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Guten Tag, ich kann nicht lesen - Viden om Læsning

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Leseförderung „Eins zu Eins“ - Ein Praxisbeitrag zur Bildungsdebatte inDeutschland.Autorin: Katrin Müller-Walde, German Televison ZDF, Hauptredaktion Kultur undWissenschaftK.M-W. , Dipl<strong>om</strong> Volkswirtin (Universität Berlin), arbeitet seit 20 Jahren als politischeJournalistin. 2005 erschien beim Campus-Verlag ihr Buch „Warum Jungen n<strong>ich</strong>tmehr <strong>lesen</strong> und wie wir das ändern können“; 2010 in einer k<strong>om</strong>plett überarbeitetenNeuauflage. Sie ist Bundesvorsitzende der Freiwilligeninitiative „Mentor – DieLeselernhelfer e.V., die aktuell 6000 Mentoren und 7500 Mentees vertritt.Lead: Seit dem Fall der Berliner Mauer bemüht s<strong>ich</strong> Deutschland darum,zusammenzuwachsen – politisch, wirtschaftl<strong>ich</strong> und kulturell. Kaum ein Ort ist dabeiso umstritten wie die Schule. Fragen der Kindererziehung berühren die Wurzeln einerGesellschaft, den Kern individueller Identität. Das erklärt aber nur in Teilen, weshalbwir Deutsche aus Ost und West uns immer noch so schwer tun mit einerzeitgemäßen, einheitl<strong>ich</strong>en Bildungs- /Leseförderung.Um s<strong>ich</strong> von autoritären, Erziehungsmethoden zu distanzieren, wurden nach demKrieg föderale Bildungsstrukturen in Deutschland eingeführt und bis heute gepflegt.Lehrer durften jahrzehntelang halbtags ausschließl<strong>ich</strong> Wissen vermitteln, n<strong>ich</strong>t aberKinder auch erziehen. Diese K<strong>om</strong>petenz schrieb die Gesellschaft vor allem derFamilie zu. Die Praxis zeigt jedoch zunehmend: vor allem Kinder aus sozialschwachen Familien bleiben dabei immer öfter auf der Strecke. Deutschland mussgrundsätzl<strong>ich</strong> umdenken. Um im internationalen Wettbewerb weiter vorn zu bleiben,dürfen die Bildungschancen eines Kindes n<strong>ich</strong>t länger direkt abhängig v<strong>om</strong> sozialenStatus der Eltern sein. Private Initiativen im ganzen Land versuchen zu helfen...Am Beispiel der Initiative „Mentor – Die Leselernhelfer e.V.“ und ihrem 1:1-Prinzipwird deutl<strong>ich</strong>, was den Unterschied macht.„<strong>Guten</strong> <strong>Tag</strong>, <strong>ich</strong> <strong>kann</strong> n<strong>ich</strong>t <strong>lesen</strong>...“Stellen Sie s<strong>ich</strong> vor, Sie sind Redakteur einer <strong>Tag</strong>eszeitung, das Telefon klingelt undes meldet s<strong>ich</strong> eine Stimme mit den Worten: „<strong>Guten</strong> <strong>Tag</strong>. Ich heiße Nora, bin 23Jahre alt und <strong>kann</strong> n<strong>ich</strong>t <strong>lesen</strong>. Bitte helfen Sie mir...So, oder so ähnl<strong>ich</strong> soll es s<strong>ich</strong> zugetragen haben im März 2011. Wenig späterber<strong>ich</strong>tete die Berliner Zeitung über diese Frau, über Nora Bufé und ihre Eltern - dieMutter Deutsche, der Vater Libanese. Beide hatten Nora als Kind nie vorge<strong>lesen</strong>.Bücher waren zu Hause Mangelware. Doch irgendwie war es Nora immer wiedergelungen, s<strong>ich</strong> durchzuschummeln - von Diktat zu Diktat, von Klassenarbeit zuKlassenarbeit. Aus der kleinen Nora wurde eine erwachsene Frau. Sie schaffte denHauptschulabschluss*, wurde Köchin.


