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Jahresbericht Murg-Stiftung 2008

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Selbstbestimmung und SexualitätGabriella Capassi, Bereichsleiterin WohnheimDurch die Genderbrille: Behinderungund GeschlechtDer Zusammenhang zwischen Behinderungund Geschlecht wurde langenicht thematisiert. Behinderte Menschenwaren die Behinderten, für diestellvertretend oftmals der Behinderteangeführt wurde. Behinderte Frauen machten um 1980 erstmalsdarauf aufmerksam, dass das Geschlecht bei behindertenMenschen eine wichtige Rolle spielt. Die Lebenssituationfür Frauen wurde als doppelte Diskriminierung – diskriminiertals Frau und als Mensch mit einer Beeinträchtigung –gekennzeichnet.Doppeltes HandicapSeit dieser Zeit hat sich sowohl in der Denkweise über dasGeschlecht als auch über die Behinderung viel verändert.Beide werden nicht mehr allein medizinisch-biologischbetrachtet, sondern als Verbindung, die im Alltag, im Austauschmit anderen Menschen und Institutionen ständig neudefiniert wird. Zwischen Frauen mit einer Behinderung undFrauen ohne Behinderung wird ein Unterschied gemacht, siewerden von der Gesellschaft unterschiedlich betrachtet.Für die Identität des Menschen spielt das Geschlecht einewichtige Rolle. Liegt eine Beeinträchtigung vor, wird dasMerkmal behindert so dominant, dass das Geschlecht oftmalskaum beachtet wird. Diese Feststellung, die in verschiedenenSachbüchern publiziert wurde, deckt sich mit meineneigenen Erfahrungen aus der Beratung behinderter Frauenund Männer.Dass das Geschlecht unsere Wahrnehmung beeinflusst,verdeutlicht die folgende Gegenüberstellung stereotyperZuschreibungen. Dabei sind die Zuschreibungen von weiblichund behindert nahezu deckungsgleich, männlich undbehindert schliessen sich geradezu aus.Ich beschäftige mich schon mehrere Jahre mit der ThematikSexualität und Behinderung und sehe die Veränderun -gen in unserer Gesellschaft, welche heute Menschen mitBe hinderungen ein Recht auf selbstbestimmte Sexualitätzuspricht.Menschen mit einer Beeinträchtigung werden auch alsKunden entdeckt; es gibt Sexworkshops für Betroffene, Singlepartys,Sexualbegleitung, Foren im Internet und einigesmehr.Mein Fokus richtet sich vor allem auf Menschen, die ihrSelbstbestimmungsrecht hinsichtlich ihrer langjährigen psychischenBeeinträchtigung und ihrer Sexualität nicht so einfordernkönnen, wie es bei Frauen und Männern mit körperlichemHandicap möglich ist. Sie können oft ihre Bedürfnissenicht alleine einfordern, manche können sie nicht einmalfür sich erkennen. Ihre Möglichkeiten sind teilweise odergänzlich abhängig von den Bedingungen, in denen sie leben,und den Personen, die sie betreuen.Die Grundhaltung unserer Institution ist diesbezüglichsehr fortschrittlich. Unsere Klienten haben die Möglichkeit,ihre Anliegen mit einer Fachperson zu besprechen und dochsehen auch wir, wie schwierig es ist, ihren Ansprüchengerecht zu werden.Wie viel Privatsphäre ist wirklich möglich in einemWohnheim? Wo wird, unabhängig von der eigenen Meinungund von Konzepten, weggeschaut oder eingeengt?Meine Mutter wollte nicht, dass ich ein KindbekommeUnsere Gesellschaft ist gespalten, wenn es um das Recht aufein Kind bei Frauen und Männern mit einer Beeinträchtigunggeht. Ganz typisch dafür ist, dass eine 30-jährige Frauhäufig darauf angesprochen wird, dass es doch jetzt Zeit wärefür ein Kind. Einer 35-jährigen Frau mit einer Beeinträchtigungwird dagegen häufig gesagt: «Jetzt noch nicht, späteroder noch besser, Sie haben gar keine Kinder.»Das Thema wird gerne umgangen, es fällt einem schwer,darüber zu sprechen. Es gibt bis heute noch keine gute allgemeingültigeLösung. Kinderwunsch und Behinderung bleibtein Grenzbereich von den gesellschaftlichen und persönlichenErwartungen her. In meinen Beratungen muss ich aucherkennen, dass ich immer wieder an die Grenzen der Realitätstosse. Oft erlebe ich die Ratsuchenden voll unstillbarerBedürfnisse, die zumindest teilweise unerfüllbar bleiben.Viele Kontaktanzeigen enden erfolglos, weil der Leser erfährt,dass der Mensch beeinträchtigt ist.Die Tabuisierung des Themas Kinderwunsch gegenüberden Betroffenen macht es für sie äusserst schwer, sich überhauptmit einer potenziellen Elternschaft auseinanderzusetzen.Was nicht sein darf, wird nicht besprochen. Sie erhaltendemzufolge keine Möglichkeit, das «Für und Wider» eigenerKinder abzuwägen und einen eigenen Standpunkt zu entwickeln.Es fehlt an Bildern, wie ein Leben für sie mit einemKind aussehen kann. «Ich will ein Kind» steht oft für vielenicht gelebte Wünsche, häufig für romantische Vorstellungen.«Ich will ein Kind» steht auch für die Hoffnung, in dieGesellschaft integriert zu sein, einfach «normal» zu sein. ■3

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