Die Hexe von Ameland - EWK-Verlag

Die Hexe von Ameland - EWK-Verlag Die Hexe von Ameland - EWK-Verlag

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Mathias Meyer-Langenhoff<br />

<strong>Die</strong> <strong>Hexe</strong><br />

<strong>von</strong> <strong>Ameland</strong>


Liebe Leserin, lieber Leser,<br />

die Online-Ausgabe <strong>von</strong><br />

„<strong>Die</strong> <strong>Hexe</strong> <strong>von</strong> <strong>Ameland</strong>“<br />

haben wir, im Einvernehmen mit dem Autor, pünktlich<br />

zu Ostern 2010 kostenlos im Internet verfügbar gemacht.<br />

Bitte beachten Sie, dass das Werk dennoch auch weiterhin<br />

vollen urheberrechtlichen Schutz genießt, und Nachdrucke<br />

und Vervielfältigungen jeglicher Art, auch auszugsweise,<br />

nur nach ausdrücklicher Zustimmung des<br />

<strong>Verlag</strong>es gestattet sind.<br />

Natürlich kann sich jeder, der lieber auf Papier liest, als<br />

am Bildschirm, die <strong>Hexe</strong> <strong>von</strong> <strong>Ameland</strong> am eigenen<br />

Drucker für den eigenen Bedarf auch ausdrucken.<br />

Einfacher wäre es allerdings,<br />

die fix und fertig gedruckte Ausgabe bei uns oder bei<br />

Ihrer Buchhandlung zu bestellen.<br />

Unser Online-Shop: http://www.ewk-verlag.de<br />

Beim Autor gibt es das Buch übrigens auch als Hörbuch<br />

http://www.meyer-langenhoff.de/<br />

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Mathias Meyer-Langenhoff<br />

<strong>Die</strong> <strong>Hexe</strong> <strong>von</strong> <strong>Ameland</strong><br />

mit Illustrationen der Töchter Johanna (12) und Antonia (15)<br />

4<br />

ONLINE-Ausgabe<br />

März 2010, <strong>EWK</strong>-<strong>Verlag</strong> Kühbach-Unterbernbach<br />

Satz und Gestaltung: E.W.K. ...der Unternehmerberater e.K., Kühbach<br />

© <strong>EWK</strong> ...der Unternehmerberater e.K., Alle Rechte vorbehalten<br />

ISBN 978-3- 938175-55-2


Für Karola<br />

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Endlich Ferien<br />

Als ich nach Hause kam, hörte ich Papa schon <strong>von</strong> weitem<br />

singen: „<strong>Ameland</strong>, schönes Land, Perle im Meer...“<br />

Mit hochrotem Kopf stand er vor unserem Auto und<br />

stemmte sein Fahrrad auf den Dachgepäckträger.<br />

„Hallo, meine Große, ist dir eigentlich klar, dass es gleich<br />

losgeht?“, keuchte er und wischte sich den Schweiß <strong>von</strong><br />

der Stirn.<br />

„Ich weiß, Papa, ist ja nicht das erste Mal, dass du mich<br />

daran erinnerst“, antwortete ich.<br />

Endlich hatten wir Sommerferien. Mein Zeugnis war so<br />

lala ausgefallen, aber sechs Wochen ausschlafen, keine<br />

Hausaufgaben und vorerst keine Vokabeln lernen, konnte<br />

ich echt gut gebrauchen. Vielleicht auch nur fünfeinhalb, je<br />

nachdem, wann Papa das baldige Ende der Ferien bemerkte<br />

und dann behauptete, ich müsste mich auf das<br />

neue Schuljahr vorbereiten.<br />

Mama wuchtete einen voll gepackten Koffer nach dem anderen<br />

in den Hausflur.<br />

„Stell’ deine Schultasche am besten in den Schrank. In der<br />

Küche steht dein Mittagessen, wir müssen uns beeilen!<br />

Deine Schwester ist noch bei Anne, um sich zu verabschieden.<br />

Sobald sie zurück ist, starten wir!“, rief sie mir<br />

zu. Mama hat immer Angst, die Fähre zur Insel zu verpassen.<br />

Mit langen Beinen stieg ich über die Hindernisse, die<br />

sie aufgebaut hatte und ich fragte mich, wie Papa die jemals<br />

alle im Auto verstauen wollte.<br />

Meikes Freundin wohnt bei uns in der Nachbarschaft.<br />

Schon seit einer Woche waren sie jeden Tag zusammen,<br />

nur weil sie sich jetzt in den Ferien ein paar Wochen lang<br />

nicht sehen können. Eigentlich mag ich Meike sehr, aber<br />

wenn sie ohne Anne auskommen muss, hängt sie mir<br />

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derart auf der Pelle, dass ich Angst habe, sie verfolgt mich<br />

sogar bis aufs Klo.<br />

„So, die Arbeit ist erledigt!“<br />

Papa rieb sich die Hände.<br />

„Ich bin zufrieden mit mir. So viele Koffer kann man in einem<br />

kleinen Auto normalerweise nicht unterbringen!“<br />

Mit stolz geschwellter Brust schaute er zu Mama und zeigte<br />

auf den bis oben hin gefüllten Laderaum.<br />

„Aber was ist mit der Lebensmittelkiste in der Küche?“, lächelte<br />

sie, „du hast doch selbst gesagt, du willst nicht sofort<br />

auf <strong>Ameland</strong> im Supermarkt einkaufen müssen.“<br />

Papas Gesicht verfinsterte sich. Fassungslos starrte er<br />

Mama an. Ich dachte schon, jetzt würden sie mit ihrem üblichen<br />

Streit anfangen, wie viel man mitnehmen darf und<br />

so. Aber Papa begann zu meiner Überraschung völlig<br />

klaglos damit, <strong>von</strong> neuem zu packen.<br />

Als er alles wieder verstaut hatte, tauchte Meike auf, wie<br />

immer, erst wenn es nichts mehr zu tun gibt.<br />

„Na Paps, bist du soweit?“, fragte sie, setzte sich ins Auto<br />

und verschränkte die Arme vor der Brust.<br />

„Ihr schafft es einfach nie, pünktlich fertig zu sein!“<br />

<strong>Die</strong>ser Satz brachte Mama aus der Fassung.<br />

„Meike Sommer!“, rief sie, in einem Ton, der signalisierte,<br />

dass es ernst wurde, „Du steigst sofort wieder aus und<br />

holst deine Kuscheltiere und Bücher <strong>von</strong> oben. Darum<br />

kann ich mich nicht auch noch kümmern.“<br />

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„<strong>Die</strong> hättest du doch längst einpacken können, ich sitze<br />

schon im Auto!“, rief Meike.<br />

„Hallo Meike“, dachte ich, „merkst du noch was?“<br />

Jetzt mischte sich Papa ein.<br />

„Meine liebe Tochter“, begann er freundlich, aber bestimmt,<br />

„wir haben die ganze Zeit gepackt. Es wird Zeit,<br />

dass du als Neunjährige auch mal was tust, und zwar augenblicklich!“<br />

Beim letzten Wort wurde seine Stimme lauter. Meike<br />

brummelte etwas, was ich nicht verstand, stieg aber ohne<br />

weiteren Protest wieder aus, lief nach oben in ihr Zimmer<br />

und holte ihre Sachen selbst. Endlich waren wir reisefertig.<br />

Mama schloss die Haustüre ab, setzte sich hinters Lenkrad<br />

und startete den Motor.<br />

„Alles klar bei euch? Also Haus, mach’s gut, wir sehen uns<br />

in drei Wochen wieder!“, rief sie. Nur Papa musste noch<br />

seine unvermeidlichen Fragen stellen.<br />

„Haben wir das Fährenticket?“<br />

„Ja, Schatz.“<br />

„Ist das Geld im Auto?“<br />

„Ja, Schatz.“<br />

Hast du an das Geschenk für unsere Vermieter gedacht?“<br />

„Mein Gott, ja!“<br />

Erst jetzt lehnte er sich entspannt in seinen Sitz zurück<br />

und begann, in der Zeitung zu blättern.<br />

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<strong>Die</strong> Anreise<br />

Ich schaute aus dem Fenster. Je länger wir fuhren, desto<br />

holländischer kam mir alles vor. Wir überquerten immer<br />

wieder Brücken, kamen an Windmühlen vorbei, fuhren an<br />

Kanälen entlang oder durch Städte, in denen es nur so<br />

<strong>von</strong> Radfahrern wimmelte. <strong>Die</strong> Zeit verging wie im Flug.<br />

Irgendwann fragte Meike: „Gehen wir eigentlich an den<br />

Strand, wenn wir da sind?“<br />

Papa stimmte sofort zu.<br />

„Das ist eine gute Idee, am besten nehmen wir gleich die<br />

Badesachen mit!“<br />

Papa und das Meer, das ist wirklich eine ganz besondere<br />

Beziehung. Es grenzt schon an ein Wunder, wenn er im<br />

Laufe der Ferien wenigstens einmal schwimmen geht. Erst<br />

kann er es kaum erwarten, aber dann traut er sich höchstens<br />

mit einer Fußspitze ins Wasser und behauptet, es sei<br />

viel zu kalt zum Schwimmen. Aber jetzt war er wieder total<br />

begeistert.<br />

„Ihr glaubt gar nicht, wie ich mich darauf freue, wieder in<br />

die Nordsee zu springen!“, meinte er mit leuchtenden Augen.<br />

„Ist ja gut, Martin!“, riefen wir im Chor und grinsten ihn an.<br />

Für einen Augenblick schien er sich zu ärgern, aber dann<br />

zuckte er nur mit den Schultern.<br />

„Mein Gott, man hat’s nicht leicht, wenn man mit drei<br />

Frauen verreist.“<br />

Danach wurde es still im Auto. Papa las seine Zeitung,<br />

Meike hörte Musik vom MP3-Player, Mama fuhr und<br />

schaute dabei ab und zu in den Rückspiegel, als ob sie<br />

sich vergewissern wollte, dass wir noch da waren.<br />

Ich hatte mir noch mal Astrid Lindgrens Ferien auf Saltkrokan<br />

zum Lesen herausgesucht. Papa meint, das Buch<br />

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habe viel mit uns zu tun, denn die Familie verbringe ihre<br />

Ferien schließlich auch regelmäßig auf einer Insel.<br />

<strong>Die</strong> Melchersons fuhren gerade mit dem Schiff nach<br />

Saltkrokan. Ich dachte an unsere Fähre, mit der wir nach<br />

<strong>Ameland</strong> übersetzen würden. Lange konnte die Autofahrt<br />

bis zum Hafen in Holwerd nicht mehr dauern.<br />

Und tatsächlich. Plötzlich rief Mama begeistert: „Achtung,<br />

wer als erster das Meer entdeckt, bekommt <strong>von</strong> mir einen<br />

Euro!“<br />

Das spielen wir immer kurz vor der Küste, denn das letzte<br />

Stück fährt man am Deich entlang. Man kann die Nordsee<br />

zwar noch nicht sehen, aber sie schon riechen. Mein Herz<br />

begann zu klopfen, ich freute mich riesig und stellte mir<br />

vor, wie der raue Wind meine Haare zerzaust.<br />

Nach einer Linkskurve durchbrach die Straße plötzlich den<br />

Deich und lief schnurgerade auf den im Watt liegenden<br />

Hafen zu. Jetzt kam der Moment, den ersten Blick auf die<br />

Nordsee zu erwischen.<br />

„Das Meer, ich sehe es, ich sehe es!“<br />

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Meike hatte sich hinten auf dem Rücksitz ganz lang gemacht,<br />

um die erste sein zu können.<br />

„Ich bekomme den Euro!“<br />

„Quatsch, ich war schneller!“, rief Papa, „mindestens eine<br />

halbe Sekunde.“<br />

Mama und ich erklärten Meike zur Gewinnerin.<br />

Es war Flut. <strong>Die</strong> weite, silberne Wasseroberfläche glitzerte<br />

so hell in der Sonne, dass ich meine Augen zukneifen<br />

musste. Mama öffnete ihr Seitenfenster.<br />

“Aaah, diese Luft! Kinder riecht diese Frische, das ist reine<br />

Natur!“<br />

Begeistert sah sie uns an. Wir hatten es geschafft. Gleich<br />

würden wir unsere Freunde aus Berlin und Coesfeld treffen,<br />

mit denen wir seit Jahren die Ferien gemeinsam verbrachten.<br />

Nach einem kurzen Stopp am Schalter der Fährgesellschaft,<br />

wo wir unser Ticket zeigen mussten, fuhren wir auf<br />

den Parkplatz und reihten uns in die Autoschlange ein.<br />

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Das Wiedersehen<br />

Meike und ich hielten am Anleger nach der Fähre Ausschau.<br />

Bei klarem Wetter entdeckten wir sie manchmal<br />

schon am Horizont, noch klein wie eine Nussschale. Aber<br />

jetzt sahen wir nichts und gingen sofort weiter zum Hafenrestaurant.<br />

Dort konnte man warten und durch riesige<br />

Fensterscheiben aufs Meer schauen.<br />

Als ich die schwere Glastür öffnete, sah ich auf den ersten<br />

Blick, dass Mama und Papa unsere Freunde schon getroffen<br />

hatten. In der hinteren Ecke des Restaurants herrschte<br />

großer Trubel. Unsere Eltern begrüßten gerade die Münstermänner.<br />

Marlies, Rainer und ihre Kinder Paula, Lara<br />

und Oliver wohnen in Coesfeld, einer kleinen Stadt in der<br />

Nähe der holländischen Grenze. Paula ist dreizehn und<br />

meine beste Freundin.<br />

„Hi, Hanna!“<br />

Sofort steuerte sie auf mich zu.<br />

„Ich muss dir unbedingt was erzählen!“<br />

„Lass mich raten“, antwortete ich, „es geht um deine Clique.“<br />

„Genau, Schlaumeierin, hab’ ich dir da<strong>von</strong> schon geschrieben?<br />

Ach ja. - Aber jetzt pass auf! Das Neueste ist:<br />

Eine aus meiner Clique, Tine, hat ein neues Piercing am<br />

Bauchnabel, das sieht so geil aus!“<br />

„Echt jetzt? Lässt du dir auch eins machen?“<br />

Paula verdrehte die Augen und deutete auf ihren Vater.<br />

„Er will nicht. Als ich gefragt habe, ist er fast ausgeflippt.“<br />

„Das tut doch auch weh, ich hätte viel zu viel Angst.“<br />

„Tine fand es gar nicht so schlimm. Nach zwei Tagen hat<br />

sie nichts mehr da<strong>von</strong> gemerkt“, entgegnete Paula.<br />

Wir sehen uns eigentlich nur in den Ferien, aber wir mailen<br />

uns oft. Deshalb weiß ich auch einiges über ihre<br />

12


Clique. Tine und die anderen Mädchen sind fast alle ein<br />

oder zwei Jahre älter. Vielleicht zieht sich Paula auch deshalb<br />

ganz anders an als ich. Sie trägt zum Beispiel fast bei<br />

jedem Wetter bauchnabelfreie T-Shirts.<br />

„Und was ist mit mir?“<br />

Am Tisch saß Paulas Schwester Lara und strahlte mich<br />

an. Sie ist zwölf, so wie ich. So stark wie sie ist kein anderes<br />

Mädchen, das ich kenne. Wie immer war sie braungebrannt.<br />

„Du weißt doch, dass du mir egal bist!“<br />

Ich ging lachend auf sie zu und gab ihr einen Kuss auf die<br />

Backe.<br />

„Wie viele Hanteln hast du wieder gestemmt?“<br />

„Keine Ahnung“, strahlte sie, „aber letzte Woche hab’ ich<br />

die 50-Meter-Strecke gewonnen.“<br />

Sie ballte triumphierend ihre Faust. Lara ist Wettkampfschwimmerin.<br />

Oliver war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich<br />

unternahm er mal wieder eine seiner berühmten Entdeckungstouren.<br />

‚Olli’, wie Paula und Lara ihn nennen,<br />

sprüht vor Ideen. Er ist extrem neugierig mit seinen acht<br />

Jahren. Mama hält ihn für einen ziemlichen Chaoten, aber<br />

ich finde, er hat eigentlich super Einfälle, nur übertreibt<br />

er’s manchmal.<br />

„Wat leuk, jij bent ook weer hier!”, rief<br />

Rainer in seinem komischen Holländisch<br />

und klopfte mir mit seiner riesengroßen<br />

Pranke auf die Schultern.<br />

Er sieht aus wie ein großer<br />

Bär mit seinem dicken<br />

Bauch und den behaarten<br />

Armen.<br />

„Bist du denn jetzt endlich<br />

getauft?“, wollte er wissen.<br />

„Bis jetzt noch nicht“,<br />

antwortete ich etwas genervt,<br />

denn er stellt diese Frage oft.<br />

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Rainer will Papa unbedingt da<strong>von</strong> überzeugen uns religiös<br />

zu erziehen. Auch Marlies begrüßte mich.<br />

„Wie geht es dir, Hannah?“<br />

„Super! Ich freu’ mich total auf die Ferien“, antwortete ich<br />

lachend.<br />

Erst jetzt sah ich die Franzens. Pit und Hanjo beschäftigten<br />

sich mit einer leeren Coladose, die sie sich gegenseitig<br />

zuwarfen.<br />

„Ihr seid mal wieder die letzten!“, nörgelte der dünne Pit.<br />

„Ich sitze mir hier schon seit einer Stunde den Hintern<br />

platt. Geht ihr gleich mit nach draußen?“<br />

Er ist so alt wie ich und begeisterter Fußballfan.<br />

„Ich habe voll viel trainiert zu Hause, wetten, dass ich es<br />

dieses Jahr schaffe, den Ball dreißig Mal auf dem Fuß zu<br />

jonglieren?“<br />

„Lass gut sein, Ronaldo“, grinste Hanjo, „das wird sowieso<br />

nichts.“<br />

Dabei blinzelte er wie immer durch seine kleine Brille.<br />

„Wie war die Reise, Professor?“, fragte ich. Er verdrehte<br />

die Augen.<br />

„Jetzt geht das schon wieder los!“<br />

Damit ärgere ich ihn gerne. Er geht in die achte Klasse<br />

und ist ein bisschen dick. Er hasst es, Professor genannt<br />

zu werden. Seiner Meinung nach redet ein Professor nur<br />

über Sachen, die kein Mensch versteht. Seine Mutter Heike<br />

lächelte: „Das Necken scheint ja schon wieder Spaß zu<br />

machen. Ich hoffe, es bleibt auch dabei und wird nicht<br />

wieder zu einem Krach zwischen euch.“<br />

„Keine Angst Heike, diesmal kriegen wir das schon hin!“,<br />

antwortete ich. Gleichzeitig dachte ich: „So sicher bin ich<br />

mir da gar nicht!“<br />

„Könnt ihr euch übrigens noch an das Deichwettrutschen<br />

erinnern? Für dieses Jahr habe ich schon eine neue Idee,<br />

wenn das Wetter schlecht ist“, meinte sie.<br />

„Und was für eine?“<br />

Neugierig sah ich Heike an.<br />

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„Das wird noch nicht verraten, sonst ist es ja keine Überraschung<br />

mehr!“<br />

Letztes Jahr, nach drei Tagen Dauerregen, war unsere<br />

Laune ziemlich im Keller. Da schlug sie vor, wir sollten unsere<br />

Regenhosen anziehen und vom Deich rutschen. Es<br />

war so glatt wie auf einer Rodelbahn. Solche Ideen hat nur<br />

Heike.<br />

Als ich an ihr herunter schaute, bekam ich große Augen.<br />

„Ist was mit mir?“, fragte sie verwundert.<br />

„Klar ist was mit dir, Mama“, rief Katja, „ihr fallen deine<br />

neuen, eleganten Schuhe auf!“<br />

Sie trug trotz des schönen Wetters knallgelbe, große<br />

Gummistiefel, die bei jedem Schritt auf dem Fliesenboden<br />

des Restaurants quietschten. Ich musste lachen. Wahrscheinlich<br />

hatte sie die Dinger <strong>von</strong> einem Flohmarkt. Sie<br />

geht da öfter einkaufen. <strong>Die</strong> Sachen passen ihr zwar nicht<br />

immer hundertprozentig, aber sie sind echt cool. Auch Katja<br />

grinste. Sie ist schon vierzehn und bestimmt einen Meter<br />

fünfundsiebzig groß. Wahrscheinlich hat sie das <strong>von</strong><br />

ihrem Vater Uli. Ich glaube, der kann durch keine Tür gehen,<br />

ohne sich zu bücken.<br />

„Guckt mal, die Fähre kommt!“, rief Olli, der wieder aufgetaucht<br />

war.<br />

„Endlich!“<br />

Pit sprang auf und rannte nach draußen zum Anleger. Wir<br />

liefen hinterher. Überall auf dem großen, weißen Schiff<br />

standen Menschen.<br />

„<strong>Die</strong> Armen“, sagte er, die müssen bestimmt schon bald<br />

wieder arbeiten oder in die Schule.“<br />

„Hör bloß auf mit der Schule!“, meinte Paula naserümpfend,<br />

„die steht mir bis hier! Unser Klassenlehrer hat uns<br />

bis zum Schluss noch mit Vokabeln und Tests genervt.“<br />

„Unserer war auch nicht besser!“<br />

Hanjo nickte verständnisvoll.<br />

„Wisst ihr was? Ich habe eine Idee. Morgen, oder so, fahren<br />

wir nach Buren. Da gibt’s ein kleines Museum. Ich<br />

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wollte letztes Jahr schon mit Papa hin, aber da haben wir<br />

es nicht mehr geschafft.“<br />

„Was soll denn das?“<br />

Pit verdrehte die Augen.<br />

„Da<strong>von</strong> hast du im Auto aber nichts erzählt. In den Ferien<br />

in ein Museum? Ist doch ätzend!“<br />

„Weißt du doch gar nicht, ich hab’ gelesen, das soll ganz<br />

interessant sein. Da gibt’s nämlich was über eine Strandräuberin,<br />

die so was Ähnliches wie eine <strong>Hexe</strong> gewesen<br />

sein soll.“<br />

Meine Schwester war sofort begeistert.<br />

„Tolle Idee, die will ich auch sehen!“, rief sie mit strahlenden<br />

Augen.<br />

Plötzlich standen unsere Eltern hinter uns.<br />

„Los, ab mit euch in die Autos, wir müssen gleich auf die<br />

Fähre!“, rief Heike.<br />

Kurze Zeit später waren wir an Bord. Vom Bug aus beobachteten<br />

wir die Abfahrt. Am Ufer wurden die schweren<br />

Taue gelöst. <strong>Die</strong> großen Maschinen ließen das Schiff erzittern<br />

und bewegten es ganz langsam rückwärts. Ich<br />

schaute in das brodelnde Wasser. Nachdem sich das<br />

Schiff weit genug vom Anleger entfernt hatte, stoppte es,<br />

drehte die Nase in Richtung <strong>Ameland</strong> und begann Fahrt<br />

aufzunehmen.<br />

Mit Lara und Katja lief ich kreuz und quer über das Schiff.<br />

„Wie viele Menschen wohl auf so einer Fähre mitfahren<br />

können?“, überlegte Katja.<br />

„Hm, darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht.<br />

Aber vielleicht können wir’s herausbekommen“, sagte ich.<br />

„Super Idee“, meinte Lara, „wir gehen über das Sonnendeck<br />

nach oben und fragen einfach auf der Brücke den<br />

Kapitän.“<br />

„Quatsch, das geht nicht, der ist doch beschäftigt.“<br />

Katja runzelte die Stirn, ließ sich aber trotzdem überreden.<br />

Wir drängten uns über die voll besetzten Decks langsam<br />

nach oben.<br />

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„Und, wie sollen wir jetzt weiterkommen?“, fragte sie nach<br />

der Hälfte des Weges, „die Kapitänsbrücke ist ja noch höher.“<br />

Wir blieben stehen und schauten uns um, ob irgendwo eine<br />

Treppe vom Sonnendeck aus weiter hinauf führte. Dabei<br />

fielen mir zwei Männer auf, die irgendwie anders aussahen<br />

als die meisten hier.<br />

„Guck mal!“, flüsterte ich Katja zu, der hat eine echt komische<br />

Frisur.“<br />

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„Wieso?“<br />

„Auf dem Kopf ganz kurz und hinten im Nacken fallen ihm<br />

die Haare fast bis auf die Schultern.“<br />

„Stimmt, der sieht nicht besonders nett aus. Und diese<br />

große Narbe auf der Backe, echt unheimlich.“<br />

Er war muskulös und groß, seine Arme, die er vor der<br />

Brust verschränkte, erschienen mir so dick wie Papas Beine.<br />

„Wisst ihr, woran mich der andere erinnert?“, fragte Lara.<br />

„Keine Ahnung.“<br />

„An eine Kugel auf zwei Beinen, der ist ja nur klein, dick<br />

und rund“, kicherte sie. Der kleine Dicke trug eine schwarze<br />

Sonnenbrille, einen hellen Anzug und einen großen Hut<br />

und redete andauernd auf den Großen ein. Bei jedem<br />

Wort wippte und zitterte der buschige schwarze Schnauzbart,<br />

der ihm unter der Nase wuchs.<br />

„Der sieht aus wie ein Walross“, staunte Katja.<br />

„Was sind denn das für Typen? Los, mal hören, worüber<br />

die sich unterhalten!“<br />

Sofort steuerte Lara auf die beiden Männer zu. Den Besuch<br />

auf der Kapitänsbrücke hatte sie vergessen. Wir gingen<br />

hinter ihr her und stellten uns unauffällig zu den Männern<br />

an die Reling. Der Dicke redete immer noch wild gestikulierend<br />

auf den anderen ein.<br />

„Was glaubst du eigentlich, warum wir hier sind? Du<br />

kannst doch auf dieser Scheißinsel keinen Urlaub machen.<br />

Wir müssen diese Figur wieder auftreiben. Und<br />

wenn du nicht spurst, mein Lieber, werde ich auf der Stelle<br />

zum Handy greifen und unserem Auftraggeber sagen,<br />

dass du aussteigst!“<br />

Seine Stimme überschlug sich fast. „Mir reicht es wirklich.<br />

Ich will endlich die Kohle sehen! Noch einmal lass’ ich<br />

mich nicht so abspeisen – und wenn wir die ganze Insel<br />

umgraben müssen, um das verfluchte Ding wiederzufinden.“<br />

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Der mit dem langen Nackenhaar nickte und antwortete mit<br />

tiefer Stimme: „Ja, ja, Walter, ist gut. Du hast recht. Wir<br />

machen es so wie du sagst. Aber jetzt lass uns noch<br />

schnell einen dieser Marzipankuchen kaufen, dafür könnte<br />

ich sterben!“<br />

„Vielleicht eher als dir lieb ist“, grummelte der Dicke drohend.<br />

Dann gingen sie unter Deck zur Schiffscafeteria.<br />

„Was war denn das? <strong>Die</strong> zwei haben doch irgendwas<br />

Merkwürdiges vor!“<br />

Lara wollte sofort hinter ihnen her.<br />

„Stopp!“, sagte ich, „das geht nicht. <strong>Die</strong> merken es, wenn<br />

wir sie schon wieder belauschen!“<br />

„Du hast Recht“, Katja nickte, „ich glaube, es ist besser,<br />

wir erzählen erst mal den anderen da<strong>von</strong>.“<br />

Wir wollten sie gerade suchen, da hörten wir auf Holländisch<br />

eine Durchsage: „Wir werden in wenigen Minuten<br />

<strong>Ameland</strong> erreichen, bitte begeben Sie sich in ihre Kraftfahrzeuge!“<br />

