4. SO KANN DIE ALTERSGEMISCHTE EINRICHTUNG FUNKTIONIEREN6263Mädchen und Jungen, die eine <strong>Kinder</strong>tageseinrichtungmit erweiterter Altersmischung besuchen, haben dieMöglichkeit, besonders vielfältige Spiel- und Freundschaftserfahrungenzu machen. Sie können in Interaktionenmit altersgleichen bzw. altersähnlichen oder mitJungen und Mädchen mit deutlichem AltersabstandErfahrungen sammeln.Anders als Beziehungen zwischen Erwachsenen und<strong>Kinder</strong>n, die vorgegeben und durch Pflege, Erziehungund Unterstützung gekennzeichnet sind, sind die Beziehungenzwischen <strong>Kinder</strong>n freiwillig und partnerschaftlich.Je nachdem, ob die Spielpartner und -partnerinnengleich alt, jünger oder älter sind, ergeben sich <strong>unter</strong>schiedlicheOrientierungen und Positionen <strong>im</strong> Miteinanderdes Spielens, Lernens, Ausprobierens, Aushandelnsoder Streitens.Fachwissen, das weiterhilft<strong>Kinder</strong> brauchen GleichaltrigePädagogische Fachkräfte und Eltern wissen,dass für <strong>Kinder</strong>garten- und Grundschulkinder Gleichaltrigefür die soziale Entwicklung wichtig sind. Geradedie ältesten <strong>Kinder</strong> in der <strong>Kinder</strong>tageseinrichtungbrauchen genügend Zeit und Möglichkeiten, um mitähnlich alten <strong>Kinder</strong>n beiden Geschlechts ihre schon anspruchsvollenInteressen zu pflegen, sich in komplexenExper<strong>im</strong>entier- und Lernsituationen zu ergänzen und inFreundschaften Vertrautheit und Sicherheit zu erleben.Gut entwickelte soziale Kompetenzen wirken sich aufalle Bereiche des Lebens positiv aus. So werden sie z. B.mit Erfolgen in der Schule in Verbindung gebracht.Im Zusammensein mit ungefähr Gleichaltrigen erlebenMädchen und Jungen aufgrund von Gemeinsamkeiteneine Art von Selbstbestätigung: Es gibt andere <strong>Kinder</strong>,die mir ähnlich sind, sie sprechen meine Sprache. DieGrunderfahrung von Gleichrangigkeit und Gleichberechtigungist <strong>im</strong> Prinzip nur <strong>unter</strong> etwa Gleichaltrigen möglich.Für sehr junge <strong>Kinder</strong> hat man lange Zeit nur dieBedeutung der Beziehungsqualität zwischen Kind undBezugsperson(en) gesehen. Der Bedeutung von Peers,d. h. gleichaltrigen <strong>Kinder</strong>n, in den ersten Lebensjahrenhat man erst in neuerer Zeit Aufmerksamkeit geschenkt(Wüstenberg, 2008).Schon für Babys sind Kontakte mit Gleichaltrigen etwasReizvolles. <strong>Kinder</strong> nehmen schon <strong>im</strong> ersten Lebenshalbjahrgezielt Kontakt zu anderen Babys auf, berührensie und warten deren Reaktionen ab. Sie berühren sichhäufig fast zärtlich, scheinen Dialoge in einer nur fürsie verständlichen Sprache zu führen oder sie wendensich ab, wenn sie keinen Kontakt wünschen. Bevor<strong>Kinder</strong> sprechen können, haben sie die Fähigkeit, anderenachzuahmen, aber auch andere zur Nachahmung zu bewegen.Einjährige <strong>Kinder</strong> strengen sich an, den Kontaktzu Gleichaltrigen zu halten, ein Spiel in Gang zu bringen,sich über die Bedeutung des Spiels zu verständigen.Die entwicklungsförderliche Bedeutung von Gleichaltrigenwird für <strong>Kinder</strong> <strong>unter</strong> <strong>drei</strong> häufig noch angezweifelt,da angenommen wird, dass Erwachsene oder ältereSpielpartner gebraucht werden, um