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Wiedenfelser Entwurf zur Neugestaltung des ...

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W. BECK, M. FISCHER, G. GLIENICKE, P. JANSEN,H. H. WÜSTENHAGEN:Gutachten und Genehmigungsverfahren<strong>Wiedenfelser</strong> <strong>Entwurf</strong> <strong>zur</strong> <strong>Neugestaltung</strong> <strong>des</strong> Genehmigungsverfahrensim UmweltschutzDas derzeit praktizierte Genehmigungsverfahren bei umweltrelevantenAnlagen ist nicht geeignet, ein Gleichgewicht zwischen wirtschaftlicherEntwicklung und Umwelterhaltung zu garantieren. Neue Wege im Genehmigungsverfahrensind zu beschreiten.Die betroffene Öffentlichkeit sollte enger in diesem Prozess eingebundenund mit mehr Rechten ausgestattet werden. Die Einbeziehungvon Gutachtern ist neu zu regeln. Der „<strong>Wiedenfelser</strong> <strong>Entwurf</strong>“ bietethier eine Alternative.85


WISSEN-SCHAFTLICHEGUTACHTENUND ÖFFENT-LICHE KRITIK IMUMWELT-SCHUTZIn einer weiteren Tagung vom 14. bis 16.09.1973 wurde das Modellin einem durch Vertreter der Industrie erweiterten Kreise diskutiert.GRUND-REGE-LUNGENI.Auf Einladung der Evangelischen Akademie Baden trafen sichGutachter, Auftraggeber und Betroffene vom 26. bis 28.02.1973im Hotel Wiedenfelsen zu einer Arbeitstagung unter dem Thema„Wer begutachtet die Gutachter?“. Die Teilnehmer, unter denensich Mitglieder der Bürgerinitiativen und Genehmigungsbehördensowie mit dem Umweltschutz befasste Wissenschaftler befanden,diskutierten vorwiegend am Beispiel <strong>des</strong> Genehmigungsverfahrensnach § 16 der Gewerbeordnung die Rolle wissenschaftlicherGutachten und öffentlicher Kritik bei der Vorbereitung dieser Exekutiventscheidungen,die für die wirtschaftliche Entwicklung wiefür den Umweltschutz einer Region von erheblicher Bedeutungsind.Ausgehend von einer Analyse der gegenwärtigen Situation undProzedur entwickelten die Teilnehmer ein Modell („<strong>Wiedenfelser</strong><strong>Entwurf</strong>“), wie man ihrer Meinung nach zu einer Verbesserungder Gutachten und der öffentlichen Debatte – und damit zu einerEntscheidung auf breiter Basis – über die Genehmigung umweltrelevanterAnlagen kommen könnte.Anlagen z.B. für die Produktion von Gütern und Energie, denVerkehr, die Beseitigung von Müll oder die Klärung von Abwässernsowie Krankenhäuser oder Truppenübungsplätze dienennicht nur der Befriedigung privater oder öffentlicher Bedürfnisse,sondern belasten auch die Umwelt und damit die menschlicheGesundheit in vielfältiger Weise. Schon sehr früh hat daher derStaat begonnen, die Genehmigung <strong>zur</strong> Errichtung und zum Betriebeiniger Typen derartiger Anlagen von der Einhaltung gewisserAuflagen hinsichtlich der Emission von Lärm, luftverunreinigendenStoffen, Abwasser und schließlich Radioaktivität abhängigzu machen. Die Erteilung solcher Genehmigungen ist in derGewerbeordnung 1 , den Wassergesetzen und dem Atomgesetzgeregelt, wobei man durch Ausfüllung „unbestimmter Rechtsbegriffe“dem technischen Fortschritt Rechnung tragen kann.Gesetzgeber und Exekutive haben die unabweisbare Verantwortung,die Grundregelungen operabel zu machen. Dazu gehört- die zügige Festlegung von Immissionsgrenzwerten für alleerheblichen Schadstoffe (s. Dreyhaupt <strong>zur</strong> TA-Luft 2 )- eine wirksame Beschleunigung <strong>des</strong> technischen Fortschritts86