Mama und Papa kamen uns, zusammen mit den Franzens<br />

und Münstermännern, entgegen.<br />

„Wir haben euch gesucht. Ihr könnt doch nicht einfach<br />

verschwinden!“<br />

Mama machte sich manchmal zu viele Sorgen. Schließlich<br />

konnte man auf dem Schiff nicht weglaufen und außerdem<br />

fuhren wir ja nicht das erste Mal nach <strong>Ameland</strong>. Wir gingen<br />

zu unseren Autos.<br />

„Am besten treffen wir uns nachher am Strand!“, rief Katja.<br />

Ich nickte und stieg ein.<br />

Meike saß schon auf ihrem Platz.<br />

„Wo seid ihr gewesen?“, fragte sie neugierig.<br />

„Das erzähle ich dir später“, antwortete ich und sah sie<br />

dabei durchdringend an, damit sie mich jetzt nicht mit Fragen<br />

löcherte. Mama und Papa sollten <strong>von</strong> unserer Beobachtung<br />

nämlich nichts mitbekommen. Zu meinem Erstaunen<br />

verstand sie mich und schwieg.<br />

19


Vorne öffnete sich die Bugklappe der Fähre, die Autos<br />

wurden gestartet, jeden Augenblick konnte es losgehen.<br />

Endlich kamen wir an die Reihe. Wie immer fuhren wir<br />

nach Hollum, dem größten Ort auf <strong>Ameland</strong>, im Westen<br />

der Insel. Schon die Fahrt auf der kleinen Inselstraße war<br />

unser erstes Urlaubserlebnis. Wir freuten uns auf unseren<br />

‚Huckel’ kurz vor Ballum, eine kleine Erhöhung auf der<br />

Straße. Meist saß Papa dieses letzte Stück am Steuer.<br />

„Achtung, jetzt!“<br />

Er beschleunigte, damit wir das Gefühl hatten, mit dem<br />

Auto etwas zu fliegen.<br />

„Hüüüüüüüüpp!“, riefen wir im Chor, ‚hoben’ ab und hatten<br />

die Erhöhung einen Augenblick später hinter uns. Dann<br />

folgte seine Standardfrage: „Seht ihr eigentlich schon den<br />

Leuchtturm?“<br />

„Da vorne, auf der linken Seite!“, rief Meike. Sie hatte wie<br />

immer den Leuchtturmsuchwettbewerb gewonnen und<br />

damit das erste Eis der Sommerferien. Schließlich erreichten<br />

wir die Ortseinfahrt <strong>von</strong> Hollum und kamen an dem<br />

Backfischgeschäft vorbei. Sofort stieg mir der würzige Geruch<br />

in die Nase. Das Rettungsbootmuseum auf der anderen<br />

Seite lag still im Sonnenlicht. Wir fuhren um den Ortskern<br />

herum zu unserem Ferienhaus. An der alten Kirche<br />

stellten wir unser Auto ab und gingen zum Haus unserer<br />

Vermieter.<br />

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Einzug im Ferienhaus<br />

Wim und Henny de Jong, ein freundliches, älteres Ehepaar,<br />

wohnen seit ihrer Geburt auf <strong>Ameland</strong> und verlassen<br />

die Insel nur ganz selten. Sie kamen uns schon entgegen.<br />

„Goeden Dag, da seid ihr ja endlich!“, begrüßte uns Wim.<br />

„Ich habe schon gedacht, ihr wollt dieses Jahr nichts mit<br />

uns zu tun haben.“<br />

Er drückte meine Hand, als wollte er sie zerquetschen und<br />

zog mich an seinen großen dicken Bauch, den er unter einem<br />

weiten Strickpullover zu verstecken versuchte.<br />

Henny umarmte Mama und Papa und strich Meike mit ihrer<br />

Hand über den Kopf.<br />

„Dann kommt mal rein!“, lud sie uns ein und wir betraten<br />

das Häuschen, dessen Eingangstür so niedrig ist, dass<br />

Papa aufpassen musste, sich nicht den Kopf zu stoßen.<br />

„Es ist schön wieder bei euch zu sein“, sagte Mama. Sie<br />

saß auf dem kleinen, braunen Sofa und streckte sich behaglich<br />

aus. Der Duft <strong>von</strong> holländischem Kaffee lag in der<br />

Luft. Wegen der kleinen Fenster kam nicht viel Licht in die<br />

Küche. Wahrscheinlich wirkte es hier deshalb auch nicht<br />

ganz so sauber wie bei uns, aber Meike und ich fanden es<br />

echt gemütlich. Henny servierte den Kaffee in kleinen<br />

Tassen mit blauen Windmühlen.<br />

„Was wollt ihr Kinderen denn trinken?“, fragte Wim.<br />

„Am liebsten Cassis“, meinte Meike, „bei euch schmeckt er<br />

am besten.“<br />

Wir lieben diese Limonade mit Johannisbeergeschmack.<br />

„Wie war eure Reise?“, erkundigte sich Wim, während er<br />

eingoss. Papa und Mama begannen zu erzählen und sofort<br />

vertieften sich die Erwachsenen in ein Gespräch.<br />

21


„Komm, wir gehen nach hinten und gucken uns unser<br />

Zimmer an. Außerdem will ich unbedingt wissen, wie es<br />

‚Gelbes P’ geht!“, sagte Meike. Wim hatte den ehemaligen<br />

Kuhstall zu einer Ferienwohnung umgebaut, die er im<br />

Sommer vermietete. Wir wohnten direkt unter dem Dach<br />

und kletterten über eine steile Treppe nach oben. Es sah<br />

aus wie immer. Im Gegensatz zur Küche blitzte hier alles<br />

strahlend sauber. Henny hatte ‚schoon gemaakt’, sauber<br />

gemacht, wie sie immer sagte. Wir ließen uns auf die Betten<br />

fallen, die bei jeder Bewegung quietschten. Es roch<br />

frisch nach Lavendel, und durch die Dachfenster schien<br />

die Sonne. Wir wippten auf unseren Betten wie auf einem<br />

Trampolin, sprangen mit einem Satz wieder hinaus und<br />

liefen nach unten zur Schafswiese. Wenn man am Zaun<br />

stand, konnte man bis zum Deich sehen, der die Insel zur<br />

Wattseite vor dem Meer schützte.<br />

„Gelbes P, komm her! Ich hab’ was Leckeres für dich.<br />

Komm mein kleines, dummes Schaf!“<br />

Meike lockte unser Lieblingsschaf mit einem großen, roten<br />

Apfel an. Wir hatten es im letzten Jahr so getauft, weil es<br />

am Hals eine gelbe Plakette mit einem ‚P’ trug.<br />

22


Inzwischen hatte Mama das Auto auf den Hof gefahren<br />

und wir mussten auspacken helfen.<br />

„So, jetzt fahren wir zuerst mal an den Strand, außerdem<br />

habe ich Hunger auf etwas Herzhaftes und das muss nach<br />

Lage der Dinge Pommes mit Majo und eine ‚Frikandel<br />

spezial’ mit besonders viel Majonaise, Ketchup und Zwiebeln<br />

sein“, meinte Papa nach getaner Arbeit und leckte<br />

sich erwartungsvoll die Lippen. Wir hatten nichts dagegen,<br />

auch wenn Mama die Nase rümpfte, weil sie diese Art der<br />

Ernährung unmöglich fand.<br />

„Aber du hast auch versprochen, mit uns Schwimmen zu<br />

gehen, Papa. Heute ist es ziemlich windig, wir haben bestimmt<br />

super Wellen am Strand. Also nimm deine Badesachen<br />

mit!“<br />

Ich wollte ihn zumindest an sein Versprechen erinnern.<br />

„Selbstverständlich, meine Große, was man versprochen<br />

hat, sollte man ja möglichst halten“, antwortete er. Aber an<br />

dem Wort möglichst und seinem Gesicht merkte ich, dass<br />

er schon wieder nach Ausreden suchte. Wir fuhren mit unseren<br />

Fahrrädern zum Strand.<br />

„Ob Franzens auch schon da sind?“, wollte Meike wissen.<br />

„Keine Ahnung“, antwortete ich, „aber mit Katja habe ich<br />

ausgemacht, dass wir uns so schnell wie möglich treffen.<br />

Wir müssen besprechen, was wir mit den beiden komischen<br />

Typen <strong>von</strong> der Fähre machen.“<br />

Ich hatte ihr beim Füttern des Schafes <strong>von</strong> den Männern<br />

erzählt.<br />

„Vielleicht können wir sie verfolgen, schließlich sind wir<br />

acht Kinder“, meinte Meike.<br />

„Abwarten, wir wissen ja gar nicht, ob wir die beiden noch<br />

einmal treffen“, antwortete ich. Wir kamen am Leuchtturm<br />

vorbei, <strong>von</strong> dort konnten wir schon den Aufgang zum<br />

Strand sehen und den tiefer liegenden Parkplatz. Mit<br />

Schwung rasten wir hinunter und versuchten, auf der anderen<br />

Seite, ohne abzusteigen, wieder hochzufahren. Ich<br />

schaffte den halben Weg hinauf, Meike und Mama<br />

23


mussten noch eher abspringen und ihr Rad schieben. Aber<br />

Papa sauste an uns vorbei, gelangte wie immer als<br />

einziger fahrend bis oben und rief uns entgegen: „Achtung,<br />

Achtung, ich melde pflichtgemäß: <strong>Die</strong> Nordsee ist immer<br />

noch da, wo sie hingehört!“<br />

<strong>Die</strong> Wellen waren zwar nicht so hoch, wie wir gehofft hatten,<br />

aber dafür sahen wir die Sonne langsam am Horizont<br />

versinken. Sie stand schon ziemlich tief und tauchte die<br />

ganze Meeresoberfläche in ein orangegelbes Licht.<br />

„Es ist immer wieder beeindruckend“, meinte Mama und<br />

hakte sich bei Papa unter. Meike und ich hatten keine Zeit<br />

für romantische Betrachtungen. Wir rannten zum Wasser.<br />

Ich wollte unbedingt feststellen, ob es immer noch salzig<br />

schmeckte.<br />

Ich tauchte meinen Finger ins Meer, leckte ihn ab und<br />

spürte sofort den typischen Salzgeschmack auf meiner<br />

Zunge. Dann kam Meike.<br />

„Na, “ meinte sie außer Atem, „alles klar?“<br />

Zur Antwort holte ich mit dem Fuß aus und spritzte sie<br />

nass. Das war der Auftakt zu einer kleinen Wasserschlacht.<br />

„Hey, jetzt wird’s aber Zeit für die Badeanzüge!“<br />

Mama und Papa standen hinter uns und sahen lachend<br />

zu. Nur Papa machte keine Anstalten seine Badehose anzuziehen.<br />

„Was ist los, Martin? Du freust dich doch so sehr auf ‚deine’<br />

Nordsee!“<br />

Mama hatte so ein ‚Na-siehste-Gesicht’. Ein bisschen Triumph<br />

in ihrer Stimme war unüberhörbar.<br />

„Los, Papa! Das stimmt, du hast es versprochen!“, riefen<br />

Meike und ich wie aus einem Mund. Vorsichtig näherte er<br />

sich dem Wasser. Es sah wieder nicht danach aus, als<br />

wollte er sein Versprechen einlösen.<br />

„Also, ehrlich gesagt, es ist jetzt doch schon ein bisschen<br />

spät zum Schwimmen. Außerdem scheint mir das Wasser<br />

kälter zu sein als im letzten Jahr.“<br />

24


„Das stimmt doch gar nicht!“, antwortete ich.<br />

„Es ist ziemlich warm und das Wasser ist so wie immer!“<br />

„Nein!“, sagte Papa jetzt mit fester Stimme und drehte<br />

‚seiner’ Nordsee den Rücken zu, „Ich warte noch mit dem<br />

Schwimmen, vielleicht versuche ich es morgen.“<br />

Das wollten Meike und ich auf keinen Fall. Mit viel Geschrei<br />

stürzten wir uns ins Wasser. Wir ließen uns treiben,<br />

tauchten durch die heranbrandenden Wellen hindurch<br />

oder warfen uns ihnen entgegen. Nach einer Weile froren<br />

wir, außerdem knurrte mein Magen. Während wir uns abtrockneten,<br />

kamen auch die anderen. Katja flüsterte mir<br />

zu: „Wir treffen uns nach dem Baden an unserem Geheimversteck<br />

in den Dünen, du weißt schon!“<br />

Ich nickte. Dann rannte sie ins Wasser.<br />

„Wenn ihr Hunger habt, könnt ihr einen Apfel essen“,<br />

meinte Mama, die in ihrer Tasche immer Proviant dabei<br />

hat.<br />

„Aber wir wollten doch oben im Strandcafe Pommes essen“,<br />

entgegnete Meike enttäuscht. Papa beruhigte sie.<br />

„Keine Angst, ich habe für alle einen Tisch reserviert.<br />

Schließlich wollen wir Männer unseren Ferien-Eröffnungs-<br />

Eierlikör trinken.“<br />

Mama, Marlies und Heike machten sich in jedem Jahr darüber<br />

lustig und spotteten, sie hätten gar nicht gewusst, alte<br />

Eierlikörtanten geheiratet zu haben. Aber unsere Väter<br />

ließen sich das nicht ausreden.<br />

Als die anderen vom Schwimmen zurückkamen, warfen<br />

sich Olli und Pit pudelnass in den Sand und rollten sich<br />

einmal herum. Jetzt sahen sie aus wie riesige panierte<br />

Schnitzel.<br />

„Oh nein, so könnt ihr euch doch gar nicht abtrocknen!“<br />

Marlies war nicht begeistert, aber Pit und Olli rubbelten<br />

sich den Sand mit den Handtüchern einfach wieder ab.<br />

„Wir wollen noch kurz in die Dünen, bevor wir ins Strandcafe<br />

gehen, wir nehmen unsere Sachen mit und kommen<br />

dann nach!“<br />

25


Katja hatte wie immer die Aufgabe, die Erwachsenen zu<br />

informieren, wenn wir Kinder etwas Überraschendes vorhatten.<br />

Wir rollten unsere nassen Badesachen und Handtücher<br />

zusammen und rannten zu unserem ‚Geheimversteck’,<br />

einer kleinen, nicht einsehbaren Mulde, direkt hinter<br />

der Spitze der größten Düne.<br />

Olli hatte sie im letzten Jahr auf einem seiner Streifzüge<br />

entdeckt. <strong>Die</strong> Jungen hatten zu der Zeit ihren ‚Maartick’und<br />

erklärten die Mulde zu ihrer ‚Kapelle’. Maar war<br />

ein altes Wurzelholzstück. Das Meer hatte es wahrscheinlich<br />

irgendwo an einem Waldufer entführt und auf <strong>Ameland</strong><br />

wieder an den Strand gespült. Hanjo hatte es gefunden<br />

und zu seinem ‚Gott’ erklärt. Vor jedem Fußballballspiel<br />

gegen uns Mädchen flehten die Jungen im Versteck Maar<br />

um Unterstützung an, und komischerweise gewannen sie<br />

dann auch. Erst als ihre Glückssträhne riss, flaute ihre Begeisterung<br />

für Maar wieder ab. Pit lieh sich schließlich Katjas<br />

Taschenmesser und schnitzte ein kleines Boot daraus.<br />

Katja informierte alle über die beiden Männer <strong>von</strong> der Fähre.<br />

Dann senkte sie ihre Stimme: „Und stellt euch vor: Pit<br />

und ich haben sie schon wieder getroffen. Sie wohnen in<br />

einer Pension direkt neben dem Bäcker. Zuerst habe ich<br />

es gar nicht bemerkt, aber plötzlich stand der kleine Dicke,<br />

der aussieht wie ein Walross, neben mir und kaufte sich<br />

vier Stücke Kuchen. Ich bin unauffällig hinter ihm her und<br />

sah ihn in die Pension Wijman gehen. Ich finde, wir sollten<br />

herausfinden, was die beiden vorhaben. Am Besten ist es,<br />

wenn wir sie abwechselnd beschatten.“<br />

„Wie stellst du dir das vor? Was ist, wenn sie mit einem<br />

Auto fahren? Wir können ihnen doch nicht mit den Rädern<br />

hinterher jagen. <strong>Die</strong> sind zu schnell für uns, vielleicht fahren<br />

sie ja nach Buren, an das andere Ende der Insel!“<br />

Paula winkte ab.<br />

„Stimmt“, gab Katja zu, „aber es gibt sicher einen Grund,<br />

warum sie sich ausgerechnet in Hollum und nicht in Buren<br />

ein Zimmer genommen haben.“<br />

26


„Lasst uns doch erst mal anfangen mit der Beschattung,<br />

wenn sie wirklich ein Auto benutzen, können wir immer<br />

noch überlegen, was wir machen!“, schlug ich vor. <strong>Die</strong> anderen<br />

nickten zustimmend. Nur Olli hatte einen seiner typischen<br />

Einfälle.<br />

„Wir mieten einen Hubschrauber, dann können wir sie <strong>von</strong><br />

oben beobachten und überall hin verfolgen.“<br />

„Halt die Klappe, Olli!“, meinte Lara, der die Ideen ihres<br />

kleinen Bruders manchmal auf die Nerven gingen, „Ich<br />

schlage vor, dass zwei <strong>von</strong> uns heute Abend zur Pension<br />

gehen und feststellen, ob die Typen noch da sind. Falls sie<br />

irgendwo hingehen, werden sie verfolgt!“<br />

Laras Idee fanden wir gut. Hanjo und Katja wollten die erste<br />

Wache übernehmen. Zumindest so lange ihre Eltern<br />

nichts bemerkten. Morgen würden wir dann weiter sehen,<br />

denn natürlich konnten wir sie nicht die ganze Nacht beobachten.<br />

Wir liefen zum Strandcafe.<br />

27


Unsere Eltern warteten schon auf uns.<br />

„Wo seid ihr gewesen?“, rief Rainer uns entgegen, „wir<br />

wollten doch zusammen essen. Jetzt wird es aber Zeit,<br />

sonst ist alles kalt. Eet smakelijk!“<br />

Zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit gab er<br />

mit seinen Niederländischkenntnissen an.<br />

Wir ließen uns das aber nicht zweimal sagen, denn inzwischen<br />

hatten wir einen ziemlichen Kohldampf. Zum<br />

Schluss gab es für jeden ein Eis und die drei Väter löffelten<br />

genüsslich ihren Eierlikör mit Sahne, auf den sich Papa<br />

schon die ganze Zeit gefreut hatte.<br />

„Ich kann nicht mehr“, stöhnte Paula und hielt sich mit beiden<br />

Händen ihren Bauch.<br />

„Und ich bin total fertig“, antwortete ich, „mir reicht’s für<br />

heute. Ich freu’ mich auf mein Bett.“<br />

„Aber morgen früh müssen wir uns sofort treffen“, flüsterte<br />

Katja.<br />

<strong>Die</strong> Mütter bezahlten und wir verließen das Strandcafe.<br />

Weil die Franzens und die Münstermänner fast in der Dorfmitte<br />

wohnten und wir an der Wattseite, trennten sich unsere<br />

Wege. Das letzte Stück fuhren wir allein.<br />

Zu Hause gingen Meike und ich sofort schlafen.<br />

„Was meinst du, ob Katja und Hanjo die beiden Männer<br />

sehen?“, fragte sie. Ich gähnte.<br />

„Keine Ahnung, morgen wissen wir mehr, „jetzt bin ich jedenfalls<br />

zu müde, um noch darüber nachzudenken.“<br />

Ob Meike noch geantwortet hat, weiß ich nicht mehr, denn<br />

mir fielen sofort die Augen zu.<br />

28


<strong>Die</strong> Begegnung am Geheimversteck<br />

Am nächsten Morgen hatten wir es ziemlich eilig zu Franzens<br />

zu kommen. Papa und Mama saßen schon beim<br />

Frühstück.<br />

„Ich soll euch <strong>von</strong> Katja ausrichten, dass ihr euch um<br />

10.00 Uhr treffen wollt“, sagte Papa. Er hatte sie beim<br />

Brötchenholen getroffen.<br />

„Es schien wohl ziemlich wichtig zu sein. Habt ihr irgendwas<br />

Bestimmtes vor?“<br />

„Ähm nein. Ja. Wir..., wir wollen zusammen an den Strand<br />

und Muscheln suchen, zum Kettenbasteln.“<br />

<strong>Die</strong> Ausrede gefiel mir, sie klang ganz gut.<br />

„Wie kommst du denn darauf?“, meinte Meike und schaute<br />

mich verwundert an. Ich trat gegen ihr Bein.<br />

„Ach stimmt ja, das hätte ich fast vergessen!“, sagte sie<br />

schnell. Mama zog leicht ihre Augenbrauen hoch.<br />

„Na ja, dann nehmt doch die Tragetasche mit, darin könnt<br />

ihr eure Muscheln sammeln.“<br />

Sie hat immer praktische Ideen, auch wenn wir die Tasche<br />

jetzt eigentlich gar nicht gebrauchen konnten.<br />

„Ihr seid aber gegen halb eins zurück!“<br />

Mit einem „Klar Paps!“ sausten wir nach draußen.<br />

<strong>Die</strong> anderen saßen schon bei Franzens, bis auf Lara und<br />

Paula, die seit einer Stunde vor der Pension Wache hielten.<br />

„Und, was ist passiert gestern Abend?“, fragten Meike und<br />

ich wie aus einem Mund.<br />

„Wir sind noch bis kurz vor Mitternacht vor der Pension<br />

geblieben“, antwortete Hanjo.<br />

„Nach dem Schwimmen haben Katja und ich so getan, als<br />

wären wir total kaputt. Dann sind wir ins Bett und kurze<br />

Zeit später durch unser Zimmerfenster abgehauen. Ich<br />

29


glaube, wir waren gerade fünf Minuten da, als Walross,<br />

der kleine Dicke mit dem Schnauzbart, und der Große mit<br />

der Nackenlocke mit Fahrrädern in die Dünen fahren wollten.“<br />

„Woher wusstet ihr, dass sie da hin fahren wollten?“,<br />

staunte ich.<br />

„Ich konnte hören, wie der Dicke jemanden nach dem Weg<br />

fragte. Wir sind dann hinterher.“<br />

„<strong>Die</strong> suchen eine Galionsfigur <strong>von</strong> einem Schiff, das irgendwann<br />

