nicht son<strong>der</strong>lich schwer, die neuen<br />

Geschichtsinterpretationen zu akzeptieren. <strong>Die</strong>ser Haltung stand jedoch ein Festhalten an einem traditionellen Geschichtsbild<br />

des Tessins <strong>und</strong> <strong>der</strong> katholischen Kirche im <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong> gegenüber, die vor allem die Figur von B<strong>und</strong>esrat Motta nahezu<br />

sakralisierte.<br />

„Corriere del Ticino“<br />

Der in <strong>der</strong> 70er Jahren eher links- bzw. sozialliberal orientierte „Corriere del Ticino“ verhielt sich in Bezug auf die Geschichte<br />

<strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> im <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong> ähnlich wie das katholische Leitmedium des Tessins. Auch beim „Corriere del Ticino“ war<br />

hauptsächlich <strong>der</strong> Wunsch nach einer aussenpolitischen Öffnung für die relative Offenheit gegenüber neuen Interpretationen <strong>der</strong><br />

<strong>Schweiz</strong>er Geschichte verantwortlich. Geschichtsdebatten, die mit dem Thema Armee verknüpft waren, bewegten den Corriere<br />

weitaus weniger als die Leitmedien in <strong>der</strong> deutschen <strong>Schweiz</strong>. Er war we<strong>der</strong> Ende <strong>der</strong> 70er Jahre noch in den 80er Jahren<br />

bereit, die in <strong>der</strong> deutschen <strong>Schweiz</strong> im bürgerlichen Lager auf Resonanz stossenden schärferen antikommunistischen Parolen<br />

zu wie<strong>der</strong>holen. Hingegen unterstützte <strong>der</strong> „Corriere“ eine Pressekampagne gegen einen Neo-„MacCarthismus“ <strong>der</strong><br />

rechtsbürgerlichen „Alleanza Liberi e Svizzri“, die ein ausgeprägt isolationistisches Geschichtsbild postulierte.<br />

„Mattino della Domenica“<br />

Der „Mattino della Domenica“ entstand 1990 als Sprachrohr <strong>der</strong> Lega dei Ticinesi. <strong>Die</strong> Zeitung vertrat ebenso wie die Lega<br />

eine rechtspopulistische Ausrichtung, die sich in einer xenophoben Politik <strong>und</strong> einer polemischen Kritik an den kantonalen <strong>und</strong><br />

nationalen politischen Eliten äusserte. Während <strong>der</strong> „Mattino“ auf die Geschichtsdebatte nicht wirklich einging, propagierte er in<br />

den EU-Beitrittsdebatten <strong>der</strong> 90er Jahre ein Deutschschweizer Vorbil<strong>der</strong>n folgendes traditionelles Geschichtsverständnis, das<br />

auf <strong>der</strong> uneingeschränkten Bewahrung von Neutralität, Freiheit <strong>und</strong> Unabhängigkeit basierte. <strong>Die</strong> Lega-Zeitung steigerte zudem<br />

ihre traditionelle Indifferenz bzw. Ablehnung gegenüber <strong>der</strong> Armee, was wohl im Zusammenhang mit <strong>der</strong>en aussenpolitischen<br />

Öffnung zu sehen ist.<br />

„Journal de Genève“


Bis Ende <strong>der</strong> 80er Jahre war das liberalkonservative „Journal de Genève“ einem apologetischen Geschichtsbild von<br />

Anpassung <strong>und</strong> Wi<strong>der</strong>stand mit regionalem Einschlag verpflichtet. In <strong>der</strong> Betonung <strong>der</strong> Westschweizer Integrationsfigur Guisan<br />

<strong>und</strong> in den wie<strong>der</strong>holten Rehabilitationsversuchen für den diskreditierten Aussenminister Pilet-Golaz brachte das „Journal de<br />

Genève“ eine wichtige sprachregionale Min<strong>der</strong>heitenperspektive innerhalb dieser Identitätsdiskurse zum Ausdruck. Obwohl sich<br />

das „Journal de Genève“ mit dem traditionellen, deutschschweizerisch dominierten Geschichtsbild über die <strong>Schweiz</strong> im <strong>Zweite</strong>n<br />

<strong>Weltkrieg</strong> identifizierte, nahm die renommierte Genfer Zeitung nach <strong>der</strong> Wende von 1989 ein aussenpolitisches<br />

Integrationsdefizit <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> wahr. Nach anfänglicher Verunsicherung richtete sich das „Journal de Genève“ binnen kurzer<br />

Zeit auf einen integrations- <strong>und</strong> bündnisfre<strong>und</strong>lichen Kurs aus <strong>und</strong> revidierte parallel dazu seine Betrachtungen über die Rolle<br />

<strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> im <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>, die sich u.a. auch in <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach neuen Kommemorationsformen ausdrückten.<br />

„Voix Ouvrière, ab 1995 „Gauchebdo“<br />

Als Sprachrohr eines stigmatisierten, klassenkämpferischen Milieus thematisierte die „Voix Ouvrière“ die Geschichte des<br />

<strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>s bis in die 80er Jahre hauptsächlich unter universalistischen Aspekten entlang den Prinzipien Anpassung<br />

o<strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand. Im Anschluss an den Bonjour-Bericht machte die „Voix Ouvrière“ unter Verweis auf ihre standfeste antifaschistische<br />

Gesinnung während des <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>s vergeblich ihr Rehabilitationsbedürfnis geltend. In <strong>der</strong> zweiten Hälfte<br />

<strong>der</strong> 80er Jahre nutzte sie die internationale Aufbruchstimmung im Zeichen von Gorbatschows Perestroika, um ihr<br />

Geschichtsverständnis zu entschlacken <strong>und</strong> sich von <strong>der</strong> bis dato identitätsstiftenden Geschichte <strong>der</strong> Sowjetunion zu lösen. Der<br />

relativ erfolgreiche Ausbruch aus <strong>der</strong> eigenen parteipolitischen Stagnation ging bei den westschweizerischen Kommunisten (vor<br />

allem in den Kantonen Waadt <strong>und</strong> Genf) einher mit dem Zerfall <strong>der</strong> Blockidentitäten.<br />

„Neue Zürcher Zeitung“ („NZZ“)<br />

<strong>Die</strong> leitmediale Bedeutung <strong>der</strong> „NZZ“ für die Geschichtsdebatten <strong>der</strong> deutschen <strong>Schweiz</strong> war sehr gross. Sie gehörte zu den<br />

wenigen grossen Tageszeitungen, die eine eigene redaktionelle Linie im Verlauf <strong>der</strong> Geschichtsbild-Kontroversen verfolgte, die<br />

insbeson<strong>der</strong>e bis Ende <strong>der</strong> 70er Jahre den prägenden Einfluss ihres Chefredaktors Willy Bretscher erkennen liess. Als<br />

Diskussionsplattform öffnete sie regelmässig ihre Spalten für renommierte Geschichtsbild-Experten. Während die „NZZ“ in den<br />

60er <strong>und</strong> 70er Jahren die Gr<strong>und</strong>linie <strong>der</strong> Geschichtsdebatte vorgeben konnte, engagierte sie sich in den 80er Jahren mit<br />

abnehmendem Erfolg im Kampf um die Einschätzung <strong>der</strong> Dissuasionskraft <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>er Armee während des <strong>Zweite</strong>n<br />

<strong>Weltkrieg</strong>s. Das Beharren auf <strong>der</strong> Dissuasionsthese liess sie den unauflösbaren Zielkonflikt übersehen, <strong>der</strong> zwischen <strong>der</strong><br />

For<strong>der</strong>ung nach vermehrter aussenpolitischer Öffnung <strong>und</strong> <strong>der</strong> Bewahrung des traditionellen Geschichtsbildes bestand. So<br />

wurde z.B. die von Werner Rings präsentierte Studie zur Nationalbank <strong>und</strong> dem Raubgold als interessante, aber<br />

nebensächliche historische Fussnote gewürdigt. Stellte die „NZZ“ die Notwendigkeit einer Vergangenheitsbewältigung „auf<br />

deutsche Art“ in den späten 80er Jahren noch vehement in Abrede, so übernahm sie im Verlauf <strong>der</strong> 90er Jahre eine zentrale<br />

Rolle in <strong>der</strong> Aufklärung <strong>der</strong> politischen <strong>und</strong> moralischen Hypotheken des <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>s.<br />

„Tages-Anzeiger“<br />

In den 70er Jahren profilierte sich <strong>der</strong> „Tages-Anzeiger“ von Zürich als linksliberaler Traditionserneuerer <strong>und</strong> trat gelegentlich<br />

auch als Meinungsführer in den Geschichtsbild-Kontroversen auf. Immer wie<strong>der</strong> stellte er sich als Tribüne zur Verfügung, auf<br />

<strong>der</strong> sich verschiedene <strong>und</strong> gegensätzliche Meinung artikulieren konnten, weshalb sein Meinungsspektrum in historischen<br />

Fragen breit war <strong>und</strong> dadurch eine Katalysatorfunktion ausüben konnte. <strong>Die</strong>s kam beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> zweiten Hälfte <strong>der</strong> 80er<br />

Jahre anhand <strong>der</strong> „GSoA“-Initiative <strong>und</strong> <strong>der</strong> „Diamant“-Kommemoration zum Ausdruck. Der „Tages-Anzeiger“ verfolgte<br />

insgesamt eine öffnungsfre<strong>und</strong>liche <strong>und</strong> anti-isolationistische Linie in <strong>der</strong> aussenpolitischen Berichterstattung, was <strong>der</strong> zunehmenden<br />

Kritik eines traditionellen Geschichts- <strong>und</strong> Neutralitätsverständnisses ab 1989 durchaus entgegenkam.<br />

„Wochenzeitung“ („WoZ“)<br />

Eine bemerkenswerte Rolle im Verlauf <strong>der</strong> jüngeren Geschichtsbild-Kontroversen spielte die Mitte <strong>der</strong> 80er Jahre<br />

gegründete, im linksalternativen Milieu <strong>der</strong> Deutschschweiz angesiedelte „WoZ“, die das Sprachrohr <strong>und</strong> die Plattform <strong>der</strong> intellektuellen<br />

Geschichtsbild-Dissidenz par excellence darstellte. Unter Einbezug zahlreicher HistorikerInnen übernahm die WoZ<br />

innerhalb <strong>der</strong> publizistischen Opposition gegen die „Diamant“-Feierlichkeiten die Meinungsführerschaft <strong>und</strong> postulierte die<br />

Notwendigkeit einer Vergangenheitsbewältigung. Der Beitrag <strong>der</strong> „WoZ“ zielte vor allem auf jenen defizitären Teil des<br />

traditionellen Geschichtsbildes, <strong>der</strong> die diversen wirtschaftlichen Anpassungsstrategien, insbeson<strong>der</strong>e die <strong>Die</strong>nstleistungen des<br />

helvetischen Finanzplatzes gegenüber Nazideutschland, unterschlug o<strong>der</strong> verdrängte. In <strong>der</strong> Aufarbeitung <strong>der</strong> Flüchtlingspolitik<br />

erzielte <strong>der</strong> „WoZ“-Redaktor Stephan Keller mit <strong>der</strong> Rehabilitation des St.Galler Polizeikommandanten Paul Grüninger einen<br />

Erfolg, <strong>der</strong> exemplarisch für das Engagement dieser Zeitung war.<br />

„<strong>Schweiz</strong>erzeit“


<strong>Die</strong> 1979 gegründete nationalkonservative „<strong>Schweiz</strong>erzeit“ schaffte in den 1990er Jahren dank einer erfolgreichen<br />

ideologischen Allianz mit <strong>der</strong> Zürcher SVP den Aufstieg von einem intellektuellen Radikalenblättchen zu einer referendumsfähigen<br />

Zeitung. Als vehemente rechtsbürgerliche Kritikerin <strong>der</strong> aussenpolitischen Neuausrichtung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> (z.B. europäische<br />

Integration) trat sie als politische Treuhän<strong>der</strong>in des „Son<strong>der</strong>fall <strong>Schweiz</strong>“ auf <strong>und</strong> profitierte von <strong>der</strong> grossen patriotischen<br />

Mobilisierbarkeit, die mit diesem Geschichtsbild verb<strong>und</strong>en war. <strong>Die</strong> von grosser Dauerhaftigkeit gekennzeichneten<br />

Wertvorstellungen <strong>der</strong> „<strong>Schweiz</strong>erzeit“ hielten insbeson<strong>der</strong>e am öffnungsfeindlichen Konzept <strong>der</strong> integralen, bewaffneten<br />

Neutralität fest. <strong>Die</strong> Zeitung betont(e) ihre historisch verbürgte Wirksamkeit seit dem <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong> gegenüber den Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />

des Faschismus, Kommunismus <strong>und</strong> neuerdings auch <strong>der</strong> EU. Dem ausgeprägten Bedrohungs- <strong>und</strong><br />

Feindbilddenken <strong>der</strong> „<strong>Schweiz</strong>erzeit“ entspricht ein nationaler Wi<strong>der</strong>standstopos, den sie bis 1996 <strong>und</strong> darüber hinaus vor allem<br />

durch die angeblich manipulierenden Medien, linke Parteien, „Junghistoriker“ <strong>und</strong> durch europa-fre<strong>und</strong>liche bürgerliche Parteien<br />

gefährdet sah.<br />

1.3 Definition von Geschichtsbild <strong>und</strong> theoretische Perspektive<br />

Erfolg <strong>und</strong> Beliebtheit des Begriffs „Geschichtsbild“ scheinen in direktem Verhältnis zu seiner Weitläufigkeit <strong>und</strong> Beliebigkeit<br />

im allgemeinen Sprachgebrauch zu stehen. Trotz seiner umgangssprachlich vagen Bedeutung erfüllt das Geschichtsbild jedoch<br />

in <strong>der</strong> Vermittlung von politisch prägenden Erfahrungen <strong>und</strong> Begebenheiten <strong>der</strong> Vergangenheit eine wichtige Funktion. Als<br />

Träger des kollektiven Gedächtnisses vergegenwärtigen Geschichtsbil<strong>der</strong> vergangene Ereignisse <strong>und</strong> Epochen <strong>und</strong><br />

entsprechen dem Bedürfnis nach Verfügbarkeit über die in <strong>der</strong> Vergangenheit enthaltenen Erfahrungen. Sie stellen gesichertes<br />

Wissen über die Fakten <strong>der</strong> Vergangenheit in Form einer Deutungsmacht dar. Geschichtsbil<strong>der</strong> sind keineswegs privilegierte<br />

Domänen <strong>der</strong> Historiker, son<strong>der</strong>n identitätsversichern<strong>der</strong> Bestandteil <strong>der</strong> Selbstbeschreibung von Gruppen <strong>und</strong> Nationen. <strong>Die</strong><br />

nationale Identität eines Volkes gründet auf Geschichtsbil<strong>der</strong>n, welche das Schicksal <strong>der</strong> Nation als vorgestellte Gemeinschaft<br />

spiegeln. Sie überwölben <strong>und</strong> überlagern in <strong>der</strong> Regel an<strong>der</strong>e regionale, konfessionelle o<strong>der</strong> ethnische Identitätsvorstellungen,<br />

zu denen sie auch in ein Spannungs- <strong>und</strong> Wi<strong>der</strong>spruchsverhältnis treten können. 1<br />

In <strong>der</strong> Konstruktion <strong>der</strong> nationalen Identität <strong>der</strong> „Willensnation“ <strong>Schweiz</strong> trugen <strong>und</strong> tragen weiterhin Geschichtsbil<strong>der</strong> die<br />

wesentliche Imaginations- <strong>und</strong> Integrationslast. So hat sich in <strong>der</strong> zweiten Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts ein Geschichtsbild<br />

etabliert, das sich zu einem stabilen, traditionsbildenden Muster nationaler Identität zusammenfügte <strong>und</strong> dadurch wesentlicher<br />

Bestandteil einer offiziellen Kommemorationspraxis geworden ist. 2 Als Anfangspunkt dieses Geschichtsbildes stand das<br />

‚unerhörte Ereignis‘ des <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>s. <strong>Die</strong>se Erfahrung beinhaltete u.a. die prägenden Aspekte <strong>der</strong> totalitären Bedrohung,<br />

des nationalen Schulterschlusses <strong>und</strong> die als Zeichen erfolgreicher Bewährung interpretierte Kriegsverschonung. Als<br />

herausragendes integrations- <strong>und</strong> identitätsstiftendes Ereignis hat <strong>der</strong> <strong>Zweite</strong> <strong>Weltkrieg</strong> die Menschen über die Grenzen<br />

sozialer, politischer o<strong>der</strong> sprachlicher Fragmentierung hinweg mit <strong>der</strong> Erfahrung einer gemeinsam durchgestandenen Geschichte<br />

verb<strong>und</strong>en. Der Themenkatalog dieses Geschichtsbildes beinhaltete vor allem die politisch-moralische Geschichte <strong>der</strong><br />

<strong>Schweiz</strong>. Wie bereits <strong>der</strong> Basler Historiker Georg Kreis aufgezeigt hat, kanalisierte das Geschichtsbild die politische Rolle <strong>der</strong><br />

<strong>Schweiz</strong> im <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong> in typologisierbaren Erzählmustern, zumeist in <strong>der</strong> Form von sogenannten<br />

„Bewährungsdebatten“. 3 Sie thematisierten ihrerseits die Wi<strong>der</strong>stands- <strong>und</strong> Anpassungspolitik <strong>der</strong> Nation gegenüber <strong>der</strong> faschistischen<br />

Bedrohung vor dem Hintergr<strong>und</strong> <strong>der</strong> eigenen, sich wandelnden politisch-moralischen Ansprüche. <strong>Die</strong> Qualität eines<br />

solchen topischen Katalogs lässt sich an seiner praktischen Orientierungsleistung messen, die auch dann erfolgreich sein kann,<br />

wenn sie sich in wissenschaftlicher Hinsicht als ‚falsch‘ erweist – <strong>und</strong> umgekehrt.<br />

Geschichtsbil<strong>der</strong> beeinflussen in zentralen Bereichen das politische Handeln, indem sie vergangene Erfahrungen auf wenige<br />

Gr<strong>und</strong>annahmen verdichten <strong>und</strong> so die Welt weniger komplex erscheinen lassen. Auf plausiblen Gr<strong>und</strong>annahmen aufbauend,<br />

wirken Geschichtsbil<strong>der</strong> als Scharniere zwischen Vergangenheitswissen <strong>und</strong> Zukunftsgestaltung <strong>und</strong> tragen dazu bei, dass sich<br />

in <strong>der</strong> Geschichte immer mehr o<strong>der</strong> weniger ereignet, was in ihren Vorgaben angelegt ist. In dieser kontinuitätsstiftenden<br />

Funktion zeichnen sich Geschichtsbil<strong>der</strong> von grosser nationaler Resonanz durch eine gewisse Deutungsflexibilität aus, weil sie<br />

die Vergangenheit beständig mit den aktuellen gesellschaftlichen, politischen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Entwicklungen in Einklang<br />

bringen müssen. <strong>Die</strong> Vorstellung einer geschichtsbild-vermittelten „path dependency“ besagt jedoch nicht, dass die<br />

Vergangenheit die Zukunft determiniere, son<strong>der</strong>n vielmehr, dass sich die Zukunft in Abhängigkeit von Erwartungen entwickelt,<br />

1 Siehe dazu gr<strong>und</strong>legend Renan, Ernest, Was ist eine Nation?, in: Gall, Lothar, Koch, Rainer (Hrsg.), Der europäische Liberalismus im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />

Texte zu seiner Entwicklung. Dritter Band, 1981 Frankfurt a.M. S. 132-152. Zum Zusammenhang von Geschichte, Geschichtsbild <strong>und</strong> Identität: Marchal,<br />

Guy, Mattioli, Aram, Nationale Identität – allzu Bekanntes in neuem Licht, in: Marchal, Guy, Mattioli, Aram, (Hrsg.), Erf<strong>und</strong>ene <strong>Schweiz</strong>. Konstruktionen<br />

nationaler Identität, Zürich 1992, beson<strong>der</strong>s S. 11-20.<br />

2 Vgl. dazu etwa den Aufsatz von Tanner, Jakob, <strong>Die</strong> Krise <strong>der</strong> Gedächtnisorte <strong>und</strong> die Havarie <strong>der</strong> Erinnerungspolitik. Zur Diskussion um das kollektive<br />

Gedächtnis <strong>und</strong> die Rolle <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> während des <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>s, in: Traverse No. 1, Non-lieux de Mémoire. Erinnern <strong>und</strong> vergessen, Zürich<br />

1999, S. 16-37.<br />

3 Vgl. hierzu Kreis, Georg, Vier Debatten <strong>und</strong> wenig Dissens, in: <strong>Schweiz</strong>erische Zeitschrift für Geschichte, 1997/4, S. 451-476. Ein Überblick über die<br />

verschiedenen politisch-moralischen Verarbeitungsformen <strong>der</strong> <strong>Weltkrieg</strong>serfahrung in Lepsius, M. Rainer, Das Erbe des Nationalsozialismus <strong>und</strong> die<br />

politische Kultur <strong>der</strong> Nachfolgestaaten des „Grossdeutschen Reiches“, in: Haller, Max, Hoffmann-Nowotny, Hans-Joachim, Zapf, Wolfgang (Hrsg.),<br />

