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Das <strong>Kultur</strong>blatt fürN°5 | 2009/3RÄTSEL URNÄSCH¬ Vera Marke. AUFTRITT¬ Ueli Alder. Fotografie¬ ruedi Alder. Malerei¬ Alexandra Hopf. Bilder¬ U.V.M.


kapiteltitel |2


VORWORT2 ZU DEN BILDERN3 FÖRDEREIWo Geld gut angelegt ist5 THEMAWieso in Urnäsch Ur- undandere <strong>Kultur</strong> weiter wächst16 FENSTERBLICKWas Bruno Bischofbergervom Silvesterchlausen hält17 AUFTRITTVon Vera Marke26 FRISCHLUFTWeshalb Tim Krohn dochnoch lieber Glarner ist28 RADARWo Alexandra Hopfrestmagie findet34 GEDÄCHTNIS1 Vom Heilen zum Sammeln2 Von Schwellen zum Schlaf3 Von Leichen zu Wanzen40 IMPRESSUM UND DANKDie Streichmusik Alder feiert dieses Jahrihr 125-jähriges Jubiläum. Die Alderdynastiemachte Urnäsch schweizweit – und darüberhinaus in der Welt – bekannt. Woranliegt es, dass in diesem Dorf die Traditiondes kulturellen Schaffens sich über Jahrefortsetzt und wie selbstverständlich zumLebensentwurf gehört? Sind es die Gene,die Familienstrukturen, ist es die Geborgenheit,die Abgeschiedenheit? Solche Gedankenstanden am Anfang des Urnäsch-Heftes. Doch je mehr wir uns dem Themanäherten, desto stärker stand die Fragenach den Ur sprüngen des Brauchtums imZentrum. Wir staunten über die Kraft desUnerklärlichen – wie einst der FotografHans Peter Klauser (1910–1989) bei seinenFeldstudien rund um Urnäsch 1943. Klauservermutete die Vernachlässigung derZweckmässigkeit und die «reine Freude»als Gründe für den «unnötigen Aufwand»und den «Kräfte überschuss» im Brauchtum.Das hat mit Hingabe zu tun, die geradeauch beim Chlausen ein wichtiges Elementist. In dieser Tradition ist vieles vondem enthalten, was Urnäsch ausmacht:verbindend und vertraut für die Einheimischen,rätselhaft und anziehend für Aussenstehende,stark und magisch für beideSeiten. Nicht von ungefähr lädt der GaleristBruno Bischofberger seit Jahrzehntenweltbekannte Künstler nach Urnäsch ein,zieht es alljährlich Schaulustige an denalten Silvester, finden Kunstschaffendehier Inspiration. Wir haben uns über Gesprächedem Magischen angenähert. Au-1 | INHALT / VORWORT


zu den bildernthentizität greift als Erklärung zu kurz.Sämi Frick und Noldi Alder betonen, dasssich entgegen der verbreiteten MeinungTraditionen nicht erhalten, weil man denRegeln folgt, sondern im Gegenteil, weilman wagt, diese zu brechen und weiterzugehen.Ein Teil des Geheimnisses von kreativemPotential ist das Unerklärbare selber.Es entzieht sich der Sprache, es findetseinen Ausdruck im Ges tus, in der Musik,im Gesang, in Bildern. Die Fotografien vonUeli Alder sprechen ebenso davon wie dieMalereien seines Vaters Ruedi Alder. Aberauch das Unheimliche in den Bildern vonAlexandra Hopf aus Berlin oder Vera MarkesBlick aus ihrem Fenster Richtung Urnäschweisen in diese Richtung. DamitBrauchtum weiterlebt, muss es ein StückIntimität behalten können, meint ChristineBuckhardt-Seebass. Und Elisabeth Raschlebekennt: «Ich bin glücklich, dass ich das erlebenkann, dass wir hier wohnen und sonah dran sind. Vielleicht ist es das: Es gibtein Gefühl von Glück.»Margrit Bürer, Leiterin Amt für <strong>Kultur</strong>Appenzell Ausserrhoden121Ueli Alder (umschlag aussen)Ueli Alder: Ohne Titel, fotografische Komposition, 2009;Gründerväter, fotografische Komposition, 2009Ruedi Alder (umschlag innen)Ruedi Alder: Ohne Titel (Winterlandschaft mitBauernhäusern), 1985, Öl auf Holz, 26 x 37 cm2 3Es brennt. Lichterloh. Da gibt es kein Bleiben. Die Dramatik derSzene wird gemildert durch ihre Absurdität. Lakonisch laufenMensch und Tier davon. Nur einer schaut zurück, emotionslos. DasBild ist aus einer Alpabfahrtszene am Fuss der Hochalp und einemals Feuerwehrübung abgebrannten Haus zusammengesetzt. UeliAlder, geboren 1979 und aufgewachsen in Urnäsch, komponiertseine Fotografien wie Gemälde, lädt sie auf, macht sie symbolischlesbar. Der Exodus meint den Verlust von Heimat und fragt nachdem Umgang mit Traditionen.«Ueli Alder ist der Sohn von Ruedi Alder (1946–2003), dem erfolgreichenBauernmaler. Das prägt. Malen wie der Vater wollte eraber niemals.» So war in jener Ausgabe von <strong>Obacht</strong> <strong>Kultur</strong> (Nr. 3,Jan. 2009), die der Jugend gewidmet war, zu lesen. Damals wardas Feuerbild erst Projekt. Jetzt ist es umgesetzt. Und es lässt atmosphärischdas Schaffen des Vaters naherücken. Bei aller Idyllesteckt in dessen Winterlandschaft mit Bauernhäusern von 1985eine zwielichtige Düsternis, vielleicht ein banges Hoffen auf dennächsten Tag.Ueli Alder ringt um inspirierende Versöhnung mit dem Erbe imSpannungsfeld von Abwehr, Akzeptanz und Befruchtung. Das gehtam besten mit hintergründigem Humor. So schmuggelt er sich zwischendie vier Gründungsväter der Streichmusik Alder und bautdie Fotografie, die er aus dem Brauchtumsmuseum Urnäsch kennt,neu. Mit seinem Alter Ego samt Dobro, der Bluesgitarre, konstruierter nicht nur (nicht existierende) Familienbande, sondernspielt auch auf den Blues an, das Melancholische, die Schwermut.(ubs)3ALEXANDRA HOPF (Seiten 9/10 und 31/32)Bericht Seite 28, Bildbeschrieb Seite 33.VORWORT / ZU DEN BILDERN | 2


FÖRDEREIVielschichtige Weltenin Filmen und BüchernBESCHLÜSSE DES REGIERUNGSRATES, AUF EMPFEHLUNGDES KULTURRATES, VOM 10. NOVEMBER 2009Dokumentarfilm «Meine Sicht deckt deine nicht»¬ Dokumentarfilm von Ramòn Giger¬ Produktionsbeitrag CHF 15 000¬ Geplante Fertigstellung März 2010Ramòn Gigers Dokumentarfilm ist eine audiovisuelle Annäherungan den 26-jährigen stummen Roman und seinen Autismus. DerFilm führt durch einen Abschnitt in Romans Leben, zeigt seine Lebens-und Arbeitsumgebung, seinen Umgang mit anderen Heimbewohnernund seinem Betreuer. Nicht alles in seiner fragilen undleisen Welt ist vermittelbar. Er fesselt und fasziniert mit einer Sinnlichkeitund Kuriosität, die uns fremd und doch vertraut ist. Daskonzeptionelle Vorgehen dieses Projekts zog nach sich, dass Inhaltund Form des Films erst zu einem späteren Zeitpunkt Gestalt annahmen.Durch den Beizug eines Cutters, der sich aus der Distanzdem Protagonisten annähern kann, wird das vorhandene Materialauf der Bild- und Tonebene weiterentwickelt und der Film auch füreine Kino- und Festivalauswertung wettbewerbsfähig.Buchprojekt «Handel im Wandel»¬ Publikation in der Schriftenreihe «Das Land Appenzell»des Verlags Appenzeller Hefte¬ Druckkostenbeitrag CHF 8000¬ Veröffentlichung Anfang 2011Wer kann sich noch erinnern an die Vertreter, die früher von Hauszu Haus zogen und in ihren Musterkoffern allerlei Dinge feilboten?Wer waren diese Hausierer? Woher kamen sie? Gibt es sie heutenoch – in den Zeiten der Einkaufszentren und des Tele- und Internetshoppings?Iris Blum und Heidi Eisenhut, die beiden Herausgeberinnender Publikation, gehen das Thema sowohl wirtschaftsundfirmengeschichtlich als auch kultur- und mentalitätsgeschichtlichan. Sie begeben sich auf Spurensuche im Appenzellerland, inder Schweiz, in Amerika. Disziplinenübergreifend in Geschichte,Literatur, Film und der Kunst spüren sie verschiedene Aspekte desvergangenen Vertreterberufes auf. Sie gehen aber auch Einzelfigurenwie Arthur Zünd nach und vermitteln einen Einblick in dieFirmengeschichte der Just AG.Dokumentarfilm «Dreikönigstreffen»¬ Dokumentarfilm von Kuno Bont¬ Produktionsbeitrag CHF 15 000¬ Geplante Fertigstellung Sommer 2010In Kuno Bonts Dokumentarfilm «Dreikönigstreffen» dreht sich allesums Schwingen, eine Disziplin, in der die Ostschweiz und ihreSchwinger eine wichtige Rolle spielen. Der Film geht auf dasschwierige Comeback von Schwingerkönig Jörg Abderhalden einund thematisiert die Reibungsflächen zwischen Bedeutung undTradition des Schwingens. Die Szenerie spielt zu einem grossenTeil auf den einschlägigen Schwingplätzen der Ostschweiz, derBergwelt des Toggenburgs, der Schwägalp im Ausserrhodischenund in Schaffhausen, wo Ernst Schläpfer, ehemals Schwingerkönigund ebenfalls Protagonist des Films, heute als Rektor der Berufsschuletätig ist. Der Film soll nächstes Jahr, zwei Monate vor demEidgenössischen Schwingfest, in Frauenfeld Premiere feiern.100 000 Meter von hier – die Bibliothek von Andreas Züstgeht auf Wanderschaft¬ Ausstellung und Begleitveranstaltungen¬ Projektbeitrag CHF 10 000¬ Ausstellungsorte und Termine:· Perla-Mode Zürich 5. November – 21. November 2009· Sitterwerk St. Gallen 30. November 2009 – 7. März 2010· Kantonsbibliothek Trogen 22. März – 18. Juni 2010· Alpenhof Oberegg ab Sommer 2010Andreas Züst war nicht nur eine legendäre Figur des schweizerischenund europäischen Kunstlebens, sondern auch ein miteinem vielschichtigen Bewusstsein ausgestatteter Bücherliebhaber.Seine Bibliothek weist darum weit über diejenige einerprivatperson hinaus, in ihr lässt sich das Gefüge unserer <strong>Kultur</strong>erkennen. Sie ist ein Abbild der Welt, so wie sie der Glaziologe,Wetterbeobachter, Fotograf, Maler, Nachtschwärmer, Verleger,Filmproduzent, Bibliomane, Kunstsammler und Mäzen AndreasZüst (1947–2000) wahrgenommen hat. Sie begibt sich nun mit ihren12 000 Büchern und einem Gewicht von etwa neun Tonnen aufReisen und macht neben Zürich und St. Gallen auch in Trogen inder Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden Halt, bevor sie imAlpenhof in Oberegg (AI), dem ehemaligen Hotel und heutigen<strong>Kultur</strong>haus, ihre neue Heimat findet. Auf ihrer Reise erhält die BibliothekGeleit von fünf auf sie Bezug nehmenden künst lerischenInterventionen.3 | FÖRDEREI