DIEVERUR-SA-CHUNGS-KETTEim Bereich <strong>des</strong> Umweltschutzes (Dreyhaupt a.a.O.)- eine regionale Rahmenplanung, die die Entwicklung aller umweltrelevantenAnlagen (Industrie, Verkehr, Besiedelung,Landwirtschaft, Energie, Müll- und Abwasserbeseitigung) inBeziehung setzt <strong>zur</strong> ökologischen Tragfähigkeit <strong>des</strong> betrachtetenGebietes und den Zielen der Raumordnung.Die im folgenden dargestellte „Verursachungskette“ soll dies inverallgemeinerter Weise nochmals deutlich machen 3 .VerbrauchergewohnheitenWirtschaftsstruktur/RaumordnungTechnologieEmissionImmissionSchadenZumutbarkeitIstUmwelt-Verträglichkeits-PrüfungSollBeeinflusst durch ‚Verbrauchergewohnheiten, Wirtschaftsstrukturbzw. Raumordnung und den Anwendungsstand der Technologienergibt sich ein Emissions-Ist, das zu beheben eine wichtige Aufgabeder Zukunft ist. Der Zusammenhang Emission/Immission,beeinflusst von den Besonderheiten eines jeweiligen Raumes, diebevölkerungsgruppenspezifischen Schäden als Folge der Immissionsbelastungund die auch gegenüber den Vorteilen der Vorhabenabgewogenen Zumutbarkeitsgrenzen (Umweltqualitätsnormen,Standards) ermöglichen die Ermittlung eines Emissions-Solls. Eine Umweltverträglichkeitsprüfung wird gegebenenfallseine Diskrepanz zwischen Ist und Soll feststellen und Maßnahmenauf seiten der Verbrauchergewohnheiten, der Wirtschaftsstrukturbzw. Raumordnung oder der Technologie <strong>zur</strong> Behebungder Diskrepanz einleiten. Dazu kann auch eine Ablehnung einesAntrages gehören.Besonders hervorgehoben werden soll an dieser Stelle, dass eineumfassende und laufend fortzuführende Analyse der Schritte inder Verursachungskette unter Beteiligung aller betroffenen Wissenschaftsbereichenötig ist, um Zumutbarkeitsgrenzen im Kontextder Vor- und Nachteile allgemeinverbindlich und <strong>des</strong>halb ineiner pluralistischen Gesellschaft durchsichtig und demokratischlegitimiert festlegen und die Umweltverträglichkeitsprüfung verantwortlichdurchführen zu können.Der <strong>Wiedenfelser</strong> <strong>Entwurf</strong> möchte im Zusammenhang mit dem87


Genehmigungsverfahren nach §§ 16 ff. der Gewerbeordnung(§§ 5 ff. BImSchG) und im Rahmen der bestehenden gesetzlichenMöglichkeiten als erster Schritt verstanden werden, dieTransparenz von Begründungen solcher Maßnahmen zu erhöhen,von deren Konsequenzen die Bürger unmittelbar betroffenwerden könnten.DIEGEGEN-WÄRTIGEPROZE-DURII.Der Antrag wird ausgelöst durch eine Investitionsentscheidung(vgl. Bild 1). Die Öffentlichkeit wird über das Vorhaben informiert,sie kann Einblick in die Unterlagen nehmen und Einwendungenerheben (Einspruch). Die Einwendungen sind, soweit sie nicht aufprivatrechtlichen Titeln beruhen, mit den Parteien zu erörtern. DieBehörde hat zu prüfen, ob die Anlage Gefahren, erheblicheNachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheitherbeiführen kann. Die Genehmigungsbehörde kann <strong>zur</strong> Vorbereitungihrer Entscheidung ein wissenschaftliches Gutachten inAuftrag geben.Der Gutachter stellt aufgrund der ihm vorliegenden Informationeneine Prognose darüber an, wie sich die jetzt bestehende Situationinfolge der geplanten Maßnahme (z.B. Inbetriebnahme einerneuen Anlage) ändern wird und legt dies im Gutachten dar. Dieendgültige Entscheidung beruht dann primär auf dem Vergleichder vorhergesagten Veränderungen mit den geltenden Normen(z.B. MIK-Werte), aber auch auf politischer Abwägung. Die Genehmigungwird häufig an Auflagen <strong>zur</strong> Emissionsbegrenzunggeknüpft.88