die Kleinen <strong>im</strong>Spiel anzuleiten, damit Entwicklungsfortschritte zustandekommen.Entwicklungsfortschritte <strong>unter</strong> Gleichaltrigen entstehenauch für die Jüngsten dadurch, dass sie gemeinsamspielen wollen. Sie sind daher motiviert, neue Spielinhaltezu entwickeln und etwas Neues zu produzieren. IhrKompetenz- und Machtverhältnis ist ungefähr ausgeglichen,beide haben gleichen Einfluss. Vor dem Hintergrundder Gleichrangigkeit beziehen sich die <strong>Kinder</strong>wechselseitig aufeinander. Eine neue Spielidee ist dasProdukt ihrer sozialen Interaktion, ihres aufeinanderbezogenen Handelns. Explorationsmethoden, Interpretationsprozesseund auch die Inhalte sind andere alsdie, die mit älteren <strong>Kinder</strong>n oder Erwachsenen zustandekommen. Und Kleinkinder haben ihre ganz eigenenThemen, die sie mit Erwachsenen oder älteren <strong>Kinder</strong>nnicht teilen (wie z. B. sich für den Körper oder Körperausscheidungenzu interessieren).Freundschaft
4. SO KANN DIE ALTERSGEMISCHTE EINRICHTUNG FUNKTIONIEREN6465Auseinandersetzungen mit anderen <strong>Kinder</strong>n sind einZeichen dafür, dass andere <strong>Kinder</strong> für die eigene Person<strong>im</strong>mer wichtiger werden. Bei jungen <strong>Kinder</strong>n kommtes in erster Linie zwischen den <strong>Kinder</strong>n zu Konflikten,die häufig zusammen sind, die also gerne miteinanderspielen, die sich mögen. Meistens finden <strong>Kinder</strong> rascheine Lösung für ihre Konflikte, weil sie ihr gemeinsamesSpiel fortsetzen möchten. Sie lernen schnell, dass einandauernder Konflikt, in den Erwachsene eingreifen,häufig das Ende der Spielhandlung bedeutet.Wenn <strong>Kinder</strong> sich gut kennen, sogar befreundet sind,können sie sich leichter verständigen und auf ihrengemeinsamen Erfahrungen aufbauen. Dies ist einegünstige Voraussetzung, Spiele weiter zu entwickeln.Freundschaften in Tageseinrichtungen sind ab dem Altervon fünf Monaten in allen Altersstufen dokumentiert. DieSpiele dauern länger, sind komplexer, verlaufen positiverund werden sprachlich reicher begleitet. Freundschaftenzwischen Ein- und Zweijährigen dauern überwiegend einbis zwei Jahre.<strong>Kinder</strong> brauchen ältere und jüngere <strong>Kinder</strong>Es spricht vieles dafür, dass altersferne Spielpartnerschaftensowohl für das ältere als auch für das jüngereKind in kognitiver wie in sozialer Hinsicht ein Gewinnsein können, wenn es dem älteren Kind gelingt, sich gutauf die Fähigkeiten und das Sprachniveau des jüngereneinzustellen (Riemann & Wüstenberg, 2004). In solchenSituationen übern<strong>im</strong>mt das ältere Kind als kompetentePerson die Führung, bietet Anleitung und Hilfestellungbei der gemeinsamen Tätigkeit. Das jüngere Kind eifertdem Vorbild des älteren Kindes nach und integriert dieneuen Erfahrungen in sein Wissen, Denken, Fühlenund Verhalten. Das funktioniert dann am besten, wenndas ältere Kind sich so auf den Entwicklungsstand desjüngeren einstellt, dass die nächsthöhere Stufe derEntwicklung des jüngeren Kindes angesprochen wirdund zudem kooperative Formen der Auseinandersetzunggefunden werden. Ältere <strong>Kinder</strong> (ebenso wie pädagogischeFachkräfte) tun das in der Regel, indem sie dieSprache vereinfachen, ihr Tun verlangsamen und auchdadurch