Nora ist kein Einzelfall. Die couragierte junge Frau gehört zu den 7,5 Millionen**funktionalen Analphabeten, die nach Angaben des „BundesverbandesAlphabetisierung und Grundbildung“ derzeit in Deutschland leben. Das sind Frauenund Männer, die ledigl<strong>ich</strong> <strong>lesen</strong> und schreiben können wie Schüler sonst in derersten und zweiten Grundschulklasse. Bedenkt man, dass Minderjährige (also Kinderund Jugendl<strong>ich</strong>e unter 18 Jahren) sowie Rentner in der Studie der UniversitätHamburg n<strong>ich</strong>t erfasst wurden, fällt das Ergebnis noch drastischer aus.Der Schock sitzt tief. Immer noch.Schon 2001 hatte die OECD mit den Ergebnissen der ersten PISA-StudieDeutschland (genauer gesagt den 14/15jährigen hierzulande) unterdurchschnittl<strong>ich</strong>eLesek<strong>om</strong>petenz bescheinigt. Die Politik reagierte damals alarmiert. Staatl<strong>ich</strong>e wieprivate Initiativen zur Förderung der Lesek<strong>om</strong>petenz schossen wie Pilze aus demBoden. Die Ganztagsschule, vielerorts in Europa völlig selbstverständl<strong>ich</strong>, rückteendl<strong>ich</strong> auch in Deutschland in den Fokus öffentl<strong>ich</strong>er Diskussion. Mit jedem Jahr,das verging, stieg ihre Akzeptanz. Fragen der Erziehung wurden nun Thema einesauch öffentl<strong>ich</strong> geführten, gesellschaftl<strong>ich</strong>en Diskurses und waren n<strong>ich</strong>t längerausschließl<strong>ich</strong> Familienangelegenheit. Immer öfter gehen seither Betroffene auf dieStrasse - Eltern wie Lehrer, Schüler wie Studenten – und rufen nach dem Staat.Eine gewaltige, n a t i o n a l e Bildungsanstrengung sei nötig, so die Forderung.Bildung dürfe n<strong>ich</strong>t mehr länger föderale Angelegenheit - spr<strong>ich</strong> Ländersache -bleiben.Zwar konnte Deutschland im Mittelfeld der 15jährigen inzwischen aufholen. Dasbelegen die aktuellen PISA - Ergebnisse 2010. In der Spitzengruppe verbesserte ess<strong>ich</strong> aber n<strong>ich</strong>t. Hochbegabte werden hierzulande immer noch n<strong>ich</strong>t ausre<strong>ich</strong>endgefördert. Ähnl<strong>ich</strong>es gilt leider auch für die leistungsschwächsten Schüler - Migrantenetwa und Jungen.Ausgerechnet sie erfahren im Land der D<strong>ich</strong>ter und Denker im Jahre 2011 weder imElternhaus noch in der Schule ausre<strong>ich</strong>end Hilfe, vor allem dann n<strong>ich</strong>t, wenn sie aussozial schwachen Verhältnissen k<strong>om</strong>men. Die Folge: 80. 000 Jugendl<strong>ich</strong>e verlassennach wie vor jedes Jahr die Schule ohne einen Abschluss. Wir erinnern uns: NoraBufé aus Berlin schaffte den Hauptschulabschluss.*„<strong>Guten</strong> <strong>Tag</strong>, <strong>ich</strong> <strong>kann</strong> <strong>lesen</strong>...“Das <strong>kann</strong> doch so n<strong>ich</strong>t weitergehen! Seit dem PISA Schock denken immer mehrDeutsche so und melden s<strong>ich</strong> telefonisch oder per Mail als Freiwillige bei uns beimBundesverband – Mentor Die Leselernhelfer e.V.. Und das geht dann so: „<strong>Guten</strong><strong>Tag</strong>, <strong>ich</strong> <strong>kann</strong> <strong>lesen</strong>, liebe Bücher und würde gern helfen...“ Es sind Bildungsbürgerim besten Sinne des Wortes, die eine Patenschaft übernehmen wollen: Apotheker,pensionierte Lehrer, Rentner, Studenten, Hausfrauen, auch ältere Schüler. Sie allelieben es zu <strong>lesen</strong>, mögen Goethe oder Grass, junge, unbe<strong>kann</strong>te Autoren odereinfach gut erzählte Gesch<strong>ich</strong>ten. Darüber hinaus begeistern sie N<strong>ich</strong>tleser durchgelebtes Vorbild. Doch das ist längst n<strong>ich</strong>t alles.Das Mentor-Prinzip: „Eins zu Eins.“