SCHWACH-STELLENDES GENEH-MI-GUNGS-VER-FAHRENSDie Information der betroffenen Öffentlichkeit zu derartigen Genehmigungsverfahrenist bislang zumeist mangelhaft, sei es, dassdie Antragsunterlagen keine vollkommene Übersicht über die zuerwartenden Emissionen erlauben, nur dem Spezialisten verständlichsind oder teilweise als Betriebsgeheimnisse von derBehörde vertraulich behandelt werden müssen. Die Wirkung derresultierenden Immissionen auf verschiedene Bevölkerungsgruppen(Erwachsene, Kinder, Gesunde, Kranke, ...) ist in den hierinteressierenden Konzentrationsbereichen oft nicht mit der wünschenswertenSicherheit festzustellen. Dies spiegelt sich in deninternational unterschiedlichen Richtwerten etwa für Luftverunreinigungenwieder, aber auch in der Unsicherheit der Gutachterdarüber, was im konkreten Fall unter „Gefahren, erheblichenNachteilen oder erheblichen Belästigungen“ zu verstehen sei. Esist selbstverständlich, dass die Betroffenen hier strengere Maßstäbeangelegt sehen wollen als der Antragsteller. Wenn die Umweltmiseretrotz aller Gesetze und Maßnahmen eines wissenschaftlichberatenen Staates entstanden ist und weiterbesteht 4 ,so muss beim Bürger der Eindruck entstehen, dass er sich nunselber helfen und die Errichtung weiterer Anlagen überhaupt verhindernmüsse. Dieses Misstrauen findet in der bun<strong>des</strong>weitenGründung von Bürgerinitiativen und einer rasch steigenden Anzahlvon Einsprüchen seinen Ausdruck. Man muss sich in der Tatfragen, ob die wissenschaftliche Politikberatung auf diesem Gebietin ihrer gegenwärtigen Form geeignet ist, die schwierigeGratwanderung zwischen Wirtschaftsexpansion und Umwelterhaltungzu unterstützen.Welche Rolle spielen wissenschaftliche Gutachten in Bereichen,in denen technisch-wissenschaftliche Probleme unlösbar mitWertfragen verknüpft sind?DIE NOT-WEN-DIGEOBJEK-TIVIE-RUNGWISSEN-III.Unsere Vorstellung vom wissenschaftlichen Gutachten orientiertsich vielfach noch an einem Ideal. Danach wäre es möglich, ausjederzeit nachmessbaren Daten und aufgrund objektiv gültigerGesetze die unbestreitbaren Folgen der geplanten Maßnahmeabzuleiten. Zwei unabhängige Gutachter kämen – Kunstfehlereinmal ausgeschlossen – stets zum gleichen Ergebnis. Darüberhinaus könnten weder die geplante Maßnahme noch die Veröffentlichung<strong>des</strong> Gutachtens die Datenbasis oder die Gesetzmäßigkeitenbeeinflussen.Mag dieses Ideal für astronomische Vorhersagen erreichbar sein90


SCHAFT-LICHERGUTACH-TEN ZURUMWELT-POLITIKSCHWIE-RIGKEI-TENBEI DERERSTEL-LUNGDER GUT-ACHTENAUF-GABENDERGUT-ACHTER– ein Gutachter, der sich in Umweltfragen auf positivistisch gesicherteAbleitungen beschränkte, müsste seinen Auftrag verfehlen.Die von Dreyhaupt angesprochene Auseinandersetzung zwischenAntragsteller und Genehmigungsbehörde beeinflusstschon die Bereitstellung von Anlagendaten durch den Antragsteller.Das Emissionsverhalten der geplanten Anlage hängt janicht nur von der aus den Genehmigungsunterlagen ersichtlichenAuslegung ab, sondern auch von der Betriebsweise und Wartung.Die somit stets notwendige Vervollständigung der Angaben stelltnicht nur an das technische Verständnis hohe Anforderungen,sondern auch an das Engagement <strong>des</strong> Gutachters. Zur Vorhersageder Belastung müssen die Emissionen mittels eines