mal am Strand <strong>von</strong> <strong>Ameland</strong> gekentert sein<br />

soll“, erklärte Katja.<br />

„Was ist denn eine Galionsfigur?“, wollte Olli wissen.<br />

„Eine Art Verzierung am Bug <strong>von</strong> Segelschiffen, mehr<br />

weiß ich auch nicht. Walross jedenfalls will die Figur unbedingt<br />

wiederhaben, um endlich sein Geld kassieren zu<br />

können.“<br />

„Wieso Geld, und was heißt wiederhaben?“, erkundigte ich<br />

mich.<br />

„Keine Ahnung“, antwortete Katja.<br />

„Und wieso ist diese Figur ausgerechnet hier in Hollum in<br />

den Dünen?“, fragte Meike.<br />

„Weiß ich auch nicht. Aber sie haben in der Nähe unseres<br />

Geheimverstecks fast alles umgegraben!“, raunte Hanjo<br />

aufgeregt.<br />

„Und, haben sie was gefunden?“<br />

Olli rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.<br />

„Nein, Walross war deshalb auch stinkesauer und hat den<br />

Großen die ganze Zeit angemeckert. Wollt ihr wissen, was<br />

der dann gemacht hat?“<br />

„Klar, jetzt erzähl schon!“, antwortete ich ungeduldig.<br />

„Er hat den Dicken gepackt, ihn in die Luft gestemmt und<br />

durchgeschüttelt wie eine Puppe.“<br />

Wir waren echt beeindruckt. Leicht war die Kugel auf zwei<br />

Beinen bestimmt nicht.<br />

„Walross hat keinen Ton mehr gesagt und dann sind sie<br />

zurück zu ihrer Pension.“<br />

30


Hanjo schaute uns erwartungsvoll an. Olli sprang begeistert<br />

hoch.<br />

„Cool, jetzt suchen wir die Figur, kassieren eine fette Belohnung<br />

und können bis zum Ende der Ferien Pommes<br />

und ‚Frikandel spezial’ essen!“<br />

Dazu machte er einen Handstand.<br />

„Jetzt stell dich mal wieder auf die Füße“, meinte Pit, der<br />

mit seinem Lieblingsspielzeug, dem<br />

Fußball jonglierte.<br />

„Aber du hast Recht. <strong>Die</strong> Idee ist gar<br />

nicht so schlecht.“<br />

„Genau. Wir fahren jetzt zu unserem<br />

Geheimversteck und suchen sie.<br />

Vielleicht haben wir ja mehr Glück<br />

als die beiden Typen. Zwei <strong>von</strong> uns<br />

sollten sie aber beobachten, um<br />

rechtzeitig Bescheid zu sagen, falls<br />

sie wieder auftauchen“, schlug ich<br />

vor.<br />

„Okay, so machen wir’s“, nickte Hanjo.<br />

„Na, was habt ihr denn hier für eine geheime Beratung?“,<br />

fragte Heike, die in den Garten gekommen war.<br />

„Das willst du doch nicht wirklich wissen, Mama“, antwortete<br />

Hanjo, „schließlich hast du selbst gesagt, die Beratung<br />

ist geheim.“<br />

„Wir haben gerade überlegt, zum Strand zu fahren, um<br />

dort Fußball zu spielen“, sagte Pit geistesgegenwärtig. Wir<br />

stimmten schnell zu, so dass es für Heike wohl ziemlich<br />

echt aussah. Jedenfalls fragte sie nicht weiter nach, sondern<br />

hielt es für eine gute Idee.<br />

„Seid ihr gegen Mittag wieder zurück? Papa will nämlich<br />

kochen.“<br />

„Na klar, Mama, Hauptsache es gibt Spaghetti!“, rief Pit<br />

noch, während wir schon losrannten, um Paula und Lara<br />

in unseren Plan einzuweihen.<br />

31


Sie hielten seit einer Stunde vor der Pension Wache, hatten<br />

aber bis jetzt nichts Auffälliges bemerkt.<br />

„Walross stand eben vor der Tür zum Telefonieren. Ich<br />

schätze, am anderen Ende war sein Boss, denn er sagte<br />

fast nichts außer ‚Ja, ja’ und dazu machte er ein ziemlich<br />

ernstes Gesicht. Im Augenblick sind sie drinnen“, berichtete<br />

Paula. Sie und Lara waren einverstanden, die Typen<br />

weiter zu beobachten, während wir nach der Figur suchten.<br />

„Sobald sie sich in Richtung Dünen bewegen, müsst ihr<br />

uns warnen!“, sagte Hanjo.<br />

„Selbstverständlich, Herr Professor!“, meinte Lara schnippisch,<br />

„darauf wären wir jetzt ohne dich sicher nicht gekommen.“<br />

„Am Besten fangen wir oben an und arbeiten uns langsam<br />

nach unten. Wenn wir eine Kette bilden, dürfte uns eigentlich<br />

nichts entgehen“, schlug Hanjo vor, als wir vor unserem<br />

Versteck in den Dünen standen.<br />

Ich glaube, wir haben fast jeden Zentimeter <strong>von</strong> oben bis<br />

unten durchwühlt und alles Mögliche gefunden. Einen Badeschuh,<br />

einen alten Ball, eine Brille mit einem Bügel, drei<br />

Dosen Sonnencreme – aber keine Galionsfigur. Meike und<br />

ich sammelten nebenbei einige Muscheln in unserer Tasche.<br />

Wir saßen gerade enttäuscht wieder vor unserem<br />

Treffpunkt, als Paula und Lara auftauchten.<br />

„Sie sind kurz hinter uns, Walross hat gesagt, sie wollen<br />

jetzt noch mal alles umgraben. Wir müssen verschwinden,<br />

sie werden jeden Augenblick hier sein!“, rief Lara aufgeregt.<br />

Wir sprangen auf und versteckten uns im Gebüsch,<br />

das einigermaßen Deckung bot. Nur wenige Augenblicke<br />

später sahen wir sie kommen. Walross schnaufte und<br />

schwitzte. Mit kleinen Schritten schob er seinen dicken<br />

Bauch die Düne hoch. Obwohl die Sonne schon heiß vom<br />

Himmel schien, trug er wieder seinen Anzug, die Brille und<br />

den großen Hut. Nackenlocke folgte ihm in kurzen Jeans,<br />

er hatte Sandalen an den Füßen und seinen großen<br />

32


Brustkorb in ein T-Shirt gezwängt, so dass wir neben seinen<br />

enormen Muskelbergen auch seine Tatoos gut sehen<br />

konnten. Auf dem linken Oberarm trug er ein großes Segelboot,<br />

auf dem rechten hatte er sich ein flammendes<br />

Schwert tätowieren lassen. In einer Hand hielt er eine<br />

Schaufel.<br />

Ich duckte mich flach auf den Boden. Beide standen direkt<br />

vor unserem Geheimversteck. Walross sah sich um und<br />

schien zu überlegen, wo sie mit ihrer Suche <strong>von</strong> gestern<br />

weitermachen sollten.<br />

„Pass mal auf, Lu!“, sagte er, „ich bleibe jetzt hier und zeige<br />

dir die Stellen, die wir noch nicht gründlich genug untersucht<br />

haben. Immer wenn ich’s dir sage, nimmst du die<br />

Schaufel und gräbst nach der Galionsfigur, klar?!“<br />

„Moment mal, Walter, gestern Abend hast du gesagt, heute<br />

würdest du graben. Ich habe doch schon geschuftet wie<br />

ein Bagger.“<br />

„Du weißt genau, dass ich mich nicht bücken darf. Mein<br />

Arzt hat mir jede Anstrengung verboten!“<br />

Ich konnte deutlich Walross’ unverschämtes Grinsen sehen.<br />

Ächzend setzte er sich in den Sand und forderte Nackenlocke<br />

auf, ein paar Meter weiter rechts mit der Arbeit<br />

anzufangen.<br />

Wir saßen fest. Meike, die direkt neben mir lag, wisperte<br />

mir zu: „Was sollen wir denn jetzt machen? Sobald wir uns<br />

bewegen, werden sie uns doch bemerken.“<br />

„Keine Ahnung“, flüsterte ich zurück, „wir müssen eben<br />

abwarten.“<br />

Noch während ich das sagte, hörte ich plötzlich Olli<br />

schreien: „Lass mich los! Wenn du mich nicht sofort loslässt,<br />

werden meine Freunde dich fertig machen, außerdem<br />

kommt mein Vater und sagt dir seine Meinung!“<br />

Nackenlocke hatte Olli am Hosenbund gepackt. Er hielt<br />

ihn mit seinem rechten Arm hoch in die Luft, so dass es<br />

aussah, als wäre er bei seinen ersten Schwimmübungen.<br />

33


„Hey, Walter! Sieh mal, wen ich hier gefunden habe!“<br />

Walross stand auf und ging auf Nackenlocke und den zappelnden<br />

Olli zu.<br />

„Na, Kleiner, bist du alleine oder hast du noch irgendwo<br />

Freunde? Was machst du hier eigentlich?“<br />

„Das sage ich nicht, das geht euch gar nichts an, lass<br />

mich jetzt endlich los!“<br />

Ollis Stimme wurde schriller und klang jetzt auch nicht<br />

mehr mutig, sondern bereits etwas weinerlich. Nackenlocke<br />

lachte laut und dröhnend. Plötzlich sah ich Pit hochspringen<br />

und seinen Fußball, den er immer dabei hatte,<br />

mit aller Kraft auf Nackenlockes Rücken schießen. Das<br />

war wie ein Signal für uns. Laut schreiend sprangen wir<br />

auf und warfen mit Sand nach den beiden Kerlen.<br />

„Verdammte Bande, was soll das eigentlich, wo kommt ihr<br />

her?!“<br />

Walross schnaubte überrascht und ziemlich ärgerlich,<br />

auch Nackenlocke schien auf unseren Überraschungsangriff<br />

nicht gefasst zu sein. Er ließ Olli fallen und versuchte<br />

sich den Sand aus den Augen zu reiben. Sofort rappelte<br />

Olli sich wieder auf und zusammen rannten wir zu unseren<br />

Fahrrädern. So schnell wir konnten, rasten wir zurück<br />

nach Hollum.<br />

„Denen haben wir es aber gegeben, habt ihr gesehen, wie<br />

ich dem Großen meine Meinung gesagt habe?“, keuchte<br />

Olli, als wir ausgepumpt bei Franzens auf dem Rasen saßen.<br />

„Mann, war ich gut, der weiß jetzt absolut, mit wem er es<br />

zu tun hat, mit Olli, dem Superman!“<br />

„Ja, absolut. Jetzt halt endlich deine Klappe. Was wäre<br />

gewesen, wenn er dich nicht wieder los gelassen hätte?<br />

Dann könntest du nicht so große Töne spucken. Außerdem<br />

solltest du dich ruhig mal bei Pit bedanken. Wenn er<br />

nicht die Idee mit dem Fußball gehabt hätte, würden die<br />

beiden dich wahrscheinlich jetzt noch ausquetschen!“<br />

34


„Hör auf zu meckern!“, sagte ich, „wir sollten lieber überlegen,<br />

was wir machen. Olli werden sie jetzt auf jeden Fall<br />

wiedererkennen. Und außerdem wissen sie, dass wir sie<br />

belauscht haben. Also müssen wir ab heute vorsichtiger<br />

sein.“<br />

„Hannah hat Recht“, schaltete sich Katja ein, „die beiden<br />

werden jetzt bestimmt genau darauf achten, ob sie jemand<br />

verfolgt. Wir müssen uns erst mal mit dieser Galionsfigur<br />

beschäftigen. Vielleicht wissen die in dem Museum mehr.<br />

Morgen fahren wir zusammen mit dem Rad nach Buren.“<br />

„Gute Idee“, fand Paula, „Papa muss noch arbeiten. Aber<br />

Mama können wir bestimmt sofort dazu überreden.“<br />

Rainer, Paulas Papa, war Musiklehrer und schrieb in den<br />

Ferien manchmal an Kompositionen für einen Chor.<br />

Wir beschlossen also, unseren Eltern Buren und das Museum<br />

schmackhaft zu machen. Das Dorf lag am anderen<br />

Ende der Insel.<br />

„Na, Kinder, schon zurück vom Strand?“<br />

Uli schlug Pit freundschaftlich auf den Rücken. Er zuckte<br />

zusammen. Aber als er seinen Vater erkannte, hatte er<br />

sich sofort wieder in der Gewalt.<br />

„Was ist denn mit dir los?“, meinte Uli, „du bist doch sonst<br />

nicht so schreckhaft!“<br />

„Mann, Papa, ich dachte schon hinter mir steht der gefährlichste<br />

Verteidiger der Welt“, grinste Pit. Er dachte irgendwie<br />

immer an Fußball.<br />

„Ich wollte euch zum Essen rufen!“, antwortete Uli.<br />

Für den Nachmittag verabredeten wir uns am Strand. <strong>Die</strong><br />

Sonne schien und kein Windhauch wehte. Über Nackenlocke<br />

und Walross sprachen wir kaum. <strong>Die</strong> Idee, nach Buren<br />

zu fahren, fanden alle Eltern gut. Am nächsten Tag wollten<br />

wir uns mit Proviant, Badezeug und Fahrrädern vor<br />

Franzens Haus treffen.<br />

35


Der Besuch im Museum<br />

Endlich trudelten auch die Letzten am Treffpunkt ein. Marlies<br />

hatte Rainer versprochen, erst spät zurück zu kommen,<br />

damit er in Ruhe arbeiten konnte.<br />

Wir fuhren auf direktem Weg zu den Dünen, denn dort war<br />

das Radfahren einfach schöner, außerdem mussten wir<br />

uns bei Gegenwind nicht so anstrengen. Pit und Olli rasten<br />

los. Sie fahren bei gemeinsamen Ausflügen fast immer<br />

voraus. Irgendwann kommen sie wieder zurück, um zu<br />

sehen, wo wir anderen bleiben oder warten an einer versteckten<br />

Stelle, um dann plötzlich wieder hinter uns aufzutauchen.<br />

Papa sagt immer, die beiden sind wie Hunde. <strong>Die</strong><br />

gehen bei Sparziergängen den Weg ihres Herrchens auch<br />

meist drei- bis viermal.<br />

„Super Wetter, heute“, meinte Hanjo, nachdem wir eine<br />

Weile unterwegs waren.<br />

„Gut, dass der Wind <strong>von</strong> hinten kommt, ich hätte keine<br />

Lust gehabt, die ganze Zeit voll in die Kette zu treten.“<br />

Ich lachte: „Du bist echt faul. Aber sieh’ mal, wir sind<br />

gleich am Strandübergang <strong>von</strong> Ballum!“<br />

„Mir wäre lieber, wir wären jetzt im Dorf, wegen der<br />

Pommesbude.“<br />

Unserer Meinung nach gab es in Ballum am Kreisverkehr<br />

die besten Pommes auf ganz <strong>Ameland</strong>.<br />

„Ich bin froh, dass wir da nicht hinfahren. Ich hab’ mich so<br />

oft darauf gefreut, aber danach war mir meist voll<br />

schlecht.“<br />

„Wahrscheinlich warst du zu gierig“, grinste Hanjo.<br />

Während die Erwachsenen sich ins Cafe setzten, liefen wir<br />

hinunter an den Strand. Glücklicherweise war Flut und wir<br />

konnten uns direkt in die Wellen stürzen. Bei Ebbe durfte<br />

36


man nicht baden, wegen der Gefahr, vom abfließenden<br />

Wasser ins Meer gezogen zu werden.<br />

„Wir spielen Ticken“, schlug Pit vor.<br />

„Olli und ich ticken, ihr dürft aber nur bis zum zweiten<br />

Pfahl ins Wasser, sonst kriegen wir euch nie.“<br />

Hatten sie uns gefangen, mussten wir stehen bleiben und<br />

darauf warten, wieder befreit zu werden. Olli erwischte<br />

mich ziemlich schnell und planschte die ganze Zeit in meiner<br />

Nähe, um mich zu bewachen.<br />

Während ich nach den anderen Ausschau hielt, sah ich<br />

plötzlich, nicht weit <strong>von</strong> mir, etwas Schwarzes im Wasser.<br />

„Hey, Olli, guck mal da vorne“, sagte ich, „was schwimmt<br />

denn da?“<br />

„Keine Ahnung. Du willst mich ja bloß ablenken. Hör’ auf<br />

damit, die anderen werden dich sowieso nicht befreien.“<br />

„Ehrlich, da ist wirklich etwas Schwarzes im Wasser!“<br />

Es schwamm an mir vorbei, ließ sich mit den Wellen treiben<br />

und tauchte dann unter. Plötzlich wusste ich Bescheid.<br />

„Oh nein, Olli, das ist ein Seehund, pass auf, er kommt<br />

bestimmt direkt auf dich zu!“<br />

Ich schrie. Jetzt glaubte er mir, dass ich ihm nichts vormachen<br />

wollte und sah in die Richtung, in die ich zeigte. Auf<br />

einmal tauchte das Tier auf und schaute sich neugierig<br />

um. Es sah richtig süß aus, aber genauso schnell wie es<br />

gekommen war, verschwand es auch wieder.<br />

„Echt cool“, meinte Olli, „das glaubt uns bestimmt keiner!“<br />

Er ballte die Faust und rief: „Ich bin Olli, der mit dem Seehund<br />

schwimmt!“<br />

Plötzlich berührte mich etwas unter Wasser. Ich zuckte<br />

zusammen, aber es war nicht der Seehund, sondern Lara.<br />

Sie schlug mich frei. Ich nutzte meine Chance und türmte.<br />

Pit, der das mitbekommen hatte, schimpfte: „Mensch, Olli,<br />

pass doch auf, so kriegen wir die anderen nie!“<br />

Aber nach einiger Zeit schafften sie es doch.<br />

37


Nach dem Spiel ruhten wir uns auf dem warmen Sand aus<br />

und ließen uns <strong>von</strong> der Sonne trocknen. Dabei erzählten<br />

wir unsere Seehundgeschichte. Und Olli hatte Recht, sie<br />

glaubten uns kein Wort. Wir alberten noch herum, bis unsere<br />

Eltern kamen.<br />

„Kommt Kinder, es geht weiter, schließlich wollen wir noch<br />

ins Museum!“, rief Marlies.<br />

Kurze Zeit später fuhren wir wieder auf dem Weg die Dünen<br />

hinauf und hinunter. Mal mussten wir ordentlich in die<br />

Pedalen treten, mal konnten wir in großem Tempo hinunterrasen.<br />

Das machte einen Riesenspaß, und wir erreichten<br />

Buren ziemlich schnell.<br />

„Aufs Museum habe ich noch gar keine Lust,“ nölte Pit,<br />

„können wir nicht erst mal unser Picknick machen?“<br />

„Ja, ja, ist ja gut“, antwortete Heike, „da vorne auf der Wiese<br />

ist es schön windstill, da bleiben wir.“<br />

Heike hatte sich richtig ins Zeug gelegt und kleine Frikadellen,<br />

Nudelsalat, frische Brötchen, gekochte Eier und alle<br />

möglichen anderen Schlemmereien eingepackt, eigentlich<br />

eine große Auswahl. Aber Hanjo wollte nichts essen<br />

und maulte, weil sie vergessen hatte, seine Chips einzupacken.<br />

„Da hättest du ja auch selber dran denken können“, meinte<br />

Heike.<br />

„Mensch Mama, ich hab’ die Tüte extra zu deinem Rucksack<br />

gelegt. <strong>Die</strong> hast du absichtlich übersehen!“<br />

„Hier gibt es so viele tolle Sachen, Hanjo. Hör auf, dich so<br />

anzustellen!“, mischte sich Katja ein.<br />

Obwohl die beiden sich sonst heftig streiten konnten, gab<br />

Hanjo diesmal nach, sagte nichts und aß ein Brötchen.<br />

Nach einer halbe Stunde waren nur noch ein paar Reste<br />

übrig. Ich war echt satt. Pit lag auf dem Boden und starrte<br />

träumend in den blauen Himmel. Plötzlich rülpste er laut.<br />

„Meine Güte, Pit!“, schimpfte Heike, „muss das denn<br />

sein?“<br />

„T’schuldigung“, murmelte er, „ist mir so rausgerutscht.“<br />

38


Meike und ich kicherten.<br />

„Typisch Jungs“, flüsterte sie mir zu.<br />

„Ja, Pit, wenn’s dir auch geschmeckt hat, dann können wir<br />

ja weiterfahren“, meinte Papa.<br />

„Wie weit ist es noch?“, wollte Paula wissen.<br />

„Ich schätze, wir sind gleich da, das Museum liegt ja am<br />

Ortseingang <strong>von</strong> Buren“, antwortete Marlies. Wir packten<br />

unsere Sachen und räumten den Müll weg. Schon kurze<br />

Zeit später standen wir vor einem Bauernhaus.<br />

‚Het kleine Museum’ – ‚Das kleine Museum’, stand auf<br />

dem Schild am Eingang. Pit stieg vom Fahrrad und protestierte<br />

lautstark.<br />

„Das sieht ja völlig öde aus! Ich hab’ echt keine Lust, mir<br />

irgendwelche alten Ackergeräte und so was anzugucken!“<br />

„Jetzt wart’ doch erst mal ab, vielleicht ist es drinnen ja interessanter!“,<br />

beruhigte ihn Hanjo.<br />

Und tatsächlich, schon im ersten Raum wurden wir positiv<br />

überrascht.<br />

„Ist doch cool hier“, meinte Paula, „die haben ja den<br />

Strand nachgebaut. Dafür haben sie bestimmt einen ganzen<br />

Lastwagen voll Sand gebraucht!“<br />

Sogar Pit sah jetzt einigermaßen interessiert aus.<br />

„<strong>Die</strong> Fototapete mit den Nordseewellen ist auch nicht<br />

schlecht“, grinste er. Lara zeigte auf eine Puppe auf dem<br />

Sand, die sich nach einem Stück Holz bückte.<br />

„Guckt mal, das muss die Rixt sein. <strong>Die</strong> sieht echt aus wie<br />

eine <strong>Hexe</strong>!“<br />

Ihre Geschichte konnte man sich für einen Euro erzählen<br />

lassen.<br />

„Na gut, dann will ich mal nicht so sein“, seufzte Mama<br />

und steckte die Münze in den Schlitz des Automaten. Zuerst<br />

hörten wir aus dem Lautsprecher einen kräftigen<br />

Sturm und das Rauschen der Wellen. Dann begann eine<br />

geheimnisvolle Stimme:<br />

39


40<br />

Vor langer, langer Zeit wohnte in einem einsamen,<br />

entlegenen Winkel vom Oerd, der unbewohnten<br />

Ostseite <strong>Ameland</strong>s, eine alte Fischerwitwe mit ihrem<br />

Sohn. Sie war bereits in grauer Vergangenheit auf die<br />

Insel gekommen und hatte sich in einer armseligen<br />

Hütte, weit <strong>von</strong> der bewohnten Welt entfernt, niedergelassen.<br />