DIREKTBESCHLÜSSE DEPARTEMENT INNERES UND KULTURVOM 6. juni 2009 bis 7. oktober 2009(Gesuche mit einer beantragten Summe bis CHF 5000)KREATIONrebell.tv Buchprojekt «Die Form der Unruhe» CHF 5000Theres Inauen / Fabian Kaiser Festjagd – ein Film über 78 Feste CHF 2000Georg Gatsas künstlerbuch «Five Points» CHF 4000Stiftung Waldheim Fotoband «Das Wesen gestreift» CHF 4000Claudia Roemmel Tanzproduktion «Überleb dir mal…» CHF 4000BETRIEBS- / STRUKTURFÖRDERUNGSchweiz. Jugendmusikwettbewerb Teilnehmerbeitrag CHF 1500Nationale Jugend Brass Band Sommerkurs 2009 CHF 300Bibliothek für Blinde und Sehbehinderte Jahresbeitrag 2009 CHF 2000VERBREITUNGPeter Stoffel appenzell Biennale Olaf Nicolai CHF 4000Simone Flury adventskonzert 2009 in Trogen; Defizitbeitrag CHF 3000KlangWelt Toggenburg Festival «Saitenwind» CHF 3000Alters- und Pflegeheim Watt–Reute Fotoausstellungen 2010–2012 CHF 2000Liberty Brass Band Ostschweiz Jubiläumskonzerte 2009 mit Balkan Moods CHF 3000TanzRaum Herisau Tanzabende November 2009; Defizitbeitrag CHF 2000Waldgut Verlag Buch «Chatten mit Eliza» von Dieter Huber CHF 3000Waldgut Verlag gedichte «Kussnester» von Werner Lutz CHF 5000Ursula Steiner ausstellung «Rote Kette» CHF 1500Michael Neff CD «q3 – it’s only a paper world» CHF 2000Martina Hofmannkonzerte zur PassionK kammerphilharmonie Winterthur CHF 1500Matthias Lincke konzerttournee «Dä Giigämaa Unterwäx» CHF 2000HR Fricker 1. Appenzeller Witz-Slam CHF 3000Gemischter Chor Wald adventskonzerte 2009 CHF 3000FÖRDEREI | 4


THEMAWieso pflanzen sich in UrnäschTradI TIonen im Schritt mit der Zeit fort?Woher kommt das lebhafte Brauchtum?Im Gespräch mit personen, die UrnäschVIELFÄLTIG verbunden sind, wirddem Drang nach Ausdruck, Ausbruchund der Rührung nachgespürt.Man mag «gut» und «böse» für relative,also kulturabhängige, je nach Standpunktdefinierte Begriffe halten – oder mannimmt selber einen religiösen, moralischenoder politischen Standpunkt ein, von demaus man das Gute und das Böse scheinbarabsolut zu definieren vermag. Das Bewusstsein,dass das Leben von guten undbösen Kräften bestimmt wird, widerspiegeltsich auch im Volksbrauch des Silvesterchlausens.Einer populären Sichtweise zufolgegeht es dabei um das Bannen von zumeistals bös verstandenen Geistern. Manhat vielleicht geglaubt, mit der Aufklärungden alten Aberglauben, die irrationalenÄngste zu überwinden. Angebot und Nachfragehaben gut und böse als Richtgrössenabge löst. Angekommen in der angeblichenModerne muss man aber feststellen, dassder alte Gegensatz nicht aus der Welt geschafftist, im politischen und wirtschaftlichenAlltag aber noch schwieriger zudefinieren ist: Ab welcher Höhe ist zumBeispiel ein finanzieller Bonus unethischund somit in einem überkommenen Sinnböse? Und ist allenfalls auch der Neidböse, der uns den Spitzenmanagern ihreSpitzensaläre von zehn oder mehr Millionenmissgönnen lässt? Wie böse ist eineWelt, die eine Milliarde Menschen hungernlässt, obwohl genügend Nahrung vorhandenist?Müssen wir das Böse in den Abgründen derSeele, im Geheimen, Uneingestandenen,Verdrängten suchen? Und akzeptieren?Adalbert Schmid, der Sammler grenzwissenschaftlicherLiteratur (siehe Rubrik«Gedächtnis», Seite 34) weiss, dass auchim Appenzellerland – wie in vielen Alpenregionen– Kräuterfrauen, Heiler, Magier,Gesundbeter bis heute oft um Hilfe gerufen,beansprucht, aber auch gefürchtetwerden, da sie mit dem Unbekannten imBunde stehen, mit Mächten des Unbewussten– mit Gott; da sie Zugang zu einemWissen über Geist und Seele haben, dasverschüttet ist. Nach der Notwendigkeitvon Sakralem, von Mythos und Magie in einersäkularisierten Welt fragt auch AlexandraHopf (Gespräch Seite 28, Bilder Seite9/10 und 31/32).Urnäsch ist ein Ort, an dem sich viele Traditionenerhalten haben, allen voran das Silvesterchlausen.Männer schlüpfen in Frauenrollen,kümmern sich leidenschaftlich umdie Details von Haube und «Groscht», hantierenmit bunten «Chügeli».Das Chlausen hat vielleicht gerade deshalbüberlebt, weil kirchliche und weltlicheobrigkeiten einst versuchten, es zu unterdrücken.Dass es tatsächlich auf «heidnische»Ursprünge zurückgeht, wird heutein Abrede gestellt. Es war aber in dem Sinn«heidnisch», als es nicht den gängi genVorstellungen von frommem Betragenentsprach. Zwar gefällt das wilde Treibenheute den Touristen, aber es ist viel mehrals nur eine Show für Gäste: ein Ausbruchaus dem Geordneten, ein zweckfreies Treibenohne offensichtlichen Nutzen. Ganzpragmatisch weiss Elisabeth Raschle, dieWirtin der Gaststätte Ochsen in Urnäschdavon zu berichten und Parallelen zu anderenBräuchen aufzu stellen (GesprächSeite 8).Manche glauben, das Chlausen unterliegestrengen Regeln, die genau einzuhaltensind. Sämi Frick (siehe Interview Seite 6)widerspricht: «Es gibt keine Regeln.» Traditionenerhalten sich nicht, weil man immerden Regeln folgt, sondern weil mansich gerade nicht an sie hält. Regeln stelltman auf im Bedürfnis, etwas für alle Zeitenzu bewahren. Aber sie können das Gegenteilbewirken und dazu führen, dass einBrauch keinen Bezug mehr zur Gegenwarthat. Davon ist auch Noldi Alder überzeugt,das trifft für die Musik genauso zu. Allesfliesst... (sri/ubs)F5 | THEMA


Sämi Frick imGespRäch mit Hanspeter SpörriWie ist das eigentlich mit dem Spasschlausen?Wird da bewusst gegen Regelnverstossen?Früher gab es eigentlich nur das Spasschlausen!Als ich ein Bub war, in den frühen60er Jahren, hat man sich einfach ein paarTannenäste in den Mantel und auf den Hutgesteckt oder einen Lampenschirm auf denKopf gesetzt. Man nahm, was gerade zu findenwar, um das Chlause-«Groscht» zu gestalten.Es war alles noch etwas wilder?Man traf sich in einem Haus, in dem dasMaterial lagerte. Manchmal wusste manuntereinander nicht einmal genau, wer nunalles dabei war. Als ich noch ganz klein war,wohl noch in den 50er Jahren, traf sich ineinem alten Haus das «Lompeschuppel»;später durfte man dann gar nicht mehr wagen,so chlausen zu gehen. Die Haubenwurden immer prachtvoller, mit immermehr und immer feineren Glasperlen, immerspe zielleren Sujets. Ich habe diese Entwicklungselber erlebt. Um die Zeit, als ichaus der Schule kam, erfuhr alles eine Steigerung,die Schönen wurden schöner unddie Wüesch ten auch. Es fand ein Wettkampfdarum statt, wer noch mehr Dinge auf dieHaube packt, noch mehr Kügelchen.Das kann zum Kitsch führen.Jeder muss es so machen, wie es ihm gefällt.Aber es gab doch Regeln für das Chlausen?Die gibt es nicht. Manche glauben vielleicht,es gebe Regeln. Sie versuchen dann,sich an diese zu halten. Aber sie wissen garnicht, wie es früher wirklich war. Als wireinmal genau so chlausen gingen, wie einstunsere Väter, mit Hauben, die aus Watteaufgebaut waren, mit Blumen drauf, grösserenGlasperlen als heute, ohne Samt undohne Folien, da kamen zwar den Älteren dieTränen. Aber die Jungen lachten uns aus,nannten uns «Wattebäusche».Das Spasschlausen ist also ein Verstossgegen Regeln, die es gar nicht gibt?Früher ging man am Neuen Silvester amMorgen schön chlausen – und am Abendwar man nur noch als Spasschlaus unterwegs.Wir haben das damals gemacht,damit es nicht ausstirbt. Aber es ist danndoch ausgestorben. Als aber der Silvesterwieder einmal auf einen Sonntag fiel, dasChlausen auf den Samstag vorverschobenworden war, entschieden sich einige, amSonntag als Spasschläuse loszuziehen. Wirkamen damit nicht einmal überall gut an.Aber wir hatten uns entschlossen, keinGeld anzunehmen. Ganz alleine waren wirdamals unterwegs. Als ein paar Jahre späterder Silvester wieder auf einen Sonntagfiel, waren es in Urnäsch um die zwanzigGruppen. Nun glauben bereits einige Jüngere,es sei die Regel, am Sonntag alsSpass chlaus unterwegs zu sein. Dabei wardas früher einfach das richtige Chlausen.Behörden und Kirche sahen früher dasChlausen nicht gern.Es war früher von der Kirche aus verboten.Als Buben durften wir damals am Abendgar nicht chlausen. Vor allem zur Gottesdienstzeitzwischen 8 und 9 Uhr abendsdurfte keine Schelle tönen. Aber auch dieKirche hat sich ja verändert. Heute ist Musikim Gottesdienst gefragt. Und manchmalklatscht das Publikum in der Kirche. ImUnterricht habe ich einst gelernt, das seinicht erlaubt.Das Chlausen hat trotz allen frühereneinschränkungen überlebt. Es kennt keineRegeln, war aber gewissermassen selberein Regelverstoss.Es hat im Tal hinten überlebt. Am Alten Silvesterdurfte früher im Dorf Urnäsch keineinziges Haus gechlaust werden. Erst alsich etwa 15 war, öffneten die Wirte im Dorfabends ihre Lokale. Und die Wirte vom Talhinten waren erzürnt, sie schrieben einenbösen Leserbrief. Doch dann tauchten amTHEMA | 6


Alten Silvester auch in Waldstatt Chläuseauf und innerhalb von wenigen Jahren wurdeder Alte Silvester für Urnäsch zum Grossereignis.«Sogar der Rhythmus des verändert sich!Manche Junge glauben, er müsse genau so sein wie heute.Dabei war er einst ganz anders.»Das Chlausen ist also ein Beispiel dafür,dass sich alles fortlaufend verändert.Sogar der Rhythmus des «Schellens» verändertsich! Manche Junge glauben, ermüsse genau so sein wie heute. Dabei warer einst ganz anders. Und wenn wir wiedereinmal so chlausen wie früher, die Schellenso erklingen lassen wie damals, dann meinenviele, das sei nicht richtig, entsprechenicht der Tradition.Trotz aller Veränderungen hängst du amChlausen. Was ist es eigentlich, das dich sofasziniert?Vielleicht sind es die strahlenden Augender Leute, die man trifft. Am schönsten istes auf abgelegenen Höfen. Auch Zugezogenefreuen sich. Aber sie meinen, dieseFreude zeigen zu müssen, indem sie dasPortemonnaie zücken. Man geht nicht wegendes Geldes chlausen.Es liegt dir im Blut?Schon Mutters Brüder waren chlausenverrückt.Und ihr Vater auch. Und meinVater ging auch. Es hat schon auch mit derFamilie zu tun.Sämi, du arbeitest im Reka-Dorf. Was fürLeute triffst du dort?Einfache, unkomplizierte, fast immer netteLeute; Leute, die einem nie verleiden. keineGestopften.Vor allem arbeitest du mit den Kindern.Meistens habe ich eine Kinderschar bei mir.Fast jeden Tag fahren wir mit Ross und Wagenoder die Kinder reiten. Von den Elternweiss ich, dass sie manchmal während desganzen Jahres von den Erlebnissen imDorf, von den Tieren erzählen; viele Familienkommen deshalb wieder.Manche wissen aber wenig vom Landleben?Die meisten wissen immerhin noch, dassdie Milch von der Kuh kommt. Und sie wissennoch viel mehr, wenn sie nach Hausefahren. Aber einmal hatte ich einen Bubenauf dem Kutscherbock neben mir, derglaubte allen Ernstes, ich müsste die Pferdean die Tankstelle führen, um ihnen Benzinzu tanken. Dem Vater war das wohl ein bisschenpeinlich.ASämi Frick, (*1956) war 30 Jahre lang Bauer. Seitzwei Jahren arbeitet er als «Fuhrhalter» im Reka-Dorf und bringt vor allem den Kindern die natur unddie Landwirtschaft näher. Bereits als Fünfjährigerwar er als Silvesterchlaus unterwegs.7 | THEMA