Kultur <strong>und</strong> Gesellschaft: Verhandlungen des 24. Deutschen Soziologentags, des 11. Österreichischen Soziologentags <strong>und</strong> des 8. Kongresses <strong>der</strong><br />

<strong>Schweiz</strong>erischen Gesellschaft für Soziologie in Zürich 1988, Frankfurt a.M. 1989, S. 247-264.


die von einer spezifischen Vergangenheitserfahrung geprägt worden sind. <strong>Die</strong>s bedeutet, dass es zu ständigen<br />

Rückkoppelungsprozessen zwischen Erwartungen <strong>und</strong> Erfahrungen kommt, zu Anpassungen, in <strong>der</strong> sich diese verschiedenen<br />

Bewusstseins- <strong>und</strong> Handlungsbereiche aneinan<strong>der</strong> korrigieren.<br />

<strong>Die</strong> geschichtliche Entwicklung erfährt jedoch Zäsuren, die sich in <strong>der</strong> Wahrnehmung <strong>der</strong> Bürger als eine Umbruchzeit bzw.<br />

als politische Unsicherheit auswirken können. Solche Irritationen dringen dann ins Bewusstsein <strong>der</strong> Öffentlichkeit, wenn die<br />

Vergangenheit <strong>und</strong> das, was wir von ihr in unseren Geschichtsbil<strong>der</strong>n festhalten, an Erklärungskraft eingebüsst hat. In<br />

gesellschaftlichen Umbruchzeiten versuchen konkurrierende Ideologien o<strong>der</strong> Deutungsmuster die gemeinsamen Erfahrungen<br />

zur Bewältigung krisenhafter Situationen zu bemühen. <strong>Die</strong>se Historisierung <strong>der</strong> Gegenwart tritt dann ein, wenn die Geschichte<br />

einmal mehr ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt hat, stets durch Ereignisse zu überraschen, die von niemandem erwartet <strong>und</strong><br />

antizipiert werden konnten. 4 <strong>Die</strong> Erinnerung wird in erheblichem Masse entmächtigt, wenn zukunftsbezogenes Handeln seine<br />

Richtschnur in ihr nicht mehr bzw. nur in vermin<strong>der</strong>tem Masse finden kann. Geschichtsbild-Kontroversen stehen nun im <strong>Die</strong>nste<br />

einer Kontingenzbewältigung, in <strong>der</strong> ein Subjekt seine Identität über den Rohstoff Geschichte absichert <strong>und</strong> neu entwirft, um<br />

neue Handlungsperspektiven zu gewinnen.<br />

Wenn das Zusammenspiel von Erfahrungswissen <strong>und</strong> Erwartungsbildung auf Zäsuren jeglicher Art sensibel reagiert (also<br />

z.B. auf enttäuschte Erwartungen), werden dadurch neue Perspektiven auf die Vergangenheit möglich. <strong>Die</strong> Entwertung<br />

bestehen<strong>der</strong> Geschichtsbil<strong>der</strong> erfolgt durch neue historische Erfahrungen in Form von Ereignissen. Damit ist die Vorstellung<br />

verb<strong>und</strong>en, dass sich das Bild von <strong>der</strong> Vergangenheit verän<strong>der</strong>t, wenn im Zusammenhang mit einschneidenden Ereignissen<br />

Erfahrungen gemacht <strong>und</strong> verarbeitet werden, die nicht ohne weiteres in den kollektiven Erfahrungsschatz integrierbar sind,<br />

Erfahrungen also, die <strong>der</strong> Plausibilität <strong>der</strong> stillschweigen<strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>annahmen des bestehenden Geschichtsbildes wi<strong>der</strong>sprechen.<br />

<strong>Die</strong> kontroverse Vergegenwärtigung vergangener Erfahrungen leitet gleichsam zu Lernprozessen o<strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzungen<br />

an, die <strong>der</strong> Bewältigung von Kontingenz dienen. 5 <strong>Die</strong>se wird stets spürbar, wenn <strong>der</strong> historische Gang an<strong>der</strong>s als erwartet<br />

verläuft. Geschichtsbild-Kontroversen setzen in diesem Moment gewöhnlich moralische Empörung frei, weil sie die Stützpunkte<br />

individueller <strong>und</strong> nationalstaatlicher Erinnerungs- <strong>und</strong> Identifikationsmuster in Frage stellen, folglich verunsichern <strong>und</strong> zuweilen<br />

grossen Einfluss auf das Tagesgeschäft <strong>der</strong> Parteipolitik ausüben können. Bei Geschichtsbild-Kontroversen ist <strong>und</strong> bleibt<br />

indessen jede Aktualisierung vergangener Erfahrung für politische Zwecke funktionalisierbar, weil sie in letzter Instanz <strong>der</strong><br />

Identitätsreproduktion dient <strong>und</strong> nicht dem Vorantreiben eines abstrakten wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts.<br />

2 GRUNDZÜGE DER GESCHICHTSBILD-KONTROVERSE 1965 BIS 1996<br />

2.1 <strong>Die</strong> Geschichtsdebatte <strong>der</strong> 60er Jahre zwischen Vergangenheitsbewältigung <strong>und</strong> Pflege patriotischer Gesinnung<br />

<strong>Die</strong> helvetische Geschichtsbilddebatte über die Rolle <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> während des <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>s setzte in den 60er<br />

Jahren mit einer Gr<strong>und</strong>frage ein, die in nahezu allen europäischen Län<strong>der</strong>n gestellt <strong>und</strong> diskutiert worden war, welche von<br />

deutschen Truppen besetzt worden waren: Wer hat mit den Alliierten, wer mit den Achsenmächten kooperiert <strong>und</strong> sympathisiert,<br />

wer hat sich ihnen angepasst <strong>und</strong> wer hat Wi<strong>der</strong>stand geleistet? Begünstigt wurde die Debatte durch das vorübergehende<br />

politische Tauwetter <strong>und</strong> die Entspannung in den internationalen Beziehungen, durch die Öffnung von Archiven in den USA <strong>und</strong><br />

Deutschland, welche auch die politische Rolle <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> während des Krieges zu beleuchten vermochten, sowie durch das<br />

zunehmende Leiden an <strong>der</strong> aussenpolitischen Isolation angesichts <strong>der</strong> manifesten Fortschritte in <strong>der</strong> europäischen Integration<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Konsolidierung des atlantischen Bündnissystems. In <strong>der</strong> Nachkriegszeit <strong>und</strong> in den 50er Jahren unterlag die offene<br />

Erörterung dieser Frage noch weitgehend einer Tabuisierung. Eine die Nation möglicherweise spaltende Diskussion wurde<br />

vermieden.<br />

Ausgelöst wurde die stark personalisierte <strong>und</strong> auf einige wenige politische Akteure beschränkte Debatte durch das 1961 von<br />

Jon Kimche verfasste Buch „Spying for Peace“ über die Tätigkeit <strong>der</strong> Nachrichtendienste in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>. So stand General<br />

Henri Guisan in <strong>der</strong> Regel als Symbolfigur für das Lager des patriotischen „Wi<strong>der</strong>standes“ schlechthin, während B<strong>und</strong>esrat<br />

Marcel Pilet-Golaz als mehr o<strong>der</strong> weniger fragwürdiger „Anpasser“ die Rolle des notorischen Schurken zu spielen hatte. Als<br />

Prüfstein für moralisches Verhalten galt <strong>der</strong> Frühsommer 1940. Vor dem Hintergr<strong>und</strong> <strong>der</strong> mühelosen Überwindung <strong>der</strong><br />

französischen Maginotlinie durch die deutsche Wehrmacht hatte Aussenminister Pilet-Golaz seine berühmte Rede gehalten <strong>und</strong><br />

wenig später <strong>der</strong> General den noch berühmteren Rütli-Rapport durchgeführt.<br />

4 Zu diesem Aspekt äusserten sich u.a. in theoretischer Absicht Koselleck, Rainer, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt<br />

a.M. 1979 <strong>und</strong> Hölscher, Lucian, <strong>Die</strong> Einheit <strong>der</strong> Geschichte <strong>und</strong> die Konstruktivität historischer Wirklichkeit: <strong>Die</strong> Geschichtswissenschaft zwischen<br />

Realität <strong>und</strong> Fiktion, in: Schulz, Evelyne, Sonne Wolfgang (Hrsg.), Kontinuität <strong>und</strong> Wandel: Geschichtsbil<strong>der</strong> in verschiedenen Fächern <strong>und</strong> Kulturen,<br />

Zürcher Hochschulforum 1999, S. 19-40.<br />

5 Siehe hierzu gr<strong>und</strong>legend Hansjörg Siegenthaler, Regelvertrauen, Prosperität <strong>und</strong> Krisen, Tübingen 1993 <strong>und</strong> <strong>der</strong>s., Hirtenfolklore in <strong>der</strong> Industriegesellschaft.<br />

Nationale Identität als Gegenstand <strong>der</strong> Mentalitäts- <strong>und</strong> Sozialgeschichte, in: Marchal, Guy, Mattioli, Aram (Hrsg.), Erf<strong>und</strong>ene <strong>Schweiz</strong>.<br />

Konstruktionen nationaler Identität, Zürich 1992.


Vereinfacht dargestellt standen sich zwei Denkrichtungen gegenüber: Eine Partei unterstellte, in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> habe es ein<br />

Lager <strong>der</strong> „Anpasser“ <strong>und</strong> ein Lager <strong>der</strong> „Wi<strong>der</strong>standsanhänger“ gegeben. Autoren wie <strong>der</strong> Englän<strong>der</strong> John Lomax, <strong>der</strong> England-<br />

<strong>Schweiz</strong>er Jon Kimche <strong>und</strong> die <strong>Schweiz</strong>erin Alice Meyer waren <strong>der</strong> Auffassung, <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esrat habe auf den<br />

Gleichschaltungsdruck <strong>der</strong> Achsenmächte oftmals mit Anpassung <strong>und</strong> Nachgiebigkeit reagiert, während die Armeeführung unter<br />

General Guisan <strong>und</strong> das <strong>Schweiz</strong>er Volk selbst erbitterten Wi<strong>der</strong>stand geleistet hätten. Damit prägten sie das Konzept eines<br />

Dualismus von Anpassung versus Wi<strong>der</strong>stand, das in <strong>der</strong> öffentlichen Debatte auf grosse Resonanz stiess. Zum kompromisslosen<br />

Wi<strong>der</strong>stand seien nur jene bereit gewesen, die sich niemals mit einer Besetzung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> durch die<br />

Achsenmächte abgef<strong>und</strong>en, während jene, die sich dies eher vorstellen konnten, zur Kapitulation geneigt hätten.<br />

Aus heutiger Sicht enthält diese Denkrichtung eine moralische Schuld aufspürende <strong>und</strong> internalisierende Geschichtsbild-<br />

Kritik, weil sie grossen Wert darauf legte, auf Zonen aussenpolitischen Versagens <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> in ihrem Verhältnis zum<br />

Nationalsozialismus aufmerksam zu machen. In diesem Sinne war auch sie den „Schatten des <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>s“ auf <strong>der</strong><br />

Spur.<br />

<strong>Die</strong> Gegenpartei, zu denen <strong>der</strong> damalige NZZ-Chefredaktor Willy Bretscher gehörte, sah im Gegensatz von Anpassung <strong>und</strong><br />

Wi<strong>der</strong>stand keinen Unterschied <strong>der</strong> „Gesinnung“, son<strong>der</strong>n in erster Linie eine Frage <strong>der</strong> „taktischen Einstellung“ gegenüber den<br />

Achsenmächten mit dem Ziel, die <strong>Schweiz</strong> zu retten. „Dass dem B<strong>und</strong>esrat <strong>und</strong> einzelnen seiner Mitglie<strong>der</strong> dabei in <strong>der</strong><br />

tragischen Situation, in die sich die <strong>Schweiz</strong> durch den Sieg Hitlers über Frankreich versetzt sah, die in mancher Hinsicht<br />

schwierigere <strong>und</strong> <strong>und</strong>ankbarere Rolle zufiel, dass seine Vorsicht im Umgang mit den übermütigen Siegern unvermeidlicherweise<br />

auch hie <strong>und</strong> da Missdeutungen ausgesetzt war, sollte selbst jenen verständlich sein, die Machiavellis Satz nicht kennen,<br />

wonach man das bedrohte Vaterland mit jedem Mittel, ob schimpflich o<strong>der</strong> rühmlich – ‚o con ignominia o con gloria‘ –<br />

verteidigen müsse ...“. <strong>Die</strong> Situation im Frühsommer 1940 „tragisch“ zu nennen, war in den Worten Bretschers auch deshalb<br />

erfor<strong>der</strong>lich, weil die Rettung des Vaterlandes nun nicht nur „con gloria“, son<strong>der</strong>n eben auch tatsächlich „con ignominia“, also mit<br />

Nie<strong>der</strong>tracht, betrieben werden musste. In dieser Sichtweise entschied sich die moralische Verwerflichkeit o<strong>der</strong> Güte einer<br />

Gesinnung nicht im von taktischen Überlegungen bestimmten Verhältnis zu den Alliierten o<strong>der</strong> den Achsenmächten, son<strong>der</strong>n<br />

zur eigenen Nation. Moralisch zu verurteilen waren nur diejenigen, die das eigene Land an eine <strong>der</strong> kriegführenden Mächte<br />

verraten hatten. <strong>Die</strong> Teilnehmer dieser Geschichtsbilddebatte erkannten, dass die mit <strong>der</strong> Katastrophe vom Frühsommer 1940<br />

einsetzende Phase <strong>der</strong> „Nie<strong>der</strong>tracht“ in gewissem Sinne das natürliche Einfallstor für Zweifel, moralische Verurteilungen <strong>und</strong><br />

öffentliche Skandalisierung des schweizerischen Verhaltens im <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong> darstellen könnte. <strong>Die</strong>ser Umstand liess eine<br />

detaillierte Erforschung <strong>der</strong> historischen Ereignisse seit jenem „tragischen“ Frühsommer 1940 als sinnvoll erscheinen, um das<br />

Ausmass <strong>der</strong> möglicherweise begangenen „Nie<strong>der</strong>tracht“ genauer zu bestimmen.<br />

Viele Kontrahenten in dieser Debatte erwarteten nun vom Bericht des Historikers Edgar Bonjour über die Neutralitätspolitik<br />

<strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> im Krieg, den <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esrat in den 60er Jahren auf entscheidenden Anstoss <strong>und</strong> Druck von aussen in Auftrag<br />

gegeben hatte, eine Klärung dieser Frage von Anpassung <strong>und</strong> Wi<strong>der</strong>stand. Von <strong>der</strong> Einschätzung <strong>der</strong> tatsächlichen<br />

militärischen Bedrohungslage hing auch das Ausmass <strong>der</strong> Entschuldbarkeit <strong>der</strong> begangenen ‚Anpassungssünden‘ unmittelbar<br />

ab. Der konkrete Nachweis <strong>der</strong> militärischen Dissuasionswirkung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>er Armee auf die Achsenmächte war wichtig, weil<br />

sonst automatisch an<strong>der</strong>e, problematischere Erklärungen in Betracht gezogen werden mussten. Bretscher erwartete vom<br />

Bericht Bonjours <strong>und</strong> von dessen wissenschaftlicher Forschungsarbeit eine Bestätigung seiner Einschätzung, nach <strong>der</strong><br />

Gesinnungsunterschiede zwischen Armeeleitung <strong>und</strong> politischer Leitung nicht existent waren, denn so hätte die Auffassung von<br />

„Anpassung <strong>und</strong> Wi<strong>der</strong>stand“ <strong>der</strong> gegnerischen Denkrichtung mit wissenschaftlichen Argumenten in das Reich <strong>der</strong> Mythen <strong>und</strong><br />

Geschichtsspekulationen verwiesen werden können. Dem NZZ-Chefredakteur fehlte die Zuversicht nicht, dass die Aufklärung<br />

des Geschichtsbildes seine Sicht <strong>der</strong> Dinge bestätigen werde, konnte er doch auf seine Insi<strong>der</strong>-Kenntnisse bauen, die er als<br />

zentraler politischer Akteur auf <strong>der</strong> politischen Bühne <strong>der</strong> 30er <strong>und</strong> 40er Jahre hatte sammeln können. Gleichwohl erkannte<br />

Bretscher voll <strong>und</strong> ganz die Skandalisierungsmöglichkeiten wie auch die Ansatzpunkte für eine scharfe Geschichtsbild-Kritik. Er<br />

benannte direkt o<strong>der</strong> indirekt bereits fast alle Sprengsätze, die teilweise erst in den Jahrzehnte später geführten<br />

Geschichtsdebatten auch tatsächlich explodiert sind. Deutlich wird auch, dass ein bestimmtes patriotisches Gr<strong>und</strong>gefühl, das<br />

Bretscher von allen <strong>Schweiz</strong>ern <strong>und</strong> <strong>Schweiz</strong>erinnen resolut einfor<strong>der</strong>te, entscheidend dafür war, ob die patriotisch motivierte<br />

Nie<strong>der</strong>tracht als Skandal o<strong>der</strong> als legitime Selbsterhaltungsstrategie erlebt wurde.<br />

Eine entscheidende Unverträglichkeit liess sich auf die Erwartungshaltung zurückführen, die zwischen dem Geschichtsbild<br />

von Kimche/Lomax bzw. ihren helvetischen Anhängern <strong>und</strong> Bretscher <strong>und</strong> an<strong>der</strong>n Verfechtern bestand, da letztere die<br />

Anpassungs- <strong>und</strong> Wi<strong>der</strong>standshandlungen nur unter dem Gesichtspunkt ihrer Selbsterhaltungsdienlichkeit beurteilen wollten.<br />

Während die einen den fraglichen Zeitraum des Sommers 1940 <strong>und</strong> des sich anschliessenden politischen Prozesses<br />

hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt <strong>der</strong> Stellung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> in <strong>der</strong> Welt problematisierten, schienen für Bretscher so gut<br />

wie ausschliesslich integrationspolitische Gesichtspunkte zu zählen.<br />

Ein zentrales öffentliches Thema <strong>und</strong> damit eine weitere Fragestellung für den Bonjourbericht war das Verhalten <strong>der</strong><br />

<strong>Schweiz</strong>er Bevölkerung <strong>und</strong> Behörden gegenüber den Flüchtlingen <strong>und</strong> Verfolgten aus dem 3. Reich. <strong>Die</strong> Schuld, welche Volk<br />

<strong>und</strong> Behörden auf sich geladen hatten, als hilfesuchende Flüchtlinge an den Landesgrenzen wie<strong>der</strong> in den Machtbereich des 3.<br />

Reiches zurückgestossen worden waren, schien mit dem vorausgegangenen Bericht über die Flüchtlingspolitik, dem


sogenannten Ludwigbericht, ausreichend erforscht, eingestanden <strong>und</strong> abgeschlossen. Versuche wie <strong>der</strong>jenige von Alfred A.<br />

Häsler, mit seinem Werk „Das Boot ist voll“ einen vertieften <strong>und</strong> längerdauernden Reflexions- <strong>und</strong> Vergangenheitsbewältigungsprozess<br />

in Gang zu setzen, scheiterten vorerst. Gleichwohl blieb in diesem Falle deutlich, dass auch ein<br />

Patriot, dem viele Mittel heilig waren, wenn sie <strong>der</strong> nationalen Selbsterhaltung dienen konnten, mit erheblichen Legitimationsproblemen<br />

rechnen musste. Doch diese Tatsache sollte erst in <strong>der</strong> Geschichtsdebatte <strong>der</strong> 90er Jahre ihre enorme Sprengkraft<br />

unter Beweis stellen <strong>und</strong> einstweilen nur als Damoklesschwert über <strong>der</strong> Gemeinschaft helvetischer Patrioten schweben. Für das<br />

Verhältnis zur Flüchtlingsfrage blieb bis in die 70er Jahre hinein ein Muster des Umgangs mit Schuld prägend, das, in <strong>der</strong><br />

Terminologie <strong>der</strong> deutschen Vergangenheitsbewältigungsdebatten-Analyse ausgedrückt, als Schuld-Externalisierung bezeichnet<br />

werden könnte. <strong>Die</strong>se Haltung liess sich umso eher einnehmen, als <strong>der</strong> Moralisierungsdruck aus dem ebenfalls noch stark<br />

patriotisch <strong>und</strong> national gesinnten Ausland niemals so hoch war wie in den 90er Jahren. Einzig in <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland wurde die Dynamik <strong>der</strong> Vergangenheitsbewältigung nicht vom starken patriotischen Legitimationsdruck eines<br />

nationalen Selbsterhaltungsinteresses gebremst, das über allen moralischen Werten lag. Im Unterschied zu den an<strong>der</strong>en<br />

europäischen Nationen war in <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esrepublik <strong>der</strong> Glaube an die Legitimationsfähigkeit nationaler Selbsterhaltung nahezu<br />

zerbrochen. Aus diesem Gr<strong>und</strong> orientierte die B<strong>und</strong>esrepublik die Definition ihres Selbsterhaltungsinteresses wie keine an<strong>der</strong>e<br />