Viel hatte sie scheinbar nicht für ihren Lebensunterhalt<br />

nötig, denn die Ameländer sahen sie<br />

niemals im Dorf. Mutter und Sohn begnügten sich mit<br />

der Milch ihrer einzigen Kuh und lebten ansonsten <strong>von</strong><br />

dem, was die Natur zu bieten hatte. Und natürlich<br />

konnten sie auch allerlei am Wasser finden, denn in<br />

jenen frühen Zeiten strandeten häufig Schiffe vor der<br />

Ameländer Küste. Klein, mager und krumm gebogen<br />

wurde die Witwe manchmal am Strand gesehen. Mit<br />

ihrer ungeheuerlichen Hakennase berührte sie beinahe<br />

den Boden, wenn sie am Wasser nach allem suchte,<br />

was sie vielleicht gebrauchen konnte.<br />

Rixt, so hieß sie, hatte an ihrem Sohn Sjoerd eine<br />

gute Stütze. Das ganze Jahr über jagte er Wildkaninchen<br />

und im Frühjahr, wenn sie im Überfluss zu finden<br />

waren, brachte er Möweneier nach Hause. Als Sjoerd<br />

jedoch erwachsen geworden war, folgte er dem Ruf<br />

der See und verließ <strong>Ameland</strong> und die kleine Hütte.<br />

Lange Zeit nach Sjoerds Abschied konnte Rixt vom<br />

Oerd sich noch selbst versorgen, wollte mit keinem<br />

etwas zu tun haben, und so gab es auch niemanden,<br />

der sich um sie kümmerte. Das ging so lange gut, bis<br />

einmal für eine ganze Weile kein Schiff strandete und<br />

es für sie auf dem Strand nichts mehr zu holen gab.<br />

Als die Not groß geworden war, brütete Rixt in ihrer<br />

kleinen Hütte auf dem Oerd einen teuflischen Plan


aus, den sie in einer stockfinsteren Nacht in die Tat<br />

umsetzte.<br />

Der Sturmwind heulte um die Insel, als wieder<br />

einmal ein Schiff vor der Ameländer Küste in Not geriet.<br />

Rixt band ihrer Kuh eine brennende Sturmlaterne<br />

zwischen die Hörner und jagte das Tier auf die höchste<br />

Düne. Ihre List hatte Erfolg. Der Steuermann des<br />

Schiffs vermutete an der Stelle, wo die Lampe flackerte,<br />

einen sicheren Hafen und nahm Kurs auf das Vertrauen<br />

erweckende Licht. <strong>Die</strong> Folgen waren schrecklich.<br />

Das Schiff lief auf eine Sandbank, kenterte und<br />

zerbrach in der wüsten Brandung; die gesamte Besatzung<br />

ertrank. Noch bevor der Morgen dämmerte, ging<br />

Rixt zum Strand, um zu sehen, ob es für sie etwas zu<br />

holen gab. Doch sie entdeckte nichts, als einen leblosen<br />

Körper, der am Strand lag. Als sie neugierig näher<br />

trat und ihn umdrehte, stellte sie zu ihrem Entsetzen<br />

fest, dass es ihr Sohn Sjoerd war, der Steuermann<br />

des Schiffes, den sie mit ihrer teuflischen Falle in den<br />

Tod getrieben hatte.<br />

Kilometerweit hörte man ihre herzzerreißenden<br />

Schreie, die selbst die tosende Brandung übertönten.<br />

Und noch heute, wenn der Sturmwind wie damals über<br />

<strong>Ameland</strong> rast, irrt die alte Rixt auf dem Oerd umher<br />

und man hört ihre klagende Stimme, die immer<br />

wieder ‚Sjoe-oe-oe-urd’ ruft.<br />

Mir lief es kalt den Rücken hinunter.<br />

„Könnte unsere Galionsfigur nicht <strong>von</strong> diesem Schiff<br />

stammen?“, meinte Lara. Sie hatte unsere Eltern, die direkt<br />

neben uns standen, völlig vergessen. Prompt fragte<br />

Marlies: „Von welcher Galionsfigur redest du denn da?“<br />

Katja reagierte am schnellsten: „Eehm – wir denken uns<br />

gerade eine Art Abenteuerspiel aus und dazu gehört auch<br />

41


eine Galionsfigur. <strong>Die</strong> Geschichte <strong>von</strong> der Rixt passt sehr<br />

gut dazu.“<br />

Marlies, Heike und Mama schauten sich lächelnd an, sagten<br />

aber weiter nichts. Während die Erwachsenen sich im<br />

Museum umsahen, gingen wir Kinder nach draußen auf<br />

den Hof, um uns bei den Ziegen und Schafen ungestört<br />

unterhalten zu können.<br />

„Bist du bescheuert, <strong>von</strong> der Figur zu reden, wenn unsere<br />

Eltern direkt dahinter stehen?“, schimpfte Paula. Lara<br />

schaute betreten auf die Ziegen.<br />

„Jetzt hört schon auf, ist ja nichts passiert“, meinte Katja<br />

beschwichtigend.<br />

„<strong>Die</strong> Frage ist, ob diese Geschichte <strong>von</strong> der Strandräuberin<br />

erfunden wurde oder ob sie wirklich passiert ist. Wenn<br />

sie stimmt, könnte Lara Recht haben.“<br />

„Eigentlich müsste es in diesem Museum doch jemanden<br />

geben, der etwas darüber weiß.“<br />

Pit sah sich suchend um.<br />

„Wir könnten den Mann dort fragen.“<br />

Meike zeigte auf einen großen, blonden Holländer mit Vollbart,<br />

der sich mit einer Gruppe Kinder unterhielt. Hanjo<br />

sollte ihn ansprechen. Wir warteten ab, bis er die Führung<br />

beendet hatte und gingen dann auf ihn zu.<br />

„Guten Tag, dürfen wir ihnen auch eine Frage stellen? Wir<br />

würden gerne noch mehr über die Rixt vom Oerd und dieses<br />

Schiff wissen“, sagte Hanjo freundlich.<br />

Der Mann in der Tracht der alten Ameländer Seefahrer<br />

schaute Hanjo und uns erstaunt und erfreut zugleich an.<br />

Er war der Museumsleiter.<br />

„Aha. Ihr habt euch also die Geschichte angehört. Was<br />

soll ich euch noch erzählen?“<br />

Hanjo schien einen Augenblick zu überlegen. Dann fragte<br />

er: „Wissen Sie, ob dieses Schiff eine Galionsfigur hatte?“<br />

Kaum hatte Hanjo das Wort ‚Galionsfigur’ ausgesprochen,<br />

veränderte sich der Gesichtsausdruck des Mannes. Sein<br />

42


Blick wirkte plötzlich gehetzt. Bevor er antwortete, drehte<br />

er sich hastig um, als wollte er sich vergewissern, dass<br />

niemand uns beobachtete oder zuhörte. Dann antwortete<br />

er flüsternd: „Wie kommt ihr darauf? Wieso glaubt ihr,<br />

dass dieses Schiff eine Galionsfigur hatte? Ich will euch<br />

mal was sagen. Das Beste ist, ihr fragt gar nicht weiter.<br />

Kümmert euch nicht um, Dinge, die euch nichts angehen,<br />

das ist alles viel zu lange her!“<br />

Er drehte sich um und ließ uns stehen. Wir waren sprachlos.<br />

Damit hatten wir nicht gerechnet. Warum wirkte er<br />

plötzlich so nervös?<br />

„Das gibt’s doch gar nicht!“<br />

Katja fasste sich zuerst.<br />

„Was ist denn mit dem los?“<br />

„Keine Ahnung, aber ich habe das Gefühl, wir haben in eine<br />

Art Nespenwest gestochen!“, meinte Hanjo.<br />

„Das heißt doch Wespennest. ‚Nespenwest’! Das ist gut,<br />

ich lach’ mich tot.“<br />

Olli fing wie irre an zu lachen.<br />

„Halts Maul!“<br />

Erst der scharfe Ton Laras brachte ihn zum Schweigen.<br />

Meike schlug vor: „Wir gehen dem Museumsleiter einfach<br />

hinterher, er ist doch ins Haus gegangen. Vielleicht ist er<br />

in seinem Büro.“<br />

Weil er zuerst freundlich war, sollten Katja, Hanjo und ich<br />

noch einmal versuchen, ihn anzusprechen. Wir mussten<br />

nicht lange suchen. <strong>Die</strong> Tür seines Büros war verschlossen,<br />

aber wir hörten ihn sehr laut und aufgeregt telefonieren.<br />

Zwar sprach er niederländisch, aber Bruchstücke<br />

konnten wir verstehen. Er erzählte <strong>von</strong> Hanjo, wunderte<br />

sich, dass Kinder sich für die Figur interessierten und wollte<br />

alles tun, um sie zurückzubekommen.<br />

Dann wurde es ruhig. Er schien aufgelegt zu haben. Ich<br />

wollte gerade klopfen, als sich die Tür öffnete.<br />

„Was macht ihr denn hier? Habt ihr etwa gelauscht?“<br />

43


Er stellte sich uns als Jaap Mathijsen vor und ließ uns eintreten.<br />

Zuerst zögerten wir, weil er uns beim Lauschen erwischt<br />

hatte. Aber da er uns jetzt wieder freundlich ansah,<br />

betraten wir sein Büro und erzählten ihm unser Erlebnis<br />

mit den beiden Ganoven.<br />

„Jetzt verstehe ich euch. Aber ihr habt mir gerade einen<br />

fürchterlichen Schrecken eingejagt. Mir ist hier aus dem<br />

Museum nämlich mein schönstes und teuerstes Ausstellungsstück<br />

gestohlen worden. Und das will ich eigentlich<br />

erst mal geheim halten.“<br />

„Und was ist das?“, fragte Pit.<br />

„Eine Galionsfigur“, murmelte Jaap verlegen.<br />

Also doch. Offenbar gab es tatsächlich einen Zusammenhang<br />

zwischen der Geschichte und der Figur.<br />

„Das Schlimme ist, sie gehört nicht dem Museum, sondern<br />

ist die Leihgabe einer alten Ameländer Kapitänsfamilie.<br />

<strong>Die</strong> wissen bis jetzt nicht, dass sie verschwunden ist.“<br />

„Was ist denn eine Kapitänsfamilie?“, wollte Hanjo wissen.<br />

Jaap lächelte: „Das sind Nachfahren der Walfänger. <strong>Ameland</strong><br />

lebte im 18. Jahrhundert vor allem vom Walfang. Um<br />

1770 wohnten hier rund einhundertdreißig Kapitäne und<br />

Seeleute, die sich ihr Geld damit verdienten.“<br />

„Ach so. In Hollum gibt es so schöne alte, kleine Häuser,<br />

dann sind die wahrscheinlich aus dieser Zeit, oder?“<br />

Hanjos Augen leuchteten. <strong>Die</strong> Sache fing an, ihm Spaß zu<br />

machen.<br />

„Genau. Du hast Recht“, fuhr Jaap fort, „die Seeleute<br />

brachten derart viel Tran und Ambra nach Hause, dass<br />

<strong>Ameland</strong> in dieser Zeit sehr reich wurde. Bis zu jenem<br />

schrecklichen Tag, an dem eine große Zahl <strong>von</strong> Schiffen<br />

am Nordpol vom Packeis eingeschlossen wurde und viele<br />

der Walfänger den Tod fanden.“<br />

„Aber was hat das jetzt mit der Galionsfigur zu tun?“<br />

Katja brachte uns zum Thema zurück.<br />

44


„Wie gesagt, die Nachfahren einer solchen Kapitänsfamilie<br />

haben sie dem Museum geliehen. Es kann zwar nicht<br />

wirklich nachgewiesen werden, dass sie <strong>von</strong> dem gestrandeten<br />

Schiff stammt, das Rixt vom Oerd auf die Sandbank<br />

gelockt hat, aber viele hier auf der Insel glauben fest daran.<br />

Als das Schiff an den Strand gespült wurde, hat die<br />

gewaltige Brandung die Galionsfigur angeblich vom Bug<br />

abgebrochen. Aus lauter Wut und Verzweiflung über den<br />

Tod ihres Sohnes soll die alte Rixt die Figur verflucht haben<br />

und so hat lange Zeit niemand gewagt, sie anzufassen.<br />

Irgendjemand hat sich dann aber doch getraut, und<br />

später ist sie in den Besitz der Kapitänsfamilie übergegangen.“<br />

Jaap wirkte traurig und wütend zugleich, denn er hatte den<br />

Besitzern hoch und heilig versprochen für die Sicherheit<br />

der Figur zu sorgen.<br />

„Was soll ich nur machen? Ich habe keine Ahnung, wie ich<br />

die Marijke zurückbekommen kann.“<br />

„Welche Marijke?“, fragte ich.<br />

„<strong>Die</strong> Galionsfigur. Ich nenne sie so, weil sie mir richtig ans<br />

Herz gewachsen ist.“<br />

„Ich weiß zwar nicht warum“, sagte Hanjo darauf, „aber eines<br />

ist klar. Außer den <strong>Die</strong>ben, die deine Marijke aus dem<br />

Museum gestohlen haben, sind offenbar auch unsere beiden<br />

Ganoven hinter ihr her - und deshalb werden wir dir<br />

helfen!“, fügte er mit fester Stimme hinzu.<br />

In diesem Moment klopfte es laut an der Tür. Jaap öffnete.<br />

„Da seid ihr ja!“, riefen unsere Eltern wie aus einem Mund,<br />

„wir haben euch überall gesucht. Was macht ihr denn<br />

hier?“<br />

„Wir haben uns bei Jaap über das Museum informiert. Er<br />

ist der Museumsleiter. Er hat uns übrigens eingeladen,<br />

morgen noch mal wiederzukommen!“<br />

Verwundert schauten wir Katja an. Aber dann fiel bei uns<br />

der Groschen.<br />

45


„Ja genau, Jaap will uns <strong>von</strong> den Walfischfängern erzählen!“,<br />

versicherte jetzt auch Hanjo.<br />

Jaap, der uns ja gerade erst kennen gelernt hatte, schien<br />

überhaupt nicht überrascht.<br />

„Das stimmt, meine Herrschaften“, wandte er sich an unsere<br />

Eltern, „ich heiße übrigens Jaap Mathijsen. Wir hatten<br />

hier ein sehr nettes Gespräch. Es würde mich wirklich<br />

freuen, ihre Kinder morgen wiederzusehen, denn es gibt<br />

noch einiges über die Geschichte <strong>Ameland</strong>s zu berichten.“<br />

Unsere Eltern fühlten sich sehr geschmeichelt, es schien<br />

ihnen zu gefallen, wissbegierige Kinder zu haben. Nur<br />

Mama erhob Einspruch: „Moment! Eigentlich wollten wir<br />

doch morgen eine Bootsfahrt zu der Robbenkolonie auf<br />

der Sandbank im Watt machen.“<br />

Da wir alle kräftig protestierten, ließ sie sich schnell dazu<br />

bewegen, die Tour zu verschieben. Wir verabredeten uns<br />

für den nächsten Tag gegen zwei Uhr nachmittags im Museum.<br />

46


Der Plan<br />

<strong>Die</strong>smal fuhren wir mit dem Bus nach Buren. Jaap wartete<br />

schon an der Haltestelle auf uns.<br />

„Hallo! Schön euch zu sehen!“, rief er.<br />

„Ich muss euch unbedingt etwas erzählen. Aber dazu gehen<br />

wir am besten ins Haus.“<br />

Wir betraten sein Büro.<br />

„Was ist passiert“, fragte Hanjo sofort, „ist die Figur wieder<br />

da?“<br />

„Leider nein“, entgegnete Jaap, „im Gegenteil. Ich habe<br />

gestern Abend Besuch <strong>von</strong> euren Bekannten vom Schiff<br />

bekommen.“<br />

„Das gibt’s doch nicht! Nackenlocke und Walross waren<br />

hier?“, rief Pit erstaunt.<br />

„Was wollten die? Haben sie dir was getan?“<br />

„Nicht direkt“, antwortete Jaap, „aber als ich gestern<br />

Abend das Museum abschließen wollte, spürte ich, wie<br />

sich <strong>von</strong> hinten eine Hand, so groß wie eine Bratpfanne,<br />

auf meine Schulter legte. Es war euer Freund Nackenlocke.<br />

Er zwang mich wieder ins Haus zu gehen. Der kleine<br />

Dicke stand direkt hinter ihm und sagte zu mir: Wir gehen<br />

am besten in ihr Büro, wir müssen reden.“<br />

„Ja, was haben sie denn gewollt?“, rief Lara atemlos.<br />

„Jetzt mach es doch nicht so spannend!“<br />

„Nackenlocke und Walross höchstpersönlich haben vor<br />

zwei Wochen die Figur aus dem Museum geklaut und sie<br />

dann in den Dünen versteckt“, fuhr Jaap kopfschüttelnd<br />

fort.<br />

„Genau dort, wo ihr sie getroffen habt. Weil sie die Marijke<br />

aber nicht mehr finden können, glauben sie, ich hätte sie<br />

mir zurückgeholt. Der Dicke war deshalb ziemlich sauer.“<br />

47


„Aber du hast doch auch keine Ahnung, wo sie ist!“, meinte<br />

Katja.<br />

„Natürlich nicht. Genau das habe ich ihnen auch gesagt,<br />

aber sie glauben mir nicht! Heute Abend wollen sie wiederkommen.<br />

Wenn ich ihnen die Figur nicht gebe, drohen<br />

sie, mir das Museum kurz und klein zu schlagen. Und sie<br />

meinen es ernst. Bevor sie gingen hat Nackenlocke die<br />

Rixt-Puppe umgestoßen und ihr den Kopf abgerissen!“<br />

Damit hatten wir nicht gerechnet. Fragend schauten wir<br />

Hanjo an.<br />

„Du musst auf ihre Forderung eingehen“, sagte er ruhig.<br />

„Das kapier’ ich jetzt nicht“, meinte Olli, „was meinst du<br />

damit?“<br />

„Ist doch ganz einfach“, entgegnete Paula, „Hanjo meint,<br />

wir binden ihnen einen Bären auf, wir tun so, als ob wir auf<br />

ihre Forderung eingehen!“<br />

„Ach so“, nickte Olli und fing plötzlich an zu lachen, „das<br />

ist gut, einen Bären aufbinden, toll, das muss aber ein<br />

ziemlich großer Bär für Nackenlocke sein!“<br />

„Hör auf, Olli“, sagte Lara streng, „wir müssen jetzt ernsthaft<br />

nachdenken.“<br />

„Ich finde es echt gemein, der Rixt einfach den Kopf abzureißen!“,<br />

empörte sich Meike.<br />

„Ja genau, das ist es“, strahlte Hanjo, „vielleicht sollten wir<br />

ihnen keinen Bären aufbinden, sondern eine Rixt!“<br />

Er wandte sich an Jaap. „Was hast du gesagt, wann wollen<br />

die beiden heute Abend wieder am Museum sein?“<br />

„So gegen sieben. Da schließe ich normalerweise ab. Hast<br />

du vielleicht eine Idee?“<br />

„Ich glaube schon. Wenn das klappt, was ich vorhabe,<br />

werden sie <strong>Ameland</strong> und die Rixt vom Oerd so schnell<br />

nicht mehr vergessen. Ich hoffe, sie nehmen dann die<br />

nächste Fähre und verlassen die Insel auf Nimmer-<br />

Wiedersehen!“<br />

„Jetzt bin ich aber gespannt“, sagte Jaap, „ich wäre wirklich<br />

erleichtert, wenn wir die beiden los werden könnten.“<br />

48


„Also, passt auf!“, begann Hanjo. „Wenn die Gauner heute<br />

Abend wieder auftauchen, müssen wir sie irgendwie ins<br />

Oerd locken. Am besten hängst du eine Nachricht an die<br />

Tür, ungefähr so: Hallo. Es ist alles vorbereitet, wie gewünscht.<br />

Kommt bis spätestens 8 Uhr zum Ententeich.“<br />

„Wieso gerade dahin?“, wollte ich wissen.<br />

„Weil der Ententeich ziemlich groß ist und am Ufer Bäume<br />

und Büsche stehen, wo wir uns gut verstecken können.<br />

Außerdem sind da keine anderen Menschen. Um diese<br />

Zeit ist der Zutritt verboten. Das Oerd ist Naturschutzgebiet.<br />

Ich war im letzten Jahr mit Papa schon mal da und<br />

kenne die Gegend.“<br />

„Aber wie sollen Nackenlocke und Walross da hin kommen?“,<br />

gab ich zu bedenken, „dafür brauchen sie doch<br />

Fahrräder.“<br />

„Kein Problem“, meinte Jaap, „das Museum besitzt welche,<br />

die stellen wir einfach vors Haus. Wie ich die beiden<br />

einschätze, werden sie keine Sekunde zögern, sie zu benutzen.“<br />

„Gute Idee. Weiter!“, stieß Olli ungeduldig hervor.<br />

„Also, erst mal ist es wichtig schon vor den beiden am Ententeich<br />

zu sein, damit wir alles in Ruhe für ihren Empfang<br />

vorbereiten können. Deshalb müssen wir unseren Eltern<br />

klar machen, dass wir heute später nach Hause kommen.<br />

Mein Plan funktioniert nur, wenn es dunkel ist.“<br />

Erwartungsvoll sahen wir Katja an, unsere Spezialistin für<br />

Elternüberzeugungsarbeit.<br />

„Ist ja gut“, meinte sie, „ich lasse mir was einfallen. Aber<br />

erst will ich deinen Plan hören, Hanjo!“<br />

„Eigentlich ganz einfach. Kurz gesagt: ich möchte Nackenlocke<br />

und Walross so erschrecken, dass ihnen Hören und<br />

Sehen vergeht. Und dafür eignet sich die Rixt vom Oerd<br />

bestens, aber wir müssen sie wieder auferstehen lassen.<br />

Hört zu…“<br />

Hanjo senkte seine Stimme und erklärte endlich alles genau.<br />

49


„Wir verstecken uns im Gebüsch, die beiden dürfen uns<br />

weder sehen noch hören. Für dich, Katja, habe ich eine<br />

schöne Rolle, du spielst die Rixt. Du musst dich so verkleiden,<br />

dass du Ähnlichkeit mit der Puppe hast, der Nackenlocke<br />

im Museum den Kopf abgerissen hat. Ich schätze,<br />

die Nacht wird ziemlich klar, deshalb brauchen wir eine<br />

Nebelmaschine, damit dein Auftritt schön gruselig aussieht.<br />

Zusammen mit dem Mondlicht müssten wir dich eigentlich<br />

richtig gut in Szene setzen können.<br />

Alle anderen verteilen sich an unterschiedlichen Stellen<br />

und verstecken sich. Pit, du organisierst Fußbälle, und<br />

zwar so viele du bekommen kannst. Wenn die Gauner so<br />

richtig in Panik sind, pfefferst du ihnen deine Knaller um<br />

die Ohren. Und du musst dich mit Dünensand bewaffnen,<br />

Olli. Sobald sie in deine Nähe kommen, bewirfst du sie,<br />

denn das mögen sie ja nicht. <strong>Die</strong> anderen sammeln tote<br />

Quallen am Strand, die kleinen sind super Wurfgeschosse.<br />

Von den glibberigen Dingern werden sie bestimmt ganz<br />

begeistert sein.“<br />

„Aber <strong>von</strong> dir muss ich noch was wissen, Jaap. Kennst du<br />

jemanden mit einer alten, kratzigen Stimme?“<br />

„Vielleicht, aber wieso?“<br />

„Dann könnten wir ein paar freundliche Sätze der Rixt aufnehmen<br />

und sie mit einem CD-Player abspielen, sobald<br />

die beiden am Teich auftauchen.“<br />

Jaap überlegte.<br />

„Ich könnte mir da schon jemand vorstellen.“<br />

„Aber was soll sie sagen?“, fragte ich atemlos.<br />

„Ganz einfach“, entgegnete Hanjo grinsend, „in Kurzform:<br />

Haut ab, wenn euch euer Leben lieb ist. Nehmt die nächste<br />

Fähre!“<br />

Er sah uns triumphierend an.<br />

„Na, was haltet ihr <strong>von</strong> meiner Idee?“<br />

Mit offenem Mund starrten wir ihn an. Aber dann brach es<br />

aus uns heraus. Wir redeten alle durcheinander.<br />

„Das ist cool!“, schrie Olli in totaler Begeisterung.<br />

50


„Ich weiß, wo ganz viele tote Quallen liegen!“, rief Meike.<br />

„Aber ich habe keine Ahnung, wo ich die vielen Fußbälle<br />

herkriegen soll!“, sagte Pit aufgeregt. Nur Jaap blieb ruhig.<br />

„Stopp“, sagte er mit seiner lauten, dunklen Stimme, „bevor<br />

ihr weiter durcheinander redet, möchte ich was dazu<br />

sagen. Ich finde deine Idee gut, Hanjo. <strong>Die</strong> Gangster haben<br />