Ausbreitungsmodellsin Immissionen umgerechnet und mit lufthygienischenStandardwerten verglichen werden. Nahezu immer unvollständigeModelle, deren Aufbau und damit auch deren Aussagevermögenvon der subjektiven Orientierung <strong>des</strong> Wissenschaftlersabhängt, ferner die immer ungenauen Parameterbestimmungenin den Modellen machen es unmöglich, das oben angesprocheneIdeal bei Fragestellungen zu erreichen, wie sie eingangs –an der Verursachungskette dargestellt wurden. Trotzdem sindwissenschaftliche Analysen wichtig, denn sie erhöhen den Informationsstand– auch darüber, was noch nicht ermittelbar ist – underhöhen damit Verantwortungsbewusstsein. Die Ergebnisse bliebenaber wertlos, wenn der Gutachter es unterließe, die axiologischenPrämissen seiner Analysen und ihre Aussagekraft auszuweisen,und insbesondere versäumte, die Umweltqualitätsnormen(Standards) zu diskutieren, mit deren Hilfe die Ergebnisse beurteiltwerden. Dazu gehört nicht nur der Hinweis auf die ständigeVerfeinerung der Umweltqualitätsnormen im Zuge <strong>des</strong> medizinischenFortschritts, sondern auch die Aufklärung über den Zusammenhangzwischen dem durch Luftverunreinigung erhöhtenGesundheitsrisiko für einen Teil der Betroffenen und den sozioökonomischenFolgen bei Emissionsbegrenzung oder Bauablehnung.Erst diese Einsicht in die Auswirkungen und die technischmöglichen Alternativen macht es den Betroffenen möglich, ihreForderungen zu artikulieren und zu vertreten; und genau dieseHilfestellung kann der Bürger vom Fachmann erwarten.So hätte u. E. der Gutachter z.B. die Aufgabe, auf die technischenMöglichkeiten und Kosten einer weiteren Emissionsreduktionauch dann hinzuweisen, wenn durch die geplante Anlage dieImmissionsrichtwerte noch nicht überschritten werden. Nur sokann in Zukunft erreicht werden, dass die Umwelt nicht so starkbelastet wird, wie laut Umweltqualitätsnormen gerade noch tragbar.Andererseits muss der Gutachter auch bei der Bevölkerung91


DIEGIGKEITDERABHÄN-GUT-ACHTERÖFFENTLICHEDISKUSSIONVON UNAB-HÄNGIG ER-STELLTENPARALLELGUT-ACHTENdie Einsicht wecken, dass eine Reduktion auf Null der Emissionenoder <strong>des</strong> Risikos beim Betrieb großer Anlagen meist unmöglichist bzw. zu weit gehende Forderungen gegebenenfalls anderweitigfür die Bevölkerung große Nachteile brächten. Diessollte allerdings nicht auf pauschale Weise erfolgen, sondern injedem konkreten Fall nachgewiesen werden.Eine konsequente Verfolgung dieser Kritik am gegenwärtigenVerständnis der Rolle <strong>des</strong> Gutachters rüttelt auch an der Vorstellungvom „Fachexperten, der auf ganz bestimmte konkrete Fragestellungenantwortet; er akzeptiert eine ihm vorgegebene Zielvorstellungund versucht, dafür eine Lösung zu finden“. 5Gerade im Genehmigungsverfahren, wo die Triebkraft der wirtschaftlichenEntwicklung, nämlich die private Investitionsentscheidung,auf den steigenden Lebensqualitätsanspruch <strong>des</strong>Bürgers trifft, brechen die Gegensätze auf. Hier kann sich derGutachter am allerwenigsten auf die kritiklose Akzeptierung bestehenderNormen beschränken. Denn diese Normen sind in früherenPhasen der gesellschaftlichen Entwicklung gesetzt wordenund müssen es sich immer wieder gefallen lassen, an Hand konkreterKonfliktfälle überprüft zu werden. Soll der Experte aber ineine Diskussion der Normen eintreten und damit zu ZielkonfliktenStellung nehmen, so darf er dadurch