Nation ausschliesslich an den Bündniswerten <strong>der</strong> Westalliierten <strong>und</strong> trieb damit den Prozess <strong>der</strong> europäischen Integration in<br />

hohem Masse voran.<br />

2.2 <strong>Die</strong> helvetische Vergangenheitsbewältigungsdebatte <strong>der</strong> 70er Jahre verwaist zwischen politischer Polarisierung<br />

<strong>und</strong> akademischer Scholastik<br />

<strong>Die</strong> Geschichtsdebatte <strong>der</strong> 70er Jahre begann als Diskussion des Neutralitätsberichts Edgar Bonjours, <strong>der</strong> Anfang 1970 in<br />

einer NZZ-Artikelserie als Vorabdruck erschien. Der Bonjourbericht <strong>und</strong> die in <strong>der</strong> Öffentlichkeit diskutierten Resultate <strong>der</strong><br />

historischen Forschung, die sich ihm anschlossen, blieben weitgehend im Banne <strong>der</strong> Erörterung des Geschichtsbildes von<br />

Anpassung <strong>und</strong> Wi<strong>der</strong>stand. <strong>Die</strong> beiden Meinungslager <strong>der</strong> 60er Jahre bestanden im wesentlichen fort, wenn auch nicht<br />

gänzlich unverän<strong>der</strong>t.<br />

Ausgangspunkt zu erneuter kritischer Prüfung <strong>der</strong> jüngsten Zeitgeschichte bildete die These Christoph Geisers, die<br />

wirklichen Motive für die Kriegsverschonung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> seien nicht auf <strong>der</strong> militärisch-neutralitätspolitischen Ebene zu suchen,<br />

da die <strong>Schweiz</strong>er Armee nicht in <strong>der</strong> Lage gewesen wäre, das Land wirksam zu verteidigen. Der militärische Überfall sei nur<br />

deshalb ausgeblieben, weil die <strong>Schweiz</strong> Deutschlands wichtigstes wirtschaftliches Reservoir <strong>und</strong> qualitativ bedeutendster<br />

Rüstungslieferant gewesen sei, den Transitverkehr zwischen den Achsenmächten zugelassen <strong>und</strong> sich mit Milliardenkrediten in<br />

das neue Europa eingekauft habe.<br />

<strong>Die</strong> Einschätzungen über die Dissuasionswirkungen <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>er Armee blieben bis Ende <strong>der</strong> 70er Jahre kontrovers <strong>und</strong><br />

waren manchmal auch von starker Ambivalenz geprägt. <strong>Die</strong> radikale Infragestellung <strong>der</strong> Dissuasionswirkung <strong>der</strong> Armee fand<br />

jedoch erst in <strong>der</strong> zweiten Hälfte <strong>der</strong> 80er Jahre eine vertiefte Fortsetzung in Forschung <strong>und</strong> öffentlicher Debatte. Sie versandete<br />

überraschend schnell in einer Auseinan<strong>der</strong>setzung über die Rolle <strong>der</strong> Hauptprotagonisten von Wi<strong>der</strong>stand <strong>und</strong> Anpassung:<br />

General Guisan <strong>und</strong> Aussenminister Pilet-Golaz. Dabei setzte sich gegen Ende <strong>der</strong> 70er Jahre in <strong>der</strong> akademischen<br />

Geschichtsforschung in hohem Masse die Unhaltbarkeit <strong>der</strong> bereits von Bretscher monierten Unterstellung von f<strong>und</strong>amentalen<br />

Gesinnungsunterschieden zwischen Armeeleitung <strong>und</strong> politischer Leitung durch. Es wurde immer deutlicher, dass we<strong>der</strong> dem<br />

General die Wi<strong>der</strong>stands- noch dem Aussenminister <strong>und</strong> seinem Botschafter in Berlin die Anpassungsstrategie exklusiv<br />

zugeordnet werden konnte, son<strong>der</strong>n dass vielmehr bei beiden Akteuren eine Mischung von beidem nachweisbar war.<br />

Gegen Ende <strong>der</strong> 70er Jahre wurden Rehabilitierungsversuche unternommen, die nicht nur Pilet-Golaz galten, son<strong>der</strong>n auch<br />

dem <strong>Schweiz</strong>er Botschafter in Berlin Hans Frölicher. Sie bezogen sogar einige Verfasser <strong>der</strong> sogenannten „Eingabe <strong>der</strong> 200“<br />

mit ein, einem Dokument, das für Anpassung <strong>und</strong> Kapitulation schlechthin stand. <strong>Die</strong> Grenzen dieser Umdeutungsversuche<br />

wurden jedoch rasch sichtbar. Eine weitgehende Rehabilitierung von Pilet-Golaz, Frölicher o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>er umstrittener<br />

Protagonisten musste zu einer radikalen Wi<strong>der</strong>legung <strong>der</strong> Dualismus-These von Anpassung versus Wi<strong>der</strong>stand führen. <strong>Die</strong>s war<br />

nur möglich auf Kosten des politischen Formats von Guisan. Konsequent zu Ende geführt, drohte sogar die Demontage aller<br />

Helden des Wi<strong>der</strong>stands <strong>und</strong> damit auch die Infragestellung des heroischen Charakters <strong>der</strong> helvetischen Kriegsverschonung.<br />

Zahlreiche liberale Medien waren hingegen bereit, sich auf eine Bestätigung <strong>der</strong> Dualismus-These einzurichten. <strong>Die</strong><br />

Dualismus-These begrenzte zugleich auch, <strong>und</strong> dies musste eher beruhigend wirken, die mögliche moralische Fallhöhe, mit <strong>der</strong><br />

zu rechnen war: Das Ausmass an Anpassung <strong>und</strong> <strong>der</strong> Kreis <strong>der</strong> Anpasser mochte grösser <strong>und</strong> bedeuten<strong>der</strong> sein, als bisher<br />

vermutet; gesichert blieb gleichwohl, dass <strong>der</strong> Kreis <strong>der</strong> Helden <strong>und</strong> Wi<strong>der</strong>ständler noch immer gross genug bleiben würde.<br />

<strong>Die</strong> von Christoph Geiser herausgestellte Bedeutung <strong>der</strong> ökonomischen Kooperation <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> mit den Achsenmächten<br />

fand im spätmarxistischen Geschichtsbild <strong>der</strong> Neuen Linken <strong>und</strong> bei einzelnen herausragenden Geschichtsbild-Kritikern wie<br />

Niklaus Meienberg grosse Resonanz. In einer gleichsam klassenkämpferischen Variante <strong>der</strong> Dualismustheorie von Anpassung<br />

<strong>und</strong> Wi<strong>der</strong>stand wurde nun das politische Verhalten <strong>und</strong> die politische Gesinnung <strong>der</strong> helvetischen Wirtschaftselite


ausgeleuchtet. Was bei Meienberg anfänglich noch als eine erfolgversprechende Strategie zur Eroberung des helvetischen<br />

Stammtisches begann, fiel in <strong>der</strong> breiten Öffentlichkeit aber schon bald wie<strong>der</strong> in Ungnade, nachdem klar geworden war, wie<br />

wenig Meienberg auf dem Boden jenes Patriotismus lebte, <strong>der</strong> von den helvetischen Stammtischen besetzt war. Meinberg trug<br />

die populäre These vor, wonach Grosskapitalisten <strong>und</strong> Grossindustrielle wie Sulzer nicht nur geschäftliche, son<strong>der</strong>n auch<br />

gesinnungsmässige Berührungspunkte mit prominenten Vertretern <strong>der</strong> nationalsozialistischen Gesellschaft pflegten, während<br />

die kleinen Leute für unbedeutende Akte des Landsverrates gleich standrechtlich erschossen worden seien. Im<br />

spätmarxistischen Geschichtsbild <strong>der</strong> Neuen Linken lebten viele <strong>der</strong> sich zeitweise zu ‚bil<strong>der</strong>stürmerischen‘ Ansätzen<br />

verdichteten kritischen Impulse <strong>der</strong> Debatte <strong>der</strong> 60er Jahre wie<strong>der</strong> auf. <strong>Die</strong>se Impulse wurden jedoch für ein politisches Projekt<br />

funktionalisiert, das im Verlauf <strong>der</strong> 70er Jahre – im Gegensatz zu demjenigen ihrer „bürgerlichen Klassenfeinde“ – Schiffbruch<br />

erlitt. Unter den Trümmern des politischen Projekts <strong>der</strong> Neuen Linken wurden auch die kritischen Impulse <strong>der</strong> Geschichtsdebatte<br />

<strong>der</strong> 60er Jahre vorübergehend begraben.<br />

<strong>Die</strong> Überfremdungsinitiativen <strong>und</strong> das Ausstrahlen <strong>der</strong> TV-Serie „Holocaust“ im Jahre 1979 gaben zwar auch den<br />

untersuchten Leitmedien immer wie<strong>der</strong> Anlass, um über die Gefahren von Rassismus, Xenophobie <strong>und</strong> Umgang mit<br />

Flüchtlingen in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> zu sprechen, ohne indessen eine nachhaltige Vergangenheitsbewältigungsdebatte hervorzurufen.<br />

<strong>Die</strong> Diskussion <strong>der</strong> Flüchtlingsfrage führte mehrheitlich durchaus zur Einräumung eines nicht unerheblichen politischen<br />

Versagens <strong>der</strong> Behörden <strong>und</strong> auch des Volkes, ohne indessen die Gemüter in genau gleichem Masse bewegen zu können wie<br />

die Diskussion um Verrat, Anpassung <strong>und</strong> Wi<strong>der</strong>stand. Ein Vergangenheitsbewältigungsdiskurs, <strong>der</strong> dem deutschen Muster <strong>der</strong><br />

Schuld-Internalisierung . folgte, entwickelte sich erst in <strong>der</strong> zweiten Hälfte <strong>der</strong> 80er Jahre.<br />

Rückblickend betrachtet erscheinen die 70er Jahre als verlorenes Jahrzehnt in <strong>der</strong> helvetischen Geschichtsdiskussion. Im<br />

politischen Streit zwischen einem national denkenden bürgerlichen Lager <strong>und</strong> einer anti-nationalistischen Linken verwaiste <strong>der</strong><br />

helvetische Vergangenheitsbewältigungsdiskurs. Dessen Wie<strong>der</strong>aufnahme fand erst in den 80er Jahren statt. Zu Beginn <strong>der</strong><br />

70er Jahre wurden die vorangehenden Anstrengungen zur Mil<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> aussenpolitischen Isolation fortgesetzt. Der<br />

Abwehrkampf gegen die Linke, <strong>der</strong> auf die Festigung <strong>der</strong> nationalen Integration zielte, setzte aber den Infragestellungen des<br />

traditionellen Geschichts- <strong>und</strong> Neutralitätsverständnis wie<strong>der</strong> weitgehend ein Ende. Das Wie<strong>der</strong>auflo<strong>der</strong>n des Kalten Krieges<br />

gegen Ende <strong>der</strong> 70er Jahre begünstigte erneut die Pflege eines isolationistischen Geschichtsbild <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>.<br />

Hatten Geschichtsbil<strong>der</strong> in <strong>der</strong> deutschen <strong>Schweiz</strong> oftmals auch die Aufgabe, das (politische) Abseitsstehen <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> in<br />

<strong>der</strong> internationalen Staatengemeinschaft zu rechtfertigen, so kam diese Geschichtsbildfunktion in <strong>der</strong> italienischen <strong>Schweiz</strong> <strong>und</strong><br />

in <strong>der</strong> Romandie auf an<strong>der</strong>e Weise zum Tragen. Als unantastbare Ikone tessinerischen Geschichtsverständnisses erwies sich<br />

die Person des B<strong>und</strong>esrates <strong>und</strong> langjährigen Hauptverantwortlichen für die Aussenpolitik Giuseppe Motta, <strong>der</strong> von Kritik aus<br />

dem Tessin so gut wie verschont blieb. <strong>Die</strong> gegen Guisan in den 70er <strong>und</strong> 80er Jahren gerichteten Demontageversuche<br />

vermochten niemals vergleichbar vehemente Verteidigungsreaktionen auszulösen wie diejenigen, die an die Adresse Mottas<br />

gerichtet waren. Hier zeigte sich deutlich, dass die Pflege des Prestiges des Tessins in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> unmittelbar abhängig war<br />

vom Prestige, das die italienische Kultur <strong>und</strong> letztlich auch Italien als Nation in <strong>der</strong> Welt genossen. Mottas Wirken stand dabei<br />

für eine nicht auf Assimilation beruhende Form <strong>der</strong> Integration des Tessins in die <strong>Schweiz</strong>, <strong>und</strong> Mottas rege aussenpolitische<br />

Kontakte mit dem faschistischen Italien <strong>und</strong> seine gelegentlich geäusserten Sympathiebezeugungen für Mussolini wurden als<br />

Akte <strong>der</strong> Stärkung <strong>der</strong> Italianitá des Tessins gesehen <strong>und</strong> nicht als Beweis für eine <strong>und</strong>emokratische o<strong>der</strong> autoritäre Gesinnung.<br />

Im Tessin <strong>der</strong> 60er <strong>und</strong> 70er Jahre verband sich eine intensive Bekämpfung xenophober Tendenzen mit einer offenen Haltung<br />

gegenüber <strong>der</strong> europäischen Integration <strong>und</strong> mit einer zustimmenden Haltung zur Mitgliedschaft in internationalen Organisationen.<br />

<strong>Die</strong>se politische Einstellung korrespondierte mit einer bemerkenswerten Indifferenz gegenüber <strong>der</strong> nationalen<br />

Symbolik <strong>der</strong> Armee, des Réduits <strong>und</strong> des Generals.<br />

<strong>Die</strong> Romandie trat zwar offener für die Integration <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> in die Welt ein als die deutsche <strong>Schweiz</strong>, indem immer<br />

wie<strong>der</strong> auf die Formel „neutralité et solidarité“ verwiesen wurde. Im Gegensatz zum Tessin hielt man in <strong>der</strong> welschen <strong>Schweiz</strong><br />

allerdings lange <strong>und</strong> intensiv an den Wi<strong>der</strong>standssymbolen fest. Gerade General Guisan verfügte während <strong>der</strong> ganzen 70er<br />

Jahre über einen unberührbaren Übervaterstatus. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite wurde aber auch sein Gegenpart in <strong>der</strong><br />

Dualismusthese von Anpassung <strong>und</strong> Wi<strong>der</strong>stand, Aussenminister Pilet-Golaz, als guter Patriot rehabilitiert. So gesehen nahmen<br />

sich sowohl das Tessin als auch die Romandie ‚ihrer‘ Protagonisten mit beson<strong>der</strong>er Vorliebe an <strong>und</strong> liessen sich nicht durch die<br />

schlechte Presse aus <strong>der</strong> deutschen <strong>Schweiz</strong> beeindrucken.<br />

2.3 Gr<strong>und</strong>legende Verän<strong>der</strong>ungen <strong>und</strong> erste Vorbeben in den 80er Jahren<br />

In den 80er Jahren ergeben sich einige wesentliche Verschiebungen in den bevorzugten Themen öffentlicher Erörterung.<br />

Zugleich gelangten Themen in den Wahrnehmungsbereich, die bereits in den 60er Jahren aufgetaucht, jedoch in den 70er<br />

Jahren wie<strong>der</strong> verschw<strong>und</strong>en waren. <strong>Die</strong>se Verän<strong>der</strong>ungen wurden auch in <strong>der</strong> Debatte selbst reflektiert.<br />

In <strong>der</strong> zweiten Hälfte <strong>der</strong> 80er Jahre, insbeson<strong>der</strong>e im Jahre 1985, als dem Ende des <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>s öffentlich gedacht<br />

wurde, entbrannte eine heftige Debatte über das, was General Guisan auf dem Rütli tatsächlich gesagt hatte. Es waren nicht die<br />

neue Fakten enthüllenden Studien des B<strong>und</strong>esarchivars Oscar Gauye über Guisan, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> neue Blick auf die in den


Gr<strong>und</strong>zügen längst bekannte politische Gesinnung des Generals, <strong>der</strong> öffentliche Skandale auszulösen vermochte. Dass <strong>der</strong><br />

General Sympathien für Marschall Pétain <strong>und</strong> Mussolini empf<strong>und</strong>en haben könnte, dass er korporatistischen Politikmustern<br />

vielleicht einiges abgewinnen konnte <strong>und</strong> ähnliches mehr, wurde in einer breiten Öffentlichkeit mit Befremden wahrgenommen<br />

<strong>und</strong> als mit echter Wi<strong>der</strong>standsgesinnung unvereinbar betrachtet.<br />

Das Augenmerk <strong>der</strong> Öffentlichkeit <strong>und</strong> <strong>der</strong> Medien richtete sich nun ganz allgemein auf die konkrete politische Gesinnung,<br />

welche im Volk <strong>und</strong> bei seinen führenden Vertretern in <strong>der</strong> Kriegszeit vorgeherrscht hatte. <strong>Die</strong> Meinung, wonach sich in <strong>der</strong><br />

<strong>Schweiz</strong> ein Lager <strong>der</strong> Anpassung <strong>und</strong> ein Lager des Wi<strong>der</strong>standes bef<strong>und</strong>en habe, verliert in den 80er Jahren an Bedeutung<br />

<strong>und</strong> Faszinationskraft, auch in ihrer klassenkämpferischen Variante.<br />

Dennoch ergab sich daraus nicht <strong>der</strong> volle Triumph jener Meinungsrichtung, die „Anpassung“ dem „Wi<strong>der</strong>stand“ gleichsetzte<br />

<strong>und</strong> als zentralen historisch-moralischen Massstab die Haltung gegenüber <strong>der</strong> nationalen Gemeinschaft betrachtete – ganz im<br />

Gegenteil: Zwar wurde die Leistung <strong>der</strong> Kriegsgeneration <strong>und</strong> ihrer politischen Führer noch immer anerkannt, das Land<br />

unversehrt durch den Krieg hindurchgesteuert zu haben. Doch blieb die Art <strong>und</strong> Weise, wie sie dies zustandegebracht hatte,<br />

nicht länger unwichtig.<br />

Zu Beginn <strong>der</strong> 80er Jahre <strong>und</strong> verstärkt ab 1985 wurde die helvetische Volksgemeinschaft in <strong>der</strong> Epoche <strong>der</strong><br />

Landesausstellung von 1939 <strong>und</strong> <strong>der</strong> Kriegszeit einer immer heftigeren Kritik unterzogen. <strong>Die</strong> Tatsache, dass prononcierter<br />

helvetischer Patriotismus <strong>und</strong> Loyalität nicht mit idealer demokratischer Gesinnung gleichbedeutend zu sein brauchte, wurde<br />

von weiten Teilen <strong>der</strong> Öffentlichkeit als moralisch fragwürdig, ja manchmal sogar als skandalös erlebt <strong>und</strong> gewertet. <strong>Die</strong><br />

Öffentlichkeit wandte sich in den 80er Jahren vermehrt <strong>der</strong> Tatsache zu, dass die „Landi-Generation“ ihre politische Identität<br />

nicht explizit mit <strong>der</strong> Teilhabe an den Werten <strong>und</strong> Traditionen von Freiheit <strong>und</strong> Demokratie <strong>und</strong> dem universellen Erbe <strong>der</strong><br />

Aufklärung begründet, son<strong>der</strong>n diese im Gegenteil zu typisch helvetischen Nationaltugenden emporstilisiert hatte. Darin<br />

spiegelte sich die Tatsache wi<strong>der</strong>, dass die helvetische Volksgemeinschaft <strong>der</strong> späten 30er Jahre <strong>und</strong> <strong>der</strong> 40er Jahre den<br />

Neutralitätsbegriff auch auf das sie tragende Wertesystem bezog <strong>und</strong> damit auf den missionarischen Anspruch, <strong>der</strong> stets von<br />

universellen Rechten auszugehen pflegt, verzichtet hatte: Demokratie <strong>und</strong> Freiheit sollten lediglich deshalb gerettet werden, weil<br />

sie helvetischer Tradition entsprachen. Demokratie <strong>und</strong> Freiheit hatten in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> anscheinend vor allem deshalb auch die<br />

Kriegszeit überlebt, weil sich die helvetische Volksgemeinschaft bereits in <strong>der</strong> Krise <strong>der</strong> 30er Jahre auf ihre freiheitlichdemokratische<br />

Traditionen zurückbesonnen hatte.<br />

<strong>Die</strong> Geschichtsbild-Kritiker <strong>der</strong> 80er Jahre demonstrierten diesen nationalen Makel, <strong>der</strong> die helvetische<br />

Wi<strong>der</strong>standsgesinnung geprägt hatte, mit Vorliebe an den Heldenfiguren des helvetischen Wi<strong>der</strong>standes, insbeson<strong>der</strong>e an<br />

dessen Galionsfigur, General Guisan. <strong>Die</strong> Kritik begann aber auch das politische Prestige <strong>der</strong> aktiven Kriegsgeneration in Frage<br />

zu stellen, namentlich <strong>der</strong> sogenannten „Aktivdienstgeneration“. Ein Höhepunkt <strong>der</strong> ‚Volksschelte‘ wurde 1988 erreicht, als <strong>der</strong><br />