Elisabeth Raschle im Gesprächmit Verena Schoch und UrsulaBadruttWas geschieht im Gasthaus Ochsen an denverschiedenen Anlässen?Silvesterchlausen, Striichmusigtag, Alpfahrt,Alpabfahrt sind Anlässe aus demBrauchtum heraus, teils organisiert, teilsfinden sie einfach statt. Weil die Gäste sogrosses Interesse an Musik und Gesanghaben, sind die Appenzellerabende entstanden.Dazu kommen je nach Jahreszeitweitere Anlässe. Es soll für alle etwas dabeihaben. Das Publikum ist je nach Anlass anders.Meistens sind auch Einheimische darunter.Das schätzen die Fremden sehr. Wirhaben hier keine Zweiertische, so kommendie Leute ins Gespräch.Was bedeuten dir die Anlässe wie dasChlausen?Am frühen Morgen, wenn man die erstenSchellen und Rollen hört, ist man schonsehr chribelig; einerseits wegen desBrauchs, andererseits aber auch wegendes Betriebs hier den ganzen Tag lang. Erstam Abend, wenn die Gäste alle da sind,komme ich zur Ruhe. Dann habe ich Zeit,mich um die Chläuse zu kümmern, zu sehen,zu hören, zu erleben. Für mich ist daswie – dann bin ich gelöst, dann habe ich eigentlichFeierabend, auch wenn das Gasthausvoll ist.Wie ist dieser Moment zu beschreiben, indem das Zuhören beginnt? Hast du da ganzbestimmte Gefühle?Oh ja. Als Wirtin ist man schon vor demSilvester dabei, wenn Schuppel, die amGroschten sind, einkehren und öppe eZäuerli nehmen; und dann am Frühchlausen.Das gibt Hühnerhaut, das ist einfachergreifend. Obwohl der Rummel bevorstehtund den ganzen Tag über andauernwird: Dieser Moment ist ganz besonders.Das geniesse ich immer wieder.Was ist die Rolle der Frauen beim Chlausen?Mein Mann ist auch ein Chlaus. Als normaleChlausenfrau könnte man vielleicht einbisschen mehr helfen. Aber weil ich wirte,geht das nicht. Beim ersten Chlausenhut,den mein Mann machte, waren wir nochprivat und ich habe bis in alle Nachtherumgehäkelt. Für mich ist dieser ersteHut bis heute speziell.Wieso findet dieser Brauch so viel und weiterwachsendes Interesse?Es ist ein schöner Brauch und wir versuchen,ihn den Fremden, den Gästen, näherzu bringen. Es gibt auch einen informativenFlyer dazu. Aber in drei Minutenkann das Silvesterchlausen nicht erklärtwerden. Es ist etwas Einzigartiges, auchwenn andere Regionen ähnliche Bräuchehaben. Vielleicht kommen auch immermehr Leute, weil schon viele da sind, weilviele davon berichten und andere anregen.Am meisten Menschen hat es am Alten Silvesteram 13. Januar.Was ist denn das Besondere am AltenSilvester?Man weiss nicht genau, was woher kommt,wie es sich entwickelt hat, man hat es einfacheinmal gemacht… Am Alten Silvesterbeginnt das Chlausen ausserhalb desDorfes und ist nach dem Mittag vor allemim Tal hinten. Weil der Alte Silvester nur inwenigen Dörfern rund um Urnäsch stattfindet,hat es viel mehr Leute als am31. Dezember. Im Fernsehen berichten sienur vom Alten Silvester.Eine Zeitlang war der Brauch fast ausgestorben,jedenfalls in Waldstatt undHerisau. Dann, ab den 70er Jahren, gabes eine Wiederbelebung, es kamen dieSchön-Wüeschten dazu. Vorher gab es nurdie Schönen und die Spassigen; diese warendie Wilden. In Urnäsch war der Brauchnie ganz tot, er entwickelte sich immerweiter. Wieso war das Überleben in Urnäscheinfacher? Wieso jüngelt es hier hintenim Brauchtum?Es ist vielleicht schon einfach speziell hierhinten. Auch bei der Alpabfahrt. Seit einpaar Jahren machen die TouristenbürosWerbung und es funktioniert: In Scharenkommen sie. Jedes Jahr kommen mehr.Die Leute wollen das sehen. Genau sagen,woran es liegt, kann ich aber nicht. Manwill es einfach erleben, dieses Brauchtumpur hier. Und jeder, der ein Häppchen erwischt,ist stolz darauf, es gesehen zuhaben. Hier wird es ge- und erlebt. DasMuseum spielt eine wichtige Rolle, dortwird vieles erklärt. Ich finde es wichtig,dass korrekt Auskunft gegeben wird.THEMA | 8


Was ist der Antrieb für all diesen Aufwand?Und was macht diese Hühnerhaut?Sowohl die Chläuse wie die Sennen sindsehr darauf bedacht, alles immer perfektzu machen bis in alle Details, auch bei derTracht. Sie motivieren sich gegenseitig, janicht nachlässig zu werden. Man will sichkeine Blösse geben, keinen Spott einsackenmüssen, nicht angegiftelt werden. Es istauch eine Verbundenheit. Ich bin in Schönengrundaufgewachsen und habe schonals Kind mit Begeisterung Brauchtum erlebt.Das ist in einem drin.Kann man das denn überhaupt erklären?Das braucht eine rechte Portion – ja wiesagt man dem – Traditionsbewusstsein? –dass man das immer noch macht, einfachweil der Vater, der Grossvater, alle dasschon so gemacht haben. Auf Youtoubekann man das Chlausen auch sehen unddie Unterschiede zwischen den einzelnenOrten studieren. Dass es in Urnäsch sospeziell ist, macht schon stolz. Das sporntan zu Perfektionismus. Aber man wirdauch immer anspruchsvoller.Das gilt auch für die Alpfahrt. Es hat immermehr Autos und einige finden, dass mandas Vieh halt aufladen muss. Ich finde, dassman Rücksicht nehmen muss auf neue Umständeund zum Beispiel das «Überefahre»nicht in den gröbsten Mittagsverkehr legensoll. Aber viele haben zwar höchste Sorgfaltgegenüber dem Brauch, aber nichtnach aussen gegenüber heutigen Lebensformen.Das ist etwas störrisch.Die Schellen geben das Tempo an. Wenn daein Gleichklang aufkommt, dann muss ichjeweils aufpassen, dass mir nicht die Tränenkommen; einfach weil alles so schönzusammenspannt.Ist da ausser Perfektionismus auch etwasErotisches?Es ist eine geballte Ladung Energie, daskann man schon so sagen. Manchmal habeich das Gefühl, dass sie nicht mehr aufhörenkönnen zum Beispiel beim Schellenund einfach immer weiter machen, dass esein einziger grosser Rausch ist. Wenn alleszusammenstimmt – das ist unglaublich, einfachwunderbar. Das ist ein Fieber, manschläft kaum mehr.Ich bin glücklich, dass ich das erleben kann,dass wir hier wohnen und so nah dran sind.Vielleicht ist es das: Es gibt ein Gefühl vonGlück. AElisabeth Raschle-Rechsteiner (*1960) in Schönengrundaufgewachsen und seit 1998 Wirtin in Urnäsch;fünf Jahre im Restaurant Anker, seit 2002 im GasthausOchsen.«Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie nicht mehraufhören können zum Beispiel beim Schellen und einfachimmer weiter machen, dass es ein einziger grosserRausch ist.»11 | THEMA


Noldi Alder im Gespräch mitHanspeter SpörriWelche Rolle spielt eigentlich der Humor?Für mich ist er das menschliche Toleranzsystem.Humor heisst nicht einfach: allesnehmen, wie es kommt, alles akzeptieren,wie es ist. Der Humor ist kritisch, aber erbaut Spannungen ab. Mit dem Humor löseich viele Probleme und verwirkliche vieleIdeen. Der Humor zeigt mir, wie ich mit mirselber umgehen kann. Er hilft mir, den Fadenzu finden. Und darum geht es ja – auchin den Konzerten: dass die Leute den Fadenfinden. Ich meine, es ist wichtig, im ganzenDurcheinander die Leidenschaft zu finden.Ich kenne mein eigenes Durcheinander.Jeden Morgen muss ich von Neuem lernen,zu wählen. Wir wissen wohl alle, wo unserFädeli ist. Aber wir haben nicht den Mut,daran zu ziehen, also zu wählen, was wirwollen. Manchmal ist es eben richtig, eineIdee ganz lange zu verfolgen, bis sie scheitert,und nicht vorher schon abzubiegen.Wenn du scheiterst, weisst du nachhermehr. Das heisst nicht, dass man laufendlebensgefährliche Dinge machen muss. Esgeht nur um die Haltung: dass man weitergeht,bis es nicht mehr weitergeht.Das Scheitern bringt einen weiter?Das Scheitern zeigt, wie es ganz sichernicht weitergeht. Danach ist man frei, Verschiedeneswegzulassen, was man vorherals Ballast mitgeschleppt hat.Zum Beispiel die Tradition?Die Tradition kann eine Selbsttäuschungsein. Wenn wir genau hinschauen, stellenwir fest, dass es früher ganz anders war, alswir heute meinen. Viele Musikstücke warengar nicht so, wie man sie später aufgeschriebenhat; vieles war anders, als manes heute handhabt, beispielsweise dasChlausen: Das frühere Silvesterchlausenhat mit dem, was wir heute machen, kaumÄhnlichkeiten. Oder die AusserrhoderTracht: Sie sah einst ganz anders aus alsheute. Kaum jemand würde sie als AppenzellerTracht erkennen. Sie war viel bescheidener.Wenn man nur 200 Jahre zurückgeht, findet man sehr vieles von demnicht, was wir heute machen im Glauben,es handle sich um eine Tradition. Die Volksmusikwar früher eine Tanzform. Jetzt istsie vom Fuss in den Kopf hinauf gewandertund wir bringen sie nicht mehr hinunter.Bleiben wir beim Humor – auch eine Tradition.Appenzeller sind als schlagfertig bekannt.Aber Humor kann eine giftige Angelegenheitsein.Das Gifteln ist ja ein Teil des Humors odereine Vorstufe. Etwas Ähnliches scheint bereitsauf in den alten Ratzliedli. Das warenRundgesänge, bei denen man schlagfertigreagieren musste; wem keine Strophe einfiel,der hatte eine Runde zu bezahlen.Aber wer eine Kombination von mehrerenStrophen zu Stande brachte, wirkte anziehend,wurde beachtet und geachtet, hatteErfolg auch bei den Frauen.Es geht um Rivalität?Auch das Giftle ist ein Kampf, aber ohneMuskeln; eine Herausforderung, aber nichtim Sinne des Faustrechts. Allerdings kamauch das vor, dann nämlich, wenn einernichts vertragen konnte. Beim Gifteln lernstdu jemanden kennen, du siehst, wie er ist,wer er ist, wie er reagiert, wo er seine Grenzenhat.Also ist es ein Testen des Gegenübers?Du siehst Stärken und Schwächen, bei dirund bei den anderen. Es ist ein lustigesSpiel, eine Unterhaltung, wie sie stattfand,bevor es das Fernsehen gab. Auf dieSprachgewandtheit kommt es an, auf dieRedegewandtheit. Und es zeigt sich, ob dudie Leute im Dorf kennst oder nicht, ob duim Bild bist über das Dorf. Es geht alsonicht um Fasnachtssprüche, um Sujets,sondern um die ständig fliessende Information,darum, zu wissen, was ein anderer gemachthat. Alte Geschichten werden aufsubtile Art, auf einer feinen Ebene präsentiert.Man darf auch übertreiben, aber manmuss fein übertreiben. Es ist ein Spiel, dasfrüher gepflegt wurde.Auch von dir?Ich habe als 15-, 16-Jähriger selber oft gegiftelt,geschaut, wie lange es geht, bis eskippt, bis die Leute sagen, jetzt erzählt eraber einen Chabis.Es hat also mit Ironie zu tun?Leute, die sich ein halbes Jahr lang nichtgesehen haben, konnten durch das GiftelnBlockaden überwinden. Über das Giftelnkannst du Ereignisse verarbeiten.THEMA | 12