Das Besondere an unseren Mentoren ist, dass sie stets ausschließl<strong>ich</strong> mit einemKind zur gle<strong>ich</strong>en Zeit arbeiten. Aus der Leseforschung wissen wir: Genau dieses1:1-Prinzip ist das nachhaltigste Mittel, um Leselust zu stiften. Warum? Bildungbraucht Bindung. Ruhe, Geborgenheit, Lob und immer wieder Lob. Bei denwöchentl<strong>ich</strong>en Treffen zwischen Mentor und Mentee wachsen Wertschätzung undVertrauen ganz natürl<strong>ich</strong> und führen letztl<strong>ich</strong> zu einer solch´ positiven Beziehung wieim folgenden Fall:Der Frankfurter Schüler Kemal, 10, aus Afghanistan begann irgendwann ausSympathie für seinen Mentor zu <strong>lesen</strong>. „Erst dachte <strong>ich</strong>, Lesen ist doof: Aber Wernerkam immer wieder, sogar, wenn <strong>ich</strong> frech war... Der hat s<strong>ich</strong> auch gemerkt, was <strong>ich</strong>erzählt hab´, und manchmal hat er mir auch Schokolade mitgebracht!“ ber<strong>ich</strong>teteKemal begeistert. Sein Mentor Werner, 64, einst Geschäftsführer eines kleinenUnternehmens, hat Kemal offens<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong> von Anfang an ernst gen<strong>om</strong>men, ihnregelrecht aufgeschlossen. Als sie s<strong>ich</strong> kennenlernten, redeten sie erst einmalmiteinander, spielten zusammen Fußball. Erst dann begannen sie gemeinsam zu<strong>lesen</strong>, worauf Kemal wirkl<strong>ich</strong> Lust hatte. Das <strong>kann</strong>te der Bub, der vor zwei Jahren mitseinen Eltern nach Deutschland kam, aus der Schule n<strong>ich</strong>t. Spaß sollte ihm diegemeinsame Zeit mit dem Mentor bereiten. N<strong>ich</strong>t das Schulbuch stand im Fokus,sondern kleine Artikel mit großen Buchstaben über schnelle Autos, wildeStammeskrieger oder aufregenden Fußball. Heute versteht er endl<strong>ich</strong>, was imUnterr<strong>ich</strong>t gesprochen wird, <strong>kann</strong> Aufgaben der Lehrerin folgen. Dasniederschwellige Föderangebot setzte unmittelbar an Kemals Bedürfnissen an.Noch einmal: Um Leselust zu stiften, braucht es ein emotional stabiles Umfeld, einefeste Bezugsperson, die dem Mentee das Gefühl vermittelt: deine Interessen,Fähigkeiten und Wünschen sind mir w<strong>ich</strong>tig. Mit Bedauern lese und höre <strong>ich</strong> immerwieder – auch von Leuten, die es eigentl<strong>ich</strong> besser wissen sollten wie dereinflussre<strong>ich</strong>en Stiftung Lesen in Deutschland - dass das Gegenteil propagiert wird.Medien ber<strong>ich</strong>ten dann von PR-trächtigen Aktionen wie „TV-Pr<strong>om</strong>is <strong>lesen</strong> vor“, von„Lustigen Lesenächten“ oder „Buchcoverwäscheleinen“, die zwischen Bäumen in derMainzer Innenstadt gezogen werden. Diese Aktionen sind s<strong>ich</strong>erl<strong>ich</strong> gut gemeint undganz bestimmt auch n<strong>ich</strong>t schädl<strong>ich</strong> für Kinder. Sie gehen aber am Kern dessen, wasLeseunlustige tastsächl<strong>ich</strong> brauchen, näml<strong>ich</strong> in ihrer Individualität gesehen zuwerden, völlig vorbei. Ihre Wirkung verpufft deshalb auch wie ein Tropfen auf einemheißen Stein und nutzt maximal den Pr<strong>om</strong>is oder den Institutionen, die s<strong>ich</strong> mit derleiAktionen schmücken wollen.Mentor - die Leselernhelfer e.V. hat s<strong>ich</strong> indes das aus PR-S<strong>ich</strong>t deutl<strong>ich</strong>„langweiligere“, aber dafür wirkungsvollere 1:1 Prinzip auf seine Fahnengeschrieben. Wir sind bereit, dicke Bretter zu bohren - um der Kinder willen. Im Zugemeiner Recherchen für das Buch Warum Jungen n<strong>ich</strong>t mehr <strong>lesen</strong> und wie wir dasändern, hatte <strong>ich</strong> zahlre<strong>ich</strong>e Studien von Lese- und Gehirnforschern ausgewertet(z.B. Marian Whitehead, Supporting Languages and Literacy Develeopment in theearly years), auch praktische Erfahrungen im englischsprachigen Raum. Das Einszu-Eins-Prinzipwar es letztl<strong>ich</strong>, das m<strong>ich</strong> überzeugte, die Initiative Mentor - DieLeselernhelfer e.V. auch persönl<strong>ich</strong> ganz praktisch zu unterstützen. 2006 gründete<strong>ich</strong> den Landesverband Hessen, rekrutierte die ersten 100 Mentorinnen undMentoren. Heute arbeiten 6000 Mentoren und 7500 Mentees deutschlandweit nachdiesem Prinzip. Und tägl<strong>ich</strong> werden es mehr.