50. Jahrestag des Anschlusses <strong>und</strong> <strong>der</strong> Gleichschaltung Österreichs kommemoriert wurde.<br />

Glaubwürdige Oppositionshaltung gegenüber dem 3. Reich wurde nicht mehr hauptsächlich durch einwandfreie patriotische<br />

Gesinnung <strong>und</strong> die Bereitschaft, die nationale Unabhängigkeit um jeden Preis zu wahren, gewertet. Vielmehr standen nun eine<br />

einwandfreie demokratische, rechtsstaatliche, anti-xenophobe <strong>und</strong> anti-chauvinistische Gesinnung sowie die uneingeschränkten<br />

Hochachtung von Menschenrechten <strong>und</strong> politischen Bürgerrechten im Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong>. An diesen Massstäben wurde nun auch das<br />

Verhalten des Volkes <strong>und</strong> <strong>der</strong> Behörden gegenüber den Flüchtlingen zunehmend strenger gemessen, <strong>und</strong> es wurden<br />

korporatistische, autoritäre, chauvinistische, prononciert antisemitische <strong>und</strong> im weitesten Sinne „völkische“ Gesinnungselemente<br />

nachgewiesen <strong>und</strong> vorgeworfen.<br />

Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> gewann bereits in den 80er Jahren die kritische Neueinschätzung <strong>der</strong> Flüchtlingsfrage an Brisanz.<br />

Nicht die Treue <strong>und</strong> Loyalität zur eigenen Nation, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Umgang mit Angehörigen frem<strong>der</strong> Nationen <strong>und</strong> Völker wurde zu<br />

einem zentralen Kriterium moralischer Einschätzung. Das Werk von Alfred A. Häsler erfuhr neue Beachtung <strong>und</strong> Würdigung.<br />

Bereits in den 80er Jahren bahnte sich zudem auch die Rehabilitierung des Polizeikommandanten Grüninger an. Offensichtlich<br />

wurde hier dem Vorbild <strong>der</strong> Vergangenheitsbewältigung nach deutscher Art gefolgt. <strong>Die</strong>se zielt darauf ab, Zonen politischen<br />

Versagens <strong>der</strong> Nation auszuleuchten <strong>und</strong> die moralische Schuld dafür in öffentlichen Bekenntnissen zu übernehmen. <strong>Die</strong><br />

Tatsache, dass die <strong>Schweiz</strong> we<strong>der</strong> Schuld am Kriegsausbruch traf noch dass sie an <strong>der</strong> Kriegsführung <strong>der</strong> Achsenmächte<br />

teilgenommen hatte, entband sie nicht länger von <strong>der</strong> Verantwortung für ein moralisches Versagen, das unter <strong>der</strong> Einwirkung<br />

<strong>der</strong> Achsenmächte zustande gekommen war.<br />

<strong>Die</strong> sehr viel kritischer ausfallende Neubewertung <strong>der</strong> Behandlung <strong>der</strong> Flüchtlinge aus dem dritten Reich entwickelte sich in<br />

<strong>der</strong> Folge einer von Werner Rings im Jahre 1985 entfachten Diskussion über die Rolle <strong>der</strong> Nationalbank <strong>und</strong> ihrer<br />

Goldgeschäfte mit dem 3. Reich. Rings’ Beitrag erscheint im Nachhinein als Initialzündung für einen Prozess des Ausleuchtens<br />

von Zonen des moralischen <strong>und</strong> politischen Versagens, <strong>der</strong> seither nicht mehr zur Ruhe gekommen ist.<br />

In den 70er Jahren blieben die Analysen <strong>der</strong> wirtschaftlichen Kooperation <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> mit den Achsenmächten als Ursache<br />

<strong>der</strong> Kriegsverschonung noch vergleichsweise wirkungslos – dies nicht zuletzt auch deshalb, weil sie sich mit dem Versuch<br />

kompromittierten, die Wesensverwandtschaft von Kapitalismus <strong>und</strong> Faschismus bzw. Nationalsozialismus nachzuweisen. Aus<br />

dieser klassenkampftheoretischen Perspektive wurde <strong>der</strong> Armee ohnehin von vornherein jede selbständige Bedeutung als


mögliche Ursache <strong>der</strong> Kriegsverschonung abgesprochen. In den 80er Jahren hingegen wurde die militärische<br />

Dissuasionswirkung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>er Armee unmittelbar angesprochen <strong>und</strong> mit wachsen<strong>der</strong> Resonanz in Frage gestellt. Was in<br />

den 70er Jahren noch misslang, entwickelte sich in den 80er Jahren mit erstaunlichem Erfolg. Insbeson<strong>der</strong>e die Geschichtsbild-<br />

<strong>und</strong> Armeedebatte, die sich im Zuge <strong>der</strong> Diskussion <strong>der</strong> sogenannten Rothenturminitiative gegen Waffenplätze in<br />

Naturschutzgebieten entfaltete <strong>und</strong> ihren ersten Höhepunkt in <strong>der</strong> Armeeabschaffungsinitiative <strong>der</strong> Gruppe <strong>Schweiz</strong> ohne Armee<br />

(GSoA) fand, führte zu einer breiten Auseinan<strong>der</strong>setzung über die Dissuasionswirkung <strong>und</strong> den militärischen Sinn des Réduits.<br />

An <strong>der</strong> Klärung dieser Frage beteiligten sich auch akademische Forscher rege. Der Abstimmungserfolg <strong>der</strong> Rothenturminitiative<br />

hatte gezeigt, dass sich militärische Bedrohungsszenarien teilweise durch ökologische Angst- <strong>und</strong> Bedrohungsgefühle<br />

substituieren liessen; damit war ein neues Motiv in die Armeedebatte eingeführt worden.<br />

Viele Debattenteilnehmer registrierten in den 80er Jahren, dass sich gr<strong>und</strong>legende moralische <strong>und</strong> politische<br />

Bewertungsmassstäbe, die an die Geschichte angelegt worden waren, geän<strong>der</strong>t hatten. <strong>Die</strong>s führte zu einigen metatheoretischen,<br />

methodologischen <strong>und</strong> wissenschaftstheoretischen Analysen <strong>und</strong> Kommentaren, wie sie in den 70er Jahren<br />

kaum, dafür aber gelegentlich in den 60er Jahren geführt worden waren.<br />

Sehr häufig wurden verän<strong>der</strong>te moralische Massstäbe für die Bewertung des helvetischen Verhaltens während des Krieges<br />

nun als Ursache von Geschichtsbildverän<strong>der</strong>ungen wahrgenommen <strong>und</strong> oftmals mit <strong>der</strong> Begründung zurückgewiesen, die<br />

Geschichte werde nicht mehr in ihrem eigenen Licht, son<strong>der</strong>n mit nachträglich übergestülpten Kriterien analysiert. Doch wurde<br />

eingestanden, dass jede Generation das Recht habe, die Geschichte in neuem, von ihrer Gegenwartserfahrung bestimmtem<br />

Licht zu betrachten, auch wenn keine neuen Fakten vorlägen, die zur Neubeurteilung zwängen. In den 80er Jahren meldeten<br />

sich abermals zahlreiche <strong>Weltkrieg</strong>sveteranen in <strong>der</strong> Geschichtsdebatte zu Wort. In ihren Beiträgen drückt sich vielfach das<br />

Gefühl aus, von <strong>der</strong> nachrückenden Generation gänzlich missverstanden <strong>und</strong> falsch beurteilt worden zu sein.<br />

2.4 Internationaler Umbruch <strong>und</strong> innenpolitische Legitimationskrise 1989: <strong>der</strong> Angriff auf in mentales Réduit <strong>der</strong><br />

nationalen Identität<br />

<strong>Die</strong> „GSoA“- <strong>und</strong> „Diamant“-Debatten von 1989 bildeten einen denkwürdigen Höhepunkt <strong>und</strong> Abschluss jener zahlreichen<br />

Geschichtsbild-Kontroversen, die sich aus einer sicherheits- <strong>und</strong> militärpolitisch aufgewühlten Stimmung <strong>der</strong> 80er Jahre<br />

herausgebildet hatten. Durch den Zerfall <strong>der</strong> alten Blockidentitäten <strong>und</strong> die innenpolitische Opposition gegen die Armee als<br />

unantastbares Symbol helvetischer Sicherheits- <strong>und</strong> Identitätspolitik erhielt die Rückbesinnung auf den <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong> einen<br />

ungeahnten Stellenwert in <strong>der</strong> helvetischen Standortbestimmung. Das globale aussenpolitische Tauwetter in <strong>der</strong> zweiten Hälfte<br />

<strong>der</strong> 80er Jahre <strong>und</strong> <strong>der</strong> starke armeekritische Impetus <strong>der</strong> Jugend, die die „GSoA“-Initiativbewegung zur Abschaffung <strong>der</strong> Armee<br />

organisatorisch aufgefangen <strong>und</strong> politisch erfolgreich umgesetzt hatte, schufen ein immenses Resonanzpotential für militärisch<br />

<strong>und</strong> geschichtlich sensible Themen. <strong>Die</strong> intensivierte Auseinan<strong>der</strong>setzung über die Rolle <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> im <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong><br />

unter beson<strong>der</strong>er Berücksichtigung <strong>der</strong> dissuasiven Wirkung <strong>der</strong> Armee als Ursache <strong>der</strong> glücklichen Kriegsverschonung<br />

äusserte sich sodann 1989 als medienpolitisches Grossereignis. <strong>Die</strong>ses prägte die innenpolitische Berichterstattung weitgehend<br />

<strong>und</strong> vereinnahmte darüber hinaus die Rubrik „Leserbriefe“ – welche als ausgezeichneter Indikator nationaler Erregbarkeit betrachtet<br />

werden darf – über Wochen hinweg. <strong>Die</strong> gegenseitige thematische Überlagerung <strong>und</strong> Verstärkung <strong>der</strong> beiden<br />

politischen Ereignisse „Diamant“ <strong>und</strong> Armeeabschaffungsinitiative war wohl seitens <strong>der</strong> „Diamant“-Initianten intendiert worden,<br />

hingegen dürfte die zeitliche Koinzidenz des Falls <strong>der</strong> Berliner Mauer im November 1989 mit <strong>der</strong> Abstimmung über die<br />

Armeeabschaffungs-Initiative zweifellos eine Laune <strong>der</strong> Weltgeschichte gewesen sein.<br />

Sowohl von staatlicher Seite als auch von <strong>der</strong> „GSoA“-Bewegung wurde die Frage nach Sinn <strong>und</strong> Zukunft <strong>der</strong><br />

Landesverteidigung in den Mittelpunkt gerückt. Dabei wurde das Legitimations- <strong>und</strong> Diskussionsmanko <strong>der</strong> Landesverteidigung<br />

deutlich. <strong>Die</strong>ses Manko sollte mit zwei diametral entgegengesetzten Lösungen kuriert werden. Entscheidend war, dass nach <strong>der</strong><br />

Lancierung des „Diamant“ beide Lager ihren argumentativen Schlagabtausch hauptsächlich in die Historie verlagerten. Der<br />

Verlust an stabiler Orientierung <strong>und</strong> die Verarbeitung <strong>der</strong> zu Ende gehenden Blockkonfrontation ging mit einer Historisierung <strong>der</strong><br />

Gegenwart einher: Auf <strong>der</strong> Suche nach guten Argumenten rekurrierte das Eidgenössische Militärdepartement (EMD) auf die<br />

Geschichte des <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>s, in <strong>der</strong> stillschweigenden Annahme, dass in diesem Thema noch eine grössere<br />

Überzeugungsfestigkeit herrsche, dass die zum Geschichtsbild verdichteten Erfahrungen im <strong>und</strong> seit dem <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong><br />

noch dieselbe normative Geltung hätten wie zu Zeiten des Kalten Kriegs.<br />

<strong>Die</strong> „Diamant“-Gedenkfeierlichkeiten entfachten indessen eine vehemente <strong>und</strong> polemische Kontroverse über die Rolle <strong>der</strong><br />

<strong>Schweiz</strong> im <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>, in <strong>der</strong>en Verlauf sich plötzlich überaus kontroverse Lesarten <strong>der</strong> Vergangenheit bemerkbar<br />

machten. Dabei war das Anliegen <strong>der</strong> „Diamant“-Initianten durchaus unspektakulär, da die vorgesehenen<br />

Erinnerungsfeierlichkeiten den Dank an die damals Militärdienst leistende Aktivdienstgeneration ausdrücken <strong>und</strong> mit einer<br />

geschichtlichen Sensibilisierung <strong>der</strong> Jugend verb<strong>und</strong>en sein sollten. <strong>Die</strong> Aktion „Diamant“ erinnerte mittels Wan<strong>der</strong>ausstellung,<br />

Veteranentagungen, Gedenkfeiern <strong>und</strong> „Tagen <strong>der</strong> offenen Tür“ in Schulen, Betrieben <strong>und</strong> Armee an eine Zeit <strong>der</strong> existentiellen<br />

Bedrohung, des nationalen Zusammenhalts <strong>und</strong> an den intakten Willen zur wehrhaften Selbstbehauptung. Der Vorsteher des<br />

EMD, B<strong>und</strong>esrat Kaspar Villiger, <strong>der</strong> 1989 das EMD übernahm <strong>und</strong> für die Durchführung <strong>der</strong> „Diamant“-Erinnerungsanlässe<br />

politisch verantwortlich war, wies bei seiner Eröffnungsrede die vorauseilende Kritik <strong>der</strong> Geschichtsbild-Dissidenten zurück. Er


estritt ausdrücklich, dass die <strong>Schweiz</strong> ihr Überleben im <strong>Weltkrieg</strong> nur den wirtschaftlichen <strong>und</strong> finanziellen Leistungen an die<br />

Achsenmächte zu verdanken gehabt hätte. An <strong>der</strong> alten Formel von Anpassung <strong>und</strong> Wi<strong>der</strong>stand anknüpfend, betonte Villiger<br />

den überlebensnotwendigen Charakter <strong>der</strong> damaligen wirtschaftlichen, ebenso wie <strong>der</strong> politischen <strong>und</strong> diplomatischem<br />

Kompromisse. <strong>Die</strong> Armee sei indes die Basis <strong>der</strong> Selbstbehauptung gewesen <strong>und</strong> habe vielleicht keine hinreichende, aber doch<br />

eine notwendige Voraussetzung für die Kriegsverschonung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> dargestellt. Damit steckte <strong>der</strong> frisch gewählte EMD-<br />

Vorsteher den Rahmen dessen ab, was als politische, moralische <strong>und</strong> historiographische Streitsumme während fast eines<br />

Jahres Massenmedien, Schriftsteller, politische Organisationen <strong>und</strong> Bürgerschaft in einer aufwühlenden Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />

mit <strong>der</strong> eigenen Geschichte vereinte.<br />

<strong>Die</strong> politisch-soziale Zusammensetzung <strong>der</strong> „Diamant“-Gegnerschaft war heterogen, wenn auch am stärksten in linksalternativ,<br />

pazifistisch <strong>und</strong> feministisch ausgerichteten Kreisen angesiedelt. Als qualitativ neuer Faktor in <strong>der</strong> Geschichte dieser<br />

historisch aufgeladenen Identitätsdebatten stellte sich die starke Teilnahme <strong>und</strong> Einmischung zahlreicher Frauen heraus. Sie<br />

bemängelten gewisse frauendiskriminierende Noten in <strong>der</strong> Durchführung des „Diamants“ <strong>und</strong> lasteten diese dem<br />

geschlechtsblinden Charakter des traditionellen Geschichtsbildes selbst an, das den Erfolg <strong>der</strong> nationalen Selbstbehauptung <strong>der</strong><br />

<strong>Schweiz</strong> im <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong> ausschliesslich dem heroischen Einsatz <strong>der</strong> Männer zuschrieb. Insgesamt aber bewegte sich die<br />

Geschichtsbild-Kontroverse weitgehend entlang <strong>der</strong> parteipolitischen Links-Rechts-Differenzierung, mit Ausnahme einer kleinen,<br />

nichtsdestotrotz massgeblichen Min<strong>der</strong>heit. <strong>Die</strong>se setzte sich u.a. aus publizistisch bzw. politisch aktiven Vertretern <strong>der</strong><br />

gefeierten Generation zusammen, die sich we<strong>der</strong> im Einklang mit den Geschichtsbild-Dissidenten sahen noch selbst die<br />

„Diamant“-Aktivitäten unterstützen o<strong>der</strong> an ihnen teilnehmen wollten. Ihre Kritik bezog sich auf die prätentiöse Kommemoration,<br />

die sich gemäss ihrem Selbstverständnis als Bürger einer demokratisch-freiheitlich gesinnten Gesellschaft erübrigen müsste,<br />

weil die Kriegsmobilmachung von 1939 nicht eine zu zelebrierende Heldentat, son<strong>der</strong>n eine politische Selbstverständlichkeit<br />

darstellte, die keiner beson<strong>der</strong>en, <strong>und</strong> schon gar nicht einer selbstgefälligen Gedenkfeierlichkeit bedürfe. Des weiteren machte<br />

diese mit <strong>der</strong> Zeit des <strong>Weltkrieg</strong>s biographisch verb<strong>und</strong>ene „Alterskohorte“ auch auf die Disproportion aufmerksam, in <strong>der</strong> sich<br />

die kriegsverschonte Helvetia beweihräuchere, ohne selber etwas zur Wende zum Besseren in diesen dunklen Jahren beigetragen<br />

zu haben. Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie Jean-Rodolphe von Salis, Alfred A. Häsler, Oskar Reck, Hans<br />

Tschäni u.a. plädierten deshalb dafür, feierliche Kommemorationen jenen zu überlassen, die unter grosser Opferbereitschaft die<br />

nationalsozialistische Kriegsmaschinerie nie<strong>der</strong>gerungen hätten.<br />

Im Gros <strong>der</strong> zumeist jüngeren „Diamant“-Gegnerschaft versammelte sich einerseits die Bewegung für die Abschaffung <strong>der</strong><br />

Armee, die seit den frühen 80er Jahren vom Reiz <strong>der</strong> politischen Enttabuisierung <strong>der</strong> „heiligen Kuh“ Armee profitierte <strong>und</strong> am<br />

gleichen Strick zog wie jene jüngere Generation von HistorikerInnen, die mit neuen Studien zur Geschichte <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> im<br />

<strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong> insbeson<strong>der</strong>e die militärhistorische Vereinnahmung dieser Epoche aufbrechen wollte. Das Aufbegehren<br />

dieser Geschichtsdissidenten wurde auf einen Generationenunterschied reduziert <strong>und</strong> eher irreführend mit <strong>der</strong> Bezeichnung<br />

„Junghistoriker“ eingefangen, die sich in antithetischer Perspektive gegen das Geschichtsbild <strong>der</strong> erfolgreichen Bewährungsprobe<br />

<strong>der</strong> „Althistoriker“ wandte, dessen Kernpunkte die bewaffnete Neutralität, <strong>der</strong> Wehrwille <strong>und</strong> das Réduit<br />

darstellten. Dennoch gelang den Geschichtsbild-Dissidenten früh ein politischer Erfolg. Sie warfen den „Diamant“-Initianten vor,<br />

mit <strong>der</strong> Kriegsmobilmachung von 1939 das historische Ereignis <strong>Zweite</strong>r <strong>Weltkrieg</strong> falsch in Erinnerung zu rufen <strong>und</strong> machten<br />

geltend, dass die <strong>Schweiz</strong> in dieses Datum den Beginn einer national erfolgreichen Bewährungsprobe projiziere, währenddem<br />

dasselbe weltweit als Fanal kommemoriert <strong>und</strong> politisch geächtet werde. Hinter dieser Kritik stand das Bestreben <strong>der</strong> „Diamant“-<br />

Gegnerschaft, das schweizerische Geschichtsverständnis aus seinem helvetozentrischen Interpretationszusammenhang<br />

herauszubrechen <strong>und</strong> – wenn nicht europakompatibel zu machen – so zumindest nicht durch eine international als<br />

missverständlich o<strong>der</strong> anstössig empf<strong>und</strong>ene Erinnerungspolitik zu untermauern.<br />

Als Kernpunkt <strong>der</strong> Kontroverse zwischen „GSoA“- <strong>und</strong> „Diamant“-Kontrahenten schälte sich unmissverständlich die Frage<br />

heraus, ob die militärische Selbstbehauptungs- <strong>und</strong> Dissuasionskraft <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> als Gr<strong>und</strong> ihrer Kriegsverschonung im<br />

<strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong> zu betrachten sei. Man foutierte sich um Edgar Bonjours im Jahr 1983 geäusserte Meinung, dass man für die<br />

Gründe <strong>der</strong> Kriegsverschonung zahlreiche Hypothesen konstruieren, jedoch keinen wissenschaftlich unwi<strong>der</strong>legbaren Beweis<br />

vorlegen könne. <strong>Die</strong>ses rätselhafte Residuum gelehrter Geschichtsdebatten erzeugte auch 1989 Red<strong>und</strong>anz, iram et studium,<br />