mir einen solchen Schreck eingejagt, dass ich mich<br />

darauf freue ihnen genau den heimzuzahlen. Allerdings<br />

weiß ich nicht, wie ihr euren Eltern beibringen wollt, bis tief<br />

in die Nacht am Ententeich zu bleiben. Ihr könnt doch<br />

nicht allein durch die Dunkelheit vom Oerd nach Hollum<br />

zurückfahren. Das erlauben sie nicht.“<br />

„Also, Katja, was ist jetzt?“ Hanjo sah sie an.<br />

„Na ja“, sagte sie und neigte ein wenig ihren Kopf, „ich hätte<br />

da schon eine Idee. Wir könnten unseren Eltern doch<br />

erzählen, dass Jaap eine Museumsnacht für Kinder durchführt<br />

und uns auch dazu eingeladen hat. Dann hätten wir<br />

genug Zeit und niemand müsste sich unnötig Sorgen machen.“<br />

„Aber dafür brauchen wir noch Sachen <strong>von</strong> zu Hause,<br />

Schlafsack, Zahnbürste und so“, gab ich zu bedenken.<br />

„Und es wäre nicht schlecht, eine Art Einladungsschreiben<br />

zeigen zu können. Das wirkt noch echter!“<br />

Jaap setzte sich sofort hin und begann zu formulieren. Er<br />

schrieb, die Museumsnacht fange gegen 19.00 Uhr an und<br />

vor allem Kinder seien herzlich eingeladen. Wir waren sicher,<br />

unsere Eltern damit überzeugen zu können. Außerdem<br />

nahmen wir uns vor, sie noch einmal an den guten<br />

Eindruck zu erinnern, den Jaap bei unserem gemeinsamen<br />

Museumsbesuch auf sie gemacht hatte.<br />

„Ich bin echt gespannt, wie das heute Abend wohl wird!“,<br />

meinte Meike.<br />

„Ich auch. Deshalb sollten wir jetzt schnell nach Hollum<br />

fahren, um die Einladung zu zeigen. Außerdem müssen<br />

wir ja wohl noch einiges vorbereiten. Aber wo ich die Bälle<br />

her bekommen soll, weiß ich immer noch nicht!“, sagte Pit.<br />

51


„Mach dir mal keine Sorgen“, beruhigte ihn Jaap, „mir fällt<br />

da schon was ein. Wenn ihr zurück seid, wirst du genug<br />

zur Verfügung haben!“<br />

Während der Busfahrt nach Hollum redeten wir aufgeregt<br />

durcheinander und schwelgten in Vorfreude auf das Abenteuer.<br />

Nur Paula und Lara sagten kein Wort, aber das fiel<br />

mir erst auf kurz bevor wir aussteigen mussten.<br />

„Was ist los mit euch?“, fragte ich.<br />

„Habt ihr keine Lust auf die Museumsnacht?“<br />

„Doch, natürlich!“, antwortete Lara, „aber ich glaube, Papa<br />

wird Probleme machen.“<br />

„Ach Quatsch!“, rief Olli, „ihr seid immer so ängstlich. Dann<br />

hauen wir eben einfach ab. Wir können doch heimlich aus<br />

dem Fenster klettern.<br />

„Halts Maul, Olli!“, wies Lara ihn wie immer zurecht.<br />

„Was denkst du, wie Papa reagieren wird, wenn wir heute<br />

Abend nicht mit in die Kirche gehen? Wir hatten es ihm<br />

versprochen. Du weißt genau, wie sauer er werden kann,<br />

wenn wir ein Versprechen nicht einhalten.“<br />

Jetzt kapierte er auch, was los war. Paula seufzte.<br />

„Ich schätze, das kriegen wir nicht durch.“<br />

Als der Bus in Hollum hielt, waren auch die anderen über<br />

die Probleme <strong>von</strong> Paula, Lara und Olli informiert.<br />

„Wir gehen noch zur Eisbude an der Ecke, da können wir<br />

überlegen, wie wir Rainer überreden können!“, schlug Katja<br />

vor. Wir setzten uns an einen der schweren Holztische<br />

auf dem kleinen Platz vor der Bude.<br />

„Also, was machen wir?“, begann sie wieder. Meike hatte<br />

eine gute Idee.<br />

„Wir müssen Rainer bestechen. Und ich weiß auch schon<br />

wie. Wenn er Paula, Lara und Olli mitfahren lässt, versprechen<br />

Hannah und ich am nächsten Sonntag mit ihm<br />

zusammen in die Kirche zu gehen.“<br />

Sie hatte Recht. Rainer wäre bestimmt begeistert, denn er<br />

versuchte uns ja immer wieder zur Taufe zu überreden.<br />

Schon deshalb, weil er hoffte, Papa damit ärgern zu<br />

52


können. Jetzt schaute Paula schon viel zuversichtlicher.<br />

„Könnte funktionieren“, sagte sie.<br />

„Los, das versuchen wir sofort!“<br />

Wir marschierten zum Haus der Münstermänner. Rainer<br />

und Marlies saßen im Garten und lasen.<br />

„Hallo, Kinderen!“, rief Rainer, „gut, dass ihr zurück seid.<br />

Ihr wisst ja, nachher wollen wir zusammen in de Kerk.<br />

Meike und Hannah gehen sicher auch gerne mit, oder?“<br />

Er sprach – wie immer – in seinem Deutsch-Holländisch<br />

mit uns. Lara und Paula fanden das ziemlich blöd, aber<br />

diesmal ließen sie sich nichts anmerken. Rainers Frage<br />

war unsere Chance.<br />

„Ja, das würden wir eigentlich gerne machen, Rainer“, begann<br />

ich, „Papa sagt auch immer, wir sollen es ruhig mal<br />

ausprobieren, wenn wir wollen.“<br />

Seine Gesichtszüge wurden sofort ernsthafter.<br />

„Ach ja? Das hat er wirklich gesagt? Das hätte ich nach<br />

unseren Diskussionen nicht für möglich gehalten. Also<br />

geht ihr nachher tatsächlich mit?“<br />

„Würden wir wirklich sehr gerne, nur nicht heute Abend“,<br />

antwortete ich so freundlich wie möglich, „wir können nämlich<br />

alle an einer Museumsnacht in Buren teilnehmen.<br />

Aber nächsten Sonntag, da hätten wir Zeit.“<br />

Paula gab ihm die Einladung. Während Rainer las, warteten<br />

wir gespannt auf seine Antwort. Dann schaute er Paula<br />

an.<br />

„Ach so, dann wird aus unserem gemeinsamen Kirchenbesuch<br />

heute Abend wohl nichts werden. Aber wenn Hannah<br />

und Meike uns nächsten Sonntag begleiten, könnte<br />

ich das verschmerzen.“<br />

Wir hatten es geschafft, der Anfang war gemacht. Wenn<br />

die Münstermänner es erlaubten, konnten unsere Eltern<br />

und die Franzens auch nicht dagegen sein. Erleichtert<br />

gingen wir nach Hause und verabredeten uns gegen<br />

sechs wieder an der Bushaltestelle.<br />

53


<strong>Die</strong> Nacht im Oerd<br />

Es gab keine Probleme. Nur unsere Eltern wollten uns zuerst<br />

mit dem Auto nach Buren bringen, aber das konnten<br />

wir ihnen wieder ausreden.<br />

Bepackt mit allem, was man für eine Nacht braucht, erreichten<br />

Meike und ich als letzte die Haltestelle. Als der<br />

Bus kam, öffnete sich die Tür mit einem lauten Zischen.<br />

„Na, wollt ihr wieder zum Museum?“, fragte der Fahrer, der<br />

uns inzwischen schon kannte.<br />

„Jaap hat euch doch sicher schon jeden kleinen Winkel<br />

gezeigt.“<br />

„Das stimmt“, antwortete ich, „aber er hat uns zu einer<br />

Museumsnacht eingeladen. Wir machen auch eine Wanderung<br />

ins Oerd.“<br />

„Oh, das wird sicher spannend!“, sagte der Busfahrer und<br />

fügte lachend hinzu, „hoffentlich habt ihr da keine Begegnung<br />

mit der alten Rixt.“<br />

„Doch, das könnte schon sein!“, gluckste Olli.<br />

Wir sahen ihn strafend an, denn schließlich sollte unser<br />

Plan geheim bleiben. Ich wartete auf Laras Reaktion.<br />

„Halts Maul, Olli!“, zischte sie auch schon und kniff ihm in<br />

den Arm. Er wusste, was er falsch gemacht hatte, und<br />

setzte sich kleinlaut in die hinterste Sitzreihe. Keiner <strong>von</strong><br />

uns sagte während der Busfahrt ein Wort, denn wir waren<br />

jetzt doch etwas nervös.<br />

„Was macht ihr denn für ein Gesicht?“, begrüßte uns Jaap,<br />

als wir in Buren ausstiegen.<br />

„Kommt, ich zeige euch, was ich besorgt habe.“<br />

Wir gingen in sein Büro. Dort stand ein Fahrradanhänger<br />

beladen mit Sachen für unsere nächtliche Aktion.<br />

„Mensch, das ist ja cool!“, rief Pit völlig begeistert, weil er<br />

ein großes Netz mit Fußbällen entdeckt hatte.<br />

„Wo hast du die denn her?“<br />

54


„Tja, als Museumsleiter hat man so seine Beziehungen“,<br />

antwortete Jaap lächelnd. Aber er hatte nicht nur Fußbälle<br />

besorgt. Wir trauten unseren Augen kaum, als wir den CD-<br />

Player mit den großen Boxen entdeckten, die batteriebetriebene<br />

Nebelmaschine, jede Menge Eimer, Tücher,<br />

Schaufeln, und dazu alte Röcke und Schminke. Hanjo sah<br />

auf seine Uhr.<br />

„Wir müssen schnell verschwinden, sonst treffen wir Nackenlocke<br />

und Walross schon hier am Museum. Es ist<br />

viertel vor sieben!“<br />

„Du hast Recht“, sagte Jaap, „aber ich lese euch noch vor,<br />

was ich den beiden geschrieben habe.“<br />

Sehr geehrte Herren<br />

mir ist klar, dass ich die Galionsfigur nicht länger<br />

verbergen kann. Sie ist an einer geheimen Stelle<br />

am Ententeich im Oerd versteckt. Dort will ich sie<br />

Ihnen auch übergeben. Damit uns niemand beobachtet,<br />

treffen wir uns nach Einbruch der Dunkelheit<br />

um 23.00 Uhr am Nordufer.<br />

Jaap Mathijsen.<br />

„Sehr gut!“, sagte Hanjo, der, wie wir alle, zufrieden zugehört<br />

hatte.<br />

„Aber wie sollen Nackentolle und Walross an die Nachricht<br />

kommen?“, fragte ich.<br />

„Am besten kleben wir den Brief an die Eingangstür, dann<br />

finden sie ihn sofort, und wir haben Zeit alles vorzubereiten“,<br />

antwortete Jaap.<br />

55


„Und wenn sie direkt zum Ententeich fahren?“, fragte Paula<br />

besorgt. „Darüber habe ich auch schon nachgedacht“,<br />

meinte er.<br />

„Zwei <strong>von</strong> euch müssen sie beobachten und uns rechtzeitig<br />

warnen.“<br />

„Das übernehmen wir“, meinte Paula, „mein Handy habe<br />

ich dabei, aber wen kann ich dann anrufen?“<br />

Jaap griff in die Brusttasche seines Hemdes. „Wie wäre es<br />

mit mir? <strong>Die</strong> Dinger kennen wir auf <strong>Ameland</strong> auch schon<br />

eine ganze Weile.“ Lächelnd zeigte er sein Handy und gab<br />

ihr seine Nummer.<br />

„Und wenn jemand anders den Brief findet?“<br />

„Wir passen schon auf“, beruhigte mich Lara, „Paula und<br />

ich verstecken uns hinter dem Weidenzaun. Da sehen wir<br />

alles.“<br />

„Außerdem kommt am Abend sowieso kein anderer Besucher<br />

mehr. Mach dir keine Gedanken!“, fügte Jaap hinzu.<br />

„Okay, jetzt haut schon ab!“, sagte Lara.<br />

Wir stiegen auf die Räder, die Jaap für uns geliehen hatte<br />

und fuhren schweigend hinter ihm her. Nach einer halben<br />

Stunde erreichten wir unser Ziel.<br />

„Du meinst, hier können wir unsere Show aufführen?“,<br />

wunderte sich Katja.<br />

„Ich denke schon“, antwortete Jaap.<br />

„Eigentlich ist hier alles so, wie Hanjo es beschrieben hat.<br />

Es gibt genügend Verstecke und auf der anderen Uferseite<br />

kannst du als Rixt erscheinen und im Nebel spuken.“<br />

„Genau, es ist perfekt“, sagte Hanjo, der sich aufmerksam<br />

umsah. Pit, Olli und Meike, ihr geht zum Strand und besorgt<br />

die Quallen und den Sand. Wir bauen schon mal die<br />

56


Anlage und die Nebelmaschine auf. Ich schätze, es ist gut,<br />

wenn wir vorher noch einen kleinen Probedurchlauf<br />

machen.“<br />

Meike nahm die Eimer aus dem Anhänger, Pit und Olli<br />

bewaffneten sich mit den Sandschaufeln und marschierten<br />

los. Wir begannen am Teich mit unseren Vorbereitungen.<br />

Es gab eine Menge zu tun. <strong>Die</strong> Nebelmaschine, die Jaap<br />

besorgt hatte, war echt schwer. Er und Hanjo trugen sie<br />

gemeinsam, während Katja und ich eine Autobatterie und<br />

den CD – Player schleppten.<br />

Am anderen Ufer sah Hanjo sich prüfend um und untersuchte<br />

an verschiedenen Stellen das Gebüsch.<br />

„Was machst du da?“, fragte ich ihn.<br />

„Wonach sieht es denn aus?“, gab er zur Antwort.<br />

„Sieht aus, als ob Hund Hanjo seinen Knochen vergraben<br />

will!“, kicherte ich.<br />

„Sehr witzig, ich suche eine Stelle, an der wir uns und die<br />

Sachen verstecken können!“<br />

„Jetzt zankt nicht herum“, mischte Jaap sich ein.<br />

Ich ärgerte mich ein bisschen, denn eigentlich wollte ich<br />

nur, dass Hanjo erklärte, was er vorhatte. Ich kann es<br />

nicht leiden, wenn einer die ganze Zeit den großen Boss<br />

spielt und einsame Entscheidungen trifft. Katja schien<br />

meine Gedanken gelesen zu haben.<br />

„Mach dir nichts draus“, sagte sie, „ich kenne ihn, der ist<br />

immer so, wenn er nachdenkt. Dann kann man ihn besser<br />

in Ruhe lassen.“<br />

Hanjo entschied sich für einen großen Haselnussstrauch.<br />

Wir stellten die Nebelmaschine so auf, dass sie ihren Nebel<br />

genau durch die Zweige und Blätter ans Ufer pusten<br />

konnte.<br />

„Hier kannst du herumtanzen, Katja!“<br />

Hanjo zeigte auf die Stelle, wo die Rixt auftreten sollte.<br />

„Droh ihnen mit der Faust und was sonst noch alles dazu<br />

gehört. Wir bedienen die Nebelmaschine und den CD-<br />

Player. Vom anderen Ufer aus können uns die Typen<br />

57


estimmt nicht sehen, wenn wir hinter dem Strauch versteckt<br />

sind.“<br />

„Stimmt, und wir können uns nach hinten verdrücken, falls<br />

die Gauner es wagen sollten, auf unsere Seite zu<br />

kommen!“<br />

Jaap zeigte auf mannshohes Schilfgras hinter uns, in dem<br />

wir uns notfalls perfekt verstecken konnten. Ich musste<br />

schlucken, denn ich hatte noch gar nicht daran gedacht,<br />

dass es auch schief gehen könnte.<br />

Nachdem wir alles aufgebaut hatten, verwandelte sich<br />

Katja in die Rixt. Jaap hatte die Kleidung der Puppe aus<br />

seinem Museum mitgebracht.<br />

Einen schwarzen, bodenlangen Rock aus sehr schwerem<br />

Stoff und eine dunkle Bluse, die mit großen Knöpfen bis<br />

zum Hals geschlossen wurde. Darüber eine blaue Schürze<br />

und eine weiße Haube, die mit großen Bändern unter dem<br />

Kinn verknotet wurde.<br />

Katja sah richtig echt aus.<br />

„Schaut mich nicht so an!“, sagte sie.<br />

„Du siehst der Rixt total ähnlich“, staunte Jaap.<br />

„Jetzt müssen wir nur noch dein Gesicht etwas auf alt<br />

schminken und dir dieses kleine Kissen als Buckel auf<br />

dem Rücken befestigen, dann bist du perfekt – die Rixt<br />

vom Oerd lebt!“<br />

„Hört auf!“, entgegnete Katja ärgerlich, „ich bin und bleibe<br />

ich!“<br />

„Klar, Schwesterchen!“, meinte Hanjo, „aber wenn die beiden<br />

Kerle nur ein bisschen abergläubisch sind, werden sie<br />

darauf bestimmt nicht kommen. Und wenn sie dann richtig<br />

Schiss haben, geben wir ihnen den Rest.“<br />

Drüben sahen wir Meike, Pit und Olli schwer bepackt mit<br />

ihren Eimern und Schaufeln vom Strand zurückkommen.<br />

Ich winkte und rief ihnen zu: „Wartet auf uns! Sobald wir<br />

hier fertig sind, kommen wir rüber!“<br />

58


Sie schienen es verstanden zu haben, denn alle drei ließen<br />

sich erschöpft ins Gras am Ufer des Ententeichs fallen.<br />

„Gut, wir können gehen“, sagte Jaap schließlich, nachdem<br />

er noch einmal geprüft hatte, ob auch wirklich alles funktionierte<br />

und der Nebel wie geplant durch den Strauch waberte.<br />

Hanjo meinte: „Ich bleibe noch. Sobald ihr drüben<br />

seid, schalte ich den CD-Player an. Wir müssen sicher<br />

sein, dass die Stimme der Rixt auf der anderen Seite gut<br />

zu verstehen ist.“<br />

Wir nickten.<br />

„Ich bin sowieso gespannt, was du aufgenommen hast,<br />

Jaap. Schließlich muss ich als Rixt ja wissen, womit ich<br />

die beiden Kerle erschrecke“, grinste Katja.<br />

„Wart’s ab“, lächelte Jaap.<br />

Auf der anderen Seite wurden wir schon ungeduldig erwartet.<br />

„Wir hatten Glück!“, rief Pit uns aufgeregt entgegen, „hier,<br />

schaut mal!“<br />

Er zeigte uns drei Eimer mit toten Quallen. Sie sahen wirklich<br />

scheußlich wabbelig aus.<br />

„Ich schätze, das sind bestimmt an die fünfzig, nur kleine,<br />

die man gut werfen kann“, meinte Meike.<br />

„<strong>Die</strong> meisten werde ich abfeuern!“, schrie Olli total begeistert.<br />

„Quatsch!“, Pit stieß ihn an, „du wirfst doch mit Sand.“<br />

Jaap schaute auf seine Armbanduhr.<br />

„Jetzt wird es Zeit, wir müssen mit unseren Vorbereitungen<br />

fertig werden.“<br />

Er winkte Hanjo zu, der auf der anderen Seite immer noch<br />

auf das Zeichen wartete, den CD-Player einzuschalten.<br />

„Jetzt bin ich gespannt“, murmelte Katja.<br />

Was wir sahen und hörten klang wirklich unheimlich. Zuerst<br />

quoll der Nebel aus dem Haselnussstrauch und dann<br />

ertönte eine alte, raue Frauenstimme. Sie heulte, jammerte,<br />

59


drohte und wurde immer wütender. Es klang wirklich sehr<br />

gefährlich. Mir lief es kalt den Rücken herunter.<br />

„Das ist ja voll gut!“, meinte Pit begeistert.<br />

„Mensch, Jaap, wie hast du das hinbekommen?“<br />

„Vor allem, wessen Stimme hast du da aufgenommen?“,<br />

wollte Katja wissen.<br />

„Na ja“, antwortete Jaap, „ehrlich gesagt wusste ich ziemlich<br />

schnell, wer dafür in Frage kam. <strong>Die</strong> Wirtin vom<br />

Strandcafe in Buren. Sie hat sofort ja gesagt, obwohl sie<br />

ganz anders aussieht als ihre Stimme vermuten lässt.“<br />

Katja und ich schauten uns an. Jaap sagte das mit einem<br />

solchen Nachdruck, dass wir ziemlich sicher waren, er<br />

müsse sie genauer kennen. „Du könntest sie uns ja mal<br />

vorstellen“, schlug ich vor.<br />

„Hmm“, brummte er, „alles zu seiner Zeit.“<br />

Hanjo war inzwischen zu uns herüber gekommen.<br />

„Und?“, fragte er atemlos, „wie wirkt es? Konntet ihr alles<br />

verstehen?“<br />

„Es ist total super!“, schrie Olli, „die beiden werden laufen<br />

wie die Hasen, die werden glauben, sie kommen nicht<br />

mehr heil <strong>von</strong> der Insel. Und nach der Rixt kommt unser<br />

Einsatz, oder Hanjo?“<br />

Olli schaute ihn begeistert an.<br />

„Genau! Ich erkläre euch mal, wie’s weitergeht. Meike und<br />

Olli, ihr versteckt euch hier in diesem Loch!“<br />

Er zeigte auf eine Vertiefung ein paar Meter vom Ufer entfernt,<br />

die am Rand mit Sträuchern bewachsen war.<br />

„Ich schätze, hier werden sie in Panik vorbeilaufen. Dann<br />

werft ihr mit Sand, was die Eimer hergeben. Falls sie dann<br />

versuchen, auf ihre Fahrräder zu springen, müssen Paula<br />

und Lara sie mit den Quallen eindecken. Da vorne hinter<br />

dem Gebüsch haben sie gute Deckung. Wenn sie die Hosen<br />

richtig voll haben, sind Pit und ich an der Reihe. Von<br />

der kleinen Anhöhe aus haben wir ein super Schussfeld<br />

und können ihnen die Bälle richtig um die Ohren knallen.“<br />

Ein toller Plan. Auch Jaap war zufrieden.<br />

60


„Perfekt“, sagte er.<br />

„Am besten legt ihr euch das Wurfmaterial jetzt bereit.“<br />

Er schaute wieder auf seine Uhr.<br />

„Ich bin gespannt, ob sich der ganze Aufwand lohnt. Paula<br />

und Lara müssten sich eigentlich gleich melden, falls die<br />

Gauner meinen Brief gelesen haben.“<br />

Unsere restlichen Vorbereitungen hatten wir schnell erledigt.<br />

„Kommt, wir ruhen uns noch aus“, schlug Jaap vor, „ich<br />

habe eine kleine Überraschung für euch mitgebracht.“<br />

Wir setzten uns ans Ufer.<br />

„Olli, holst du bitte den Korb aus dem Fahrradanhänger?“<br />

Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Er riss das Geschirrtuch<br />

herunter und steckte schnuppernd seine Nase hinein.<br />

„Hmm, lecker!“, rief er. „Jetzt komm schon her damit!“,<br />

meinte Pit ungeduldig. Jaap hatte die tollsten Ameländer<br />

Spezialitäten mitgebracht. Eine große Tüte mit Poffen, das<br />

sind riesige Rosinenbrötchen, Marzipankuchen und drei<br />

Tüten Vanillevla, ein sahniger Vanillepudding, der besonders<br />

gut mit Schokoladenstreußel schmeckte.<br />

„Mensch, Jaap!“, sagte Hanjo mit vollem Mund, „lecker,<br />

genau das hab’ ich jetzt gebraucht!“<br />

Jaap lachte: „Prima, dann können wir es ja mit den Ganoven<br />

aufnehmen.“<br />

Es begann zu dämmern.<br />

„Eigentlich müssten Paula und Lara sich jetzt melden, es<br />

ist schon viertel nach zehn“, meinte Katja besorgt.<br />

Wie auf Bestellung klingelte Jaaps Handy. Wir zuckten zusammen,<br />

auch Jaap schien erschrocken zu sein.<br />

„Hallo, Jaap, hier“, sagte er.<br />

„O. k., alles klar, kommt jetzt so schnell wie möglich, ihr<br />

müsst den kürzeren Weg nehmen, dann seid ihr mindestens<br />

eine viertel Stunde früher hier.“<br />

Er hatte ihnen schon vorher erklärt, wie sie fahren sollten.<br />

„Und, was ist jetzt?“<br />

Ich konnte die Spannung kaum aushalten.<br />

61


„<strong>Die</strong> Gauner sind da“, antwortete Jaap. Paula sagt, sie waren<br />

pünktlich um sieben am Museum. Nachdem sie den<br />

Brief gelesen hatten, sind sie mit den Rädern ins Dorf gefahren<br />

und haben in einer Kneipe die Zeit abgewartet.“<br />

„Endlich, dann kann es ja losgehen!“<br />

Hanjo rieb sich zufrieden die Hände. Er begann, die Sachen<br />

in den Korb zu räumen.<br />

„Kommt“, meinte Jaap, „ihr müsst euch beeilen, ihr wisst<br />

ja, was ihr zu tun habt. Geht bitte kein Risiko ein, wenn die<br />

Ganoven nicht so reagieren wie wir hoffen, zieht ihr euch<br />

sofort zurück. Schiebt die Fahrräder da hinten ins Gebüsch.“<br />

Wir halfen Hanjo beim Aufräumen und wollten uns verstecken.<br />

„Halt!“, rief er plötzlich, „wir müssen doch noch auf Lara<br />

und Paula warten. Wie lange werden sie noch brauchen,<br />

Jaap?“<br />

„Falls sie sich nicht verfahren haben, müssten sie jeden<br />

Augenblick hier sein.“<br />

Inzwischen war es dunkel. Wir schauten alle ungeduldig in<br />

die Richtung, aus der sie kommen mussten. Den Weg<br />

konnten wir ein Stückchen einsehen, ehe er zwischen den<br />

großen Sträuchern verschwand. Endlich hörten wir das<br />

Geklapper ihrer Räder und das Summen der Fahrraddynamos,<br />

gleich darauf sahen wir sie auch schon in einem<br />

Höllentempo auf uns zurasen. Sie bremsten und sprangen<br />

ab. Wir redeten alle gleichzeitig auf sie ein.<br />

„Was habt ihr gesehen? Wie weit sind die Typen?“<br />

Paula schnappte nach Luft.<br />

„Mann, sind wir gerast. Es wird Zeit, dass wir hier wegkommen.<br />

Sehr weit hinter uns können sie nicht mehr sein.<br />

Ich schätze, die gehen fest da<strong>von</strong> aus, die Figur zu bekommen.<br />

Sie waren echt begeistert, als sie den Brief gelesen<br />

hatten!“<br />

„Denen wird die Begeisterung noch vergehen“, brummte<br />

Jaap. Gut, dass er ruhig blieb. Schnell und genau erklärte<br />

62


er Paula und Lara ihre Aufgabe, was wir vorbereitet hatten<br />

und wo sie ihre Räder verstecken sollten.<br />

„Wir müssen in jedem Fall in Verbindung bleiben, Paula.<br />

Unsere Handys schalten wir am besten auf Dauerempfang.<br />

Du musst sofort Bescheid sagen, wenn du die beiden<br />

Ganoven kommen siehst. Alles klar, Leute? Dann<br />

geht’s jetzt los!“<br />

Wir klatschten uns ab. Es war klar, dass wir uns aufeinander<br />

verlassen konnten.<br />

Ich ging mit Jaap und Katja zum anderen Ufer des Teiches.<br />

Wir prüften zum hundertsten Mal die Technik, alles<br />

funktionierte. Katja legte noch ein wenig <strong>von</strong> der schwarzen<br />