doch nicht in die Rolle eines„objektiven“ Richters zwischen den widerstreitenden Interessengruppengedrängt werden. Dies würde einen moralischen Heroismusvom Gutachter verlangen, den wir kaum aufbringen können,denn wir sind alle Teile der Gesellschaft und damit abhängig.Die Abhängigkeit <strong>des</strong> Gutachters resultiert speziell aus derTatsache, dass der gutachtlich tätige Wissenschaftler selber nureinen kleinen Teil der benötigten Information produziert und dasmeiste im Austausch mit anderen Experten erhält, die ebenfalls inje speziellen Abhängigkeiten stehen. Nur wer sich in diesen gesellschaftlichenInteraktionsprozess begibt, kann überhaupt wissenschaftlichberaten.Selbstverständlich gibt es verschiedene Formen und Grade derAbhängigkeit. Dies wird man bei der Auswahl der Gutachter berücksichtigen.Damit ist schon angedeutet, wie man trotz dergrundsätzlichen Abhängigkeit je<strong>des</strong> Gutachters zu einer Versachlichungder Gutachten kommen kann: nämlich durch eine öffentlicheDiskussion unabhängig erstellter Parallelgutachten.WIEDER-FELSERIV.Die Erstellung von Parallelgutachten hat nur einen Sinn, wenndadurch die Gesichtspunkte verschiedener (möglichst aller we-92


ENTWURFPROSESS-PARTNERLOGUND DERDER FRAGEN-KATA-ZEIT-PLANsentlichen) Interessengruppen <strong>zur</strong> Geltung gebracht werden.Darüber hinaus gestattet sie, die Qualität der Gutachten zu vergleichen.Die unterschiedlichen Gesichtspunkte werden am sicherstenberücksichtigt, wenn die verschiedenen „Prozesspartner“selber die Gutachter auswählen. Wir sprechen hier von Prozesspartnern,weil beim Genehmigungsverfahren eine Entscheidungunter organisierter Beteiligung divergenter Interessengruppengefunden werden muss. Prozesspartner sind1. die Antragsteller (privates Unternehmen, öffentliche Hand)2. die Exekutive, hier die Genehmigungsbehörde3. die von Umweltbelastungen Betroffenen, die die Einspruchsrechtebesitzen und z.B. durch Bürgerinitiativen repräsentiertsein können.Wir betrachten die Einbeziehung der Bürgerinitiativen nicht sosehr als eine Kritik an der Verwaltung, die sich ja bisher als derberufene Sachwalter <strong>des</strong> öffentlichen Interesses gerade auch inUmweltfragen betrachtet hat, sondern als Ausdruck eines zunehmendenInteresses <strong>des</strong> Bürgers an den Aktionen eines demokratischstrukturierten Staates, als Ausfüllung <strong>des</strong> Partizipationspotentialsunserer repräsentativen Demokratie, in der auchder Betroffene die Möglichkeit haben soll, seine Betroffenheit zuartikulieren und es gerade den für den Umweltschutz Zuständigenerleichtert, sich im politischen Ausgleich „zwischen Umweltschutzund Wirtschaftswachstum“ (Dreyhaupt) zu behaupten. Die Bürgerinitiativenmüssen selbst Organisationsformen finden, durchdie sie ihre Legitimation, im jeweiligen Fall für die Mehrzahl derBürger zu sprechen, nachweisen.Nach Eingang eines Antrages auf Genehmigung einer umweltrelevantenAnlage einigen sich die Prozesspartner zunächst zusammenmit den angefragten Gutachtern auf einen Fragenkatalogund einen Zeitplan für den Prüfungsprozess. Dieser Katalogsoll additiv alle Fragen umfassen, die irgendeinem der Beteiligtenwesentlich erscheinen; er definiert auch die vom Antragsteller zumachenden Angaben. Der wesentliche Inhalt <strong>des</strong> Fragenkatalogessoll in einem öffentlichen Hearing, dem der Genehmigungsantragsamt einer ersten Analyse der Auswirkungen <strong>des</strong> Vorhabensdurch den Antragsteller zugrunde liegt, erarbeitet werden.Der Fragenkatalog soll veröffentlicht werden und von jedem Bürgerergänzt werden können. die Gefahr, dass die Sachverständigensich mit unsinnigen Fragen beschäftigen müssen, erscheintuns gering gegenüber dem Vorteil, von Anfang an den Suchraummöglichst vollständig aufspannen zu können, um während <strong>des</strong>fortgeschrittenen Verfahrens Vorhaltungen über Versäumnisse zu93