<strong>und</strong> stellte einmal mehr die Funktion solcher historischer Identitätsdebatten unter Beweis: Sie schöpfen ihre auf<br />

Vergemeinschaftung abzielende Kraft aus Ereignissen, die von den Diskursteilnehmern vor allem als unersetzliche Projektionsfläche<br />

für sinnstiftende Gr<strong>und</strong>wert-Debatten in Beschlag genommen werden, ohne auf die aufgeworfenen Streitfragen je<br />

eine abschliessende Antwort liefern zu können.<br />

<strong>Die</strong> Geschichtsbild-Traditionalisten beschworen mit Blick auf die sicherheitspolitische Fragestellung die herausragende Rolle<br />

<strong>der</strong> Armee als Faktor <strong>der</strong> Kriegsverschonung. Sie fassten die Essenz <strong>der</strong> <strong>Weltkrieg</strong>serfahrung in <strong>der</strong> Formel von Bedrohung,<br />

Bereitschaft <strong>und</strong> erfolgreicher Bewährung, die in <strong>der</strong> Hitze des tagespolitischen Disputs einer Vulgarisierung <strong>der</strong> unvergleichlich<br />

komplexeren Selbstbeschreibungsformel von „Anpassung <strong>und</strong> Wi<strong>der</strong>stand“ gleichkam. Mag dies zum einen auf die Dominanz<br />

<strong>der</strong> an vor<strong>der</strong>ster Stelle engagierten Militärhistoriker <strong>und</strong> -strategen zurückzuführen sein, manifestierte sich zum an<strong>der</strong>n darin<br />

die heroisierende Tendenz dieses seit 1945 nie wesentlich erschütterten Deutungsmusters: <strong>Die</strong> <strong>Schweiz</strong> sah sich im Sommer<br />

1940 unter den widrigen Umständen <strong>der</strong> vollständigen Einkreisung durch die Achsenmächte zu verschiedenen Strategien <strong>und</strong>


Konzessionen gezwungen. Mit dem Rütli-Rapport von General Guisan <strong>und</strong> seinem angeblich genialen Entscheid zum Bezug<br />

des militärisch unbezwingbaren Réduits sei die oberste Maxime dieser Zeit, die Verschonung vor dem Krieg, massgeblich<br />

verwirklicht worden. Neben dem militärischen Dissuasionspotential <strong>der</strong> Armee hätte sich ein mehrschichtiges Repertoire an<br />

teilweise nicht zu vermeidenden Anpassungsleistungen im <strong>Die</strong>nste des nationalen Überlebenskampfs eingespielt, <strong>der</strong>en Akteure<br />

von <strong>der</strong> Geschichte zur Verantwortung gezogen <strong>und</strong> je nach dem als „Anpasser“ o<strong>der</strong> „Wi<strong>der</strong>ständler“ eingestuft worden wären.<br />

Eine radikalisierte Variante dieser Sichtweise vertraten rechtsnationale Kreise, die die historische Erfahrung von Bedrohung <strong>und</strong><br />

erfolgreicher Bewährung zu zeitloser Gültigkeit stilisierten <strong>und</strong> in <strong>der</strong> „Diamant“-Kritik vor allem das Machwerk linker „GSoA“-<br />

Befürworter erblickten, welchen es in erster Linie um die Zersetzung <strong>der</strong> Wehrkraft gehen musste. <strong>Die</strong>se nationale Rechte<br />

redete einer konstanten, von den sich verän<strong>der</strong>nden geopolitischen Allianzen losgelösten äusseren Bedrohung das Wort, die<br />

nur durch permanente Bereitschaft <strong>und</strong> Abwehr in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens adäquat beantwortet werden<br />

könne. Insgesamt klammerte sich das Gros <strong>der</strong> Geschichtsbild-Traditionalisten an die Illusion einer historischen Wahrheit, die<br />

nach 50jähriger scheinbar erfolgreicher Tradierung <strong>und</strong> Modifizierung durch den Bonjour-Bericht ein für allemal festgelegt hatte,<br />

was <strong>der</strong> Fall war <strong>und</strong> was nicht. Ebenso pulsierte noch einmal kräftig jene Son<strong>der</strong>fall-Argumentation, dass die Kriegsverschonung<br />

ein helvetisches Verdienst – <strong>und</strong> nicht bloss ein glückliches, vom Kriegsverlauf zufällig begünstigtes Resultat einer<br />

Strategie von Anpassung <strong>und</strong> Wi<strong>der</strong>stand war.<br />

<strong>Die</strong> Geschichtsbild-Kritiker <strong>und</strong> „Junghistoriker“ sahen in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> kein Analog zu jenem Dorf wehrhafter, aber im Gr<strong>und</strong>e<br />

friedlicher Bürger im Nordwesten Galliens, die einst <strong>der</strong> übermächtigen römischen Besatzungsmacht unerschütterlichen<br />

Wi<strong>der</strong>stand geleistet hatten. Ihre Kritik zielte auf das Herzstück jenes Geschichtsbilds, das die Kriegsverschonung mit einer<br />

erfolgreichen Strategie von primär militärischem Wi<strong>der</strong>stand <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>är wirtschaftlicher Anpassung fasste. In ihrer Analyse<br />

<strong>der</strong> helvetischen Bewährungsprobe betonten sie die antiheroischen Aspekte, weil sich die <strong>Schweiz</strong> angeblich primär anpasste<br />

<strong>und</strong> nur sek<strong>und</strong>är zu Wi<strong>der</strong>stand bereit war – welcher im militärischen Bereich eher symbolischer Natur war. <strong>Die</strong> Armeekritiker<br />

<strong>und</strong> ‚Bil<strong>der</strong>stürmer‘ deuteten 1989 die Réduit-Doktrin von Guisan – ebenfalls – als genial, betteten indessen die<br />

Kriegsverschonung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> in einen an<strong>der</strong>en Wirkungszusammenhang ein. <strong>Die</strong> auf den streitfreudigen Geschichtsbild-<br />

Experten <strong>und</strong> Historiker Jakob Tanner zurückzuführende These lautete, dass Guisans Teilmobilmachung durch das Réduit-<br />

Konzept die innenpolitische Diskussion um Anpassung o<strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand eliminiert <strong>und</strong> Nazi-Deutschland das ‚richtige‘ Zeichen<br />

gegeben habe, nämlich das Signal zur wirtschaftlichen Kooperationswilligkeit. <strong>Die</strong> Teildemobilisierung <strong>der</strong> Truppen im Sommer<br />

des Jahres 1940 – paradoxerweise in einem Zeitpunkt höchster potentieller Bedrohung – <strong>und</strong> <strong>der</strong>en anschliessende Konzentration<br />

in den Bergen (Réduit) habe <strong>der</strong> Haltung des defaitistisch eingestellten Offizierskorps entsprochen, sei jedoch geschickt<br />

mit dem Etikett <strong>der</strong> wi<strong>der</strong>standswilligen Armee getarnt worden. Mit diesem Entscheid 1940 konnte <strong>der</strong> Rückzug in die Berge<br />

innenpolitisch als Akt einer militärischen Wi<strong>der</strong>standshaltung dargestellt werden, währenddem man gegenüber Nazideutschland<br />

man den Willen signalisierte, das Gros <strong>der</strong> Soldaten wie<strong>der</strong> als Arbeiter in die industrielle Produktion zurückzuschicken. In<br />

dieser Gesamtschau wurde die Kriegsverschonung als folgerichtige Konsequenz einer vielfältig ineinan<strong>der</strong>greifenden Strategie<br />

von struktureller Anpassung <strong>und</strong> ideologischem Wi<strong>der</strong>stand gedeutet. In verschiedensten Formen von Überlebenskalkül <strong>und</strong><br />

Eigennutz wären Transitverkehr, Handel mit strategisch wichtigen Rüstungsgütern <strong>und</strong> vor allem die <strong>Die</strong>nstleistungen des<br />

intakten Finanzplatzes <strong>Schweiz</strong> eingesetzt worden, um Nazideutschland von <strong>der</strong> Unattraktivität eines militärischen Angriffs bzw.<br />

einer Besetzung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> zu überzeugen. Historiographisch <strong>und</strong> politisch sei demgegenüber mit <strong>der</strong> Generalsfigur <strong>und</strong> dem<br />

Réduit-Konzept <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>stein für die politische Einheit <strong>der</strong> Nation, die Popularisierung des schweizerischen Wi<strong>der</strong>standswillens<br />

<strong>und</strong> die Vorstellung einer unbezwingbaren Alpenrepublik gelegt worden. Auf diese Gr<strong>und</strong>lage konnte die<br />

Nation über Jahrzehnte hinweg ihren Glauben an die Selbstbehauptungskraft abstützen.<br />

<strong>Die</strong> Position <strong>der</strong> „Diamant“- <strong>und</strong> Armee-Vertreter wurde bekanntlich Ende 1989 von einer plebiszitär überraschend<br />

erfolgreichen „GSoA“-Initiative desavouiert. Damit wurde ersichtlich, dass <strong>der</strong> grösste Fehler <strong>der</strong> Geschichtsbild-Traditionalisten<br />

darin bestand, den Kampf um die Legitimationsgr<strong>und</strong>lagen <strong>der</strong> schweizerischen Sicherheitspolitik in <strong>der</strong> Arena <strong>der</strong> Geschichte<br />

auszufechten. Mit diesem wohl ungenügend reflektierten <strong>und</strong> nachweislich überhasteten Entscheid klammerten sie sich an ein<br />

Argumentarium, mit dem die politische Deutungskonkurrenz gegenüber den Geschichtsbild-Kritikern zwar nicht unbedingt<br />

verloren, aber auch keinesfalls mehr gewonnen werden konnte. Der Glaube an die sogenannte „glückliche Kriegsverschonung“<br />

als Folge einer dissuasiven militärischen Selbstbehauptung im Rahmen <strong>der</strong> bewaffneten Neutralität hatte 1989 jenen<br />

unbestrittenen Stellenwert verloren, den er jahrzehntelang im schweizerischen Geschichtsverständnis innegehabt hatte. <strong>Die</strong><br />

politische Entwicklung nach dem Schicksalsjahr 1989 verschaffte zudem jener kritischen Vorstellung, dass die helvetische<br />

Verarbeitung des Ereignisses <strong>Zweite</strong>r <strong>Weltkrieg</strong> als Eichmass aller sicherheits- <strong>und</strong> aussenpolitischen Prinzipien möglicherweise<br />

obsolet geworden ist, den notwendigen Rückhalt. Offensichtlich zog die (Ereignis)Geschichte in <strong>der</strong> zweiten Hälfte <strong>der</strong> 80er<br />

Jahre die helvetischen Identitätsdebatten an sich heran. Gleichzeitig verän<strong>der</strong>ten aber diese Kontroversen in den Zeiten des<br />

Umbruchs <strong>und</strong> <strong>der</strong> Neuorientierung die Auffassungen <strong>und</strong> Gesichtswinkel, unter welchen man ein- <strong>und</strong> dieselbe Geschichte<br />

betrachtete: <strong>Die</strong> Geschichtsbild-Kontroverse verän<strong>der</strong>te (immer wie<strong>der</strong>) die Geschichte <strong>und</strong> die Vorstellungen über ihren<br />

angeblich realen Entwicklungsgang. Dabei ging sowohl bei den Geschichtsbild-Traditionalisten als auch bei den -Kritikern<br />

zuweilen <strong>der</strong> Blick für die Tatsache verloren, dass jede historische Vergegenwärtigung funktionalisierbar ist <strong>und</strong> bleiben muss,<br />

weil sie immer die Bedürfnisse <strong>und</strong> Probleme ‚ihrer‘ Gegenwart miteinbezieht.


<strong>Die</strong> Geschichtsbild-Kontroversen Ende <strong>der</strong> 80er Jahre deuteten darauf hin, dass die Nationalgeschichte als F<strong>und</strong>us<br />

schweizerischer Identitätsbildung nicht zusammenschweisste, son<strong>der</strong>n polarisierte: <strong>Die</strong> Nation war in <strong>der</strong> Deutung ihrer Geschichte<br />

gespalten, was sich nicht nur in einer problematischen Kommemorationspraxis <strong>der</strong> Behörden ausdrückte, son<strong>der</strong>n<br />

ebenso stark im Zerfall konsensfähiger Vorstellungen über die Wünschbarkeit <strong>und</strong> die Möglichkeiten künftiger Entwicklung.<br />

Wieviel die vom <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong> abgeleiteten Konzepte <strong>der</strong> bewaffneten Neutralität, <strong>der</strong> aussenpolitischen Neutralitätspraxis<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> damit verb<strong>und</strong>ene machiavellistische Patriotismus bereits von ihrem historischen Plausibilitätsgehalt eingebüsst hatten,<br />

war zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar. Aber die relativ starke Zustimmung zur Armeeabschaffungsinitiative wurde als<br />

Signal für schnelle <strong>und</strong> gr<strong>und</strong>legende Reformen im sicherheitspolitischen Bereich verstanden. Sie verlieh jenen Kräften Auftrieb,<br />

die die schweizerische Sicherheitspolitik aus ihrem starren Korsett <strong>der</strong> bewaffneten Neutralität lösen <strong>und</strong> sie vermehrt auf<br />

Kooperation, Prävention <strong>und</strong> Integration ausrichten wollten. Klar wurde auch, dass sich die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem<br />

„Son<strong>der</strong>fall <strong>Schweiz</strong>“ noch nicht erschöpft hatte <strong>und</strong> womöglich einer Son<strong>der</strong>behandlung bedurfte. Symptomatisch machte ein<br />

sprachliches Unikum auf sich aufmerksam, das auf eine Aufnahme in den ewigen Diktionär <strong>der</strong> Helvetismen hoffen durfte: Es<br />

war dies die inflationäre Verwendung des Wortes Kriegsverschonung. Was bisher noch in kein autoritatives Wörterbuch<br />

eingegangen war, wurde 1989 zu einem geflügelten Helvetismus mit einer breiten Palette von wi<strong>der</strong>sprechenden Erklärungen.<br />

2.5 Verarbeitung <strong>der</strong> Vergangenheit – Bewältigung <strong>der</strong> Zukunft: die Entdeckung Europas <strong>und</strong> die Synchronisierung<br />

des helvetischen Geschichtsbildes 1990 bis 1995<br />

Auch nach <strong>der</strong> aufwühlenden „Diamant“-Debatte behauptete das Thema <strong>Schweiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Zweite</strong>r <strong>Weltkrieg</strong> seinen Charakter<br />

als dauerhafte Identitätsdebatte <strong>und</strong> avancierte 1995 anlässlich <strong>der</strong> weltweiten Gedenkfeierlichkeiten zum 50. Jahrestag des<br />

<strong>Weltkrieg</strong>sendes erneut zu einem Medienereignis von nationaler Bedeutung. Zudem stellte <strong>der</strong> breite Themenkatalog des<br />

<strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>s seine nachhaltige Funktion als kollektives Gedächtnis unter Beweis, die kalendarisch die Masseinheit für<br />

kommemorationswürdige Ereignisse mit r<strong>und</strong>en Jahreszahlen festlegte. Von 1989 bis 1995 erweckte eine grosse Anzahl an<br />

Publikationen <strong>und</strong> Zeitungsartikeln Aufmerksamkeit, die in Berufung auf einen 50. Jahrestag beispielsweise die panische Flucht<br />

weiter Bevölkerungskreise im Schreckensjahr 1940, die obligate Kommemoration des Rütli-Rapports von General Guisan, die<br />

tragischen Stationen <strong>der</strong> schweizerischen Flüchtlingspolitik („Das Boot ist voll“, 1942) o<strong>der</strong> einfach jeweils 50 Jahre später die<br />

verhängnisvollen Einschläge verirrter Bomben auf schweizerischem Territorium journalistisch nachhallen liessen. In diesen<br />

zahlreichen, aber z.T. disparaten Berichten <strong>und</strong> Diskussionen zwischen 1990 <strong>und</strong> 1995 liessen sich dennoch vier Tendenzen<br />

herauslesen, die <strong>der</strong> Entwicklung des Geschichtsbildes <strong>Schweiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Zweite</strong>r <strong>Weltkrieg</strong> in den 90er Jahren ein eigenes Profil<br />

verliehen <strong>und</strong> in <strong>der</strong> kontrovers diskutierten 50-Jahr-Gedenkfeier des Kriegsendes von 1995 einen bemerkenswerten Wandel in<br />

<strong>der</strong> Betrachtung <strong>der</strong> schweizerischen Kriegs- <strong>und</strong> Nachkriegsgeschichte zum Ausdruck brachten:<br />

Erstens erregten zahlreiche publizistische Beiträge in allen Landesregionen Aufmerksamkeit durch eine selbstkritischere<br />

Haltung: Der wachsende Zweifel an überkommenen Deutungs- <strong>und</strong> Darstellungsmustern von umstrittenen Protagonisten <strong>und</strong><br />

‚Werten‘ des <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>s infiltrierte ausnahmslos alle Typen <strong>der</strong> sogenannten Bewährungsdebatten. Obwohl die politisch<br />

missglückte „Diamant“-Debatte von 1989 das Ende einer militärhistorischen Geschichtsbild-Vereinnahmung besiegelte, knüpfte<br />

anfangs <strong>der</strong> 90er Jahre erneut eine wissenschaftliche Studie am Themenkreis Bedrohung <strong>und</strong> Bewährung an <strong>und</strong> entfachte<br />

einen grösseren Disput unter Fachleuten. <strong>Die</strong>ser Beitrag versuchte unter kritischem Einbezug neuer Quellenbestände den<br />

Nachweis zu erbringen, dass die <strong>Schweiz</strong> im prekären Sommer 1940, nachdem die Nie<strong>der</strong>lage Frankreichs offenk<strong>und</strong>ig war,<br />

scheinbar akut durch den Zusammenzug deutscher Elitetruppen im Juli desselben Jahres bedroht wurde, wobei diese ihre<br />

handfesten Eroberungsabsichten aus schwer eruierbaren Gründen wie<strong>der</strong> verworfen hätten. Obwohl dieser umstrittene<br />

Diskussionsbeitrag den in den 80er Jahren breitgewalzten Topos <strong>der</strong> militärischen Bedrohung empirisch zu verfeinern<br />

versuchte, machte er indessen auch deutlich, dass die eigene Selbstbehauptungskraft in jenem kritischen Zeitpunkt des<br />

Sommers 1940 als Verschonungsfaktor nicht gestützt werden konnte: Der schweizerische Geheimdienst wusste we<strong>der</strong> um den<br />

deutschen Aufmarsch jenseits des westschweizerischen Juras, noch wäre die Armee, die bereits vom 6. Juli 1940 an zu einer<br />

Teildemobilisierung schritt, in jenem Zeitpunkt zu einer entsprechenden Abwehr in <strong>der</strong> Lage gewesen. Wenn nicht intendiert, so<br />

doch in seiner Konsequenz, schwächte auch dieser rudimentäre Historikerstreit den Glauben an jene Formel, die die<br />

schweizerische Kriegsverschonung als Resultat einer politisch-militärisch erfolgreichen Bewährungsprobe beschrieb.<br />

<strong>Zweite</strong>ns wurden – regional zwar in unterschiedlichem Ausmass – stärker Nutzen <strong>und</strong> Perspektive <strong>der</strong> auf den <strong>Zweite</strong>n<br />

<strong>Weltkrieg</strong> bezogenen politischen Kommemorationstraditionen in Frage gestellt, die damit vermittelten Werte relativiert <strong>und</strong> in<br />

neuem Licht kritisch betrachtet. So rief <strong>der</strong> bis anhin affirmativ kommemorierte Rütli-Rapport von Guisan vom 25. Juli 1940 als<br />

Symbol standfesten Wi<strong>der</strong>standswillens vor allem in <strong>der</strong> deutschen <strong>Schweiz</strong> Zweifel hervor. Auch liberale Publizisten zweifelten<br />

am politischen Vermächtnis jener patriotischen Wi<strong>der</strong>standsmentalität, die seither jeglichem europapolitischen Öffnungsversuch<br />

mit politischen <strong>und</strong> emotionalen Verlustängsten im Wege stand. Ein drastischeres Bild zeigte sich hingegen im Tessin <strong>und</strong> in <strong>der</strong><br />

Romandie, wo bereits Stimmen ironisch auf die Gefahr hinwiesen, dass die <strong>Schweiz</strong> <strong>der</strong>einst als ein von Europa ausgeglie<strong>der</strong>ter<br />

Park von Zeloten gelten könnte. Ein weiteres Problem stellte sich auch beim eidgenössischen Fest- <strong>und</strong><br />

Kommemorationskalen<strong>der</strong> ein, <strong>der</strong> hauptsächlich in <strong>der</strong> Deutschschweiz zum Gegenstand <strong>der</strong> Entzweiung avancierte, wie dies<br />

die 1991 inszenierte 700-Jahrfeier <strong>der</strong> Eidgenossenschaft klar zum Ausdruck brachte. Man wollte zu neuen Ufern aufbrechen –<br />

<strong>und</strong> hielt doch am Bewährten fest.