Schminke auf, um auch wirklich alt auszusehen. Dann<br />

gingen wir hinter den Sträuchern in Deckung. Jaap nahm<br />

noch einmal Kontakt zu Paula auf.<br />

„Wir sind so weit. Du weißt ja, sobald du Nackenlocke und<br />

Walross kommen siehst, musst du uns warnen!“<br />

„Alles klar!“, hörte ich ihre Stimme. Ich saß gespannt wie<br />

ein Flitzebogen am CD-Player und wartete auf das Zeichen<br />

zum Einschalten. Jaap hockte hinter der Nebelmaschine<br />

und Katja war bereit, auf die ‚Uferbühne’ zu treten,<br />

um die Rixt vom Oerd auferstehen zu lassen.<br />

„Hast du Angst?“, flüsterte Katja.<br />

„Und wie“, raunte ich, „mein Herz klopft mir bis zum Hals.<br />

Ich würde mich besser fühlen, wenn Mama oder Papa hier<br />

wären!“<br />

„Geht mir ähnlich“, wisperte Katja. Plötzlich hörten wir<br />

wieder Paulas Stimme im Handy.<br />

„Sie sind da“, sagte Jaap.<br />

63


Der Auftritt der Rixt vom Oerd<br />

Walross konnte ich zuerst erkennen, Nackenlocke fuhr<br />

gleich hinter ihm. Am Ufer ließen sie ihre Räder einfach<br />

auf den Boden fallen. Wenn das Papa sähe, würde er einen<br />

Wutanfall bekommen. Er kann es überhaupt nicht leiden,<br />

wenn wir achtlos mit unsere Sachen umgehen. Komisch,<br />

dass ich gerade jetzt daran denken musste.<br />

„Pass auf, Katja!“, flüsterte Jaap hinter mir, „sobald die<br />

ersten Nebelschwaden aufziehen, musst du raus!“<br />

„Ich weiß“, antwortete sie. Walross und Nackenlocke standen<br />

am Ufer und schauten sich nach allen Seiten um.<br />

Wahrscheinlich waren sie gespannt, ob Jaap auftauchen<br />

würde.<br />

„Jetzt!“ Er stieß mich an und drückte auf den Knopf der<br />

Nebelmaschine, die ersten Schwaden waberten am Ufer<br />

entlang. Ich konnte erkennen, wie die Gauner sie bemerkten<br />

und zu uns hinüber schauten. Katja stand auf, zwängte<br />

sich durch den Haselnussstrauch und baute sich in ihrer<br />

vollen Größe im Nebel auf. Ich drückte auf den Knopf des<br />

CD-Players. Auf voller Lautstärke stand er ja schon, das<br />

hatte ich fast jede Minute geprüft. Katja schaute zur anderen<br />

Uferseite und hob drohend ihre Faust.<br />

Dann erklang die CD-Stimme: „Ihr zwei Gauner, hört ihr<br />

mich. Ich bin die Rixt vom Oerd.“<br />

Das lange Heulen ertönte, dabei hob Katja beide Arme<br />

und schüttelte wie wild ihren Körper.<br />

„Was macht ihr hier auf <strong>Ameland</strong>? Ich werde dafür sorgen,<br />

dass ihr meinem Sohn Sjoerd folgen müsst. Uuuhuuuhuh.<br />

Ich bin so traurig, weil ich meinen Sohn verloren habe.<br />

Uuuuuh, ich bin so traurig!“<br />

64


Meine Angst war verflogen. Wie gebannt schaute ich zur<br />

anderen Seite. Im Mondlicht war alles gut zu sehen. Ich<br />

riss meine Augen weit auf, um ja nichts zu verpassen. Den<br />

Ganoven schien es ähnlich zu gehen, denn in dem Augenblick,<br />

als Katja im Nebel auftauchte, traten sie auf ihrer<br />

Seite noch näher ans Ufer. Nackenlocke begann wie wild<br />

auf Katja zu zeigen und stieß immer wieder Walross an.<br />

Der stand da wie angewurzelt. Jetzt veränderte sich die<br />

Stimme der Rixt. Sie klang nicht mehr weinerlich, sondern<br />

wütend.<br />

„Ihr werdet für Sjoerd büßen, ihr habt auf <strong>Ameland</strong> nichts<br />

zu suchen. Ich werde euch vernichten, wartet, wartet, ich<br />

komme...!“<br />

Dann folgte wütendes Schreien. Hinter mir hörte ich Jaap<br />

aufgeregt zischen: „Katja, du musst jetzt los rennen und<br />

65


da vorne in dem anderen Gebüsch wieder verschwinden!“<br />

Sie schien es nicht zu hören. Wie aufgedreht tanzte sie<br />

am Ufer herum, gestikulierte, schimpfte und zog die wildesten<br />

Grimassen. Ich machte mir Sorgen um Katja, so<br />

hatte ich sie noch nie erlebt.<br />

„Hannah, du musst was tun!“<br />

Jaap kauerte jetzt neben mir.<br />

„Wir müssen sie unbedingt vom Ufer weg bringen, die CD<br />

ist gleich zu Ende, wenn sie dann nicht verschwunden ist,<br />

werden die Halunken etwas merken!“<br />

„Okay, okay!“, raunte ich. In meinem Kopf raste es, ich<br />

schaute auf die Ganoven. Walross stand immer noch wie<br />

versteinert, Nackenlocke sprang fast genauso wild hin und<br />

her wie Katja. In diesem Augenblick stampfte sie wie <strong>von</strong><br />

Sinnen direkt an meinem Gebüsch vorbei. Ich löste mich<br />

aus meiner Erstarrung, dachte „jetzt oder nie“ und sprang<br />

hinter ihr hoch. Dann packte ich sie <strong>von</strong> hinten an Rock<br />

und Bluse und zog sie rücklings durch das Gebüsch. Um<br />

mich herum krachte es, einige Äste ratschten mir durch<br />

das Gesicht. Aber da lagen wir, für die beiden Ganoven<br />

unsichtbar, schon wieder auf dem Boden. Immer noch hatte<br />

ich Katja fest in meinen Armen.<br />

„Hoffentlich haben sie mich nicht gesehen!“, schoss es mir<br />

durch den Kopf. Gleichzeitig zischte ich Katja zu: „Bist du<br />

verrückt, du solltest doch nach dem wütenden Schreien<br />

sofort verschwinden!“<br />

Schwer wie ein Stein lag sie auf mir, atmete tief durch und<br />

rührte sich nicht. Dann hörte ich sie seufzen: „Ah, herrlich!<br />

Endlich konnte ich mal jemand anders sein, eine wunderbare<br />

Rolle!“<br />

„Du bist gut!“, flüsterte Jaap aufgeregt, „das war doch kein<br />

Theaterauftritt. Ich hoffe, Nackenlocke und Walross haben<br />

nichts gemerkt. Du hast toll reagiert, Hannah!“<br />

Jaap hatte inzwischen die Nebelmaschine und den CD-<br />

Player abgeschaltet. Wir richteten uns auf, um zu sehen,<br />

was sich jetzt auf der anderen Seite tat und trauten unseren<br />

66


Augen nicht. <strong>Die</strong> Halunken standen nicht mehr am<br />

Ufer, sondern lagen ein paar Meter weiter hinten auf dem<br />

Boden zwischen ihren Rädern. Walross sah aus wie ein<br />

riesiger, auf dem Rücken liegender Käfer, Nackenlocke<br />

wollte sich gerade wieder aufzurappeln. Er fluchte, während<br />

er versuchte aus der Rückenlage hochzukommen.<br />

Walross schimpfte die ganze Zeit heftig auf ihn ein. Beide<br />

hatten Schwierigkeiten aufzustehen, weil immer wieder<br />

etwas auf sie zuflog und sie mit lautem Klatschen erneut<br />

umriss. Das mussten die Quallen sein, die Lara und Paula<br />

abfeuerten. Sie hatten sich extra Handschuhe mitgebracht,<br />

um sie anfassen und gezielt werfen zu können.<br />

Zwar waren die Tierchen schon tot, aber sie taten mir<br />

doch etwas leid. Sie hatten es eigentlich nicht verdient, mit<br />

diesen Halunken Bekanntschaft machen zu müssen. <strong>Die</strong><br />

aber rieben sich die Augen. Wahrscheinlich, um den Sand<br />

heraus zu wischen, mit dem Meike und Olli sie beworfen<br />

hatten. Dann war der Quallenangriff vorüber, Lara und<br />

Paula hatten offenbar keine Munition mehr. Nackenlocke<br />

taumelte hoch und half auch Walross auf die Beine. Sie<br />

griffen ihre Fahrräder und versuchten aufzusteigen. Der<br />

Große schaffte es zuerst. Er trat heftig in die Pedale, um<br />

möglichst schnell wegzukommen. Walross hatte jedoch<br />

Probleme und rutschte immer wieder ab.<br />

„Warte, Lu, warte!“, schrie er und stolperte mit dem Fahrrad<br />

an der Hand hinter ihm her, bis wir sie nicht mehr sehen<br />

konnten. Jaap versuchte Kontakt zu Paula aufzunehmen.<br />

„Hallo Paula, melde dich, was ist los bei euch?“<br />

Endlich hörten wir sie.<br />

„Alles klar, es hat funktioniert, wir haben alle Quallen abgefeuert.<br />

Das war geil, ich habe den Dicken zweimal am<br />

Kopf getroffen, er ist umgefallen wie ein nasser Sack.<br />

Gleich kommen sie bei Hanjo und Pit vorbei!“<br />

Katja riss Jaap das Handy vom Ohr.<br />

„Das sah spitzenmäßig aus, Paula, super!“<br />

67


„Jetzt sei leise, wenn alles nach Plan läuft, müsste gleich<br />

die dritte Angriffswelle kommen“, sagte Jaap. Wir lauschten<br />

angestrengt in die Nacht. Und tatsächlich. Wir hörten<br />

einen dumpfen Aufprall, Geklapper der Fahrräder und erneut<br />

lautes Fluchen und Aufheulen. Dazwischen immer<br />

wieder ein dumpfes Geräusch, gefolgt <strong>von</strong> weiteren Flüchen<br />

und Schreien der beiden Kerle. Von der Erhöhung<br />

aus schossen Pit und Hanjo ihre Bälle auf unsere Freunde.<br />

Dann war es still, wahrscheinlich hatten sie jetzt endgültig<br />

das Weite gesucht. Hoffentlich hatten sie genug <strong>von</strong><br />

<strong>Ameland</strong> und der bösen Rixt.<br />

Uns hielt es nicht mehr an unserem Ufer. Katja und ich liefen<br />

so schnell es ging zu den anderen. Jaap folgte uns,<br />

auch er wollte hören, was passiert war. Von weitem sahen<br />

wir sie bereits am Ufer des Teichs einen Siegestanz aufführen.<br />

Olli sprang mir um den Hals, Paula und Lara hielten<br />

sich an den Händen und drehten sich wie wild im<br />

Kreis. Dabei riefen sie immer wieder: „Wir haben sie verjagt,<br />

wir haben sie verjagt!“<br />

Pits und Hanjos Augen strahlten um die Wette, stolz begannen<br />

sie zu erzählen.<br />

„Hey, Moment!“, rief Jaap, „wartet noch, ich will auch wissen,<br />

was passiert ist!“<br />

Nachdem ich Olli endlich <strong>von</strong> meinem Hals abgeschüttelt<br />

hatte, konnte ich ebenfalls zuhören. Sie berichteten, dass<br />

sie auf der Anhöhe eine kleine Sandmauer gebaut und<br />

dort alle Bälle aufgereiht hatten, um genauer und schneller<br />

schießen zu können. Als sie die Stimme der Rixt hörten,<br />

wussten sie, gleich würde es losgehen.<br />

„Ich war mir ganz sicher“, fuhr Pit fort, „wenn sie an uns<br />

vorbeifahren, würden wir sie treffen.“<br />

Er sah uns an wie Supermann.<br />

„Als die Gauner fluchten, wussten wir, der Sandangriff und<br />

die Quallen hatten gewirkt. Zuerst kommt Nackenlocke.<br />

Ich nehme Anlauf, haue den Ball mit Vollspann weg und<br />

treffe ihn am Arm. Der erschreckt sich so, dass er nach<br />

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vorne über den Lenker absteigt. Walross, der direkt hinter<br />

ihm fährt, kann gar nicht so schnell reagieren und ist<br />

schon voll auf ihm drauf. Er macht fast einen Kopfstand im<br />

Sand. Als er liegt, heult er laut auf und Nackenlocke flucht<br />

wie ein alter Seemann.“<br />

„Aber was habt ihr mit den anderen Bällen gemacht, habt<br />

ihr sie noch mal getroffen?“, fragte Katja.<br />

„Na, was denkst du denn!“, antwortete Hanjo schon fast<br />

beleidigt. Ich hab’ den Dicken noch vier Mal an seinem<br />

Wanst getroffen und Pit Nackenlocke sogar einmal im Gesicht.<br />

<strong>Die</strong> hatten voll die Panik. Als erster saß der Dicke<br />

auf seinem Rad, Nackenlocke lief ihm nach und dann verschwanden<br />

sie in der Dunkelheit.“<br />

Wir jubelten. Paula machte Katja noch ein Kompliment für<br />

ihren Rixt-Auftritt.<br />

„Das sah <strong>von</strong> hier wirklich klasse aus. Wenn ich nicht gewusst<br />

hätte, dass du es bist, hätte ich auch Schiss gehabt!“<br />

Katja grinste.<br />

„Es hat auch voll Spaß gemacht. Ich glaube, ich werde<br />

nach den Ferien in unserer Schultheatergruppe mitmachen“,<br />

antwortete sie.<br />

„Da kannst du dich meinetwegen richtig ausleben, jedenfalls<br />

ist das nicht so gefährlich wie hier“, mischte sich Jaap<br />

schmunzelnd ein.<br />

„Wisst ihr was Kinder, ich bin jetzt ziemlich kaputt. Lasst<br />

uns zum Museum zurückfahren, dort hauen wir uns aufs<br />

Ohr!“<br />

Ich schaute auf meine Uhr. Inzwischen war es schon nach<br />

Mitternacht. Jaap hatte recht, es wurde Zeit, schlafen zu<br />

gehen. Schnell suchten wir unsere Sachen zusammen,<br />

holten die Räder aus dem Versteck und packten alles wieder<br />

in den Fahrradanhänger. Im Museum saßen die anderen<br />

noch zusammen und quatschten. Aber ich war so müde,<br />

dass ich es gerade noch schaffte, meinen Schlafsack<br />

aufzurollen und hineinzukriechen.<br />

69


Wiedersehen mit Nackenlocke und Walross<br />

„Hey, Hannah, es gibt Frühstück“, flüsterte mir jemand ins<br />

Ohr. Ich schlug langsam die Augen auf und sah in Meikes<br />

Gesicht. <strong>Die</strong> anderen saßen schon an dem großen Tisch,<br />

der mitten in Jaaps Büro stand. Es roch sehr gut. Jaap<br />

hatte Brötchen geholt und Kakao gekocht. Ich nahm Meikes<br />

Hand und ließ mich <strong>von</strong> ihr hochziehen.<br />

„Du kannst aber lange schlafen“, meinte Hanjo mit vollem<br />

Mund.<br />

„Wie spät ist es denn?“, fragte ich.<br />

„Schon elf“, antwortete Katja. Ich zog ein Sweatshirt über<br />

und setzte mich zu den anderen.<br />

„Kinder, jetzt hört mir mal zu. Ich möchte mich bei euch<br />

bedanken. Ihr wart großartig gestern Abend und ich bin<br />

ziemlich sicher, dass die beiden Gauner mein Museum so<br />

schnell nicht mehr besuchen werden. Ich glaube, auch <strong>von</strong><br />

<strong>Ameland</strong> haben sie die Nase gestrichen voll, auch wenn<br />

es eigentlich nicht mein Ziel sein kann, Gäste <strong>von</strong> unserer<br />