vermeiden.Wesentliche Aufgabe der Gutachter (evtl. eines interdisziplinärenTeams) ist es, neben den hygienischen auch die sozialen, ökologischenund ästhetischen Auswirkungen auf die betroffene Regionfestzustellen sowie zum Vergleich die Vorteile <strong>des</strong> Antragsobjektesauszuweisen.94


DASGRUND-RASTERER-SCHWE-RENDEPRO-BLEMEALTER-NATIVE„ZU-KÜNFTE“DIEKLAU-SUR-Fragenkatalog und Zeitplan sind Gegenstand der Aufträge an dieGutachter, die sie gegebenenfalls auch ergänzen können. DerFragenkatalog sichert die Vergleichbarkeit der Gutachten. DieErarbeitung eines Grundrasters für derartige Fragenkataloge wärewünschenswert, schon um eine generelle Berücksichtigung<strong>des</strong> technischen Fortschritts zu erreichen und die Fragen der Geheimhaltungzu regeln. Der Zeitplan dient der zügigen Abwicklung<strong>des</strong> Genehmigungsverfahrens. Jeder der Prozesspartner kannein Gutachten bei einem Fachmann seiner Wahl in Auftrag geben.Es wird in seinem Interesse liegen, einen qualifizierten Gutachterzu finden. Die Kosten trägt der Antragsteller, die Abrechnungerfolgt über die Behörde.Falls die angefragten Gutachter sich außerstande sehen, zu einigenim Fragenkatalog aufgeworfenen wesentlichen Problemen inder vorgesehenen Zeit Stellung zu nehmen, so dürfte das diespätere Entscheidung der Behörde wesentlich erschweren. DieserFall kann z.B. dann eintreten, wenn erhebliche Emissioneneines Schadstoffes zu erwarten sind, für den die Unbedenklichkeitoder die Belastungsgrenzen noch nicht ermittelt werdenkonnten, oder wenn es an konkreten, für die Begutachtung bedeutsamenPlänen für die Regionalentwicklung –fehlt. (Wenn z.B.zu vermuten ist, dass die Region, für die die Errichtung eines Antragsgegenstan<strong>des</strong>beantragt ist, der mit erheblichen Belästigungenverbunden sei, als Erholungsraum für die –Bevölkerung dienensolle, aber diesbezügliche Entscheidungen noch fehlen.)Solange Regierung und Parlament solchen Anforderungen nichtnachkommen, werden die Schwierigkeiten bei der Genehmigungeinzelner Anlagen zunehmen.Jeder Gutachter erfasst unabhängig vom anderen die Ausgangssituationund prognostiziert die Folgen der geplanten Maßnahmeunter den im Fragenkatalog genannten Aspekten und Prämissen.Die Gutachten resultieren in alternativen „Zukünften, die deutlichmachen, was sein würde, wenn ...“.In der anschließenden, von der Behörde vorbereiteten und geleitetenKlausurtagung werden die Gutachten „aufeinandergelegt“.Je ein Vertreter der Auftraggeber (Prozessparteien) darf beiwohnen.Dabei wird festgestellt, ob1. der Fragenkatalog behandelt worden ist2. innerwissenschaftliche Diskrepanzen einhellig beseitigt werdenkönnen (Eliminierung von Kunstfehlern)3. alle Umweltbelastungen, die aus geheim zu haltenden Teilen96