«Der Humor hilft mir, den Faden zu finden. Manchmalist es eben richtig, eine Idee ganz lange zu verfolgen,bis sie scheitert, und nicht vorher schon abzubiegen.»Aber die besten Giftler können ziemlich humorlossein, können eventuell weniger guteinstecken als austeilen.Es kann tief gehen, über Generationen hinweg;es kann darum gehen, weshalb einereinen Spitznamen trägt vom Grossvaterher. Aber man müsste sich über das Lacheneinmal Gedanken machen. Wieso lacht jemand?Weshalb ist ein Witz lustig? An derExpo in Neuenburg schlug ich eine ArtLachtherapie vor. Es waren damals mehrerehundert Appenzeller da. Alle hätten zumgenau gleichen Zeitpunkt, auf ein Signalhin, eine Minute lang lachen sollen, unddann hätten wir geschaut, was es für Reaktionengibt. – Aber es wollte niemand mitmachen.Man glaubte, das sei nicht lustig.Dabei ist Lachen doch etwas Geniales.Laut Freud gibt es im Komischen etwasVerdrängtes, dem sich das Bewusstsein widersetzt.Witze beginnen ja immer mit einer normalenGeschichte; wir werden in Sicherheit gewiegt,dann kommt es zu einer Wendung,auf die wir nicht vorbereitet sind. Wahrscheinlichbewegt man sich dabei auf einemschmalen Grat: Gehöre ich dazu, bin ich mitgemeint?Bin ich ertappt? Wir stellen fest,dass man uns in die Irre geführt hat; lachendund entspannt können wir etwas neu überdenken.ANoldi Alder (*1954) gehört zur vierten Generationder Alder-Dynastie. Er hat Mühlenbauer gelernt, sichmit Geigenbau befasst und 1995 das klassische Musikstudiumabgeschlossen. Heute ist er freischaffenderMusiker.13 | THEMA


Christine Burckhardt-Seebassim Gespräch mit Ursula BadruttWie kann ein Tal, ein Ort wie Urnäsch zurkulturellen Brutstätte werden?Wissenschaftler beobachten ein Geschehenund versuchen, es zu verstehen. Siegreifen aber nicht ein. Trotzdem hat ihrInteresse immer auch Rückwirkungen aufdas Geschehen, es wirkt stimulierend, beeinflusstdie verschiedenen Brauchtümerwie das Chlausen, die Musik. Es stärkt dasGefühl für etwas, das zuvor nur für dieDorf- oder Talgemeinschaft von Interessewar. Das macht auch Mut.Mit dem Medieninteresse und der nationalen,ja internationalen Aufmerksamkeit,die dem Brauch des Silvesterchlausens zukommt,schleichen sich Veränderungenein: Es wird bunter, die Tageszeiten passensich den Bedürfnissen der Besucher an.Das ist auch gut so. In den letzten Jahrenist das Schöne, das Ästhetisierende wichtiggeworden. Das hängt direkt mit der verstärktenAufmerksamkeit zusammen.Reicht die Aufmerksamkeit von aussen,einen Brauch lebendig zu halten?Die Wirkung als Ganzes beruht auf einerKombination von Gegensätzlichem, aufdem Kontrast zwischen leerer Landschaftim Winter und der Buntheit der Chläuse,von Grün im Sommer und dem Rot-Gelb derSennen, von Kalt und Warm, von Innen undAussen.Es ist entscheidend, dass das Chlausen amAlten Silvester stattfindet, wenn sonstnichts los ist. Auch die Kombination vonBewegung, Musik, Farbe und Landschaft istwesentlich. Das macht aus dem UrnäscherBrauchtum eine Art Gesamtkunstwerk.Wichtig sind zudem Lokale wie die Sonneim Tal oder die Krone in Urnäsch. Nicht zuunterschätzen sind Leute aus dem Dorf miteiner Vermittlungsfunktion nach aussenwie Walter Irniger, Hans Hürlemann, dieWirtin im Ochsen. Gerade im Appenzellerlandkönnen Einzelne sehr viel bewirken.Aber: Die Sonne im Tal, viele Läden sindgeschlossen, ein Projekt wie das Reka-Dorfwar eine (übrigens gelungene) Notmassnahmegegen die Abwanderung. Die wirtschaftlichenSchwierigkeiten, mit denendas Dorf konfrontiert ist, frappierten mich.Das wirft ein schlechtes Licht auf das Publikum,das jeweils zum Alten Silvesternach Urnäsch pilgert, das sich aber nichtwirklich auseinandersetzen will, sondernauf Unterhaltung und Konsum aus ist. Dasage ich dann: <strong>Obacht</strong>!Das mediale, aber auch das wissenschaftlicheInteresse kann nicht nur eine die Innovationstimulierende Wirkung haben,sondern Entwicklungen behindern, einenBrauch einfrieren.Jedes Interesse hat die Wirkung einesScheinwerfers, der die Sache besser sichtbarmacht. Das ist stimulierend, man istmotiviert, sich gut darzustellen. Es hataber die Folge, dass man sich oft den Erwartungenund Wünschen anpasst. Für unsWissenschaftlerinnen und Wissenschaftlerist es immer ein schwieriges Abwägen. Dasbetont Regine Bendix in ihren Untersuchungenzum «Silvesterklausen in Urnäsch»bereits 1984 (Appenzeller BrauchtumBd. 1). Wir müssen akzeptieren, dass esimmer noch eine Hinterbühne gibt, die füruns Aussenstehende hermetisch wirkt, zuder man keinen Zutritt bekommt. Manmuss ein Stück Intimität auch im Brauchtumbehalten können, sonst funktioniert esnicht mehr. Das ist wichtig und muss manrespektieren – finde ich jedenfalls. Wenn etwaslebendig sein will, muss es eine Kommunikationzwischen den Beteiligten ge-THEMA | 14


«Jedes Interesse hat die Wirkung eines Scheinwerfers, derdie Sache besser sichtbar macht. Ein Projekt wie dasReka-Dorf war eine (übrigens gelungene) Notmassnahmegegen die Abwanderung.»ben, die nicht auf die Bühne und ins Scheinwerferlichtkommt.Auf der anderen Seit sind wir alle, auch dieLeute in Urnäsch, sehr gewohnt, mit Öffentlichkeitumzugehen und gehen nichtgleich kaputt bei etwas mehr Aufmerksamkeit.Noldi Alder stellt sich dieser Problematikbewusst und persönlich und scheutsich nicht, sie in der Öffentlichkeit auszutragen,wie er es mit «Loba» getan hat.Das macht Mut, gerade einer nachkommendenGeneration. Erst dann gibt es eineTradition, die nicht stehenbleibt, sondernweitergeht. AChristine Burckhardt-Seebass ist erimitierte Professorinfür Volkskunde, Basel, ehemalige Stiftungsrätinvon Pro Helvetia und gehört dem <strong>Kultur</strong>ratappenzell Ausserrhoden an.15 | THEMA


FENSTERBLICKSeit den 60er Jahren lädt der Galeristaus Zürich Künstler wie Andy Warhol oderRingo Starr ins Appen Zellerland ein.Was interessiert ihn an der Vermittlungvon Brauchtum in die Gegenwart?Bruno Bischofberger im Gesprächmit Hanspeter SpörriSie kommen oft und immer wieder nachUrnäsch. Warum haben sich hier viele Traditionenerhalten, die andernorts verlorengegangen sind.Weil Urnäsch nicht so vom Tourismus überflutetist wie zum Beispiel das Dorf Appenzell.Ich liebe Innerrhoden und bin selbervon Geburt Innerrhoder. Aber wie auch beispielsweisein Stein hat man in Appenzellsehr vieles dem Tourismus geopfert. DieOrte im Ausserrhoder Hinterland sind nochsehr authentisch, obwohl auch hiermanches für den Tourismus gemacht wird.Und das ist ja vielleicht auch nötig, um denLeuten mehr Einkommen zu verschaffen.Das Chlausen ist in den letzten Jahren populärergeworden?Als ich vor 45 Jahren das erste Mal hierwar, waren nur wenige Gruppen unterwegs.Ich fürchtete damals, der Brauch werdeaussterben.Sie kommen auch dieses Jahr wieder?Natürlich! Am Alten und am Neuen Silvester.Meistens bringen Sie Gäste mit. Wie erklärenSie ihnen das Silvesterchlausen?Es ist nicht leicht, das in wenigen Wortenzu erklären. Wenn jemand gar nichts weissdarüber, sage ich, es sei ein Sonnenwendebrauch,mit dem das alte Jahr vertrieben,das neue begrüsst wird. Die Leute feiern,indem sie in Gruppen von Haus zu Haus ziehenund vor jedem Haus singen, sich dazuspeziell anziehen, zum Teil mit Materialienaus der Natur, zum Teil mit hoch entwickelten,hoch verrückten, fast kitschigen,fast chinesisch anmutenden Gewändern,Hüten und Hauben. Mit Schellen und Glockenvertreiben sie das Böse. Der Brauchstammt aus alten, vielleicht heidnischenQuellen. Und der Gesang ist ohne Worte,wie er in den meisten Alpengebieten im 19.Jahrhundert ausgestorben ist, sich nur inwenigen Gegenden erhalten hat, am archaischstenfrüher im Muotatal. Und ebenim Appenzellerland, wo die junge Generationwieder stark interessiert ist. In den letztenJahren hat auch das Chlausen einenAufschwung erlebt, was mich sehr freut,auch Jugendliche betreiben es mit Inbrunst.Gerne komme ich mit Fremden amSilvester nach Urnäsch; am schönsten istes mit nur wenigen Leuten. Dann gehen wiram Morgen über Land, ich weiss natürlich,wohin. Wir haben noch vor wenigen JahrzehntenGruppen gesehen, die Hauben verwendeten,die um den Ersten Weltkrieg herumentstanden sind. Und einmal eine ganzschreckliche Gruppe mit Saublatern, ganzwüeschte Chläuse, zum Fürchten.Fortsetzung auf Seite 25 FFENSTERBLICK |16