Quantitativ wie qualitativ bedeutsam waren drittens die zum wie<strong>der</strong>holten Mal verhandelte bzw. revidierte Einschätzung<br />

bedeutsamer <strong>Weltkrieg</strong>s-Protagonisten entlang <strong>der</strong> Formel von Anpassung <strong>und</strong> Wi<strong>der</strong>stand. Hier ergaben sich ebenfalls<br />

relevante Erneuerungen. <strong>Die</strong> politisch-moralische Distanz zwischen den üblichen Helden wie z.B. General Guisan <strong>und</strong> <strong>der</strong>en<br />

komplementär-negativen Entsprechungen wie Marcel Pilet-Golaz <strong>und</strong> Hans Frölicher, wurde entscheidend verkürzt o<strong>der</strong><br />

zumindest relativiert. Der Entthronung <strong>der</strong> politischen Wi<strong>der</strong>standshelden entsprach eine Entstigmatisierung <strong>der</strong> nationalen<br />

Versager, die mit dem überzeugenden Argument geführt wurde, dass die sogenannten Anpasser Opfer einer nationalen<br />

Sündenbocktheorie wurden, obwohl sich <strong>der</strong>en politische Gesinnung nicht wesentlich von jener <strong>der</strong> Helden unterschied. Als<br />

wohl entscheidende Erneuerung <strong>und</strong> möglicherweise auch Begrenzung dieser notorischen Bewährungsdebatte erwies sich die<br />

zunehmend resonanzfähigere These, dass die „Sündenböcke“ primär eine komplexitätsreduzierende Entlastungsfunktion für<br />

das politisch-moralische Handeln einer ganzen Nation übernehmen mussten. <strong>Die</strong> traditionellen Anti-Helden waren viel tiefer in<br />

die Tragik von wi<strong>der</strong>sprüchlichen Anpassungs- <strong>und</strong> Überlebensstrategien verstrickt, als dies im traditionellen Geschichtsbild<br />

auch zum Ausdruck gebracht worden wäre. <strong>Die</strong> Errungenschaft <strong>der</strong> Kriegsverschonung <strong>und</strong> die einwandfreie patriotische<br />

Gesinnung <strong>der</strong> Anpassungs- <strong>und</strong> Wi<strong>der</strong>standsstrategen reichten nun zur Begründung eines unangefochtenen heroischen Status<br />

nicht mehr aus. <strong>Die</strong> Ende <strong>der</strong> 70er Jahre noch weitgehend gescheiterte Rehabilitierung <strong>der</strong> Sündenböcke gelang in den 90er<br />

Jahren ganz an<strong>der</strong>s, als ursprünglich vorgesehen, nämlich als Entthronung <strong>der</strong> Helden.<br />

<strong>Die</strong>se neuen Einschätzungen <strong>der</strong> damals führenden Persönlichkeiten in Wirtschaft, Politik <strong>und</strong> Militär lösten sich teilweise<br />

vom parteipolitischen Standpunkt bzw. von <strong>der</strong> antithetischen Perspektive in „Alt-“ o<strong>der</strong> „Junghistoriker“ ab. Parallel, aber nicht<br />

inhaltlich verb<strong>und</strong>en mit dieser nüchternen Beurteilung des politischen Personals aus <strong>der</strong> Zeit des <strong>Weltkrieg</strong>s, zeichnete sich<br />

eine Gruppe von neuen moralischen Vorbil<strong>der</strong>n ab, die unisono nicht dem Typus des vorwiegend männlichen, standhaften <strong>und</strong><br />

freiheitlich gesinnten Helden entsprachen, son<strong>der</strong>n ihre Würdigung vor allem dank ihrem zumeist stillen (o<strong>der</strong> gar verkannten)<br />

Engagement im humanitären Bereich verdankten. <strong>Die</strong>ser nachhaltige Umwertungsprozess im Nachdenken über das Verhalten<br />

<strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>er <strong>und</strong> <strong>Schweiz</strong>erinnen im <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>, <strong>der</strong> durch die verstärkten Rehabilitationsbemühungen für den St.<br />

Galler Polizeikommandanten Paul Grüninger o<strong>der</strong> <strong>der</strong> nachträglichen Ehrung <strong>der</strong> „Flüchtlingsmutter“ Gertrud Kurz (1992) einer<br />

breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, rief bis anhin unbekannte, häufig weibliche Persönlichkeiten in Erinnerung, die sich<br />

insbeson<strong>der</strong>e für die Opfer des Nationalsozialismus, in erster Linie jüdische Flüchtlinge, eingesetzt hatten <strong>und</strong> sich dabei mehr<br />

ihrem individuellen Gewissen als <strong>der</strong> staatsbürgerlichen Pflicht bzw. <strong>der</strong> Legalität verpflichtet fühlten.<br />

In engstem Zusammenhang mit dieser moralischen Aufwertung von Bürgern <strong>und</strong> Bürgerinnen, die oftmals nach dem Prinzip<br />

des zivilen Ungehorsams in den nationalen „Zonen des Versagens“ tätig waren, erfolgte viertens auf dem Gebiet <strong>der</strong><br />

Flüchtlingspolitik eine gr<strong>und</strong>legende Revision im helvetischen Geschichtsbild über die <strong>Schweiz</strong> im <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong> <strong>und</strong> damit<br />

eine neue Typisierung von nationalen Antihelden bzw. moralischen Versagern. <strong>Die</strong> Einsicht, dass die schweizerische<br />

Flüchtlingspolitik im letzten <strong>Weltkrieg</strong> nicht prinzipiell antihuman, son<strong>der</strong>n vor allem antisemitisch war, fand im Verlauf <strong>der</strong> 90er<br />

Jahre über fast alle Parteigrenzen hinweg Zustimmung. <strong>Die</strong>ser bemerkenswerte Wandel innerhalb des historischen<br />

Selbstverständnisses vollzog sich im Rahmen einer offenen <strong>und</strong> weitgehend parteiunspezifischen Debatte, die unter dem<br />

Einfluss von neuen historischen Studien, <strong>der</strong> 1994 eingeleiteten systematischen Erschliessung neuer Quellendokumentationen<br />

zur Flüchtlingspolitik des B<strong>und</strong>esarchivs <strong>und</strong> vor allem unter dem Eindruck einer verstärkten internationalen Thematisierung des<br />

Holocaust nach dem Zusammenbruch des Ostblocks stand – um nur einige <strong>der</strong> wichtigen meinungsbildenden Faktoren zu<br />

nennen. Hand in Hand mit dieser Debatte wurde die NS-Vernichtungsstätte Auschwitz als Symbol eines Zivilisationsbruchs in<br />

Erinnerung gerufen <strong>und</strong> gleichzeitig einem neuen Muster <strong>der</strong> kollektiven Erinnerung Vorschub geleistet. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong><br />

wurde in den 90er Jahren die wissenschaftlich gestützte Erkenntnis populär, dass die verantwortlichen Behörden bzw. Politiker<br />

<strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> über die systematische Ermordung <strong>der</strong> jüdischen Bevölkerung im Bild waren. Mit <strong>der</strong> ethischen Fokussierung <strong>der</strong><br />

Frage nach <strong>der</strong> Mitverantwortung gegenüber den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus stellte sich die Frage, ob <strong>der</strong> Weg<br />

nach Auschwitz bei einzelnen Flüchtlingen vielleicht auch schon in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> begonnen habe. Zynisches Symbol jener<br />

präventiv antisemitisch konzipierten Abwehrhaltung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> war <strong>der</strong> von den obersten Behörden des Eidgenössischen Justiz-<br />

<strong>und</strong> Polizeidepartements (EJPD) erf<strong>und</strong>ene „Judenstempel“. <strong>Die</strong>se schlugen bereits 1938 den deutschen Behörden vor,<br />

den Juden ein „J“ als Erkennungsmarke in ihren Pass zu setzen, um diese an den <strong>Schweiz</strong>er Grenzen als „rassisch Verfolgte“<br />

identifizieren <strong>und</strong> abweisen zu können mit dem Ziel, eine befürchtete „Überfremdung“ durch Juden zu verhin<strong>der</strong>n. Mit Blick auf<br />

den bevorstehenden 50. Jahrestag des <strong>Weltkrieg</strong>sendes stiess anfangs 1995 das Postulat von SP-Nationalrat Helmut Hubacher<br />

für eine offizielle Entschuldigung des B<strong>und</strong>esrats für die Einführung des „Judenstempels“ auf relativ breite Zustimmung.<br />

Der Höhepunkt dieser selbstkritischen Vergangenheitsbewältigung bildete die offizielle Entschuldigung des<br />

B<strong>und</strong>espräsidenten Kaspar Villiger am 8. Mai 1995 anlässlich des 50. Jahrestags des <strong>Weltkrieg</strong>sendes. Er drückte in einer<br />

Son<strong>der</strong>session vor <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esversammlung sein Bedauern gegenüber all jenen jüdischen Personen aus, die vor dem<br />

nationalsozialistischen Terror flüchteten <strong>und</strong> an <strong>der</strong> Landesgrenze zur <strong>Schweiz</strong> zurückgewiesen <strong>und</strong> somit in den sicheren Tod<br />

geschickt wurden. Wurden dieser Entschuldigung in <strong>der</strong> Öffentlichkeit gute Noten ausgestellt, machte sich jedoch bereits im<br />

Vorfeld dieses Anlasses grosse Enttäuschung über das Unvermögen <strong>der</strong> Landesregierung breit, das herausragende Datum des<br />

Kriegsendes nicht in einer angemessenen politischen Form zu kommemorieren. <strong>Die</strong> politischen Erwartungen, die in <strong>der</strong><br />

Öffentlichkeit an die bevorstehende Gedenkfeierlichkeiten zu Ehren des <strong>Weltkrieg</strong>sendes gestellt wurden, vermochte <strong>der</strong><br />

B<strong>und</strong>esrat, <strong>der</strong> im Gedenken an diese Katastrophe eine Haltung <strong>der</strong> Dankbarkeit, <strong>der</strong> Bescheidenheit, des Respekts, <strong>der</strong>


Zurückhaltung <strong>und</strong> <strong>der</strong> Nachdenklichkeit postulierte, nicht zu erfüllen. Entgegen einer interparteilichen For<strong>der</strong>ung nach einer<br />

offiziellen Gedenkfeierlichkeit entledigte sich <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esrat dieser Aufgabe fragmentarisch in Form jener Son<strong>der</strong>session <strong>und</strong> mit<br />

einer anschliessenden besinnlichen Teilnahme an dem von einer christlich-jüdischen Arbeitsgruppe organisierten<br />

Gedenkgottesdienst im Berner Münster. Zum Erstaunen vieler Historiker gelang es <strong>der</strong> Landesregierung, die minimalistische<br />

Feier ihrer Amtsvorgänger anlässlich des Kriegsendes im Frühjahr 1945 noch zu überbieten. Immerhin konnte B<strong>und</strong>espräsident<br />

Kaspar Villiger jenes Anliegen in eigener Regie nachholen, das er 1989 anlässlich <strong>der</strong> „Diamant“-Gedenkfeierlichkeit vergeblich<br />

postuliert hatte: den Dank jenen auszusprechen, die Europa – <strong>und</strong> somit auch die <strong>Schweiz</strong> – 1945 unter Einsatz grösster<br />

eigener Opfer von <strong>der</strong> nationalsozialistischen Kriegsmaschinerie befreit hatten. So unspektakulär Villigers Danksagung war,<br />

animierte <strong>und</strong> reflektierte sie dennoch zwei neue Perspektiven <strong>der</strong> öffentlichen Debatte: erstens, dass sich die <strong>Schweiz</strong> nicht<br />

mehr länger als ungeprüfte moralische Siegerin ohne Kampf, son<strong>der</strong>n als stille „Verschonte“ aus dem <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong><br />

betrachten sollte <strong>und</strong> zweitens, dass Friede <strong>und</strong> Sicherheit, <strong>und</strong> vor allem <strong>der</strong>en Erhaltung, durchaus als Resultat kollektiver<br />

Verantwortung <strong>und</strong> Kooperation vorstellbar seien. Damit wurde jedoch bereits <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand rechtsnationaler Kreise <strong>der</strong><br />

Deutschschweiz geweckt, die eine zentrale Domäne des nationalen Selbstverständnisses – Sicherheit <strong>und</strong> Selbstbehauptung –<br />

zu stark mit <strong>der</strong> Entwicklung <strong>und</strong> dem Bündnisgedanken (West-)Europas verb<strong>und</strong>en sahen.<br />

<strong>Die</strong> unübersehbare Diskrepanz, mit <strong>der</strong> <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esrat den Kriegsausbruch in Form <strong>der</strong> „Diamant“-Feierlichkeiten von 1989<br />

<strong>und</strong> sechs Jahre später, 1995, das <strong>Weltkrieg</strong>sende kommemorierte, führte bei linken <strong>und</strong> zahlreichen bürgerlich-liberalen<br />

Tageszeitungen zu unverhohlenen Unmutsäusserungen – <strong>und</strong> erstmals auch zur Überlegung, ob die gegenüber den ehemals<br />

kriegführenden Staaten unterschiedliche Verarbeitung <strong>der</strong> <strong>Weltkrieg</strong>serfahrung mit <strong>der</strong> unterschiedlichen Kommemorationspraxis<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en politischen Stellung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> in Europa zusammenhing. Der 8. Mai 1995 offenbarte<br />

erneut das helvetische Malaise <strong>der</strong> adäquaten Kommemoration historischer Daten <strong>und</strong> bescherte überdies eine ebenso<br />

schwierige Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> zukünftigen Stellung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> im Bündnissystem <strong>der</strong> ehemaligen<br />

Westalliierten. Der Standpunkt <strong>der</strong> Traditionalisten, politische Zukunftsfähigkeit über die Rückversicherung vergangener<br />

Selbstbehauptungsstrategien zu gewinnen, stand indessen im Jahr 1995 bereits im Gegensatz zur Haltung des B<strong>und</strong>esrats.<br />

<strong>Die</strong> unterschiedlichen Stossrichtungen <strong>der</strong> Gedenkfeierlichkeiten von 1989 <strong>und</strong> 1995 brachten jene frappante Differenz zum<br />

Ausdruck, die mit <strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> aussenpolitischen Rahmenbedingungen innerhalb diesem Zeitraum korrespondierte: Was<br />

mit einer wenig erfolgreichen Vergangenheitsglorifizierung innenpolitisch begann, endete mit einer Verunsicherung über die<br />

einzuschlagende Marschrichtung in <strong>der</strong> Aussenpolitik. Der Versuch von Behörden, Parteien <strong>und</strong> massenmedialer Öffentlichkeit,<br />

das Geschichtsbild <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> mit dem europäischen Geschichtsprozess zu synchronisieren, reflektierte nicht nur eine bedeutende<br />

Verän<strong>der</strong>ung im nationalen Geschichtsbewusstsein <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, son<strong>der</strong>n ebenso sehr die Angst, den aussen- <strong>und</strong><br />

sicherheitspolitischen Anschluss im sich politisch <strong>und</strong> wirtschaftlich neu formierenden Europa zu verpassen. In kurzer Zeit fielen<br />

mit dem irreversiblen Zerfall des kommunistischen Machtbereichs im Ostblock, dem 1992 entstandenen europäischen<br />

Binnenmarkt <strong>und</strong> <strong>der</strong> Konsolidierung einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur gleich mehrere jener stillschweigenden<br />

Gr<strong>und</strong>annahmen von <strong>der</strong> Bedrohung <strong>und</strong> Unberechenbarkeit des internationalen Mächtesystems weg, welche dem alten<br />

Geschichtsbild seine Plausibilität verliehen hatten. Unabhängig von den historisch ausgerichteten Identitätsdebatten versuchten<br />

die wirtschaftlichen <strong>und</strong> politischen Eliten <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> im Zeitraum von 1989 bis 1995 am Rad <strong>der</strong> Geschichte zu drehen <strong>und</strong><br />

mit zukunftsweisenden Leitbil<strong>der</strong>n für die Integrations-, Aussen- <strong>und</strong> Sicherheitspolitik (Bericht 90, EWR-Vertrag 1992,<br />

Armeeleitbild 95, Bericht zur Aussenpolitik 1993 etc.) den neuen internationalen Herausfor<strong>der</strong>ungen gerecht zu werden.<br />

Offensichtlich spielte sich dadurch im Verlauf <strong>der</strong> 1990er Jahre ein arbeitsteiliges, komplementäres Zusammenwirken all jener<br />

Kräfte ein, die an einer Korrektur des helvetischen Geschichtsbildes interessiert sein mussten <strong>und</strong> die die alten Erfahrungen<br />

<strong>der</strong>gestalt zu reformulieren versuchten, dass sich dadurch eine hinreichende Legitimation für neue Erwartungshorizonte<br />

bewerkstelligen liess. Damit wurde klar, dass die Abkehr von alten Traditionen <strong>und</strong> Orientierungen nicht zwangsläufig in<br />

historischer Kritik begründet sein musste. Bestehende Deutungstraditionen in Bezug auf die Aufgaben <strong>und</strong> Stellung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong><br />

in <strong>der</strong> Welt wurden vermehrt aus einer sich neu begründenden (bzw. neu begründeten) Werteorientierung in Frage gestellt.<br />

Insbeson<strong>der</strong>e die zukunftsgerichteten ‚Experten <strong>der</strong> Erwartungsbildung‘ in Wirtschaft <strong>und</strong> Politik <strong>und</strong> die professionellen<br />

Geschichtsbild-Kritiker mit ihrem historischen Falsifikationsdrang zogen im Verlauf <strong>der</strong> 90er Jahre unabhängig voneinan<strong>der</strong> am<br />

gleichen Strick, erzeugten wichtige Synergien, wenn sie ihre Zweifel an <strong>der</strong> Legitimität <strong>und</strong> Zukunftsfähigkeit des<br />

schweizerischen Son<strong>der</strong>falls artikulierten. So entwickelte sich z.B. auch die Armee zu einem zentralen Element <strong>der</strong><br />

Geschichtsbild-Mo<strong>der</strong>nisierung. Ausgerechnet <strong>der</strong> Überlebenswille <strong>der</strong> Institution Armee erfor<strong>der</strong>te die Preisgabe des von ihr<br />

jahrzehntelang im Konzept <strong>der</strong> bewaffneten Neutralität verteidigten machiavellistischen Patriotismus <strong>und</strong> richtete sich trotz<br />

zähem innenpolitischen Wi<strong>der</strong>stand (z.B. Nie<strong>der</strong>lage in <strong>der</strong> „Blauhelm“-Vorlage 1994) auf einen europakompatiblen<br />

Wertepatriotismus aus.<br />

Seit 1989 zeichneten sich im öffentlichen Diskurs über die Rolle <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> im <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong> – <strong>und</strong> über die jüngste<br />

Nationalgeschichte insgesamt – scheinbar diametral entgegengesetzte Entwicklungen ab: Einerseits stellte sich im Blick auf die<br />

eigene Geschichte eine neue, f<strong>und</strong>amental entgegengesetzte Perzeption ein, an<strong>der</strong>erseits war die ‚klassische‘ Geschichtsbild-<br />

Kontroverse von einem Abbau <strong>der</strong> scheinbar unüberwindbaren Meinungsdifferenzen zwischen Geschichtsbild-Traditionalisten<br />

<strong>und</strong> -Kritikern begleitet, insbeson<strong>der</strong>e was die antisemitische Ausrichtung <strong>der</strong> schweizerischen Flüchtlingspolitik betraf. Parallel<br />

dazu wurde <strong>der</strong> Bezugsrahmen des helvetischen Geschichtsbildes weiter gesteckt. Der Alleingang <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> nach 1945


wurde verstärkt in Bezug zur Bündnisgesinnung jener westeuropäischen Nationen gesetzt, die sich seit dem <strong>Weltkrieg</strong>sende als<br />

Garanten einer demokratischen <strong>und</strong> friedensför<strong>der</strong>nden Entwicklung identifizieren liessen. <strong>Die</strong>ses ‚europhorisierte‘<br />

Gegenwartsverständnis zog die <strong>Schweiz</strong> in den Sog einer innenpolitischen Polarisierung, <strong>der</strong> verdeutlichte, wie stark die<br />

traditionelle Aussenpolitik Teil eines emotionalen Identifikationsmusters geworden war, das im <strong>Die</strong>nste nationalintegrativer<br />

Zielsetzungen stand. <strong>Die</strong> politischen Kräfte, die für eine Öffnung <strong>und</strong> Erneuerung auf aussen- o<strong>der</strong> sicherheitspolitischem Gebiet<br />

plädierten, wurden nun zu Feindbil<strong>der</strong>n jener rechtsnationalen Gruppe auserkoren, die als Gralshüter <strong>der</strong> historisch verbürgten<br />