schönen Insel zu vertreiben.“<br />

Jaap schien ganz gerührt zu sein, jedenfalls ließ er sich in<br />

seiner Dankesrede kaum bremsen.<br />

„Jetzt hör schon auf!“, murmelte Hanjo.<br />

„Als Museumsleiter hätte ich mir nicht träumen lassen, so<br />

viele Jahrhunderte nach ihrem Tod, die Rixt noch einmal<br />

in ihrer ganzen Bosheit zu erleben. Kinder, ich danke euch<br />

dafür. Nur weiß ich leider immer noch nicht, wo die Galionsfigur<br />

ist“, fügte er leiser hinzu.<br />

„Egal!“, rief Olli dazwischen, „wir sind die Obercoolen, wir<br />

finden sie, denn wir finden alles, uns kann keiner besiegen,<br />

wir sind die Besten!“<br />

70


Wir schauten jetzt alle erwartungsvoll auf Lara. Und sie<br />

sagte das, was sie immer sagte: „Halts Maul, Olli, es<br />

reicht!“<br />

Paula unterstützte sie.<br />

„Genau, kannst du nicht mal einmal die Klappe halten!“<br />

„Nein, nein, nein, das kann ich nicht!“, schrie er plötzlich<br />

ziemlich wütend, „ich will das auch gar nicht, ihr sollt mich<br />

nicht immer anmachen, ich bin der Größte, auch wenn’s<br />

euch nicht gefällt!“<br />

Meike und ich sahen uns an. Irgendwie hatte Olli wirklich<br />

einen Tick. Und jetzt drehte er total ab. Er sprang hoch,<br />

riss den Stuhl zurück und hüpfte auf den Tisch. Wir alle,<br />

auch Jaap, waren so überrascht, dass wir nicht mehr daran<br />

dachten, unser Geschirr mit dem Frühstück in Sicherheit<br />

zu bringen, denn Olli begann jetzt auf dem Tisch herumzutanzen.<br />

„Ich bin der Größte, ich bin der Größte!“, rief er immer<br />

wieder und trampelte zwischen den Tellern und Tassen<br />

herum. <strong>Die</strong> Milchtüte fiel um, der Kakao in den Tassen<br />

schwappte über und ergoss sich in Pfützen auf den Tisch.<br />

Sogar Lara und Paula standen staunend da und sagten<br />

71


nichts mehr. Jaap griff als erster ein. Er sprang auf, und zu<br />

unserer Überraschung kletterte er auch auf den Tisch, auf<br />

dem Olli inzwischen wie Rumpelstilzchen hin und her<br />

hüpfte. Paula, die sich gefasst hatte, fauchte ihn an:<br />

„Komm sofort da runter, Olli, oder ich rede die ganzen Ferien<br />

nicht mehr mit dir!“<br />

Er tanzte drohend auf sie zu: „Wenn du nicht meine<br />

Schwester wärst...!“, schnauzte er sie an. Aber dann stand<br />

Jaap direkt hinter ihm, ergriff ihn mit einem lauten „Schluss<br />

jetzt!“ und nahm ihn wie ein großes Bündel unter den Arm.<br />

Er ging mit dem zappelnden Olli zu seinem Platz zurück<br />

und stieg vom Tisch. Dann ließ Jaap ihn los, denn er hatte<br />

sich inzwischen wieder beruhigt.<br />

„Wir beide gehen jetzt mal eben nach nebenan“, sagte<br />

Jaap mit ruhiger Stimme zu ihm, und dann, uns anschauend,<br />

„es wäre nett, wenn ihr hier ein bisschen aufräumen<br />

könntet. Es ist ja sowieso langsam Zeit für euch nach<br />

Hause zu fahren.“<br />

Nachdem die beiden im Nebenraum verschwunden waren,<br />

begannen wir, das Chaos zu beseitigen. So hatten wir Olli<br />

noch nie erlebt. Auch Lara und Paula sahen sich verwundert<br />

an und räumten schweigend den Tisch ab. Nachdem<br />

wir unsere Sachen gepackt hatten, kamen Olli und Jaap<br />

zurück.<br />

„Olli hat euch etwas zu sagen“, meinte Jaap schmunzelnd.“<br />

„Es tut mir leid, was ich eben angestellt habe“, murmelte<br />

er, „aber ich habe es satt, immer nur der kleine, dumme<br />

Bruder zu sein. Ich kann einfach nicht mehr hören, dass<br />

ich die Klappe halten soll!“, fügte er mit Blick auf Lara hinzu.<br />

„Ich möchte, dass ihr mich ernst nehmt.“<br />

„Du bist eben manchmal echt anstrengend!“, sagte Katja.<br />

„Du flippst so oft aus und nervst uns dann mit deiner Angeberei!“<br />

72


Lara und Paula nickten. Sie waren froh, dass Katja ausgesprochen<br />

hatte, was sie als Schwestern ja nicht nur in den<br />

Ferien mit ihm auszuhalten hatten. Olli wollte etwas antworten,<br />

aber seine Stimme stockte jetzt. Jaap kam ihm zu<br />

Hilfe.<br />

„Er möchte einfach <strong>von</strong> euch mehr akzeptiert werden und<br />

verspricht auch ruhiger zu sein.“<br />

Lara und Paula gingen auf Olli zu und umarmten ihn. Als<br />

sie ihm etwas ins Ohr flüsterten, fing er schon wieder an<br />

zu grinsen.<br />

„Da jetzt der erste Inselkoller überstanden ist, können wir<br />

ja gleich den Bus zurück nach Hollum nehmen“, brummelte<br />

Hanjo.<br />

„Unsere Eltern warten bestimmt schon. Außerdem hätte<br />

ich Lust, einfach mal am Strand zu liegen und Ferien zu<br />

machen.“<br />

„Eine gute Idee“, entgegnete Jaap.<br />

„Sobald ich etwas Neues in Erfahrung gebracht habe,<br />

werde ich mich bei euch melden. Außerdem muss ich<br />

noch einiges hier im Museum erledigen. Also kommt gut<br />

nach Hause und grüßt eure Eltern <strong>von</strong> mir.“<br />

Wir gingen zur Haltestelle. Der Bus kam kurze Zeit später,<br />

aber diesmal mit einem Fahrer, den wir nicht kannten. Wir<br />

fuhren schweigend zurück nach Hollum.<br />

„Ich finde, wir gehen erst mal nach Hause und dann treffen<br />

wir uns gegen drei Uhr am Strand“, schlug ich vor, als wir<br />

ausstiegen.<br />

„Gute Idee“, sagte Katja, „das Wetter scheint ja ganz<br />

schön zu werden. Also bis heute Nachmittag.“<br />

Als Meike und ich die Hofeinfahrt zu unserer Ferienwohnung<br />

betraten, saßen Mama und Papa auf der Sonnenterrasse.<br />

„Hallo, ihr zwei!“, rief Mama, „da seid ihr ja wieder. Wie<br />

war die Museumsnacht?“<br />

73


„Och, eigentlich sehr schön“, antwortete ich etwas ausweichend,<br />

„wir sind noch lange mit Jaap im Oerd gewesen. Er<br />

hat uns den großen Ententeich gezeigt.“<br />

„Ach, ich dachte, ihr wolltet die Nacht im Museum verbringen.<br />

Wenn Jaap mit euch unterwegs war, wer hat denn<br />

die anderen Besucher betreut?“, fragte Mama erstaunt. Ich<br />

schluckte, aber zum Glück kam Meike mir zu Hilfe und<br />

quatschte wie immer fröhlich drauf los.<br />

„Heute Nachmittag wollen wir an den Strand, Mama, wir<br />

haben uns schon verabredet. Das Wetter ist ja auch toll.<br />

Bei euch auf der Terrasse ist es mir jetzt schon viel zu<br />

heiß.“<br />

„Nun mal langsam!“<br />

Papa legte seine Zeitung zur Seite und sah Meike und<br />

mich an.<br />

„Ihr seid gerade erst wieder zu Hause und plant sofort den<br />

nächsten Ausflug? Vielleicht denkt ihr auch mal daran,<br />

dass ihr hier mit euren Eltern Urlaub macht?“<br />

Normalerweise hätte mich Papas Frage sofort aufgeregt,<br />

aber um ihn und Mama <strong>von</strong> der Nacht im Oerd abzulenken,<br />

blieb ich ruhig.<br />

„Ja Papa, ich weiß, aber wir haben uns doch verabredet,<br />

und die anderen gehen auch.“<br />

Ich stand auf, setzte mich auf seinen Schoß und legte<br />

meine Arme um seinen Hals. Außerdem hatte Meike ihren<br />

‚Ach-du-lieber-Papa-Blick’ aufgesetzt, bei dem sie ihren<br />

Kopf leicht schräg legte. Dagegen war er machtlos.<br />

„Na ja, wenn ihr meint, aber ich habe eine Idee“, sagte<br />

Papa, „wir kommen einfach mit, vielleicht können wir ja ein<br />

bisschen Völkerball oder Fußball spielen.“<br />

Mama nickte. Wir hatten Glück, die Nacht im Oerd sprachen<br />

sie nicht mehr an.<br />

Kurz vor drei fuhren wir los. An den Fahrrädern am<br />

Strandübergang sahen wir, dass die anderen schon da<br />

waren. Meike rannte voraus. <strong>Die</strong> Sonne hatte den Strand<br />

inzwischen so aufgeheizt, dass mir beim Gehen im Sand<br />

74


die Fußsohlen brannten. <strong>Die</strong> Jungs, Meike und Lara tobten<br />

schon im Wasser. Katja und Paula saßen auf ihren<br />

Handtüchern und unterhielten sich.<br />

„Wollt ihr nicht schwimmen?“, fragte ich die beiden, während<br />

ich mich umzog.<br />

„Doch, na klar“, antwortete Paula, „wir haben nur auf dich<br />

gewartet.“<br />

Dann sprang sie auf und wir rannten um die Wette zum<br />

Wasser. Katja sauste hinter uns her.<br />

Kreischend stürzten wir uns in die kühle Nordsee. Als ich<br />

wieder auftauchte, traute ich meinen Augen nicht. Neben<br />

mir erhob sich der prustende Kopf <strong>von</strong> Papa aus der<br />

Gischt.<br />

„Damit hast du wohl nicht gerechnet?!“, rief er.<br />

„Nein“, antwortete ich, „das ist die Sensation des Tages,<br />

es muss heiß sein, richtig heiß.“<br />

Meike, die Papa inzwischen auch entdeckt hatte, hing sich<br />

<strong>von</strong> hinten an seinen Hals.<br />

„Was machst du denn hier, das gibt’s doch gar nicht!“<br />

Er drehte sich um, ergriff sie und warf sie in die nächste<br />

große Welle. Sie kreischte vor Begeisterung. Ich versuchte<br />

schnell wegzutauchen. Aber er hatte auch mich schon gepackt,<br />

stemmte mich hoch und warf mich mit Schwung<br />

wieder ins Wasser. Eine ganze Weile tobten wir so herum,<br />

bis uns kalt wurde und wir zurück zu unserer Decke liefen.<br />

„Wir müssen etwas tun, um uns wieder aufzuwärmen!“,<br />

rief Pit. Er hatte sich den Ball geschnappt und jonglierte<br />

ihn mit seinem Zauberfuß. <strong>Die</strong> Väter sahen ihm zu.<br />

„Komm Papa!“, schrie Meike, „du wolltest doch heute mit<br />

uns Fußball spielen!“<br />

„Ja, genau! Männer, ihr spielt auch mit, wir zeigen den<br />

Kids, was eine Harke ist! Hey, Frieda, Marlies, Heike, wir<br />

brauchen euch, wir spielen zusammen gegen die Kinder<br />

und ich spendiere heute Abend auf dem Rückweg eine<br />

Runde Eis für das Siegerteam!“<br />

75


Papas Begeisterung kannte keine Grenzen. Pit und Olli<br />

markierten schnell mit ein paar Handtüchern die Tore und<br />

dann ging’s los. Alle waren gut drauf. Genau wegen dieser<br />

Stimmung fuhr ich so gerne nach <strong>Ameland</strong>. Papa sagt<br />

zwar jedes Jahr, dies werde wohl der letzte gemeinsame<br />

Urlaub sein, aber recht hatte er mit dieser düsteren Prophezeiung<br />

noch nie. Ich glaube fest daran, dass die Münstermänner<br />

und Franzens auch im nächsten Jahr wieder<br />

mitfahren werden.<br />

<strong>Die</strong> Erwachsenen hatten Anstoß. Papa führte den Ball.<br />

„Jetzt werden wir euch mal zeigen, wie man Fußball<br />

spielt!“, rief er übermütig.<br />

„Los, Rainer, geh in die Spitze, du altes Kampfschwein!“<br />

Rainer, der ja nicht gerade zu den schlanken Vätern gehörte,<br />

schnaufte tief durch und trabte gemächlich nach<br />

vorne. Papa spielte ihm flach den Ball zu, aber Rainer<br />

schaffte es nicht, ihn zu stoppen. Er stolperte über seine<br />

eigenen Beine und fiel mit einem verzweifelten Aufschrei<br />

wie ein gefällter Baum zu Boden. Das sah aus wie eine Live-Sendung<br />

<strong>von</strong> Pleiten, Pech und Pannen. Wir bekamen<br />

fast Bauchschmerzen vor Lachen. Pit beruhigte sich am<br />

schnellsten, nahm Rainer den Ball ab und dribbelte auf<br />

das Tor der Erwachsenen zu. Olli lief auf der anderen Seite<br />

mit, Katja und ich starteten in der Mitte durch.<br />

„Los, Pit, ich stehe frei, her mit dem Ball!“, brüllte Olli und<br />

fuchtelte wild mit den Armen. Aber Uli und Heike kamen<br />

irgendwie dazwischen und fingen Pits Flanke ab. Heike<br />

hatte ihre eigene Vorstellung vom Fußballspielen und hielt<br />

den Ball mit der Hand fest.<br />

„Stopp, dass war Hand, das ist unfair, Heike!“, schrie Olli.<br />

„Genau, Mama, das geht nicht!“<br />

Auch Katja und Hanjo protestierten.<br />

„Quatsch, stellt euch nicht so an, nur weil das Spiel Fußball<br />

heißt, soll ich meine Hand nicht benutzen dürfen?“,<br />

grinste sie. Rainer war inzwischen wieder aufgestanden<br />

und stand in der Nähe unseres Tores.<br />

76


„Gib ‚mich’ die Kirsche!“, rief er, „los Heike, ich bin bereit<br />

für das Tor des Jahrhunderts!“<br />

Aber damit hatten Meike, Lara und ich gerechnet, wir fingen<br />

ihren Schuss ab, bevor er Rainer erreichte. Lara<br />

stoppte den Ball und passte ihn zu mir. Meike startete<br />

schon in Richtung des gegnerischen Tores. Als ich sie anspielen<br />

wollte, sah ich aus dem Augenwinkel, dass Rainer<br />

seine gewaltigen Körpermassen auf Höchstgeschwindigkeit<br />

gebracht hatte, um mir den Ball abzujagen. Ich wartete<br />

cool ab, schlug, kurz bevor er mich erreichte, einen<br />

kleinen Haken und ließ ihn ins Leere laufen.<br />

Marlies gelang es aber nicht so schnell ihm auszuweichen.<br />

Verzweifelt suchte Rainer nach der Notbremse.<br />

„Rainer, verdammt, bleib stehen!“, schrie sie ihn an, aber<br />

er prallte auf sie wie ein Güterwaggon auf einen Prellbock<br />

am Rangierbahnhof. Mit lautem Aufschrei fielen beide zu<br />

Boden. <strong>Die</strong>se Gelegenheit nutzten wir, und Meike erzielte<br />

durch einen eleganten Schlenzer, an Mama vorbei, unser<br />

Führungstor.<br />

Wir gewannen sechs zu zwei und hätten sicher noch höher<br />

gesiegt, aber die Erwachsenen konnten nicht mehr.<br />

Der Nachmittag verging wie im Flug. Immer wieder stürzten<br />

wir uns ins Wasser, wärmten uns durch Völkerball<br />

oder andere Spiele am Strand auf und quatschten zusammen.<br />

Es war schon kurz vor sieben, als Papa sagte:<br />

„Ich finde, wir gehen jetzt nach Hause, es wird Zeit für ein<br />

vernünftiges Abendessen. Am Leuchtturm kaufe ich euch<br />

noch das versprochene Eis.“<br />

Keiner widersprach, denn wir hatten uns alle ziemlich ausgetobt.<br />

Mama, Heike und Marlies übernahmen das Aufräumkommando,<br />

während Papa, Rainer und Uli tatenlos<br />

daneben standen und mal wieder eifrig diskutierten. Ich<br />

stieß Katja an.<br />

„Gleich werden unsere Väter Stress bekommen.“<br />

„Ja, hoffentlich“, flüsterte sie, „und die Jungens bekommen<br />

gleich Stress mit mir.“<br />

77


Pit, Olli und Hanjo hatten sich schon angezogen und spielten<br />

wieder mit dem Ball, während wir Mädchen unseren<br />

Müttern beim Einräumen halfen. Hier stimmte etwas nicht.<br />

„Ihr glaubt doch wohl nicht im Ernst, wir packen alles zusammen,<br />

und ihr könnt lässig am Strand tiefsinnige Gespräche<br />

führen!“, fuhr Marlies unsere Herren Väter an. Sie<br />

unterbrachen ihre Unterhaltung. Papa machte sich sofort<br />

an die Arbeit, Uli brummelte etwas, half dann aber auch<br />

mit. Rainer ließ sich jedoch nichts anmerken und ging zu<br />

den Jungs hinüber.<br />

Auch Katja platzte der Kragen.<br />

„Los Hanjo, Pit, Olli, ihr seid genauso fürs Aufräumen zuständig<br />

wie wir!“<br />

„Meine Güte, jetzt stell dich nicht so an“, knurrte Hanjo.<br />

Rainer setzte sich in den Sand und wartete, bis wir fertig<br />

waren. Selbst die bösen Blicke <strong>von</strong> Marlies konnten ihn<br />

nicht aus der Ruhe bringen.<br />

„Ich schätze, es gibt heute Abend noch eine Diskussion<br />

zwischen Mama und Papa“, flüsterte Lara Paula zu.<br />

„Ja“, nickte sie, „Mama hat aber Recht, denn Olli fängt ja<br />

auch schon so an. Immer wenn es was zu tun gibt, verpisst<br />

er sich.“<br />

Als alles verpackt war, gingen wir zu unseren Fahrrädern.<br />

„Ich bin richtig kaputt“, stöhnte Katja. <strong>Die</strong> letzte Nacht und<br />

der Nachmittag haben mir echt den Rest gegeben.“<br />

„Und ich habe einen Riesenhunger!“, entgegnete Paula.<br />

„Ich schätze, Papa wird heute Abend kochen, um Mama<br />

wieder zu besänftigen. Ich muss ihm wahrscheinlich helfen,<br />

damit wir noch vor Mitternacht was auf den Tisch bekommen.“<br />

Ich lachte.<br />

„Aber gleich gibt’s ja schon eine kleine Vorspeise, die<br />

Siegprämie für unser Fußballspiel.“<br />

„Stimmt“, antwortete Paula, „das könnte mir helfen die Zeit<br />

bis zum Abendessen zu überstehen.“<br />

78


Am Dünenübergang bestiegen wir unsere Fahrräder. Ich<br />

fuhr am Ende der Gruppe, Papa vorne an der Spitze.<br />

„Wir sind ganz schön viele“, dachte ich, als ich alle vor mir<br />

herfahren sah. Mit einem lang gezogenen „Haaaaalt!“ und<br />

erhobenem Arm ließ Papa die Gruppe am Leuchtturmkiosk<br />

stoppen. Ich musste grinsen, denn das sah aus wie<br />

in einem Western, den ich mal zusammen mit ihm gesehen<br />

habe. Da ritt der Held einer Gruppe <strong>von</strong> Cowboys<br />

voran und brachte sie genauso zum Stehen.<br />

Wir bekamen unser Eis, dann bogen die Münstermänner<br />

an ihrer Straße ab und wir fuhren mit den Franzens noch<br />

durch Hollum. Plötzlich durchfuhr mich ein riesiger<br />

Schreck. Vor der Pension Wijman standen Walross und<br />

Nackenlocke mit gepackten Koffern und diskutierten aufgeregt<br />

mit einem Mann, den wir nicht kannten. Er war<br />

ziemlich groß, hatte einen blonden Vollbart, eine Knollennase<br />

und trug die typischen Ameländer Holzschuhe.<br />

„Guck mal, wer da steht!“, zischte ich Katja zu. Sie wurde<br />

blass. Ich ahnte, was sie dachte.<br />

„Du brauchst keine Angst zu haben, sie können dich nicht<br />

erkennen. Als Rixt sahst du völlig anders aus!“, versuchte<br />

ich sie zu beruhigen. Katja wollte erst nicht weiterfahren,<br />

aber Walross und Nackentolle beachteten uns gar nicht.<br />

Auch Meike hatte sie gesehen.<br />

„Man, bin ich froh, dass sie dich nicht erkannt haben, Katja.<br />

<strong>Die</strong> haben überhaupt nichts geschnallt, ich glaube, die<br />

fahren ab. Aber wer war der andere Mann? Der sah ja aus<br />

wie ein typischer Ameländer!“<br />

„Meike, jetzt halt mal die Luft an!“, sagte ich, „keine Ahnung<br />

wer das war. Wir fragen Jaap, vielleicht kennt der<br />

ihn.“<br />

Unsere Eltern waren vorgefahren und warteten schon bei<br />

Franzens auf uns.<br />

„Kinder, es wird Zeit, ich habe einen Bärenhunger und ihr<br />

sicher auch, oder?“, rief Papa.<br />

79


„Eigentlich noch nicht“, antwortete ich, „wir würden gerne<br />

noch ein bisschen bei Katja bleiben. Wir kommen in einer<br />

halben Stunde nach, ja?“<br />

Mama zog die Augenbrauen hoch.<br />

„Ihr solltet eigentlich beim Kochen helfen“, meinte sie.<br />

Meike sah Papa an, ihr ‚Ach-du-lieber-Papa-Blick“ funktionierte.<br />

„Na gut“, sagte er, „kommt in einer Stunde nach, dann ist<br />

das Essen fertig. Aber ihr müsst anschließend aufräumen.“<br />

„Alles klar, Paps!“, zwitscherte Meike. Wir setzten uns mit<br />

Katja in den Garten. Um diese Zeit war er am schönsten.<br />

Es war windstill, die Abendsonne tauchte alles in ein goldgelbes<br />

Licht. <strong>Die</strong> großen Hortensienbüsche und die langen<br />

roten und gelben Stockrosen leuchteten jetzt besonders<br />

kräftig.<br />

„Wir rufen Jaap an!“, meinte Katja.<br />

„Und wie? Hier im Haus ist doch kein Telefon und wir haben<br />

kein Handy“, sagte ich.<br />

„Wir gehen zur Telefonzelle an der Ecke!“, bestimmte sie.<br />

Katja hatte noch etwas Kleingeld. Jaaps Telefonnummer<br />

stand auf einem kleinen Zettel, den ich glücklicherweise in<br />

meiner Hosentasche wieder fand.<br />

Jaap meldete sich sofort.<br />

„Hallo Jaap, hier ist Katja, wir müssen dir unbedingt etwas<br />

erzählen!“<br />

Sie beschrieb ihm den Mann, der mit den beiden Ganoven<br />

gesprochen hatte. Am anderen Ende der Leitung entstand<br />

eine Pause.<br />

„Was ist? Was sagt er?“, fragte Meike erwartungsvoll. Katja<br />

zuckte mit den Schultern, hielt die Hörmuschel zu und<br />

flüsterte: „Nichts. Jaap, bist du noch da?“<br />

„Eh, ja, entschuldige Katja, ich war so überrascht. Bist du<br />

sicher, dass dieser Mann dabei stand? Hatte er wirklich<br />

eine Knollennase?“<br />

80


Jetzt sprach Jaap so laut und aufgeregt, dass wir jedes<br />

Wort verstehen konnten.<br />

„Ja, wenn ich’s dir doch sage!“, entgegnete Katja.<br />

„Das begreife ich nicht“, hörten wir ihn antworten, „das<br />

kann nur Wim Dijkstra sein, ihm gehört die Galionsfigur.<br />

Aber wieso kennt der Nackenlocke und Walross?“<br />

„Ich dachte, dass könntest du uns erklären“, meinte Katja.<br />

„Du hast doch gesagt, die beiden Ganoven standen mit<br />

Koffern vor der Pension. Wie lange ist das jetzt her?“<br />

Katja schaute auf ihre Uhr.<br />

„Ich schätze etwas mehr als 30 Minuten.“<br />

„Dann wollen sie wahrscheinlich die Fähre um halb neun<br />

nehmen. Ich fahre nach Nes“, hörten wir Jaap sagen.<br />

„Ich will mit eigenen Augen sehen, ob Mijnherr Dijkstra tatsächlich<br />

etwas mit Nackenlocke und Walross zu tun hat.“<br />

„Aber du weißt ja gar nicht, ob er die beiden zur Fähre<br />

bringen will“, zweifelte Katja.<br />

„Wahrscheinlich schon“, entgegnete Jaap, „denn der Bus<br />

ist weg und da sie kein Auto haben, kämen sie ja sonst zu<br />

spät. Jedenfalls muss ich es auf einen Versuch ankommen<br />

lassen.“<br />

„Er soll uns danach sofort wieder anrufen!“, wisperte Meike<br />

jetzt, „am besten auf Paulas Handy.“<br />

Katja gab es weiter.<br />

„Sei vorsichtig, lass dich nicht <strong>von</strong> ihnen erwischen!“, fügte<br />

sie hinzu.<br />

„Mach’ dir keine Sorgen“, antwortete Jaap, „bis später, ich<br />

melde mich dann bei Paula!“<br />

„Bis später.“<br />

Katja legte auf.<br />

„<strong>Die</strong> Sache wird ja immer verzwickter“, murmelte ich.<br />

„Also steckt der Besitzer der Figur mit den Gaunern unter<br />

einer Decke?“<br />

„Sieht so aus“, nickte Katja.<br />

81


„Aber wir müssen jetzt erst mal abwarten. Nach dem<br />

Abendessen treffen wir uns noch mal, vielleicht hat sich<br />

Jaap dann schon gemeldet.“<br />

Meikes Magen knurrte laut.<br />

„Los, wir müssen nach Hause, Mama und Papa warten<br />

und ich hab’ jetzt einen tierischen Hunger“, sagte sie.<br />

„Das ist ja auch nicht zu überhören“, lachte Katja, „bis<br />

nachher, am besten wieder bei uns.“<br />

„Willkommen, meine Damen“, sagte Papa ironisch, als wir<br />

nach Hause kamen.<br />

„Schön, dass Sie sich auch mal Zeit für uns nehmen.“<br />

„Tut mir leid“, entgegnete ich schuldbewusst, „aber Katja<br />

hatte so viel zu erzählen.“<br />

„Wir wollen uns nachher noch mal treffen“, fügte Meike<br />

schnell hinzu.“<br />

„Ihr seid ja heute sehr beschäftigt“, meinte Mama, „aber<br />

wir können zusammen zu den Franzens gehen, denn wir<br />

haben uns auch noch verabredet.“<br />

Papa stand auf und holte das Essen aus der Küche. Es<br />

gab Tortellini, Meikes Lieblingsessen. Mama erzählte,<br />

dass sie heute Abend mit Franzens und den Münstermännern<br />

nach Ballum fahren wollten. Uns kam das sehr gelegen,<br />

denn dann konnten wir ungestört unseren Fall besprechen.<br />

Meike und ich mussten nach dem Essen den<br />

Tisch abräumen und spülen. Aber diesmal maulten wir<br />

nicht herum, sondern erledigten alles so schnell wir konnten.<br />

Nur Meike ließ – wie immer – etwas fallen, diesmal<br />

ein Glas. Da das ziemlich regelmäßig passierte, gab sie<br />

Papa immer schon am Anfang des Monats einen Teil ihres<br />

Taschengeldes als Schadenersatz zurück. Das war ihr<br />

komischerweise lieber, als dann zu bezahlen, wenn sie<br />

etwas kaputt gemacht hatte.<br />

„Was habt ihr denn heute Abend vor, Kinder?“, fragte Heike,<br />

als wir alle wieder bei Franzens saßen.<br />

„Mal sehen, irgendwas wird uns schon einfallen“, antwortete<br />

Katja ausweichend.<br />

82


„Na gut“, meinte Marlies, die schon halb auf ihrem Fahrrad<br />

saß, „dann wünsche ich euch viel Spaß, wir kommen<br />

wahrscheinlich spät zurück.“<br />

„Aber du fährst nicht alleine nach Hause!“, fügte sie mit<br />

Blick auf Olli hinzu.<br />

„Natürlich nicht, Mama“, säuselte er mit treuem Augenaufschlag.<br />

Ich fahre auf jeden Fall zusammen mit Lara und<br />

Paula.<br />

„Dann ist ja alles klar!“, donnerte Rainer mit seiner lauten<br />

Stimme, „auf geht’s Freunde!“<br />

Unsere Eltern fuhren los. Endlich, denn wir waren natürlich<br />

gespannt, ob Jaap sich schon bei Paula gemeldet hatte.<br />

Und tatsächlich. Sie hatte Kontakt zu ihm.<br />

„Er hat vor einer halben Stunde angerufen“, begann sie.<br />

„Aber was hat er gesagt?“, fragte ich ungeduldig.<br />

„Er hat die drei an der Fähre beobachtet, der Mann ist der<br />

Besitzer der Galionsfigur, er heißt Wim Dijkstra“, antwortete<br />

Paula.<br />

„Das wissen wir doch schon. Jaap hat uns gegenüber den<br />

Namen auch erwähnt“, schaltete sich Katja aufgeregt ein.<br />

„Aber was hat er gesehen? Warum trifft sich Dijkstra mit<br />

den beiden Typen?“<br />

„Jaap ist total sauer, er glaubt, Dijkstra hat die beiden beauftragt,<br />

seine eigene Figur aus dem Museum zu klauen.“<br />

„Warum denn, wenn ihm die Figur sowieso gehört?“, wunderte<br />

sich Meike.<br />

„Dijkstra steckt in Geldschwierigkeiten“, erklärte Paula mit<br />

ernstem Gesicht, „Jaap nimmt an, dass Nackentolle und<br />

Walross die Figur gestohlen haben, weil Jaap sie für die<br />

Dauer der Ausstellung versichern lassen musste.“<br />

„Für eine ziemlich hohe Summe, stimmt’s?“, wollte Pit wissen.<br />

Paula nickte.<br />

„Genau, für 10.000 Euro, und die will Dijkstra wahrscheinlich<br />

jetzt abkassieren.“<br />

„Dann stellt sich aber die Frage, warum Walross und Nackenlocke<br />

die Figur in den Dünen in Hollum gesucht<br />

83


haben“, überlegte Hanjo, „eigentlich hätten sie doch wissen<br />

müssen, wo sie ist.“<br />

Er machte eine kleine Pause und kratzte sich am Kopf. Ein<br />

sicheres Zeichen, dass er nachdachte.<br />

„Wenn die Ganoven die Figur in Dijkstras Auftrag aus dem<br />

Museum geklaut haben, dann sollten sie sie wahrscheinlich<br />

für ihn auch in den Dünen verstecken. Und da sie jetzt<br />

nicht mehr da ist, will er die Ganoven entweder selbst reinlegen<br />

oder es ist noch jemand im Spiel, der Nackenlocke,<br />

Walross und Dijkstra zusammen über den Tisch ziehen<br />

will.“<br />

„Wenn da wirklich noch ein Unbekannter mitmischt, wie<br />

sollen wir den denn finden?“, fragte Pit. Selbst Hanjo zuckte<br />

mit den Schultern.<br />

„Keine Ahnung, im Moment fällt mir dazu nichts ein.“<br />

„Mir schon“, grinste Katja, „wie wär’s, wenn du jetzt mal ins<br />

Haus gehst und für uns alle was zu trinken holst. Bring<br />

auch gleich die Packung mit den Salzstangen mit, die liegt<br />

in der Küche im Schrank!“<br />

„Na gut, aber nur wenn Pit mit geht“, antwortete Hanjo<br />

seufzend, „sonst muss ich ja zwei Mal laufen.“<br />

Auf einmal hörten wir ein Quietschen, die Gartenpforte<br />

wurde geöffnet. Ob unsere Eltern etwas vergessen hatten?<br />

Aber es war Jaap.<br />

„Hallo Kinderen“, begrüßte er uns in seinem warmen, gemütlichen<br />

Deutsch mit holländischem Akzent. Gleichzeitig<br />

kamen Hanjo und Pit mit den Getränken und Salzstangen<br />

aus der Küche zurück.<br />

„Wir sprechen gerade über das, was du Paula schon am<br />

Telefon erzählt hast. Aber woher weißt du das alles?<br />

Konntest du verstehen, was die drei am Fährhafen gesagt<br />

haben?“, fragte Katja.<br />

„Zuerst nicht“, antwortete Jaap, „ich sah nur, wie sie sich<br />

aufgeregt unterhielten und dabei heftig gestikulierten. Vor<br />

allem Walross schien sehr wütend zu sein, denn er fasste<br />

Mijnherr Dijkstra immer wieder an den Kragen. Als andere<br />

84


auf die drei aufmerksam wurden, verzogen sie sich auf<br />

den Kai. Und das war mein Glück, denn sie standen direkt<br />

am Fenster des kleinen Lagerschuppens. Ich schlich mich<br />

auf der anderen Seite hinein. Was ich dann hörte, hat<br />

mich ziemlich überrascht.“<br />

Olli hielt die Spannung nicht mehr aus.<br />

„Komm Jaap, erzähl schon, ich platze gleich!“, stieß er<br />

hervor.<br />

„<strong>Die</strong> Ganoven wollten Geld <strong>von</strong> Dijkstra“, fuhr Jaap fort,<br />