AuFTRITT¬ der eINGeleGte BIldBoGeN (eIN linoldruckvon vera marke) ISt NUr IN der GedrUcKteNVerSIoN erSIchtlIch.Bestellen SIe dIese dIrekt beI:Appenzell AusserrhodenAmt für <strong>Kultur</strong>Margrit BürerDepartement Inneres und <strong>Kultur</strong>Obstmarkt 19102 HerisauMargrit.Buerer@ar.chVERA MARKEInvn° 1593 [Ausblick VI], 2009Linoldruck (Kaskad, schwarz 160g/m 2 ), 265 x 390 mm, Druck: Urs Graf, SpeicherVera Marke malt. Auch wenn sie einen Druck macht, denkt sie als Malerinan Farbe und Farbauftrag, an Schichten, an das Licht und wie es sich aufden Bildträger bannen lässt, an den Blick, der sich im Dargestellten verfängt.Dabei hat sie im Falle des Linolschnittes, den sie für den <strong>Obacht</strong>-Auftrittentwickelt hat, das Verfahren herkömmlicher Druckvorgänge umgekehrt.Nicht die schwarzen Flächen und Flecken sind die erhabenen und somit gedrucktenTeile, und entsprechend sind die weissen Flecken nicht die Vertiefungen,als die sie erscheinen. Auch dieser «Trompe-l’oeil»-Effekt im Druckverfahrenentspricht Malereiinteressen. Die Lichtlöcher sind Material, aufgetrageneFarbe; die Leere ist nicht nichts.Fast versinkt das Blatt im Nachtschwarz des Bildträgers. Noch ein paarSchnitte mit dem Messer mehr, und die aus dem Nichts auftauchende Landschaftwürde in zunehmender Abstraktion von immer weniger weissen Fleckenverschwinden, sich in handgeschnitzelte Pixel auflösen, zerrieseln, sichin der Dunkelheit verlieren. So aber bleibt der nahe Blick an den Graten hängen,an den feinen Massierungen von Farbe, diesem Weiss, das auf demschwarzen und unterschiedlich durchschimmernden Papier zu Silber mutiert.Der Himmel beginnt zu atmen, das Blattwerk vibriert. Es raschelt –vielleicht das Eichhörnchen im Versteck.Handfeste Dinge wie Laub und Äste entsprechen jenen Partien, die innerhalbdes Druckverfahrens unberührbar bleiben, die nicht vorhanden, daweggeschnitten sind. Ob darin die Magie der Dunkelheit verborgen liegt?Es ist der Blick aus dem Atelier der Künstlerin – Richtung Urnäsch, beinah.Vielleicht würde man hinter dem Geäst den Säntis erkennen. Doch dieserinteressiert weniger als die Kunst des Verhüllens, als das Verschleiern alsästhetisches Prinzip. Damit knüpft Vera Marke an Themen an, mit denen siesich schon lange auseinandersetzt und die jüngst in Bildserien wie «DasGlück des Scheiterns» zum Thema Vorhang kulminierten. Malereien aufschwarzem Stoff gehen dem Linolschnitt unmittelbar voraus.Ausblick VI richtet sich auf das Rätsel von Nacht und Darkness, auf letztlichUnfassbares. (ubs)Vera Marke ist 1972 in Brugg geboren, im Thurgau aufgewachsen und lebtin Herisau. Nach der Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule in Kreuzlingenschloss sie 2006 das Studium der Bildenden Kunst an der ZürcherHochschule der Künste ab. 2006 erhielt sie einen Werkbeitrag der Ausserrhodischen<strong>Kultur</strong>stiftung und 2009 den Werkbeitrag der Stiftung Kunstund Appenzell.


Das Furchtbare gehört dazu?Es gehört alles dazu, was da gemacht wird.Mir gefiel auch, als ich in einer Gruppe vonwüeschten Chläusen einen entdeckte, derals Haare dicke, lange, blaue Plastikfädentrug, die aus einer Autowasch-Anlagestammten. Das war nicht traditionell, hataber gepasst. Auch das Schelleschötte, dasSchütteln der Rollen, gehört dazu. Die Rollenweibererinnern mich an die Statue derArtemis Brauronia, deren Kultbild im Tempelvon Ephesus stand, einem der siebenWeltwunder der Antike – im weitesten Sinnein Fruchtbarkeitssymbol.Sie handeln mit zeitgenössischer Kunst, liebenaber auch die Appenzeller Volkskunst.Finden Sie im Brauch des Silvesterchlausensauch Aspekte der Kunst?Es ist etwas Magisches dabei, es geht umGut und Böse, um Seelisches, um Ästhetisches,um Ausdruck. Und es entsteht – wieauthentische Volkskunst – aus einem echtenBedürfnis heraus.Wann ist Appenzeller Bauernmalerei authentisch?Wenn der, der das Bild malte, um ein echtesBedürfnis zu befriedigen malte, für einenechten Auftraggeber. Die Abnehmer wareneinst Bauern, die ihre Häuser porträtierterhielten, ihre Alpen, den Säntis oder eineAlpfahrt als Erinnerung an die halbnomadischeSommerzeit, an die Freiheit, an einLeben, das vielleicht mit jenem der Hippiesverglichen werden kann, ganz mit der Naturund den Tieren verbunden. Damals hatman ja auch noch wirklich auf der Alp gelebt,ist nicht täglich ins Tal gefahren.«Ich gehe nach Urnäsch, weil es nicht vom Tourismusüberflutet ist. Die Orte im Ausserrhoder Hinterland sindnoch sehr authentisch...»Die zeitgenössischen Künstler arbeitenheute mit einer ähnlichen Authentizitätwie die früheren Bauernmaler?Die grossen Künstler sicher, was abermanchmal nicht ganz einfach zu sehen ist– beispielsweise bei Andy Warhol, der diemeisten seiner Werke im Siebdruckverfahrendruckte, sie aus fotografischen Vorbildernableitete. Einem Laien zu erklären,was das für ein authentisches Bedürfniswar, das ist schwierig. Dazu müsste maneigentlich die ganze Kunstgeschichte erläutern.Warhol hat beispielsweise Mao als Sujetgewählt.Das war keine politische, nur eine ästhetischeBotschaft. Mao malte er in meinemAuftrag. Ich bat ihn, wieder einmal ein normalesBild, ein Portrait, zu machen, aber ineiner grossen Serie, für meine Kunden, fürdie Sammler. Ich schlug ihm Einstein alsMann des Jahrhunderts vor. Aber am nächstenMorgen kam er mit der Idee, Mao zuverwenden. Ich erschrak, fand, das werdedoch niemand kaufen, Mao, der uns alle zuKommunisten machen wollte. Ich fragteWarhol, wieso er auf Mao gekommen sei,und er antwortete, Mao sei die berühmtestePerson auf der Welt. Niemand werde vonmehr Leuten erkannt. Und diese Art vonBerühmtheit interessierte ihn, ein Abbild,das schon «verbraucht» ist.Vielleicht ist das jetzt etwas weit hergeholt,aber gibt es auch da einen Bezug zu Urnäsch?Hat auch Warhol mit seiner Pop Artin einem gewissen Sinn aus dem Unbewusstenheraus gearbeitet, wie die Silvesterchläuseversuchten, das Böse zu bannen?Ich war mit Warhol auch einmal in Urnäsch,einen ganzen Tag lang, und habe mit ihminteressante Sachen erlebt. Das Unbewusstespielt bei jeder Person eine Rolle. Beiweniger schulisch gebildeten Menschen,die mit der Natur leben, spielt es vielleichteine noch grössere Rolle, also zum Beispielin der echten Volkskunst. Den Praktizierendenist es aber eben nicht bewusst, dass esda um Unbewusstes geht.ABruno Bischofberger (*1940) ist Kunsthistoriker,Kunstsammler und Kunsthändler. 1963 eröffnete erseine erste Galerie in Zürich. Er vertritt das Werkbedeutender Künstler wie Miquel Barceló,Jean-Michel Basquiat, Julian Schnabel, EttoreSottsass, Jean Tinguely und Andy Warhol.25 | FENSTERBLICK


FRISCHLUFTDer Schriftsteller Tim Krohn kenntUrnäsch aus den Medien. Für OBACHTKULTUR denkt er über das Gewicht deskulturellen Rucksacks nachund was im Glarnerland anders istals im Appenzellerland.«Urnäsch als geografischer Ort ist nichtwichtig, sondern exemplarisch zu verstehen., Richisau, sindebenfalls Brutstätten, denen man diesnicht unbedingt ansieht. Da sind sich dasAppenzeller- und das Glarnerland dochrecht nah. Es geht mehr um die Frage nachden Bedingungen, welche Traditionen,aber auch weltgewandte Weitsicht entstehenoder notwendig werden lassen.Oder nicht.» So antwortete mir UrsulaBadrutt auf mein Zögern, als sie mich bat,für <strong>Obacht</strong> <strong>Kultur</strong> zu schreiben, und bis vorkurzem hätte ich das blind unterschrieben.Da kannte ich das Appenzellerland nochnicht! Dann sah ich einen Film über die Aldersund überhaupt die Urnäscher undstaunte Bauklötze.Ich muss vorausschicken, ich bin nicht in‹Elmä› oder auf der Richisau gross geworden,also an den Rändern des Glarnerlandes,sondern vorn im Flachen, in Glarusselber. Doch auch in den entlegenstenSiedlungen unseres Kantons wüsste ichkeinen, der mit einem Haus auf dem Kopfim Morgengrauen singend und tanzenddurch den Schnee zieht oder sich mit seinenMannen in der guten Stube zu einemGlas Grog und einem Stegreifjodel versam-melt. Wenn man das Vieh zum Melkentreibt, wird nicht ‹ghuiet›, sondern beimNamen gerufen oder der Bläss wird geschickt.Das Glarnerland, ich sage es mitetwas Wehmut, kennt kaum noch Traditionenausser dem jährlichen Fridolinsfeuerund winters ein paar Bettelbuben, die sichmit Kuhschellen und immer öfter durch einfachesKlingeln an den Türen ein paarCarambarstengel und «Zwänzgerrrollä» ergatternwollen.Doch gerade deshalb: Im Glarnerland grosszu werden, war für mich ein Paradies. Eswar nicht die Enge, es war die Leere, diemich antrieb. Nicht, dass das Glarnerlandkulturell verarmt wäre – nirgends auf meinenReisen habe ich solchen Kunsteiferentdeckt, kaum jemand im Tal, der nichtmusiziert, malt, theäterlet oder einen Skisportzur Kunst erhebt. Das Besondere amGlanerland ist: Seine grösste Tradition istder ewige Dilettantismus. Das ist nicht despektierlichgemeint, tatsächlich haben wirja auch eine Menge hochverdienter Kunstschaffender.Was fehlt, sind Regeln. Jedererfindet seine Kunst neu, alles ist immerwieder neu, alles Neue ist nicht nur erlaubt,sondern wird freudig begrüsst. Das Glarnerlandwar immer stolz auf seine Innova-FRISCHLUFT | 26