an den Entwicklungsstand des jüngeren Kindesanknüpfen, indem sie das jüngere Kind auch nachahmen(Wüstenberg, 2008).Die Interaktionen in altersfernen Spielpartnerschaftenfinden für die älteren <strong>Kinder</strong> zwar auf einem Niveaustatt, das niedriger angesiedelt ist als ihre eigenenFähigkeiten, es gibt aber keinen Beleg für die Annahme,dass dies für die <strong>Kinder</strong> von Nachteil sein könnte.Im Gegenteil: Sich der Situation partnerschaftlich inSprache, Zuwendung, Nachahmung, Denkfähigkeit undmotorischen Fähigkeiten anzupassen, bedeutet, dasjeweils andere Kind für sich zu gewinnen und sich aufeinem gemeinsamen Niveau zu treffen. Das stellt einekomplexe Leistung dar.Zudem üben und verfeinern die älteren <strong>Kinder</strong> ihre Fähigkeiten,wenn sie den jüngeren etwas zeigen, beibringenoder vorlesen. Darüber hinaus können sich solcheentspannten Situationen für die älteren <strong>Kinder</strong> positiv aufihr Selbstbewusstsein auswirken, die <strong>im</strong> Vergleich mitihren Peers nicht <strong>im</strong>mer zu den Schnellsten, Stärkstenoder „Besten“ gehören. Beobachtungen haben auch bestätigt,dass in Gruppen mit erweiterter Altersmischungisolierte <strong>Kinder</strong> über die für sie einfacheren Kontakte mitjüngeren <strong>Kinder</strong>n in die Gruppe hineinfinden (Griebel,Niesel, Reidelhuber & Minsel, 2004).Mädchen und Jungen brauchen Mädchenund JungenIn der erweiterten Altersmischung haben alle <strong>Kinder</strong> dieMöglichkeiten zu sehr variationsreichen Erfahrungen. Inder Untersuchung von Riemann und Wüstenberg (2004),die die Öffnung von <strong>Kinder</strong>gartengruppen für <strong>Kinder</strong> abeinem Jahr wissenschaftlich begleitet haben, wurdedokumentiert: Altersferne Spielkonstellationen (18–60Monate) bestanden auffallend häufig aus <strong>drei</strong> <strong>Kinder</strong>n,die sich arrangierten. In Spielpartnerschaften der FünfundSechsjährigen mit Ein- und Zweijährigen warensowohl Mädchen als auch Jungen engagiert.In Gruppen mit erweiterter Altersmischung verändernsich die Kontaktpräferenzen verglichen mit altershomogenenGruppen oder mit Gruppen mit geringer Altersmischung.Die Vorlieben von Mädchen und Jungenfür Spielpartnerinnen und Spielpartner gleichen Altersund gleichen Geschlechts wird mit größerer Altersmischunghäufiger durchbrochen. Auch dies bedeutet eineErweiterung der Spielräume. Gerade auch ältere Jungenscheinen den Umgang mit den Kleinen zu genießen.Hier besteht kein Wettbewerb, Gefühle und Sanftheitkönnen gezeigt werden, ohne dass es als „unjungenhaft“abgewertet wird. Dennoch: Mädchen und Jungenbrauchen auch ihre gleichgeschlechtlichen Peers, umsich als Mädchen oder Junge in der Vertrautheit ihrerGruppe sicher und zugehörig zu fühlen und um sich gegenErwachsene, ältere und jüngere <strong>Kinder</strong> und gegendas jeweils andere Geschlecht abgrenzen zu können.Um die vielfältigen Chancen der erweiterten Altersmischungfür die <strong>Kinder</strong> nutzbar zu machen, reicht das bloßeVorhandensein der Alters<strong>unter</strong>schiede zwischen den<strong>Kinder</strong>n nicht aus, vielmehr müssen die Möglichkeitenvon den Fachkräften erkannt und <strong>unter</strong>stützt werdenoder anders ausgedrückt: Die erweiterte Altersmischungist kein Selbstläufer.