TAGUNGEINEÖFFENT-LICHEZWEITEAN-HÖRUNGDIEBEWER-TUNGDERFAKTEN„DYNAMISCHEder Anlage bzw. Verfahrensschritten herrühren können, unerheblichsind. Einer solchen Geheimhaltung müssen z.B. diedem Schutz kerntechnischer Anlagen gegen StörmaßnahmenDritter dienenden Vorkehrungen unterliegen 64. verbleibende Inkongruenzen auf divergierende Wert- bzw.Zielvorstellungen <strong>zur</strong>ückgeführt werden können.Die Klausurtagung soll zu einer übersichtlichen Darstellung derErgebnisse der drei Gutachten führen und im Falle unterschiedlicherEinschätzungen von Sachverhalten die Ursachen hierfüraufzeigen. Diese Zusammenfassung der Gemeinsamkeiten samtSeparatvoten soll zusammen mit den Einzelgutachten in einerangemessenen Auflage rechtzeitig vor einem 2. Anhörungsterminveröffentlicht werden.Auf einer öffentlichen 2. Anhörung müssen die Vertreter der Exekutiveund <strong>des</strong> Antragstellers sowie die Gutachter sich äußern.Jeder Bürger kann im Rahmen eines Einspruchs nach schriftlicherAnmeldung an der Diskussion teilnehmen. Da die Sachlagedurch die Parallelgutachten in der Regel hinreichend verdeutlichtsein dürfte, kann sich die 2. Anhörung auf die Zieldebatte und dierationale Abwägung von Vor- und Nachteilen für die verschiedenenam Genehmigungsprozess beteiligten Gruppen konzentrieren.Dies ist äußerst bedeutsam, denn es kann nicht Aufgabe derWissenschaftler sein zu ermitteln, „was wir wollen sollen“. Undwenn der Bürger als Einsprecher an dem Entscheidungsprozessteilnehmen darf, dann muss auch der Genehmigungsbehörde dieWertvorstellung der Betroffenen deutlich werden können. Diesehängt aber wieder davon ab, ob die Fakten durch die Gutachterklar auf den Tisch gelegt sind und als Fakten nicht mehr angezweifeltwerden können. Deshalb hat man die drei Gutachter derdrei Prozesspartner vorgesehen und die Klausurtagung eingeschaltet.Dann aber muss die Diskussion über die Bewertung dieserFakten beginnen. Da dies ein schwieriger Prozess ist, derleicht ausufern und zu keinem Ergebnis kommen kann, solltenz.B. sozialpsychologische und soziologische Erkenntnisse bzw.gruppendynamische Techniken herangezogen werden, um denDiskussionsablauf so zu strukturieren, dass eine übersichtlicheDiskussion mit klaren Ergebnisvoten durch die Bürger möglichwird. Diese 2. Anhörung wird anders verlaufen als die erste oderAnhörungen nach der bisherigen Art. Da noch keine endgültigenVorschläge für die Art der Durchführung entwickelt worden sindund sicherlich auch ein Lernprozess zu durchlaufen sein wird,wollen wir hier nicht näher ins Detail gehen. Wir wollen aber inAbsetzung zu unstrukturierten Diskussionen und Anhörungsverfahrender bisherigen Art diese 2. Anhörung „dynamische Diskus-97


DISKUSSION“ sion“ 7 nennen; „dynamische“, weil es durch wohldurchdachteProzeduren möglich sein sollte, zu einheitlichen Voten zu kommen,auch wenn unterschiedliche Wertvorstellungen bei den Beteiligtenvorhanden sind. Dies sollte gerade dadurch möglich sein,dass unterschiedliche Wertvorstellungen ausgesprochen und gegenseitigbewusst gemacht werden. Dadurch ist die Möglichkeitwechselseitiger Überzeugung gegeben, die einerseits bis <strong>zur</strong> Motivierungfür das Vorhaben <strong>des</strong> Antragstellers oder andererseitsbis <strong>zur</strong> Motivierung zu umweltgerechtem Verhalten <strong>des</strong> Antragstellersgehen könnte. „Dynamisch“ auch, weil Diskussionen aufder Ebene der Bürger Wandlungsprozesse in der Gesellschaft inGang halten. Bittere Erfahrungen durch zu spät bemerkte Missständekönnen so erspart