tionen, Industrialisierung, Fabrikgesetz, dieErfindung der Suppenwürfel. Das ist so bisheute. Als Sechzehnjähriger drückte mirHerr Brupbacher, der Leiter der Musikschule,den Schlüssel zu seinen Räumen in dieHand und sagte: Mach. Tag und Nacht verbrachtenich und meine «Laborgenossen»dort, der Securitaswächter war instruiertund liess uns machen. Für unsere Konzertemit wilder, improvisierter Musik und die amehesten als dadaistisch zu bezeichnendenTheaterabende stand uns die Aula der Kantonsschulezur Verfügung, der <strong>Kultur</strong>fondsgab uns zweitausend Franken für Kulissen,und dreihundert Menschen kamen und sahensich unser Werk an mit derselben Neugierdeund Kritiklust, mit der sie auch dieKonzerte des Madrigalchors und Schwänkedes Theater Glarus ansahen. Das Glarnerlandist liebevoll gepflegtes Brachland, undeben die Tatsache, dass es an Vorbildernfehlt, machte uns so reich. Alljährlich erfandenwir die Welt neu, ich sammelte Erfahrungenals Maler, Journalist, Schauspieler,Regisseur, Schriftsteller und eben Musiker,für alles fand ich eine Plattform,nichts war tabu.Es war eine herrliche Zeit – abgesehen vondieser Leere, die mich ununterbrochen verfolgte,von der Einsamkeit, die eben auchdaraus resultiert, dass jeder auf anderenBaustellen unterwegs ist, dass es keine gemeinsameSprache gibt, dass das Dorf jedesWochenende und in den Ferien ausgestorbenist, weil die Glarner sich in ihre«Auch in den entlegensten Siedlungen unseres Kantonswüsste ich keinen, der mit einem Haus auf dem Kopf imMorgengrauen singend und tanzend durch den Schnee zieht.»Häuschen in die Berge oder zu Verwandtenverziehen und nur die Eingewanderten,wie wir es waren, noch durch dieGassen streunen, immer unglücklich verliebt,immer auf der Suche, immer etwasverstossen.Lange dachte ich, dieses Gefühl der Leeresei weniger dem Glarnerland geschuldetals den üblichen Nöten der Pubertät. Dessenwar ich mir nicht mehr so sicher, alsich Noldi Alder sagen hörte: «Wenn man ineiner Wirtschaft anfängt zu zauren, werdenalle ruhig, Ich weiss eigentlich auchnicht wieso – es gehört vielleicht eine gewisseBesinnung dazu, eine wilde Religion,vielleicht ist ein Urgedanke dahinter, es istvielleicht Disziplin, dass man sich daranhält, oder ein Geist, der einen beschützt.Die Appenzeller kannst du an den Ohrennehmen mit Zauren. Auf der ganzen Welthört jeder hin, da ist jeder wie hypnotisiert.Er merkt sofort, dahin gehöre ich.»Ein solches Erbe kenne ich nicht. Das,denke ich, muss traumhaft sein. Traumhaftund ein Fluch. Das klingt wie eine Liebe, soheftig, dass es schmerzt, so unentrückbar,dass es quält. Und doch so reich, so schön!Meine Vorstellung vom Fluch verstärktesich, als ich den Alders im Film weiter zuhörte.«Mit den Alderbuben hatten wir Riesenerfolge»,sagt der Noldi. «Aber ichfühle mich hier etwas eingeengt. Ich habeTraditionelles verrückt gern, ich mache eigentlichgar nichts anderes als traditionelleMusik, aber traditionelle Musik, dielebt.»Da kommt ein Schweigen auf, dann sagtder Bruder: «Ich mache halt Musik, die manmehrmals hören kann und die schön anzuhörensein soll, und der Noldi macht eherexperimentelle Musik. Wenn ich ein Konzerthöre von ihm, würde ich das gleicheKonzert nicht zweimal hören. Aber einmalhöre ich es, weil ich interessiert bin, was ermacht und was es überhaupt gibt.»Nein, sie streiten nicht, sie sitzen nur undschweigen, dass da eine Enge fühlbar wird,die ich im schmalen, kalten Zigerschlitz sonie erlebt habe. Und ich denke, dass ich dieUrnäscher doch mehr um ihre prächtigen,selbstbewussten Kühe und die langhaarigenGeissen beneide als um ihr kulturellesErbe. Denn wie der Noldi sagt: «Das Allerschönsteist, wenn man singen kann, ohnedass man sich an etwas anlehnen muss. Wirkönnen so frei sein – wenn wir wüssten, wiefrei wir sein könnten, würden wir ‹verchlopfen›.»ATim Krohn (*1965) wuchs in Glarus auf und lebt alsfreier Schriftsteller in Zürich. Er schrieb unter anderemdie Romane «Quatemberkinder» und «VrenelisGärtli». Sein neuester Roman «Ans Meer» erschiendiesen Herbst bei Galiani Berlin.Die Zitate im Text sind dem Film «Heimatklänge» vonStefan Schwietert entnommen.27 | FRISCHLUFT


RADARAlexandra Hopfim Gespräch mitUrsula BadruttDu hast bei der Ausstellung «För Hitz ondBrand» Arbeiten für das Museum in Urnäschentwickelt. Was interessiert dichan dieser Talschaft, ihrem spezifischenBrauchtum?Ich hatte vor einigen Jahren die Gelegenheit,dem Chlausen-Ritual am Alten Silvestervom frühen Morgen bis in den Abendbeizuwohnen. Es hatte mich damals sehrbeeindruckt, nicht nur die bizarren Erscheinungen,auch die emotionale Aufgeladenheit.Auf ihren Routen formierten sich dieSchuppel jeweils zu einer Kolonne und hobensich als mäandernde Linie in der winterlichweissen Landschaft zwischen denKoordinaten der Bauernhöfe ab. Spannendfand ich, wie sich im Erlaufen der Distanzendie Landschaft räumlich erschloss, wiegeo grafisch entlegene Höfe durch den Besuchder Gruppen sichtbar in einen sozialenKontext eingebunden wurden odereben nicht. Man konnte die Art der Chläuseschon von weitem an ihren Silhouetten erkennen.Besonders in der Dämmerungwirkten diese Bilder fast archaisch. Ichhabe damals die drei unterschiedlichenChlauscharaktere studiert, die Wahl derMaterialien und Ausdrucksmittel z.B. dieGestaltung der Kopfbedeckungen, die vomNest zum Bauernhaus reichten und Geschichtenerzählten. Für mich erzählten sievom Wunsch, eine schon mythologisierteBrauchtumskultur authentisch in Szene zusetzen – aber auch zu ästhetisieren. DieseArt der Selbstreferenz hat mich interessiert.Ich habe es als ein Fest der Bestätigungdes Appenzeller Brauchtums wahrgenommen,eine Lust am Bewahrenwollen,eine Art Beschwörung von Restmagie geradeauch als Gegenpol eines ansonstendoch durchmodernisierten Lebens.Der Anlass der Ausstellung in Urnäsch gabmir dann die Gelegenheit, tiefer in das Themaeinzudringen und nach Geschichte undHintergründen zu forschen.Und wohin hat dich dein Nachforschen geführt?Meine Recherchen führten mich an denPunkt, dass die Ursprünge des Rituals nichteindeutig sind, aber viel mit der ökonomischenund politischen Situation in derGeschichte des Appenzellerlandes zu tunhaben. Anhand von Fotografien kann vielesRADAR | 28


elegt werden. Schon zu Anfang des letztenJahrhunderts wurde verstärkt eine Archaikum die Geschichte des Chlausens konstruiert,was dem damals aufkommenden Bedürfnisnach Identitätsstiftung entsprach.Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es auch inder Schweiz erneut ein Bedürfnis nach Stabilität,man suchte wieder nach dem Authentischen.Es gab eine Erinnerung, dieauch ästhetischer Natur war, die als echtund unverbogen empfunden wurde undsehr stark an einen Naturbegriff gebun -den war. Das war auch die Geburt derWüeschten, die somit eigentlich eine moderneGestalt repräsentieren. Die Restmagiewäre die Folge einer damals zunehmendenModernisierung, die als Entfremdungempfunden wurde und daher die Wiedererschaffungvon etwas Originärem nachsich zog, welches eben dieses Spannungsverhältniswiderspiegelte.Wenn du heute einem dieser Brauchtümerwie Alpfahrt oder eben dem Chlausen begegnest,bleibst du die analysierende Beobachterinund Forscherin? Oder löst die«Restmagie» auch Emotionen aus?Das Analytische steht für mich nicht im Widerspruchzum Emotionalen, es koexistiert.Es geht ja im Ritual um Austausch von Energien,für die ich mich, damit sie wirken,empfänglich mache, bewusst oder unbewusst.Ich kann mich sehr gut an die Melancholiedes Gesanges der Chläuse, des«Die dämonischen Seiten der Moderne befinden sich dort,wo etwas wegfällt, wegrationalisiert, nicht ersetzt, unsichtbargemacht worden ist. Sie tauchen dann an andererStelle verzerrt wieder auf als Symptom oder als Prothese...»29 | RADAR


«Ich kann mich sehr gut an die Melancholie des Gesangesder Chläuse, des Zäuerlis, erinnern, auch an das Rauschhafte.Das ist die Magie, die ich meine, die Aufgeladenheitder Luft und der Körper.»Zäuerlis, erinnern, auch an das Rauschhafte.Das ist die Magie, die ich meine, dieAufgeladenheit der Luft und der Körperund das würde ich auch heute noch soempfinden – aber auch die Moderne hatihre «dämonischen» Seiten.Was wird mit dem Dunklen, Rauschhaftentransportiert? Kannst du die «dämonischen»Seiten noch etwas ausführen?Dazu fällt mir wieder der ambivalenteWüeschte ein, der Erinnerung und Vergessenrepräsentiert. Was nicht tradiert wird,vergisst man. Die Gegenbewegung liegt imRitual und in dem, was exerziert oder exorziertwird. Dies entzieht sich der Sprache,es findet seinen Ausdruck im Gestus, Tanz,Gesang und in der Maske. Ängste und Ambivalenzenschreiben sich wiederholt insRitual ein und werden dort ausagiert. Ansonstenwerden sie zur Heimsuchung mitWiedergängern. Die dämonischen Seitender Moderne befinden sich dort, wo etwaswegfällt, wegrationalisiert, nicht ersetzt,unsichtbar gemacht oder unlesbar gewordenist. Sie tauchen dann an anderer Stelleverzerrt wieder auf als Symptom oder alsProthese...Kannst du Beispiele dazu nennen?Die Auslagerung der Produktion von Souvenirsin Billiglohnländer, die Tarnung vonBunkern als Ferienwohnungen, der Bauer,die Bäuerin im Erotikkalender, Heidilandund künstlicher Schnee...Aby Warburg (1866–1929), der deutsche<strong>Kultur</strong>wissenschaftler, bezeichnet in seinemReisebericht «Schlangenritual» denMaskentanz der Indianer als «getanzteKausalität», die das Unerklärliche fassbarmacht. Lässt sich das auf das Chlausenübertragen?Bei Warburgs Bericht ging es um eine Beschwörungdes Blitzes in Form von Schlangen,die sich die Tänzer einverleibten. DerAkt der Aneignung und symbolischen Verkörperunghatte das Ziel, Regen herbeizuführen.Es war ein Wetterzauber. DasAusagieren dämonischer Kräfte im Ritualwar sowohl Bändigung als auch Transzendenz.Beim Chlausen hat in der Verwandlungund Maskierung, dem Tanz und derGesten dieses Moment überlebt, aber alseine Art Re-enactment, eine Nachstellung,inmitten eines Diskurses über die Frage, obund wie man sich in und mit einer hochtechnologischenUmwelt verknüpfen kann.Welchen Einfluss hat die zunehmende Aufmerksamkeitder Öffentlichkeit, Wissenschaft,Touristik auf Rituelles, auf Rituale?Der Einfluss ist unter anderem sichtbar inden Details der Verkleidung und der Art derMedialisierung des Brauches. Er wird entwederidealisiert als Bewahren traditionellerhandwerklicher Produktionsweisenoder eventuell naiv überzeichnet, wobeiauch gleichzeitig ein ironisches Momentmitschwingen kann als Überdosis von Au-RADAR | 30