Durchhalten lohnt s<strong>ich</strong>Und der Erfolg? Erste positive Ergebnisse stellen s<strong>ich</strong> unserer Beobachtung nach beiregelmäßiger Arbeit mit dem Kind nach ca. sechs Monaten ein. Zunächst verbesserns<strong>ich</strong> die Leistungen der Schüler im Fach Deutsch um eine Note. Später profitierenauch die Ergebnissen anderer Schulfächer v<strong>om</strong> Lesetraining. Der Buchhändler OttoStender, 76, machte erstmals vor sieben Jahren genau diese Erfahrung und gabn<strong>ich</strong>t auf.Auf seinem Pferdehof nahe Hannover war ihm ein Mädchen aufgefallen, das sehrselten sprach. Vanessa, damals 12, wuchs zusammen mit ihren vier Geschwisternbei ihrer alleinerziehenden Mutter auf, traute s<strong>ich</strong> aber n<strong>ich</strong>ts zu, stand immer nurtraurig am Gatter. Otto Stender bot ihr an, das Reiten zumindest mal auszuprobieren.Später lasen sie dann auch gemeinsam. Nach gut einem Jahr wechselte sie von derHauptschule zur Realschule***, später zur Gesamtschule. Mit dem Abitur**** in derTasche studiert sie heute Tiermedizin. Was für eine Entwicklung!Vanessa, heute 20, k<strong>om</strong>mt ähnl<strong>ich</strong> wie Nora Bufé aus Berlin aus einer Risikofamilie.Bücher waren auch bei ihr zu Hause Mangelware. Was wäre wohl aus Norageworden, wenn sie wie Vanessa einen Mentor gefunden hätte?Vermutl<strong>ich</strong> ahnen Sie es. Auch Nora Bufé wird nun solange mit einem Mentorarbeiten, wie sie möchte. Dafür haben wir gesorgt. Als Bundesverband hatten wiruns lange, viel zu lange ausschließl<strong>ich</strong> auf die Arbeit mit Kindern und Jugendl<strong>ich</strong>enzwischen 6 und 16 konzentriert. Nun arbeiten wir auch mit Erwachsenen, ganz gle<strong>ich</strong>aus welchem Land der Welt sie k<strong>om</strong>men. 7,5 Millionen funktionale Analphabeten inDeutschland, das schien uns mehr als Anlass genug zu sein, wirkl<strong>ich</strong> umzudenkenund unsere Freiwilligentätigkeit der Realität anzupassen.Anmerkungen:* Dieser wird in Deutschland nach acht Jahren staatl<strong>ich</strong>en Pfl<strong>ich</strong>tunterr<strong>ich</strong>ts vergeben. Zehn Jahresind übl<strong>ich</strong>erweise Voraussetzung, um eine Berufsausbildung - die sogenannte Lehre - zu beginnen.**Das sind mehr als 14 % der erwerbstätigen Bevölkerung.*** Dieser Abschluss befähigt zum Beginn einer Berufsausbildung, der sogenannten Lehre (DualesSystem)**** UniversitätsreifeQuellen:Berliner Zeitung: Ausgabe 75, 30.3.2011, Seite 19, Berlin, AnalphabetismusDie Welt: 20.4. 2011, Seite 4, Lehrer geben den Schulen ein Schlechtes ZeugnisAgence France Press: 28.2.2011www.mentor-bundesverband.dewww.warumJungenn<strong>ich</strong>tmehr<strong>lesen</strong>.de

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