bleiben.ER-GEBNISSEEMPFEH-LUNGENVoraussetzung für dieses Vorhaben ist jedoch, dass die Sachfragengelöst sind. Es wurden <strong>des</strong>halb eine 1. Anhörung, drei Gutachterund eine Klausurtagung vorgesehen sowie neue Prozedurenfür die dynamische Diskussion gefordert.Die „dynamische Diskussion“ soll in eine Empfehlung <strong>zur</strong> Genehmigungsfragean die Exekutive münden; das Forum kann sichdarüber hinaus mit Vorschlägen an- die Legislative (Änderung von Standards, gesetzlich geregeltenProzeduren, ...)- die politischen Parteien (Überprüfung der Wirtschafts- oderRegionalpolitik, ...)- die Wissenschaft und ihre Auftraggeber (Aufnahme notwendigerForschungsthemen, ...)wenden, um den Ertrag gesellschaftlicher Konflikte „an der Basis“für die generellen Regelungen auf den oberen Ebenen fruchtbarzu machen. Die Empfehlung an die Exekutive wird dann zusammenmit dem gemeinsamen Gutachten bei der endgültigen Entscheidungüber den Antrag berücksichtigt.Wir meinen, dass ein solches Verfahren eine besser fundierteEntscheidung herbeiführen kann. Die Beschränkung auf eineEmpfehlung hätte den Vorteil, dass der ganze Prozess schon imRahmen der gegenwärtigen gesetzlichen Regelungen installiertwerden könnte. Selbstverständlich kann die endgültige Entscheidungder Behörde immer noch angefochten werden.Sicher ist das hier vorgeschlagene Modell kein Allheilmittel. Wer„Umweltschutz“ sagt und die Unterminierung unserer Gesellschaftsordnungmein, kann den <strong>Wiedenfelser</strong> <strong>Entwurf</strong> genausoumzufunktionieren versuchen, wie das gegenwärtige Verfahren –er wäre dabei allerdings stärker als bisher dem Licht der Öffent-98


lichkeit ausgesetzt. Die Nutznießer der geplanten Anlage sind indem hier konzipierten Prozess nur durch den Antragsteller repräsentiert,weil zu prüfen ist, ob die Anlage Gefahren, erheblicheNachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheitherbeiführen können.Das <strong>Wiedenfelser</strong> Modell will die Betroffenen stärker als bisherdurch Information und Diskussion an dem Genehmigungsprozessbeteiligen und den häufigen Konflikt zwischen dem Antragstellerals dem privaten Nutznießer und der Bevölkerung als der Trägerinder sozialen Kosten ohne unnötige Spannungen auszutragenhelfen. Gleichzeitig wird die Entscheidung durch die Exekutiveerleichtert und damit beschleunigt.1 Inzwischen hat der Deutsche Bun<strong>des</strong>tag am 18.01.1974 das Bun<strong>des</strong>-Immissionsschutzgesetz (BImSchG) verabschiedet, das die Bestimmungen der§§ 16 ff. Gew. O über die Genehmigung sog. lästiger Anlagen aus der Gewerbeordnungherausgelöst und im wesentlichen übernommen hat.2 Auf der Anhörung <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>tages in: „Zur Sache 3/72, Umweltschutz II“,Bonn.3 Durchsetzung <strong>des</strong> Verursacherprinzips im Gewässerschutz, KFK 1804 UF,Nov. 1972, S. 129.4 Vgl. die Anhörung <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>tages zu dieser Frage in „Zur Sache 3/72,Umweltschutz II“, Bonn, S. 36 ff.5 Zajonc, Technologie und Gesellschaft, 1972, unveröffentlichtes Manuskript.6 H. Kiefer in „Kernenergie“, Reinbek bei Hamburg 1972, S. 141.7 P. Jansen, Die Struktur systemtechnischer Arbeit. Habilitationsschrift an derWirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Karlsruhe (erscheintdemnächst).99

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