Alexandra HopfBILDBOGEN SEITEN 9/10 UND 31/32Gehülfe Ernesto, 2009, Hinterglasmalerei, 50 x 40 cm;Analyst, 2009, Barytfoto, 49,5 x 34,4 cm;She touched Light with one Hand, 2009, Hinterglasmalerei, 50 x 40 cm;The Marriage of Heaven and Hell, 2009, Barytfoto, 50 x 35 cmthentischem. Das heisst aber auch, dass indirektKritik an Einflüssen eventuell im (un)bewussten Weglassen stattfindet. Es reflektiertauf jeden Fall immer ein Bild der Zeit.Inwiefern findet dein Interesse am ChlausenNiederschlag in deinem Schaffen?In meiner Arbeit geht es unter anderem umeine Befragung des Sakralen, von Nischendes Sakralen in einer säkularisierten Zeit.Diese Befragung geschieht auf indirekteWeise, das Dargestellte ist chiffriert undentspricht dem chimärenhaften Verhältnisvon Bewusstem und Unbewusstem. Hierspielt das Chlausen eine zentrale Rolle. Aufder inhaltlichen Ebene lässt sich vom Begriffdes Unheimlichen ausgehen. Das Unheimlichehat Sigmund Freud als das unseigentlich Vertraute definiert. Durch denProzess der Zivilisation wurde uns aber unserewilde, animalische Seite entfremdet.Daraus lässt sich folgern, dass die kollektiveAngst vor der gewaltsamen Rückkehrdes Verdrängten allen kulturellen Anstrengungeneingeschrieben ist. Auf der visuellenEbene vollzieht sich diese Beunruhigungim Begehren des Blicks. Solche komplexenBezugssysteme versuche ich übermeine Arbeit offenzulegen.AUnheimliches geht von den Bildern aus, die Alexandra Hopf für dasder Talschaft Urnäsch gewidmete <strong>Obacht</strong> zusammengestellt hat.Es ist nicht allein die Düsternis der Farbe Schwarz, aus der die Bilderin Medaillonform auftauchen. Es sind die Bilder selber, die unseremkollektiven Bildgedächtnis entsteigen und im Sinne SigmundFreuds das Heimelige mit dem Unheimlichen verknüpfen.Da ist das Bild «Analyst»: Über die Fotografie des jungen französischenPsychoanalytikers Jacques Lacan in lässiger Pose legt sichein Eulengesicht, eine Maske vielleicht. Fasziniert beobachten wirdie Metamorphose. Der «Analyst» ist umgekehrte Sphinx, ist Projektionsfläche,in der Arzt und Patient, Begehren und Macht, Angstund Lust zusammenfallen. Eigenartiges geschieht auch mit demBild «Gehülfe Ernesto», das an eine Fotografie von Che Guevaraals junger Mann erinnert, während der phallische Kopfschmuckeher an ein Trachtenelement, aber auch an ein Horn denken lässt.Beide schauen sie uns an. Die Künstlerin unterstreicht nicht nurden Moment der Metamorphose, sondern auch die Bedeutung desBlicks, des Sehens. Das Sehen des Blicks, zum Teil als Sehstrahlenwie Blitze sichtbar gemacht, verbindet und betont gleichzeitig dieUnnahbarkeit.Die Bildform des Medaillons bezieht sich auf die Porträtmalereides 19. Jahrhunderts, die auch in Edgar Allan Poes Kurzgeschichte«Das ovale Porträt» von 1842 eine zentrale Rolle spielt: Je lebensechterdas gemalte Bild wird, desto lebloser wird das Modell,das am Ende tot ist. Zu dieser Zeit wurde die Fotografie erfunden,die das Oval als Form übernahm.Zu den Bildern kommen Texte von orakelhafter Poesie. Es sind ausSpam-Mails für Medikamente wie Viagra, Valium oder Antidepressivazusammengetragene Zitate, die den Moment des Unerklärlichenuntersteichen und gleichzeitig in surrealem Bezug zumSichtbaren stehen.Die 1968 in Kassel geborene und heute in Berlin lebende Künstlerinhat 2007 im Rahmen von «För Hitz ond Brand – zeitgenössischeKunst in Appenzeller Museen» mit den Arbeiten «mist / myth», aberauch mit «healer/gift/healed» im Appenzeller Brauchtumsmuseumin Urnäsch nicht nur für Kontroverse gesorgt, sondern auch ernsthafteAuseinandersetzung gefordert. Dass sie auch in der Wahl derTechnik weniger den Zufall als die Präzision bestimmen lässt, zeigtdie umgekehrte Arbeitsweise der Hinterglasmalerei, die sie gerneanwendet und in der die tiefsten Schichten zu den obersten werden.(ubs)33 | RADAR


GEDÄCHTNISDIE VERNUNFTDES ABERGLAUBENSDie Bibliothek des Urnäscher Heilers HansJacob Tribelhorn gibt Auskunft über dasWissen aus Büchern und die Kraft der Psyche.Hans Jacob Tribelhorn (1831–1917) wird inHans Hürlemanns Buch «Urnäsch: Landschaft– Brauchtum – Geschichte», das2006 im Appenzeller Verlag erschienen ist,als «ausgezeichneter Beobachter und Menschenkenner»geschildert, der seinen Kundenpraktische Hinweise zur Lebensführunggab. «Mosch gad mönder suufe!», soller einem Patienten geraten haben, derklagte, das Blut steige ihm in den Kopf. Undeinem Bauern, der jammerte, seine Kühegäben viel zu wenig Milch, es sei etwas verhext,habe er empfohlen: «Gang du gad heego fuettere ond melche, wenn s Zit isch,nüd erscht Nomittnacht, wenn d fertiggjasset hescht – du choge Chalb.» DieseAnekdoten wurden von Lina Hautle-Kochvermittelt, die auch im Appenzeller Kalenderfür das Jahr 2007 einen Beitrag überden Heilkundigen «Tribelhorne Jökli» verfasste,in dem sie erwähnte, dass in Urnäschmanche vermutet hätten, dieser stehemit dem Teufel im Bunde.Tribelhorn lebte unverheiratet auf demHof Ruppen. Bei seinem Tod hinterliess erein grösseres Vermögen und unter anderemauch zirka 60 Bücher. Einige dieserBände sowie handschriftliche Notizen befindensich nun im Besitz des aus Tirolstammenden ehemaligen Antiquars undChemikers Adalbert Schmid, Geschäftsführereines Rheintaler Unternehmens,das kosmetische und zahnmedizinischeProdukte herstellt.Schmid hat eine umfangreiche Bibliothekmit alchemistischer und grenzwissenschaftlicherLiteratur zusammengetragen,die er später der Ausserrhoder Kantonsbibliothekübergeben will, zusammen mit denDokumenten und Büchern aus dem BesitzHans Jacob Tribelhorns. Diese geben einenEindruck von dem, was Tribelhorn vermutlichgelesen hat. Was er tatsächlich denBüchern entnommen hat, wissen wir abernicht. Wichtiger als die Lektüre seien fürTribelhorn seine eigenen Fähigkeiten undseine Persönlichkeit ge wesen, vermutetAdalbert Schmid: «Ge danken sind Kräfte»,weiss auch Schmid aus Erfahrung. Es seialso wohl die «innere Frömmigkeit» gewesen,eine in gewissem Sinn meditative Haltung,die Tribelhorn und andere Heiler indie Lage versetzt habe, ihren Patienten beizustehenund die ihnen teilweise grossenZulauf verschafft habe.Zu den Büchern gehören bekannte Titel,die seit dem 18. Jahrhundert als Zauberbücheroder Handbücher mit «magischemWissen» verbreitet waren: «Das sechsteund siebente Buch Mosis», «Achtes undneuntes Buch Mosis», «Sympathiemagie –Sympathiebuch oder die enthüllten natür-lichen Zauberkräfte und Geheimnisse derNatur», «Romanus-Büchlein». Letzteresenthält ein «Morgengebet, welches man,wenn man über Land geht, sprechen muss,das alsdann den Menschen vor allem Unglückbewahret». Als «Anleitung zum Aberglauben»beschreibt Stephan Bachter derartigeLiteratur in seiner Dissertation(Hamburg 2005). Nach Bachters Definitionkann «jedes Sinn- oder Wissenssystem zumAberglauben werden», wenn es fragmentiert,trivialisiert und popularisiert wird.Auch aus Sicht von Adalbert Schmid handeltes sich beim Inhalt dieser Bücher um«Volksaberglaube». Allerdings weist er daraufhin, dass zahlreiche Texte durchausvernünftig seien. Sie vermittelten Hinweiseüber die Verwendung von Kräutern, überRituale und Zeichen, die menschlichen Gefühlenund Ängsten eine konkrete Formgäben.Aus dem gleichen Buchbestand, allerdingshinzugefügt von einem späteren Besitzer,stammt der Band «Sympathie und Zaubermedizin»(Oskar Ganser, Leipzig, Verlagvon Max Altmann, 1921). Darin wird geschildert,worauf die Methode derartigerHeiler beruht: «Das Haupterfordernis ist,dass der Kranke dieser Heilmethode einenstarken Glauben entgegenbringt.» DerSympathetiker – also die behandelnde Person– müsse ebenfalls vollkommen davonüberzeugt sein, «dass er dem Patientenauch wirklich helfen kann und will». ImBüchlein «Zauber und Liebe – Lehrbuchder geheimen Künste, Liebe einzuflössen,zu erhalten oder zu vernichten» wird daraufhingewiesen, es handle «von der Sehnsuchtder Menschen nach dem Verkehremit der Geisterwelt». Und im achten undneunten Buch Mosis findet sich der Satz:«Seit Jahrhunderten wurden NationenGEDÄCHTNIS | 34


durch Geheimnisse gegängelt. Durch Verstandlassen sich die Menschen nicht leiten,wohl aber durch das Wunderbare.» – Ingewissem Sinn können derartige Bücheralso durchaus aufklärerisch gewirkt haben:Sie enthüllen psychologische, suggestiveMethoden, die immer noch wirksam sind.Ein Brief aus dem Jahr 1943, der sich ebenfallsim Besitz von Adalbert Schmid befindet,gibt Hinweise auf die Geschichte derBücher. Der Briefverfasser, Fritz Metzler inGoldach, schildert darin, wie er einige vonTribelhorns Büchern erworben habe, als erplante, dessen Nachfolger zu werden; davonsei er aber wieder abgekommen. Mitdiesem Brief bot er einige Bücher dem UrnäscherDorffotografen und Naturarzt UlrichZellweger an, der diese dann erwarb.Vor rund zehn Jahren zügelte Zellwegerhoch betagt ins Altersheim und überliessBücher und Dokumente Adalbert Schmid.«‹Mosch gad mönder suufe!›, soll Hans Jacob Tribelhorneinem Patienten geraten haben, der klagte, das Blut steigeihm in den Kopf.»¬ Text: Hanspeter Spörri35 | GEDÄCHTNIS


GEDÄCHTNISINS NEST KRIECHENEin Nest ist ein Bett, aber auch Brutstättefür <strong>Kultur</strong>produktionen und Traditionen allerArt. Gemeinsam ist allen Ausformungen vonNestern der Schutzbedarf. Deshalb sind in altenappenzellerhäusern die schwellen erhöht.Hohe Schwellen mussten überwunden werden,wollten sich die Leute zum Schlafenlegen. Bis vor etwa zweihundert Jahrenwaren Schlafkammern in Appenzellerhäusernvon kleinen Türen verschlossen.Schwellen, manchmal bis zu 40 cm hoch,erschwerten den Zutritt. Die Kopffreiheitwurde oben zusätzlich durch tief hängendeSturzbalken eingeschränkt. Unsere Vorfahrenmüssen also eher zu Bett gekrochensein, als dass sie sich in ihre Nachtgemächerzurückgezogen haben. Vermutlichwaren sie abends auch derart müde,dass ihnen die gebückte Gangart angemessenerschien.Über Motive für die hochschwellige Bauweisekönnen wir heute Vermutungen anstellen.Die folgenden Hypothesen stützensich auf Beobachtungen der Geschichteeinheimischer Bauten seit dem 15. Jahrhundert.Bauanalysen haben immer wiederbestätigt, dass die Detailausbildungen anAppenzellerhäusern mehrfach bestimmtsind. Konstruktion, Materialeigenschaften,Gestaltungswille und Nutzungsansprüchewaren gleichberechtigt an der Formgebungbeteiligt. Verwendete Baustile und Veränderungenan den Häusern laufen demzufolgeparallel mit Entwicklungen in Gesellschaftund Bautechnik.Gestrickte Appenzellerhäuser bilden einestatisch einwandfreie Hülle. Massive Balkenwurden fast lückenlos zusammengefügt.Tür- und Fensteröffnungen wurden kleingehalten, um das stabile Balkengefügenicht zu schwächen. Es ist der Qualität dieserKonstruktionsweise zu verdanken, dasswir noch heute ohne Angst vor Einsturzgefahrein fünfhundertjähriges Haus bewohnenkönnen. Im Gegensatz zum FachwerkoderRiegelbau mit Diagonalstreben basiertdie Statik von Appenzellerhäusern aufder so genannten Scheibenwirkung derStrick- oder Blockbauwände. Ein statischesKonzept, das wir beim modernen Holzelementbauwieder antreffen. Ein Appenzellerhausverfügt ausserdem über eine guteWärmedämmung. Massive Holzwände mitSchindel- und Täferverkleidungen garantierenein behagliches Raumklima. Nebenden Webkellern wurden seit dem 16. Jahrhundertausschliesslich die Arbeitsräumeim Erdgeschoss, später auch im 1. Obergeschoss,über Fensterzeilen grosszügig belichtet.Garnspulen für die Webstühle imKeller mussten in den oberen Geschossenerst vorbereitet werden. Für die feinenZwirn- und Spularbeiten sollte ausreichendTageslicht vorhanden sein.Die Schlafkammern in den Obergeschossenverfügten lange Zeit nur über bescheideneEinzelfenster. Ein wenig frische Luft musstegenügen. Weil mehr Licht gezwungenermassenauch mehr Kälte bedeutete, wurdendie Wandöffnungen möglichst kleingebaut. Um die Motive für den Einbau minimierterTüröffnungen noch besser nachvollziehenzu können, sollten wir uns Nutzungund Interieur einer historischenSchlafkammer vergegenwärtigen. Vermutlichlagen Laubsäcke und ein paar Deckendirekt auf dem Boden. Ein wenig aufsteigendeLuft aus dem Erdgeschoss undWarmluftlöcher über dem Kachelofen warendie einzigen Wärmequellen in den ofenfreienObergeschossen. Wir können davonausgehen, dass ein durchschnittliches Appenzellerhausmit Webkeller von einemDutzend Leuten bewohnt war. Verteilt aufdie zur Verfügung stehenden Kammernwerden um die vier Personen in einemRaum ihren Laubsack ausgelegt haben.Sollte der dringend benötigte Schlaf unge-GEDÄCHTNIS | 36