Werte <strong>der</strong> integralen Neutralität <strong>und</strong> aussenpolitischen Unabhängigkeit auftraten. <strong>Die</strong>se bemächtigten sich Zug um Zug<br />

erfolgreich des ehemals mehrheitsfähigen Geschichtsbilds über die <strong>Schweiz</strong> <strong>und</strong> ihrer heroischen Rolle im <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong><br />

<strong>und</strong> kassierten damit die starke Beharrungskraft des schweizerischen Patriotismus. In den Geschichtsbild-Kontroversen sowie in<br />

<strong>der</strong> umstrittenen Öffnungspolitik zeichnete sich immer stärker ein unvermeidlicher Zielkonflikt von aussenpolitischer Partizipation<br />

<strong>und</strong> innenpolitischer Integration ab, <strong>der</strong> seine Wurzeln in <strong>der</strong> Verarbeitung <strong>der</strong> Erfahrungen des <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>s hatte.<br />

2.6 Ausblick 1996: die politisch-moralischen Hypotheken im Schatten des <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>s<br />

Wenn die Entwicklung des schweizerischen B<strong>und</strong>esstaats in den 1990er Jahren von <strong>der</strong> künftigen Geschichtsschreibung als<br />

das schwierige Jahrzehnt beschrieben werden sollte, so mag dies unter an<strong>der</strong>em <strong>der</strong> äusserst rufschädigenden <strong>und</strong> innenpolitisch<br />

polarisierenden Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> eigenen Geschichte zuzuschreiben sein. Der neue Höhepunkt in <strong>der</strong><br />

helvetischen Dauerkontroverse über die Schatten des <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>s bildete die Klage US-amerikanischer Regierungsvertreter<br />

bzw. jüdischer Organisationen, dass sich die <strong>Schweiz</strong> Holocaust-Gel<strong>der</strong> wi<strong>der</strong>rechtlich angeeignet, blockiert o<strong>der</strong><br />

nazideutsches Raubgold als Zahlungsmittel akzeptiert habe. Was 1995 mit einer von <strong>der</strong> Presse nicht son<strong>der</strong>lich beachteten<br />

Kritik begann, fegte 1996 wie ein Sturm durch den helvetischen Blätterwald <strong>und</strong> brachte die Vergangenheitsbewältigung wie<strong>der</strong><br />

in die Schlagzeilen zurück, wo sie sich als skandalisierungsfähiges Thema mehr als zwei Jahre zu etablieren vermochte. Damit<br />

wurde die politisch-moralische Talsohle in <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> helvetischen Vergangenheitsbewältigung erreicht.<br />

Als nachrichtenlose Vermögen wurden Gel<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Wertgegenstände bezeichnet, <strong>der</strong>en Besitzer sich seit mindestens zehn<br />

Jahren nicht mehr gemeldet hatten. Kam nun <strong>der</strong> schweizerische Finanzplatz nach den wirtschaftlichen Sanktionsdrohungen<br />

höchster amerikanischer Regierungskreise unter starken Legitimationszwang, bemühte sich <strong>der</strong> öffentliche Diskurs um die<br />

Rekonstruktion eines unterschätzten Problems mit einer langen Vorgeschichte. Man erinnerte sich, dass die Alliierten bereits<br />

gegen Kriegsende die <strong>Schweiz</strong> als Auffangbecken von nazideutschen Fluchtgel<strong>der</strong>n <strong>und</strong> Raubgütern beargwöhnt <strong>und</strong> in den<br />

Washingtoner Verhandlungen von 1946 vergeblich die Aushändigung vermisster o<strong>der</strong> erblos gewordener Vermögen von<br />

Naziopfern gefor<strong>der</strong>t hatten. Trotz eigener Abklärungen („Meldebeschluss“ von 1962) <strong>und</strong> etlicher politischer Einzelinitiativen in<br />

den 80er <strong>und</strong> anfangs <strong>der</strong> 90er Jahre blieben jüdische Vermögenswerte in <strong>Schweiz</strong>er Banken o<strong>der</strong> treuhän<strong>der</strong>ischen<br />

Institutionen liegen bzw. blockiert. Nachdem sich die Bankenkommission des US-Senats auf Druck des Jüdischen<br />

Weltkongresses dieser Thematik angenommen hatte, entwickelte sich daraus immer mehr eine Gr<strong>und</strong>satzdebatte um die Rolle<br />

des Finanzplatzes <strong>Schweiz</strong> während <strong>und</strong> nach dem <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>. <strong>Die</strong> Hearings des amerikanischen Senatsausschusses<br />

mit Hinterbliebenen von Naziopfern im April 1996 signalisierten eine Eskalations- <strong>und</strong> Konfliktbereitschaft <strong>der</strong> Kläger, die in <strong>der</strong><br />

<strong>Schweiz</strong> zur teuersten Geldsuchaktion ihrer Geschichte führen sollte. Unabhängig von <strong>der</strong> Zahlungsbereitschaft <strong>der</strong> Finanzinstitute<br />

für vergangene Unterlassungssünden berief die B<strong>und</strong>esversammlung die Unabhängige Expertenkommission<br />

(Bergier-Kommission) ein zur Abklärung <strong>der</strong> Rolle <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> im <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>. Mit diesem magistralen Paukenschlag<br />

meldete sich die <strong>Schweiz</strong>er Geschichte nach dem Bonjour-Bericht zum zweiten Mal als nationaler Problemfall zurück. Der<br />

Eindruck eines notwendigen Einbezugs von Experten drängte sich umso mehr auf, als sich B<strong>und</strong>esrat, Behörden <strong>und</strong> Bankenvertreter<br />

mit verschiedenen Kommunikationspannen exponierten – ein Versagen, das auf ein defizitäres Geschichtsbewusstsein<br />

zurückzuführen war. Damit wurde indirekt jene Geschichtsbild-Kritik rehabilitiert, die <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>er Geschichte diverse Altlasten<br />

aus <strong>der</strong> Zeit des <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>s unterstellte, die sich moralisch, aussenpolitisch <strong>und</strong> nicht zuletzt finanziell als Stolpersteine<br />

herausstellten.<br />

Damit erhielten 1996 die politisch-moralischen Rechtfertigungsbemühungen für das historisch f<strong>und</strong>ierte Son<strong>der</strong>fall-Denken<br />

erstmals einen finanziellen Indikator, <strong>der</strong> seit 1989 die immens gestiegenen Plausibilisierungsbemühungen <strong>der</strong> Geschichtsbild-<br />

Traditionalisten verdeutlichte: Investierten die „Diamant“-Verantwortlichen 1989 für ihre traditionelle Art <strong>der</strong> Erinnerungspolitik<br />

noch ca. 6 Mio. Franken mit mässigem politischem Erfolg, summierten sich bis Ende 1996 die Kosten für das gewachsene innen-<br />

<strong>und</strong> aussenpolitische Konfliktmanagement (Imageschädigung, Milliardenfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> amerikanischen Kläger u.a.) im<br />

<strong>Die</strong>nste jenes Disputs über die Rolle <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> im <strong>und</strong> seit dem <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong> ins Unabsehbare. <strong>Die</strong> Einberufung <strong>der</strong><br />

Bergier-Kommission wurde bereits Ende 1996 (aber verstärkt in den darauffolgenden Jahren) als Warnzeichen betrachtet für ein<br />

Son<strong>der</strong>fall-Denken, dessen Opportunitätskosten jeglicher Kontrolle zu entgleiten schienen. Der Verweis auf diese unheilvolle<br />

Verbindung von defizitärem Geschichtsbewusstsein, moralischen Hypotheken <strong>und</strong> finanziell aufwendigen Wie<strong>der</strong>gutmachungen<br />

war Ende 1996 zumindest überzeugend genug, um einen breiten Konsens für eine Generaluntersuchung herzustellen. Erstmals<br />

– auch dies bildete ein Novum in <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> helvetischen Identitätsdebatten <strong>der</strong> 90er Jahre – wurde ersichtlich, dass<br />

mangelnde Sensibilität <strong>und</strong> Aufmerksamkeit gegenüber <strong>der</strong> Geschichte des <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>s in konkreten finanziellen<br />

Kategorien ausgedrückt werden konnte. Weniger neu war indessen <strong>der</strong> Sachverhalt des Skandals, lagen doch sowohl im<br />

Bereich des Raubgoldes als auch in <strong>der</strong> Abklärung von nachrichtenlosen Vermögen bereits einschlägige Studien bzw. politische


Nachforschungen vor. <strong>Die</strong>se mangelnde Aufnahmebereitschaft kritischer Impulse entpuppte sich im nachhinein als<br />

jahrzehntelang währen<strong>der</strong> Verdrängungsakt, <strong>der</strong> das gehegte, im <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong> wurzelnde Geschichtsbild des helvetischen<br />

‚Musterknaben‘ vor seinen eigenen politischer Schattenseiten schützte. <strong>Die</strong> Massenmedien rückten zum wie<strong>der</strong>holten Male die<br />

willentliche <strong>und</strong> unwillentliche Verflechtung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> mit dem ‚Bösen‘ ins Rampenlicht <strong>der</strong> Öffentlichkeit.<br />

Mit dem zu beobachtenden Zerfall des traditionellen, staatstragenden Geschichtsbildes wurde die endliche<br />

Erfolgsgeschichte des Son<strong>der</strong>falls <strong>Schweiz</strong> gleichsam von hinten aufgerollt, aber unter dem Gesichtswinkel eines nationalpatriotischen<br />

Verdrängungsprozesses. <strong>Die</strong>se Generalrevision stellte in den spezifischen Bereichen des Raubgoldes, <strong>der</strong><br />

„nachrichtenlosen Vermögen“ <strong>und</strong> <strong>der</strong> Flüchtlingspolitik nicht bloss eine Evaluation <strong>der</strong> verschiedenen Perspektiven <strong>der</strong> Rolle<br />

<strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> während <strong>und</strong> nach dem <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong> in Aussicht, son<strong>der</strong>n auch eine aufmerksamere Berücksichtigung <strong>der</strong><br />

Geschichtsbild-Kontrahenten. So gewannen jene Akteure markant an Ansehen, die sich in <strong>der</strong> Vergangenheit kritisch mit <strong>der</strong><br />

unzulänglichen Erfahrungsverarbeitung des <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>s auseinan<strong>der</strong>gesetzt hatten <strong>und</strong> darin die Ursache eines<br />

mythologisch überhöhten <strong>und</strong> historisch überholten Geschichtsbildes erblickten. <strong>Die</strong>sen Geschichtsbild-Dissidenten, die 1989<br />

möglicherweise noch im Geruche manipulativer Geschichtsschreibung standen, wurde ihre vormals zweifelhafte Reputation als<br />

‚Bil<strong>der</strong>stürmer‘ positiv angerechnet; sie galten nun als verkannte Propheten im eigenen Land. <strong>Die</strong> erfolgreiche Verbreitung ihrer<br />

Defizitthese manifestierte sich Ende 1996 nicht nur in <strong>der</strong> Wahl einiger prominenter Geschichtsbild-Kritiker in die von <strong>der</strong><br />

B<strong>und</strong>esversammlung gewählte Experten-Kommission, son<strong>der</strong>n auch in <strong>der</strong> Tatsache, dass sich ihr Postulat nach einer<br />

Rückkehr zu einem euroopakompatiblen Geschichts- <strong>und</strong> Identitätsverständnis bereits in <strong>der</strong> Sicherheits- <strong>und</strong> <strong>der</strong> Aussenpolitik<br />

<strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> nie<strong>der</strong>geschlagen hatte. Der neuerlichen Anlauf zu einer schweizerischen Vergangenheitsbewältigung war<br />

gekennzeichnet durch eine Tendenz zur Verrechtlichung <strong>und</strong> Monetarisierung <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung um die Vermögen <strong>der</strong><br />

Holocaustopfer <strong>und</strong> erhielt dadurch den Beigeschmack eines Ablasshandels. <strong>Die</strong>ser Umstand desillusionierte von Anfang an<br />

jegliche Hoffnung, dass die Genese eines neuen Geschichtsbilds über die jüngste Vergangenheit <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> ausschliesslich<br />

durch das Bedürfnis nach <strong>der</strong> ‚historischen Wahrheit‘ angestossen wurde.<br />

3 SCHLUSSBETRACHTUNGEN: DAS GESCHICHTSBILD ALS AUSSENPOLITISCHER STOLPERSTEIN<br />

Als Ursachen <strong>der</strong> Geschichtsdebatten im bearbeiteten Untersuchungszeitraum sind, abstrakt gesprochen, stets<br />

Erwartungswi<strong>der</strong>legungen auszumachen. Es handelt sich um die elementare Erfahrung, dass die Geschichte nicht den Verlauf<br />

nimmt, den ihr die Betroffenen unterstellt haben. <strong>Die</strong> erste grosse Erwartungswi<strong>der</strong>legung, die das Geschichtsbild über die<br />

<strong>Schweiz</strong> während des <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>es eigentlich begründet hat, war die ebenso unerwartete wie erschütternde Nie<strong>der</strong>lage<br />

Frankreichs im Sommer 1940. <strong>Die</strong> Aufgabe <strong>der</strong> Verarbeitung dieses Schocks stellte die <strong>Schweiz</strong> vor ihre grösste<br />

Bewährungsprobe. Nachfolgende Wendepunkte im Kriegsverlauf, wie etwa die Nie<strong>der</strong>lage <strong>der</strong> Wehrmacht in Stalingrad, die<br />

Landung <strong>der</strong> Alliierten in <strong>der</strong> Normandie <strong>und</strong> schliesslich das Kriegsende von 1945 führten zu gr<strong>und</strong>legenden<br />

Neueinschätzungen <strong>und</strong> begründeten neue Erwartungen, führten aber selten zu jenen breiten öffentlichen Geschichtsdebatten,<br />

wie sie nach dem Zusammenbruch des Ostblocks Ende <strong>der</strong> 80er Jahren auftraten. Vielmehr wurde das Bild einer <strong>Schweiz</strong><br />

gepflegt, die unerschütterlich in <strong>der</strong> Brandungszone <strong>der</strong> Weltgeschichte ihre – neutrale – Stellung hielt. Der äusseren Dramatik<br />

<strong>und</strong> Wechselhaftigkeit <strong>der</strong> Weltgeschichte entsprach die Unerschütterlichkeit des helvetischen Geschichtsbild, das sich gegen<br />

sämtliche Launen <strong>der</strong> Weltgeschichte immunisiert zu haben schien.<br />

<strong>Die</strong> inhaltlichen Differenzen in den Geschichtsdebatten lassen sich sehr oft auf moralische Gr<strong>und</strong>konflikte zurückführen,<br />

wobei folgende Abfolge von wichtigen Perspektiven <strong>der</strong> Beurteilung historischer Abläufe unterschieden werden können: In den<br />

„langen 50er Jahren“ war die Frage nach <strong>der</strong> Einstellung zur eigenen Nation zentraler Massstab <strong>der</strong> moralischen Bewertung. In<br />

den 60er Jahren gewann das Vergegenwärtigen von moralischen Problemen <strong>der</strong> Kriegsjahre wie<strong>der</strong> an Bedeutung: Wer stand<br />

zu den Alliierten, wer passte sich den Achsenmächten an o<strong>der</strong> sympathisierte gar mit ihnen? Dahinter verbarg sich die Frage<br />

nach <strong>der</strong> Zugehörigkeit <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> zur westlichen Welt <strong>und</strong> den Werten <strong>der</strong> politischen Bündnisse, die sie hervorgebracht<br />

hatte, <strong>und</strong> denen die <strong>Schweiz</strong> fern geblieben war. Wie wurde mit den Flüchtlingen umgegangen, insbeson<strong>der</strong>e mit den<br />

verfolgten Juden, die aus dem Machtbereich des 3. Reichs in die <strong>Schweiz</strong> zu entkommen suchten? In den 70er Jahren<br />

erschöpfte sich das moralische Interesse an <strong>der</strong> Frage nach Anpassern <strong>und</strong> Wi<strong>der</strong>standshelden allmählich ebenso wie <strong>der</strong><br />

Streit, wer ein guter Patriot gewesen sei; dafür gerieten zunehmend die Schattenseiten <strong>der</strong> Anpassungspolitik ins Licht <strong>der</strong><br />

Öffentlichkeit. Dennoch blieben nach fast 20jähriger Geschichtsdebatte die inhaltlichen Revisionen am helvetischen<br />

Geschichtsbild bescheiden. In den 80er Jahren machte sich ein neues Interesse an <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> <strong>und</strong> ihrer mutmasslichen<br />

politischen Haltung während <strong>der</strong> Kriegszeit bemerkbar. Vor dem Hintergr<strong>und</strong> eines universalistischen, demokratischen, antixenophoben<br />

Interesses wurden erneut Revisionen des Geschichtsbildes über die <strong>Schweiz</strong> während des <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>es<br />

gefor<strong>der</strong>t, währenddem die klassenkämpferische Variante des helvetischen Geschichtsbildes als Episode verschwand.<br />

Hingegen zeichneten sich bereits verschiedene Argumentationsfiguren <strong>der</strong> Debatte <strong>der</strong> 90er Jahre ab <strong>und</strong> brachten einen<br />

prof<strong>und</strong>en <strong>und</strong> irreversiblen Geltungsverlust des traditionellen Geschichtsbildes zum Ausdruck.<br />

Das gewandelte Geschichtsbild brachte neue moralische Beurteilungskriterien <strong>und</strong> eine gewandelte politische Identität zum<br />

Ausdruck. <strong>Die</strong>se nicht aufzuhaltende Umdeutung eines normativen Erfahrungsschatzes kam u.a. mit <strong>der</strong> häufiger explizit<br />

verwendeten Kategorie des Geschichtsbildes zum Ausdruck. In den 90er Jahren wurde die Einheit <strong>der</strong> Nationalgeschichte in


einem neuen Zusammenhang hergestellt. Referenzpunkt bildete nicht mehr das „Ereignis“ einer rätselhaften Kriegsverschonung,<br />

<strong>der</strong>en Erklärung als Projektions- <strong>und</strong> Lernfeld nationaler Identitätsbildung jahrzehntelang eine herausragende Rolle<br />

gespielt <strong>und</strong> dabei immer wie<strong>der</strong> die Plausibilität <strong>der</strong> Konzeption <strong>der</strong> bewaffneten Neutralität unterstrichen hatte. Vielmehr wurde<br />

nun die schweizerische Geschichte seit 1939 einer Perspektive untergeordnet, in <strong>der</strong> die nationale Entwicklung von 1939 bis<br />

1989 als beson<strong>der</strong>e – möglicherweise als beson<strong>der</strong>s erfolgreiche – Variante <strong>der</strong> Bewältigung des totalitären Zeitalters betrachtet<br />

werden konnte, die sich mit <strong>der</strong> neuen Ordnung <strong>der</strong> europäischen Gemeinschaft erschöpft hatte.<br />

<strong>Die</strong>ser neuen Sichtweise verhalfen nicht nur die bahnbrechenden Umwälzungen Ende <strong>der</strong> 80er Jahre zum Durchbruch.<br />

<strong>Die</strong>se geopolitischen Verän<strong>der</strong>ungen mussten vielmehr erst einmal in ihrem f<strong>und</strong>amentalen Charakter erkannt <strong>und</strong> durch eine<br />

neue Symbolik (z.B. durch eine verän<strong>der</strong>te Kommemorationspraxis) auch öffentlich anerkannt werden. An dieser Aufgabe<br />

drohte die <strong>Schweiz</strong> angesichts einer rasanten politischen Entzweiung in den 90er Jahren zu scheitern, <strong>der</strong>en Ursache fraglos in<br />

einem dem Geschichtsbild immanenten Zielkonflikt lag. <strong>Die</strong>ser Zielkonflikt wurzelte im politischen Erbe des <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>s:<br />

Der in diesem Erfahrungszusammenhang erfolgte nationale Schulterschluss wirkte solange integrierend, als sich die <strong>Schweiz</strong><br />

aussenpolitisch nicht über die eng gesteckte Grenze ihrer integralen Neutralität hinausbegab. Ihre Versuche, an Systemen<br />

kollektiver Sicherheit o<strong>der</strong> wirtschaftlicher Kooperation zu partizipieren, scheiterten am Wi<strong>der</strong>stand jener, die sich am stärksten<br />

mit dem „machiavellistischen Patriotismus“ <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> identifizierten. Solange sich die im isolationistischen Geschichtsbild<br />

enthaltenen Bedrohungserwartungen zu bestätigten vermochten, weil die westliche Welt auch nach dem Ende des <strong>Zweite</strong>n<br />

<strong>Weltkrieg</strong>es an <strong>der</strong> Durchsetzung eines nachhaltigen politischen Systems internationaler Sicherheit immer wie<strong>der</strong> zu scheitern<br />

schien, konnten alle wesentlichen Geschichtsbild-Revisionen abgewehrt werden. Zudem gewährte je<strong>der</strong> Rückschlag im Prozess<br />

<strong>der</strong> europäischen Einigung den Öffnungskritikern neue Atempausen.<br />

Der erratische öffnungsfeindliche Block befand sich zweifellos dort, wo das Geschichtsbild „<strong>Schweiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Zweite</strong>r <strong>Weltkrieg</strong>“<br />

seine stärkste politische Verankerung hatte, in den bürgerlich-konservativ ausgerichteten Kreisen <strong>der</strong> Deutschschweiz. <strong>Die</strong>ser<br />