«Hohe Schwellen erschwerten den Zutritt. Die Kopffreiheit wurdeoben zusätzlich durch tief hängende Sturzbalken eingeschränkt.Unsere Vorfahren müssen also eher zu Bett gekrochen sein,als dass sie sich in ihre Nachtgemächer zurückgezogen hätten.»stört bleiben, war dafür zu sorgen, dass dasbisschen Wärme nicht bei jedem Türöffnenwieder abhanden kam.In den letzten Jahrzehnten wurden auchdie letzten hohen Schwellen und niedrigenStürze reduziert oder entfernt. Zentralheizungen,neue Schlafgewohnheiten, veränderteNutzungsansprüche an die (Schlaf)-zimmer und weniger Personen pro Haushaltwaren Grundlage für die Anpassungen.Lesbare Spuren an den Türöffnungen, dieuns auf frühere Ausbaustandards hinweisen,stehen in direktem Zusammenhangmit den angewendeten «Renovationsmethoden».Sie variierten von entschlossenbrachialbis zu überlegt-professionell. Unabhängigdavon können heute Schlafgemächererhobenen Hauptes und leichtenSchrittes betreten werden. Behaglich ruhigist es unterdessen im ganzen Haus. Derzeitgemässe Zugang ins Nest erfolgt jetztüber den Windfang.¬ Text: Fredi AltherrFredi Altherr ist Kantonaler Denkmalpfleger vonappenzell Ausserrhoden.37 | GEDÄCHTNIS


GEDÄCHTNISGEWÖHNLICHE SORGENUND GAUNEREIENDie Gemeinden sind gesetzlich verpflichtet,ihre Akten sinnvoll zu archivieren. Hans Hürlemannist daran, in Zusammenarbeit mit dem Staatsarchivdie Bestände des Urnäscher Archivs zu sichtenund zu ordnen. Dabei kommt auch Unerhörtes zumVorschein.Pergamente, verwitterte Lederbände undEinzelakten von der Kirchengründung 1417an – und das in ungewöhnlicher Vielfalt –gehören zum grossen Bestand. Bei derDurchsicht der Bussenbücher, Ratsprotokolleund Kirchen- und Armenrechnungengibt es immer wieder Unerwartetes zu entdecken,denn die Kirchhöri-Schreiber vergangenerJahrhunderte haben oft zwischenden nüchternen Abrechnungen und Protokollenpersönliche Beobachtungen von unerhörtenEreignissen festgehalten. Es gehtdabei nicht um Dinge, die den Lauf der Weltgeschichteverändert hätten. Es sind dieSorgen, Nöte, Gaunereien, Dummheitenund Schlaumeiereien, Gewohnheiten undBräuche der ganz gewöhnlichen Leute.SCHOREN UND FÜRBENIn einem ziemlich ramponierten, in zerschlissenesLeder gebundenen Band kommtim Anschluss an Protokolle der Martini-Kirchhören des 17. Jahrhunderts mit Abrechnungenüber das Kirchen- und Armengutein Reglement für den Messmer vor,das an der Kirchhöri «im Herpst 1650» inKraft gesetzt wurde. Bis jetzt ist nochnichts Ähnliches aus einer anderen Gemeindebekannt geworden. Zu Beginn wirdder Messmer ermahnt, er soll «gut Sorgzum Zÿt haben». Das heisst also, dass erdie teure Kirchenuhr sorgfältig warten soll.An einer anderen Stelle ist festgehalten,dass er die heiklen Stellen der Mechanikmit Fett zu salben habe. Erstaunlicher istaber die Fortsetzung: Da wird dem Messmervorgeschrieben, dass er die Uhr «vonder Lichtmess biss auff St. Gallentag nachder Sonnen richten, im Winter ungefahr einhalb Stund spätter.» Vom 2. Februar bis 16.Oktober soll er also die mechanische Turmuhrnach der Sonnenuhr richten, in derdunklen Winterzeit aber eine halbe Stundespäter. Die Erfindung der Sommer- undWinterzeit, die vor Jahren bei ihrer Einführungzu heftigen Auseinandersetzungenführte, ist also nicht so neu, wie die Gegnerdamals behaupteten.Die Hauptaufgabe des Messmers war wieheute, für Sauberkeit im Gotteshaus zusorgen und im Winter den Zugang zur Kirchentürfrei zu schaufeln. Im Deutsch des17. Jahrhunderts tönte das so: «Item er solldie Kilchen suber in Ehren halten und wenigistauff alle heilige Tag suber fürben. ImSommer die Mauren vom Staub reinigen.Im Winter soll er ein Weg zuo beiden Kilchenthürenüber den Kilchhoff schorenund fürben, auch vor beiden Kilchenthüren.»«Schoren» ist verwandt mit Scharren undwird im Dialekt noch immer verwendet fürdas Wegräumen von Schnee oder Mist.«Fürben» ist selten geworden, viele verwendenauch hier das allgemein deutscheWort «wischen». Was früher einmal die«Förbete» war, ist heute die Kehrichtabfuhroder gar die Müllentsorgung.DIE LŸCH ABLUPFENEin wichtiger Teil der Regeln für den Messmerbetrifft das Vorgehen bei Beerdigungen.Nachdem der Todesfall beim Pfarrergemeldet und im Totenbuch festgehaltenwar, musste sich der Messmer bei derTrauerfamilie nach dem Zeitpunkt der Abdankungerkundigen. Sobald er vom Kirchturmaus den Leichenzug nahen sah, mussteer mit der Leichenglocke ein erstes Zeichenläuten, damit sich «die Nächstengelegenen rüsten mögend». Für alle Gottesdienstegalt die Regel, dass er «zimlichlang lüthen» sollte, damit jedermann derPflicht zum Predigtbesuch nachkommenkonnte. Bis 1893 befand sich der Friedhofdirekt bei der Kirche. Der Messmer wargleichzeitig auch Totengräber und hatteauch bei diesem Amt Vorschriften zu befolgen:«Die Lÿch soll er ein Schuo tieffer legenalss dess des Bodens eben und allwegeneinen bestellen der ihme helfe die Lÿchablupfen und verstatten.»Nach heutigem Empfinden versteht mannicht, weshalb der Leichnam nur gerade einenSchuh, also etwa 30 Zentimeter tiefunter den gewachsenen Boden vergrabenwurde. Das hängt wohl damit zusammen,dass man das Erdreich zu einem Walm aufschichteteund damit den Toten doch nochmit etwas mehr Erdreich überdeckte. Dashat auch später wieder zu Diskussionen geführt.1830 erkundigte sich der Messmer,wo er mit dem Graben anfangen solle, dennGEDÄCHTNIS | 38


nicht erhalten geblieben.Mehr als hundert Jahre später, 1848, klagteder Lehrer Eugster, dass im SchulhausSaien zu viele Wanzen seien. Der Gemeinderatbeschloss hierauf, «ein paar Zimmerzu vertapezieren und gleichwohl versuchen,die Wanzen zuvor zu vertilgen.»Wenn es nicht gelingen sollte, das Ungezieferzu vernichten, dann würde man einfachdie Risse und Schrunden in den Holzwändenverkleben, und damit wäre das Problemgelöst. Ein probates Mittel, das auchheute noch bekannt ist, nicht, was die WanausPlatzmangel müsse er tiefer graben,damit er «zwei Lÿchen könne auf einanderlegen». Die Obrigkeit wies ihn daraufhin an,beim Pfarrhof probeweise anzufangen,tiefer zu graben, vier Schuh sollten aber inder Regel genügen. 1858 wurde das Reglementein weiteres Mal revidiert. Dort wurdefestgehalten, dass die Gräber «drei Fusstief und in gehöriger Länge» geöffnet werdensollen. Wenn mehrere Särge in dasgleiche Grab gelegt würden, müsse deroberste mindestens zwei Fuss tief unter dieErde zu liegen kommen. Die Überbelegungführte dazu, dass man 1893 den Standortbei der Kirche aufgab und den Friedhofzum Kronbach verlegte.WANZENALARM IM SCHULHAUSDer Mensch des 21. Jahrhunderts ist sichan einwandfreie hygienische Verhältnissegewöhnt. Dusche, Badezimmer, Klosett mitWasserspülung kennt man zwar schon lange.In den einfachen Appenzellerhäusernsind sie aber erst seit wenigen Jahrzehntender Normalfall. Vorher waren die Verhältnisseoft ziemlich prekär. 1726 wurde dieAnna Fässlerin vor den Kleinen Rat zitiert,der vom Urnäscher Statthalter Jakob Mettlerpräsidiert wurde, weil ihr Mann, RudolfLieberherr, «ein rauwer und ohnsubererMensch» sei, der sie verprügelt, ihren gemeinsamenSohn beinahe erschlagen habeund der furchtbar dreckig sei. Die Annasagte, sie habe ihn immer wieder gebeten,«er solle sich süberen lassen», denn erhabe «Hässlöüss». «Häss» ist das Dialektwortfür Gewand, Kleid; Hässläuse sind alsoKleiderläuse, vermutlich sind da auch Filzläuseinbegriffen. Sie mussten eine neueWohnung suchen, haben aber keine gefunden,weil die potenziellen Vermieter nichtsvon ihnen wissen wollten «wegen der Ville«Die Kirchhöri-Schreiber vergangener Jahrhunderte habenoft zwischen den nüchternen Abrechnungen und Protokollenpersönliche Beobachtungen von unerhörten Ereignissenfestgehalten.»der Löüs». Der Schluss des Verhörs istzen betrifft, sondern die Probleme: Manlöst sie, indem man sie zuklebt. «Pflästerlipolitik»heisst das dann. Immerhin wissenwir heute dank dem Beschluss des UrnäscherGemeinderates, weshalb man in altenAppenzellerhäusern so häufig Restevon Tapeten antrifft.¬ Text: Hans HürlemannHans Hürlemann (* 1940) war Sekundarlehrer inTeufen und Urnäsch, Redaktor der AppenzellerZeitung, Mitbegründer des BrauchtumsmuseumsUr näsch und Verfasser der 2006 erschienenen Geschichteder Gemeinde Urnäsch.39 | GEDÄCHTNIS


HERAUSGEBER / BEZUGSQUELLEAmt für <strong>Kultur</strong>REDAKTIONUrsula Badrutt (ubs), Margrit Bürer (bü)REDAKTIONELLE MITARBEITAgathe Nisple, Verena Schoch,Hanspeter Spörri (sri)GESTALTUNGBüro Sequenz, St. GallenRolf Fleischmann, Anna Furrer, Sascha TittmannBILDERUmschlag aussen: Ueli Alder, fotografische KompositionUmschlag innen: Ruedi Alder, Öl auf HolzSeiten 9 / 10/ 31/32: Alexandra Hopf,Hinterglasmalereien und BarytfotosSeiten 7 / 11 / 13 / 15 / 29: Büro Sequenz, FotomontagenKORREKTORATSandra MeierDRUCKDruckerei Lutz AG, SpeicherPAPIEREuroart matt, Kaskad gelb;Fischer Papier AG St. GallenAppenzell AusserrhodenAmt für <strong>Kultur</strong>Departement Inneres und <strong>Kultur</strong>Obstmarkt 19102 Herisauwww.ar.ch/kulturfoerderungDANKBesonderer Dank geht an Walter Irniger,Urnäsch und Alfred Hohl, Urnäsch1500 Exemplare,erscheint dreimal jährlich, 2. Jahrgang© 2009 Kanton Appenzell AusserrhodenDie Rechte der Fotografien liegenbei den Fotografen.IMPRESSUM | 40


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