Zusammenhang zeigte sich im Verlauf <strong>der</strong> 90er Jahre immer stärker, da die Fronten in den Geschichtsbild- <strong>und</strong> aussenpolitischen<br />

Zukunftsdebatten zu grossen Teilen deckungsgleich geworden waren: Wer für eine kritische Vergangenheitsaufarbeitung<br />

plädierte, befürwortete in <strong>der</strong> Regel eine Annäherung an die EU <strong>und</strong> neue Formen kooperativer Sicherheitspolitik –<br />

<strong>und</strong> umgekehrt. Und war diese Korrelation 1991 noch weniger signifikant, so „half“ eine unerwartete innenpolitische Polarisierung,<br />

diese zweifache Gegenüberstellung als eine die Zukunft <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> bestimmende Leitdifferenz zu erkennen. <strong>Die</strong> Schärfe<br />

<strong>und</strong> Problematik des innen- <strong>und</strong> aussenpolitischen Zielkonflikts offenbarte sich am stärksten im bürgerlich liberalen bzw.<br />

konservativen Lager, das sich entlang dieser Leitdifferenz neu gruppierte <strong>und</strong> reorientierte. Ein Resultat dieser innerbürgerlichen<br />

Flurbereinigung bildete die Hegemonialisierung des Geschichtsbilds „<strong>Schweiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Zweite</strong>r <strong>Weltkrieg</strong>“ durch die nationale Rechte<br />

<strong>der</strong> Deutschschweiz <strong>und</strong> <strong>der</strong>en vehemente Identifikation mit dem aussenpolitischen Tugendkatalog des Son<strong>der</strong>falls.<br />

Demgegenüber besannen sich liberale Kreise auf die alte helvetische Tugend <strong>der</strong> Nüchternheit <strong>und</strong> unterzogen sich einem<br />

Reorientierungsprozess, um die Welt so zu sehen, wie sie nach 1989 geworden war. Eine unvergleichlich einfachere Rolle in<br />

diesem Reigen nationaler Standortbestimmung fiel <strong>der</strong> gouvernementalen Linken zu, die sich dem zur Last gewordenen<br />

nationalpatriotischen Identifikationsmuster gerne entledigte, um ihre Zukunftsvorstellungen auf den fortschrittverheissenden<br />

Geschichtsträger Europa zu projizieren.<br />

Einen eigenen Weg in <strong>der</strong> Verarbeitung des Son<strong>der</strong>falls beschritten die französisch- bzw. italienischsprachige Region, die<br />

schon immer das Geschichtsbild über die Rolle <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> im <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong> auf ihre sprachregionale Min<strong>der</strong>heitsposition<br />

hatte ‚herunterbrechen‘ müssen. Obwohl beide Landesteile an <strong>der</strong> Ausformulierung des deutschschweizerisch dominierten<br />

Geschichtsbildes partizipierten, bestand eine bedeutend geringere Bindung an die historischen Symbole des Réduits, dafür eine<br />

grössere Bereitschaft zu aussenpolitischer Öffnung. Allen voran das Tessin in den 60er bis 80er Jahren, etwas langsamer die<br />

Romandie, absolvierten diese beiden B<strong>und</strong>esgenossen <strong>der</strong> „Willensnation“ ab 1989 den Kurswechsel hin zu Europa <strong>und</strong><br />

brachten in einer für die Deutschschweizer unerträglich scheinenden Leichtigkeit zustande, was nördlich <strong>der</strong> Alpen zur Unmöglichkeit<br />

stilisiert wurde: die Verabschiedung eines helvetozentrischen („elvetocentrismo“) Selbstverständnisses, ohne dass sich<br />

die Nation in ihren wesentlichen politischen <strong>und</strong> kulturellen Werten hätte untreu werden müssen. <strong>Die</strong>ser scheinbar wi<strong>der</strong>sprüchliche<br />

Prozess von neuen Erwartungshorizonten ohne gr<strong>und</strong>legende Revision von Erfahrungswerten beruhte auf ihrem<br />

spezifischen Selbstverständnis als Min<strong>der</strong>heiten, die ihre politische <strong>und</strong> kulturelle Identität seit je in Auseinan<strong>der</strong>setzung mit<br />

zwei verschiedenen dominanten Systemen abstimmen mussten. <strong>Die</strong>se historisch begründete, kulturelle <strong>und</strong> politische<br />

Integrationsfähigkeit disponierte das Tessin <strong>und</strong> die Romandie zu einer Art von „Bündnisfähigkeit“, die eine Verabschiedung <strong>der</strong><br />

Son<strong>der</strong>fall-Identität zugunsten einer Öffnungspolitik wesentlich begünstigte. <strong>Die</strong> Abstimmung über die bilateralen Verträge mit<br />

<strong>der</strong> EU im Frühling 2000 verdeutlichten indessen die Grenzen <strong>und</strong> Labilität solcher Dispositionen, im beson<strong>der</strong>en im Tessin. <strong>Die</strong><br />

Frage, ob <strong>und</strong> allenfalls in welchen sozialen Schichten die antigouvernemental eingestellte Protestbewegung „Lega“ in den 90er<br />

Jahren das alte, dem deutschschweizerischen Vorbild folgende Geschichtsverständnis im Tessin verankern konnte, bedarf einer<br />

weiterführenden Studie.


NFP 42 Synthesis<br />

gratis erhältlich beim <strong>Schweiz</strong>erischen Nationalfonds, NFP 42, Wildhainweg 20, CH-3001 Bern<br />

1 <strong>Die</strong> wirtschaftliche Bedeutung <strong>der</strong> internationalen Organisationen in Genf. Elke Staehelin-Witt, Gonzague Pillet. Bern,<br />

Oktober 1998.<br />

ISBN 3-9521671-0-X<br />

2 Les acteurs informels et la politique européenne de la Suisse: une enquête empirique. Maximos Aligisakis, Marc de<br />

Bellet, François Saint-Ouen.<br />

Berne, Octobre 1998. ISBN 3-9521671-1-8<br />

3 Szenarien <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>er Europapolitik. Christian Lutz, Lutz E. Schlange.<br />

Bern, November 1998. ISBN 3-9521671-2-6<br />

4 Les Organisations non gouvernementales et la politique extérieure de la Suisse. Jean F. Freymond, Brook Boyer. Berne,<br />

Novembre 1998.<br />

ISBN 3-9521671-3-4<br />

5 <strong>Schweiz</strong>erische Demokratie <strong>und</strong> Europäische Union. Astrid Epiney,<br />

Karine Siegwart, Michael Cottier, Nora Refaeil. Bern, Dezember 1998.<br />

ISBN 3-9521671-4-2<br />

6 Alternativen zu Europa? Chancen <strong>und</strong> Gefahren einer Ausrichtung auf<br />

aussereuropäische Märkte <strong>und</strong> die globale Standortkonkurrenz.<br />

Silvio Borner, Frank <strong>Die</strong>tler, Stephan Mumenthaler. Bern, April 1999.<br />

ISBN 3-9521671-5-0<br />

7 Öffnung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>: Verteilungswirkungen, Kompensation <strong>und</strong> mögliche Strategien. Aymo Brunetti, Markus Jaggi, Rolf<br />

We<strong>der</strong>. Bern, April 1999.<br />

ISBN 3-9521671-6-9<br />

8 Tendenzen <strong>und</strong> Perspektiven im Europäischen Umweltrecht: Implikationen für die <strong>Schweiz</strong>. Astrid Epiney, Hanspeter<br />

Pfenninger, Andreas Furrer,<br />

Viola Bölscher. Bern, April 1999. ISBN 3-9521671-7-7<br />

9 Is there a (Good) Case for a Strategic Environmental Policy?<br />

Rolf We<strong>der</strong>. Bern, June 1999. ISBN 3-9521671-8-5<br />

10 Differenzierte Integration in Europa – Handlungsspielräume für die <strong>Schweiz</strong>? Rechtswissenschaftliche Perspektive.<br />

Roland Bieber, Bettina Kahil, Sonja Poralla (unter Mitarbeit von Maria Isabel Fernandez Utges Manley).<br />

Bern, Juni 1999. ISBN 3-9521671-9-3<br />

11 <strong>Die</strong> Rückwirkungen <strong>der</strong> Informationsrevolution auf die schweizerische Aussen- <strong>und</strong> Sicherheitspolitik. Kurt R. Spillmann,<br />

Andreas Wenger, Stephan Libiszewski, Patrik Schedler. Bern, Juni 1999. ISBN 3-907148-00-2<br />

12 Europas Sicherheitsarchitektur: Erfolgsfaktoren, Bestandesaufnahme, Handlungsbedarf. Heiko Borchert. Bern, Juli 1999.<br />

ISBN 3-907148-01-0<br />

13 <strong>Schweiz</strong>erische Verkehrspolitik im Spannungsfeld <strong>der</strong> Aussenpolitik: eine Policy-Netzwerkanalyse am Fallbeispiel <strong>der</strong><br />

28-Tonnen-Limite. Markus Maibach, Adrian Vatter, Fritz Sager, Daniel Peter (unter <strong>der</strong> Mitarbeit von Samuel Hess, Christoph<br />

Wicki, Michael Meyrat). Bern, Juli 1999. ISBN 3-907148-02-9<br />

14 Policy Options for Liberal International Investment: the Case of Switzerland. Brigid Gavin. Bern, December 1999. ISBN 3-<br />

907148-03-7<br />

15 Politique extérieure suisse et coopération régionale transfrontalière.<br />

Luc Vodoz. Berne, Décembre 1999. ISBN 3-907148-04-5<br />

16 La décartellisation en Suisse: influences européennes. Walter Stoffel,<br />

Joseph Deiss. Berne, Décembre 1999. ISBN 3-907148-05-3<br />

17 Globaler Wandel <strong>und</strong> schweizerische Aussenpolitik: Informationsbeschaffung <strong>und</strong> Entscheidungsfindung. <strong>Die</strong>ter Ruloff,<br />

Thomas Bernauer, Stefano Bruno, Peter Moser, Aviva Schnur. Bern, Dezember 1999. ISBN 3-907148-06-1<br />

18 <strong>Schweiz</strong>erische Aussenpolitik & Journalismus: eine Befragung politischer Journalist/innen tagesaktueller <strong>Schweiz</strong>er<br />

Medien. Bettina Nyffeler. Bern, Januar 2000. ISBN 3-907148-07-X<br />

19 <strong>Schweiz</strong>erische Sicherheitspolitik zwischen Autonomie <strong>und</strong> Kooperation, 1945 bis 1999. Kurt R. Spillmann, Andreas<br />

Wenger, Christoph Breitenmoser, Marcel Gerber. Bern, Januar 2000. ISBN 3-907148-08-8<br />

20 <strong>Schweiz</strong>erisches <strong>und</strong> Europäisches Aussenhandelsrecht im Rahmen <strong>der</strong> WTO/GATT. Thomas Cottier, Remo Arpagaus,<br />

Alwin Kopse. Bern, Februar 2000.<br />

ISBN 3-907148-09-6<br />

21 Cohérence d’élaboration et cohérence d’action: la politique suisse d’intégration européenne en perspective comparative.<br />

Pierre Allan, Pascal Sciarini, Cédric Dupont, David Sylvan. Berne, Février 2000. ISBN 3-907148-10-X<br />

22 <strong>Die</strong> Völkerb<strong>und</strong>diskussion als Paradigma für den UNO-Beitritt. Carlo Moos. Bern, Februar 2000. ISBN 3-907148-11-8<br />

23 The Small State and the Triad: the Case of Switzerland’s Foreign Policy Towards East Asia. Heiner Hänggi, Philippe<br />

Régnier. Bern, February 2000.<br />

ISBN 3-907148-12-6<br />

24 L’Europe et la Suisse, 1945-1950: le Conseil de l’Europe, la supranationalité et l’indépendance helvétique. Hans-Ulrich<br />

Jost, Matthieu Leimgruber. Berne, Février 2000. ISBN 3-907148-13-4<br />

25 Der Staatsvertrag im schweizerischen Verfassungsrecht. Thomas Cottier, Daniel Wüger, Valentin Zellweger. Bern, Februar<br />

2000. ISBN 3-907148-14-2


26 Zwischen angelsächsischem Containment <strong>und</strong> Neutralitäts-Doktrin: schweizerische Sicherheitspolitik im Ost-West-<br />

Konflikt (1947-63).<br />

Mauro Mantovani. Bern, März 2000. ISBN 3-907148-15-0<br />

27 <strong>Die</strong> Wahrnehmung <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> durch das Ausland. Michal Arend, Markus Lamprecht, Hanspeter Stamm. Bern, März 2000.<br />

ISBN 3-907148-16-9<br />

28 Helvetisches Stiefkind: die Rolle <strong>der</strong> Massenmedien bei <strong>der</strong> Vermittlung schweizerischer Aussenpolitik. Heinz Bonfadelli,<br />

Roger Blum. Bern, März 2000. ISBN 3-907148-17-7<br />

29 Legal Protection of Genetic Information and Related Traditional Knowledge. Susette Biber-Klemm. Bern, March 2000. ISBN<br />

3-907148-18-5<br />

30 <strong>Die</strong> Rolle von Kultur <strong>und</strong> Kulturpolitik in den schweizerischen Aussenbeziehungen. Christoph Weckerle, Andreas Volk.<br />

Bern, März 2000.<br />

ISBN 3-907148-19-3<br />

31 La politique extérieure dans le domaine culturel: étude et évaluation de l’action conduite par les villes. Jean-Yves Pidoux,<br />

Olivier Möschler, Olivier Guye. Berne, Avril 2000. ISBN 3-907148-20-7<br />

32 Démocratie directe et politique extérieure: étude de la formation des attitudes en votation populaire. Hanspeter Kriesi,<br />

Pascal Sciarini, Lionel Marquis. Berne, Mai 2000. ISBN 3-907148-21-5<br />

33 Power and Identity: Small States and the Common Foreign and Security Policy (CFSP) of the EU. Laurent Goetschel. Bern,<br />

May 2000.<br />

ISBN 3-907148-22-3<br />

34 Netzwerk Aussenpolitik: Internationale Kongresse <strong>und</strong> Organisationen als Instrumente schweizerischer Aussenpolitik<br />

1914–1950. Madeleine Herren. Bern, Mai 2000. ISBN 3-907148-23-1<br />

35 <strong>Schweiz</strong>erische Wirtschaftshilfe <strong>und</strong> internationale Menschenrechte: Konflikte <strong>und</strong> Konvergenzen aus völkerrechtlicher<br />

Sicht. Walter Kälin,<br />

Erika Schläppi. Bern, Mai 2000. ISBN 3-907148-24-X<br />

36 Kantone <strong>und</strong> Aussenpolitik: die Rolle <strong>der</strong> Kantone in einem sich wandelnden internationalen Kontext. Peter Hänni. Bern,<br />

Juni 2000. ISBN 3-907148-25-8<br />

37 <strong>Die</strong> <strong>Schweiz</strong> in <strong>der</strong> Internationalen Arbeitsorganisation (ILO): <strong>der</strong> Einfluss des internationalen Sozialstandard-Regimes<br />

auf den nationalstaatlichen Handlungsspielraum. Martin Senti. Bern, Juni 2000. ISBN 3-907148-26-6<br />

38 Präventive Diplomatie <strong>und</strong> Nachkriegsstabilisierung: friedliche Streitbeilegung <strong>und</strong> Demokratieför<strong>der</strong>ung als Ziele<br />

schweizerischer Aussenpolitik. Günther Baechler. Bern, Juni 2000. ISBN 3-907148-27-4<br />

39 Nonproliferation and Switzerland: a Critical Analysis of Switzerland’s Legislation concerning Military Export Controls.<br />

Urs Cipolat (in collaboration with Alix Gowlland and Ulrich Karpenstein). Bern, June 2000. ISBN 3-907148-28-2<br />

40 Umkämpfte Geschichte: <strong>der</strong> ‚neue‘ Mediendiskurs über die Rolle <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> während <strong>der</strong> Nazizeit als Folge <strong>der</strong> Debatte<br />

über die nachrichtenlosen Vermögen. Peter Meier. Bern, Juli 2000. ISBN 3-907148-29-0<br />

41 ‚<strong>Die</strong> <strong>Schweiz</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Zweite</strong> <strong>Weltkrieg</strong>‘: zur Resonanz <strong>und</strong> Dynamik eines Geschichtsbildes anhand einer Analyse<br />

politischer Leitmedien zwischen 1970 <strong>und</strong> 1996. Matthias Kunz, Pietro Morandi. Bern, Juli 2000.<br />

ISBN 3-907148-30-4


<strong>Die</strong> Erfahrungen des <strong>Zweite</strong>n <strong>Weltkrieg</strong>s wurden in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> zu einem integrativen <strong>und</strong> nachhaltigen Geschichtsbild verarbeitet, das die Nation<br />

als Son<strong>der</strong>fall beschrieb. Erst die Notwendigkeit einer aussenpolitischen Öffnung <strong>und</strong> <strong>der</strong> Skandal um Raubgold <strong>und</strong> nachrichtenlose Vermögen<br />

deckten im Verlauf <strong>der</strong> 90er Jahre den Zerfall dieses idealisierten Geschichtsverständnisses auf. In dieser Studie werden Entwicklung, Funktion <strong>und</strong><br />

sprachregionale Ausprägung des Geschichtsbildes „<strong>Die</strong> <strong>Schweiz</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Zweite</strong> <strong>Weltkrieg</strong>“ anhand einer Analyse politischer Leitmedien von 1970<br />

bis 1996 untersucht. <strong>Die</strong> stark personalisierten Geschichtsdebatten folgten bis in die 80er Jahre einer deutschschweizerisch dominierten<br />

Kontroverse entlang <strong>der</strong> Leitdifferenz von Anpassung <strong>und</strong> Wi<strong>der</strong>stand. <strong>Die</strong> Kriegsverschonung wurde als Bestätigung <strong>der</strong> bewaffneten Neutralität<br />

betrachtet, die auch in <strong>der</strong> bipolaren Welt nach 1945 die nationale Unabhängigkeit garantieren sollte. Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus<br />

<strong>und</strong> einem wachsenden aussenpolitischen Integrationsdefizit sank <strong>der</strong>en Plausibilität dramatisch. Der Wandel dieses Geschichtsbildes war<br />

insgesamt stärker durch Erwartungswi<strong>der</strong>legungen infolge neuer Ereignisse als durch neue Geschichtsschreibung motiviert.<br />

L’expérience de la Seconde Guerre Mondiale avait été assimilée à une image durable qui décrivait le passé de la Suisse en tant que „Son<strong>der</strong>fall“.<br />

Cette image idéalisée n’a été destituée que par la manifestation, au cours des années 90, de la nécessité d’une ouverture de la politique extérieure<br />

ainsi que des discussions autour de l’or nazi et des fonds en déshérence. La présente étude a pour but d’analyser le développement, la fonction et<br />

les différences régionales de cette image de la „Suisse et la Seconde Guerre Mondiale“ dans les médias de 1970 à 1996. Jusque dans les années<br />

80, les débats sur l’histoire étaient souvent centrés sur des personnages spécifiques et suivaient une logique entre alignement et résistance, une<br />

controverse dominée par la Suisse alémanique. Le fait d’avoir été épargné par la guerre fut interprété comme la preuve que la neutralité armée était<br />

le seul et unique moyen capable de garantir la souveraineté et l’indépendance, même dans un nouvel ordre mondial caractérisé par la bipolarité<br />

après 1945. Cependant, l’implosion des systèmes communistes et le déficit croissant d’intégration régionale causèrent une diminution dramatique<br />

de la plausibilité de cette image de l’histoire nationale. De manière générale, les changements de cette image de l’histoire ont été, en premier lieu,<br />

dus à des expectatives réfutées par les événements et non pas à de nouvelles connaissances fournies par la communauté scientifique.<br />

The experiences of World War II were assimilated in Switzerland for decades to a self-image depicting the nation as a „Son<strong>der</strong>fall“. It was not until<br />

the need arose in the 1990s to open up to the world politically and to deal with the scandals about Nazi gold and dormant assets, that this notion of<br />

history finally disintegrated. The present study aims at analyzing the development, function and regional differences of the historical self-image of<br />

„Switzerland in World War II“ as seen by the leading print media between 1970 and 1996. Until the 1980s, strongly personalized historical debates<br />

dominated as well as ones dealing with the dichotomy of adaptation (Anpassung) and resistance (Wi<strong>der</strong>stand), a controversy which was mainly<br />

influenced by the German-speaking part of the country. The fact that the nation was spared from invasion was seen as proof that armed neutrality<br />

was the best guarantee for sovereignty and independence, not only in times of war but also in the new bipolar world or<strong>der</strong> after 1945. However, the<br />

end of the cold war and the growing lack of regional integration resulted in a dramatic loss of plausibility for the traditional self-image. On the whole,<br />

this change in the image of national history was influenced more by the need to refute expectations following new developments than by any new<br />

academic findings.<br />

ISBN 3-907148-30-4

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