„weil sie seinen Auftrag ja erledigt hatten. Walross meinte,<br />

das Verschwinden der Figur sei nicht ihre Schuld. Es sei<br />

abgemacht gewesen sie in den Dünen zu verstecken.“<br />

„Aber haben sie denn kein Geld bekommen, nachdem sie<br />

in deinem Museum eingebrochen waren?“, erkundigte ich<br />

mich.<br />

„Doch, aber wohl nur einen kleinen Vorschuss. Dijkstra<br />

hatte ja die Versicherungssumme noch nicht.“<br />

„Und darauf haben sie sich eingelassen?“, wunderte sich<br />

Hanjo.<br />

„Ja, besonders hell im Kopf sind die beiden wirklich nicht.<br />

Der Dicke meinte, jetzt bräuchten sie den Rest des Geldes<br />

und sogar noch mehr. Sie seien schließlich extra zurückgekommen,<br />

um Dijkstra zu helfen. Walross glaubt tatsächlich<br />

immer noch, ich hätte die Galionsfigur“, sagte Jaap<br />

kopfschüttelnd.<br />

„Und was hat Dijkstra dazu gesagt?“, wollte Katja wissen.<br />

„Eigentlich nichts, er hat sie auf später vertröstet. Walross<br />

und Nackenlocke hatten aber solche Angst, dass sie auf<br />

keinen Fall mehr auf der Insel bleiben wollten.“<br />

Wir verschluckten uns fast an den Salzstangen, so sehr<br />

mussten wir lachen.<br />

„Oh, die Armen, jetzt müssen sie ganz schnell zu ihrer<br />

Mama nach Hause fahren, die tun mir ja so leid!“, prustete<br />

Lara. Hanjo klopfte ihr kräftig auf den Rücken, weil sie <strong>von</strong><br />

einem Hustenanfall geschüttelt wurde.<br />

„Und Dijkstra?“, fragte er Jaap.<br />

85


„Der murmelte so etwas wie ‚Reisende soll man nicht aufhalten’<br />

und ging einfach weg.“<br />

Was haben Nackenlocke und Walross denn jetzt gemacht“,<br />

wollte ich noch wissen, „sind sie rüber zum Festland?“<br />

„Ja. Als die letzten Passagiere auf die Fähre gingen, nahmen<br />

sie ihre Koffer und rannten los. Sie sind auf und da<strong>von</strong>.“<br />

86


<strong>Die</strong> Jagd nach der Figur geht weiter<br />

„Also müssen wir uns jetzt an Dijkstra halten“, entfuhr es<br />

Hanjo mit einem Seufzer.<br />

„Du hast recht“, antwortete Jaap, „nur er weiß, wo die Figur<br />

ist. Aber die Frage ist, wie wir ihm dieses Geheimnis<br />

entlocken können.“<br />

Wir sahen uns ratlos an. Ob Hanjo eine Idee hatte? Er begann<br />

behutsam die bewusste Stelle an seinem Kopf zu<br />

kratzen, ein sicheres Zeichen, dass es hinter seiner Stirn<br />

zu arbeiten begann.<br />

„Wie wäre es“, sagte er gedehnt, „wenn jemand <strong>von</strong> uns<br />

versucht zu Dijkstra Kontakt aufzunehmen?“<br />

Jaap sah ihn ungläubig an. Auch wir wunderten uns.<br />

„Das ist doch sinnlos, wie sollen wir aus dem was raus<br />

kriegen?“, fragte Katja zweifelnd.<br />

„Na ja“, Hanjo kratzte sich schon wieder am Kopf.<br />

„Meine Idee ist, durch einen geplanten Zufall mit ihm ins<br />

Gespräch zu kommen.“<br />

„Durch einen geplanten Zufall? Was soll denn das sein?“,<br />

fuhr ich Hanjo ungeduldig an.<br />

„Wir könnten doch als Ferienkinder einfach etwas Pech<br />

haben“, grinste er, „aber um das genauer zu erklären,<br />

müsste ich <strong>von</strong> dir wissen, Jaap, wo Dijkstra wohnt und<br />

was für ein Typ er ist.“<br />

„Was soll ich da erzählen? Wie du weißt, stammt er aus<br />

einer Ameländer Kapitänsfamilie. Einer seiner Vorfahren<br />

gehörte zu den Walfängern, die damals im Packeis am<br />

Nordpol umgekommen sind. Danach war es ja vorbei mit<br />

dem Reichtum auf <strong>Ameland</strong>. Seine Familie, übrigens auch<br />

viele andere, musste sich eine neue Existenz aufbauen.<br />

<strong>Die</strong> Dijkstras verdienten ihr Geld seit der Zeit mit dem<br />

Handel. Wims Vater hat es in den letzten Jahrzehnten<br />

87


geschafft in Hollum einen gut gehenden Laden für Andenken,<br />

Spielsachen und Haushaltswaren aufzubauen. Eben<br />

für alles, was Ameländer und Touristen so gebrauchen<br />

können. Wim hat das Geschäft übernommen. Aber in letzter<br />

Zeit wurde die Konkurrenz immer größer und sein Laden<br />

lief nicht mehr so gut. Kürzlich hat er noch mal groß<br />

umgebaut und neu eröffnet. Vielleicht ist er deshalb so<br />

knapp bei Kasse.“<br />

„Klingt logisch“, meinte Hanjo, „aber was ist er für ein<br />

Mensch? Du kennst ihn ja schon länger.“<br />

„Eigentlich ist er ruhig und zurückhaltend. Er spricht fließend<br />

das Ameländisch, eine Art Spezialdialekt, den es nur<br />

hier gibt. <strong>Die</strong> Insel verlässt er selten. Und wie fast alle Bewohner<br />

kennt er unglaublich viele Sagen und Erzählungen.“<br />

„Wo wohnt er denn?“, wollte Hanjo noch wissen.<br />

„In einem sehr schön renovierten Kapitänshaus auf der<br />

Oosterlaan“, antwortete Jaap.<br />

„Also gut, dann erkläre ich mal, was ich vorhabe“, fuhr<br />

Hanjo fort.<br />

„Es geht darum mit Dijkstra in Kontakt zu treten, ohne<br />

dass er merkt, was wir eigentlich wollen. Dazu nutzen wir<br />

Pits und Ollis Fußballtalent. Ihr müsstet nämlich auf der<br />

Oosterlaan ein bisschen kicken. Dabei fliegt bedauerlicherweise<br />

euer Ball durch sein Fenster.“<br />

Hanjo schaute Pit und Olli erwartungsvoll an.<br />

„Wie stellst du dir das vor?“, fragte Pit.<br />

„Ganz einfach“, antwortete Hanjo mit einem Grinsen. Du<br />

tust dasselbe wie zu Hause und verwechselst einfach<br />

Fensterscheibe und Tor.“<br />

„<strong>Die</strong> Idee klingt nicht schlecht“, meinte Pit. „Machst du mit,<br />

Olli?“<br />

„Na klar!“, rief der begeistert und sprang auf. Mit einem<br />

schnellen Blick auf Lara vergewisserte er sich, diesmal mit<br />

seiner Reaktion nicht übertrieben zu haben. Sie ließ ihr<br />

88


erühmtes ‚Halts Maul, Olli!’ auch nicht hören. Im Gegenteil,<br />

sie schien genau so begeistert zu sein wie er.<br />

„Super Idee“, strahlte sie, „ich bin auch dabei, mit einem<br />

Ball kann ich ja ganz gut umgehen.“<br />

Jaap war etwas besorgt. „Und was sagen eure Eltern dazu?<br />

Wegen des Schadens, der dann entsteht, werden sie<br />

doch in die ganze Sache hineingezogen.“<br />

„Vielleicht wird es ja auch Zeit“, mischte ich mich jetzt ein.<br />

„Heute Mittag war es schon schwierig, sich nicht zu verplappern.<br />

Mama fand es nämlich merkwürdig, dass wir<br />

den ganzen Abend mit dir im Oerd, statt im Museum verbracht<br />

haben.“<br />

„Genau, gab Katja zu bedenken, „es könnte <strong>von</strong> Vorteil<br />

sein, wenn unsere Eltern dabei sind, aber aus einem ganz<br />

anderen Grund. Ein Gespräch über den Schaden zwischen<br />

Dijkstra und, zum Beispiel Rainer, wäre nämlich eine<br />

gute Gelegenheit sich unauffällig in seinem Haus umzusehen.“<br />

„Einverstanden“, meinte Jaap, „wenn eure Eltern Bescheid<br />

wissen, könnte ich sie endlich auch mal ein bisschen näher<br />

kennenlernen.“<br />

„Okay, was glaubst du, wann sie bei Dijkstra auftauchen<br />

können?“, fragte Hanjo.<br />

„Wahrscheinlich ist es am besten, wenn ihr zwischen<br />

sechs und sieben abends zu ihm geht, dann hat er seinen<br />

Laden geschlossen und ist zu Hause. Er wohnt allein, weil<br />

seine Frau mit den Kindern im letzten Jahr <strong>von</strong> <strong>Ameland</strong><br />

nach Leeuwarden gezogen ist. Sie hat sich <strong>von</strong> ihm getrennt.<br />

Ich glaube, sie hatten damals schon Geldsorgen,<br />

denn Wim hat um diese Zeit angefangen mehr zu trinken.“<br />

Jaap schien so nach und nach ein Licht aufzugehen.<br />

„Dann trefft euch morgen Abend in der Osterlaan“, sagte<br />

Hanjo zu Pit, Olli und Lara.<br />

„Gut, dann fahre ich jetzt nach Hause. Ich versuche noch<br />

mehr über Dijkstra herauszufinden. Ich hoffe, mein Freund<br />

Gerrit kann mir wieder helfen.“<br />

89


Jaap erhob sich.<br />

„Wer ist denn das?“, wollte Meike noch wissen.<br />

„Gerrit de Jong ist der freundlichste Polizist <strong>Ameland</strong>s, ich<br />

kenne ihn schon seit dreißig Jahren, wir sind zusammen<br />

auf die Schule gegangen. Er hat mir auch geraten den<br />

<strong>Die</strong>bstahl erst mal geheim zu halten.“<br />

Dann wandte er sich an Paula.<br />

„Wir telefonieren morgen, lass dein Handy eingeschaltet.“<br />

Sie nickte. Jaap ging nach vorne zur Straße und fuhr mit<br />

seinem Auto zurück nach Buren.<br />

Inzwischen war es stockdunkel.<br />

„Meike und ich gehen auch, sagte ich, „wir sind ziemlich<br />

müde.“<br />

Meine Schwester schaute mich böse an.<br />

„Wie kommst du darauf? Wann ich müde bin, bestimme<br />

ich immer noch selbst“, fuhr sie mich an. Aber Katja kam<br />

mir zu Hilfe.<br />

„Ich bin auch müde. Wir sollten wirklich schlafen gehen,<br />

morgen wird’s ja vielleicht wieder richtig spannend.“<br />

Auch die Münstermänner fuhren nach Hause, so dass<br />

Meike nachgab. Als wir im Bett lagen, wollte ich mit ihr<br />

noch quatschen. Aber sie antwortete schon nicht mehr.<br />

Kurz danach fielen auch mir die Augen zu.<br />

Am nächsten Morgen weckte Papa uns.<br />

„Hallo, meine Damen, falls ihr mit Mama und mir auf der<br />

Terrasse frühstücken wollt, müsst ihr aufstehen oder besser<br />

gesagt, dürft ihr aufstehen.“<br />

„Wie spät ist es denn?“, gähnte ich.<br />

„Schon zehn, die Sonne scheint, es sind zweiundzwanzig<br />

Grad, wir sind auf <strong>Ameland</strong>, der Sonneninsel.“<br />

So früh am Morgen konnte ich Papas <strong>Ameland</strong> - Begeisterung<br />

noch nicht vertragen. Aber ich stand trotzdem auf<br />

und ging nach unten. Mama schlürfte ihren Milchkaffee.<br />

„Hallo, meine Große!“, begrüßte sie mich, „hast du gut geschlafen?“<br />

90


„Es hätte etwas länger sein können“, antwortete ich, „aber<br />

Papa musste mir unbedingt sagen, wie toll er es hier findet.<br />

Er hat mir was <strong>von</strong> Sonneninsel erzählt oder so.“<br />

„Du hättest ja liegen bleiben können“, grinste er.<br />

„Was ist mit Meike?“, fragte Mama.<br />

„<strong>Die</strong> hat sich nach seinem Auftritt gleich wieder umgedreht.<br />

Ich glaube, sie schläft noch.“<br />

„Wie war es denn bei euch?“, erkundigte ich mich.<br />

„Wir haben im Cafe Nobeltje Karten gespielt“, antwortete<br />

Papa. Jedenfalls eine Weile, bis Rainer wie immer seine<br />

eigenen Regeln erfand. Alle, die mit ihm zusammen spielen<br />

mussten, haben verloren. Aber lustig war es trotzdem.<br />

Nachher hat er eine Geschichte nach der anderen erzählt.<br />

Du kennst ihn ja.“<br />

Es stimmt. Wenn man mit Rainer Karten spielt, tut er immer<br />

so, als wäre er ein eiskalter Zocker, der alles im Griff<br />

hat. Aber In Wirklichkeit hat er keine Ahnung.<br />

„Wann wart ihr denn zu Hause?“, erkundigte sich Mama.<br />

„Wir wollten euch ja eigentlich bei Franzens abholen.“<br />

„Wir sind schon gegen elf gegangen, weil wir so müde waren“,<br />

antwortete ich.<br />

„Das stimmt nicht, ich war überhaupt nicht müde.“<br />

Meike stand in der Tür und schaute mich wieder böse an.<br />

„Und warum hast du dann gestern Abend so oft gegähnt?“<br />

entgegnete ich.<br />

„Na und? Ich kann gähnen wann ich will, deshalb bin ich<br />

noch lange nicht müde“, antwortete sie schnippisch. Papa<br />

mischte sich ein.<br />

„Guten Morgen, mein Kind, jetzt setz dich erst mal hin.“<br />

Noch ziemlich verschlafen und mit zerzausten Haaren begann<br />

sie zu frühstücken.<br />

„Übrigens ist heute Rettungsboottag“, begann Mama jetzt.<br />

„Das alte Rettungsboot wird wieder mit dem Pferdegespann<br />

an den Strand gefahren. Aber dann gibt es noch<br />

etwas Besonderes, die Zuschauer können mit dem Boot<br />

91


auf der Nordsee ein paar Runden fahren. Habt ihr Lust<br />

dazu?“<br />

Meikes Stimmung besserte sich sofort. <strong>Die</strong> Aussicht auf<br />

eine Bootsfahrt gefiel ihr.<br />

„Ja, total cool!“, rief sie begeistert, „wann geht’s los?“<br />

„Es kommt darauf an“, sagte Papa, „wir können schon direkt<br />

zum Strand gehen oder uns die Ausfahrt mit den<br />

Pferden vom Museum aus im Dorf angucken. Dann müssen<br />

wir aber in einer Stunde dort sein.“<br />

Zwar hatten wir die Rettungsbootübung schon gesehen,<br />

aber wir wollten trotzdem wieder hin. Allein schon wegen<br />

der riesigen Pferde, die den schweren Anhänger mit dem<br />

Boot zogen. Schnell frühstückten wir zu Ende, zogen uns<br />

an und fuhren los. Vor dem Museum war ein riesiger<br />

Volksauflauf. Kinder und Erwachsene, die darauf warteten,<br />

dass die Vorstellung begann. Sogar die zwei schmutzigen<br />

Schafe auf der Wiese nebenan, die sich normalerweise<br />

nur für Gras interessierten, standen direkt am Zaun und<br />

glotzten.<br />

„Jetzt schau dir diese vielen Menschen an“, sagte Mama.<br />

Aber Papa hatte nur Augen für die riesigen Pferde, die ihm<br />

nicht sonderlich sympathisch schienen. Sie wurden gerade<br />

<strong>von</strong> kräftigen Männern in Gummistiefeln vor den Anhänger<br />

gespannt, auf dem das Rettungsboot zum Strand transportiert<br />

werden sollte.<br />

„Gleich erzählt er wieder <strong>von</strong> dem Pferdeerlebnis in seiner<br />

Kindheit“, flüsterte mir Meike zu.“<br />

„<strong>Die</strong>smal nicht“, wisperte ich, „die Geschichte kennen wir<br />

doch längst auswendig.“<br />

„Ich wette mit dir um ein Eis!“<br />

Aber Meike spielte unfair. Noch ehe ich sie daran hindern<br />

konnte, fragte sie Papa: „Warum guckst du denn die Pferde<br />

so komisch an?“<br />

„Das ist eine lange Geschichte“, begann er, „aber ich hatte<br />

als Kind einen Freund, der mit seinen Eltern auf einem<br />

Bauernhof lebte.“<br />

92


Triumphierend warf mir Meike einen kurzen Blick zu. Sie<br />

hatte die Wette gewonnen, denn jetzt ließ er sich nicht<br />

mehr bremsen.<br />

„Ich bin immer sehr gerne zu ihm gefahren, um mit ihm zu<br />

spielen. Er besaß ein Pony mit dem Namen Heinz, auf<br />

dem wir ab und zu ritten. Allerdings durfte ich nur auf<br />

Heinz sitzen, wenn mein Freund das Halfter hielt. Wir<br />

drehten auf der Schweinewiese unsere Runden. Meist<br />

ging es auch gut, aber eines Tages eben nicht.“<br />

„Und was ist da passiert?“, erkundigte sich Meike scheinheilig.<br />

„Na ja, aus welchen Gründen auch immer, war eine Sau<br />

mit ihren Ferkeln nicht im Stall, sondern auf der Wiese.<br />

Mitten im schönsten Trab stieg das Pony plötzlich vorne<br />

hoch und ich flog im hohen Bogen in die Schweinesuhle.“<br />

„Hast du dir wehgetan?“, fragte Meike, obwohl sie es genau<br />

wusste.<br />

„Und wie“, antwortete Papa, „ich fiel so unglücklich, dass<br />

ich nicht nur aussah wie ein Schwein, sondern mir auch<br />

noch den Arm gebrochen hatte. Seitdem kann ich Pferde<br />

nicht mehr ausstehen!“<br />

Meike stieß mir in die Seite.<br />

„Ich will heute Abend ein großes Nusseis.“<br />

Jetzt schaute Papa mich fragend an.<br />

„Hab’ ich euch diese Geschichte nicht schon mal erzählt?“<br />

Mama nickte heftig und ich murmelte: „Kann sein, irgendwie<br />

kam sie mir bekannt vor.“<br />

Inzwischen waren zehn Pferde im Geschirr. Durch die weit<br />

geöffneten Flügeltore des Museums sah man das blauweiße<br />

Rettungsboot oben auf dem Anhänger. Damit er<br />

nachher im Sand nicht stecken blieb, liefen die Räder wie<br />

bei einem Panzer in großen Laufketten. Plötzlich ertönte<br />

ein schriller Pfiff und die Pferde setzten sich in Bewegung.<br />

Mit lautem Geratter schob sich das Gefährt aus der Museumshalle<br />

auf die Straße und fuhr in Richtung Strand.<br />

93


<strong>Die</strong> Zuschauer nahmen in einer langen Reihe zu Fuß oder<br />

mit dem Rad die Verfolgung auf.<br />

„Lasst uns zum Strand vorfahren“, sagte Mama, „dann<br />

können wir besser sehen, wenn sie das Rettungsboot ins<br />

Meer ziehen.“<br />

Schon <strong>von</strong> weitem sahen wir auf dem Deich und den Dünen<br />

viele Menschen, die sich das Schauspiel ebenfalls<br />

ansehen wollten. Trotzdem gelang es uns, unter Führung<br />

<strong>von</strong> Mama, einen guten Platz zu erobern. Wenn es darum<br />

geht, ist sie ein echter Profi. Fast immer bekommt sie einen<br />

Parkplatz, einen guten Tisch im Restaurant oder, wie<br />

eben jetzt, einen Platz, <strong>von</strong> dem aus wir trotz der vielen<br />

Menschen eine gute Sicht auf das Rettungsboot hatten.<br />

<strong>Die</strong> riesigen, starken Pferde zogen den Anhänger mit dem<br />

Boot über den Strand und hielten kurz vor dem Wasser<br />

dampfend an. Meike stieß Mama an.<br />

„Gleich werden sie die Pferde ausspannen, oder?“<br />

Mama nickte.<br />

„Sie wollen sie zuerst an das Wasser gewöhnen.“<br />

Und tatsächlich konnten wir jetzt sehen, wie die Männer<br />

die Pferde ausschirrten und mit ihnen einige Runden im<br />

flachen Meer drehten. Danach wurden sie wieder eingespannt.<br />

Angefeuert durch laute Rufe zogen die schwarzen<br />

Riesen mit aller Kraft den Anhänger mit dem Boot so tief<br />

ins Wasser, bis es vom Wagen gelöst werden konnte und<br />

frei schwamm. <strong>Die</strong> Besatzung warf den Motor an und das<br />

Rettungsboot nahm Fahrt auf. Es sah toll aus, wie es<br />

durch die Wellen aufs offene Meer hinausfuhr. <strong>Die</strong> Pferde<br />

standen in der Zwischenzeit wieder auf dem Strand, um<br />

sich auszuruhen.<br />

„Habt ihr eigentlich das Denkmal gesehen, an dem wir<br />

vorbei gekommen sind?“, wollte Papa wissen.<br />

„Das mit den Pferden?“<br />

Er nickte.<br />

„1978 sind hier acht der zehn Pferde bei der Ausfahrt des<br />

Rettungsbootes ertrunken. Das Wetter war so stürmisch,<br />

94


dass die Tiere in Panik gerieten und nicht mehr auf den<br />

Strand zurückgeführt werden konnten.“<br />

„<strong>Die</strong> armen, wie schrecklich!“, rief Meike.<br />

„Warum haben sie denn das Rettungsboot dann nicht im<br />

Museum gelassen?“<br />

„Damals war es noch richtig im Einsatz“, meinte Mama.<br />

„<strong>Die</strong> Ameländer haben damit früher wirklich Menschen aus<br />

Seenot gerettet. Heute haben sie ein schnelles und modernes<br />

Rettungsboot, es liegt in der Ballumer Bucht, in<br />

dem kleinen Hafen.“<br />

„Da vorne kommt es übrigens!“, rief Papa jetzt. Elegant<br />

jagte das Boot über das Wasser, die letzten Meter Richtung<br />

Strand drosselte es seine Geschwindigkeit und ging<br />

vor Anker. Es besaß eine silbergraue Kajüte und eine große<br />

schwarze Reling, die mit einem Gummischlauch geschützt<br />

war und hieß Anna Margaretha.<br />

„Ist das ein cooles Teil!“, meinte Meike begeistert, „damit<br />

will ich unbedingt fahren!“<br />

Schnell stellten wir uns in der Menschenschlange an, die<br />

sich vor dem Boot gebildet hatte. Unsere Schuhe ließen<br />

wir am Strand stehen, denn man musste ein Stück durchs<br />

Wasser waten, um über eine Leiter an Bord klettern zu<br />

können. <strong>Die</strong> Rettungsleute halfen uns. Ich traute meinen<br />

Augen nicht. Der Mann, der mir freundlich seine Hand<br />

entgegenstreckte, war Wim Dijkstra.<br />

„Welkom an Boord!“, sagte er auf Niederländisch. Ich war<br />

so verdattert, dass ich gar nicht antwortete und schnell an<br />

ihm vorbei nach vorne ging. Meine Schwester stürzte auf<br />

mich zu.<br />

„Hast du ihn erkannt?“, fragte sie aufgeregt.<br />

„Was machen wir jetzt?“<br />

„Gar nichts!“, antwortete ich bestimmt.<br />

„Der kennt uns doch gar nicht und wir werden auch heute<br />

Abend nicht seine Fensterscheibe zerschießen.“<br />

Es ging los. Das Boot drehte gemächlich seinen Bug zum<br />

offenen Meer und fuhr dann immer schneller.<br />

95


„Fantastisch!“, rief Meike. Breitbeinig standen wir an der<br />

Reling, während uns der Wind ins Gesicht wehte und die<br />

Haare zerzauste. <strong>Die</strong> Anna Margaretha stieg vorne so<br />

hoch, dass ich das Gefühl hatte, sie würde gleich abheben.<br />

Aber jedes Mal, wenn sie den höchsten Punkt erreicht<br />

hatte, fiel sie zurück aufs Wasser. Ich hielt meine<br />

Nase in den Wind und schnupperte den Salzgeruch.<br />

Mama hielt sich krampfhaft fest und sah nicht besonders<br />

begeistert aus. Auch Papa war blass.<br />

„Das ist ja echt toll!“, rief er wenig überzeugend, als sich<br />

unsere Blicke trafen.<br />

„Sieht man dir aber nicht an!“, schrie ich gegen die dröhnenden<br />

Motoren und den pfeifenden Wind an. Mama nickte<br />

heftig.<br />

„Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich am Strand geblieben.<br />

Ich glaube, ich werde seekrank!“<br />

„Quatsch, das ist doch total cool!“, brüllte Meike.<br />

„Halt dich bloß vernünftig fest!“, rief Mama ihr zu, rutschte<br />

aber im gleichen Augenblick selbst aus. Papa half ihr wieder<br />

hoch.<br />

„Das solltest du besser machen!“, grinste Meike sie an.<br />

Kurz danach drosselte das Rettungsboot das Tempo,<br />

drehte und fuhr fast geräuschlos und langsam wieder zurück.<br />

Ich beobachtete Dijkstra. Er stand immer noch hinter uns<br />

an der Reling, zusammen mit einem jüngeren Mann. Ich<br />

stieß Meike an.<br />

„Guck mal, mit wem sich Dijkstra da unterhält. Hast du den<br />

schon mal gesehen?“<br />

„Nicht dass ich wüsste.“<br />

Meike zuckte mit den Schultern.<br />

„Aber irgendwie hat er mit ihm Ähnlichkeit.“ Ich schaute<br />

noch mal hin. Meike hatte Recht. Auch der jüngere hatte<br />

blonde Haare und eine knollige Nase. Ob sie verwandt<br />

waren?<br />

96


„Sehr nett sind die aber nicht zueinander“, sagte Meike.<br />

„Dijkstra sieht den jüngeren richtig böse an.“<br />

„Finde ich auch. Das müssen wir unbedingt den anderen<br />

erzählen.“<br />

<strong>Die</strong> Anna Margaretha tuckerte die letzten paar Meter Richtung<br />

Strand, dann ließen die Männer den Anker hinab und<br />

wir stiegen über die Leiter wieder <strong>von</strong> Bord. Mit einem<br />

freundlichen ‚tot ziens’, ‚bis bald’, verabschiedete Dijkstra<br />

sich <strong>von</strong> uns. Er konnte ja nicht wissen, was wir mit ihm<br />

vorhatten.<br />

„Ich bin froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben“,<br />

sagte Mama, „Fahrten auf Rettungsbooten gehören<br />

nicht zu meiner Lieblingsbeschäftigung.“<br />

„Mir geht’s ähnlich“, stimmte Papa zu, „ich finde, wir haben<br />

uns einen Besuch im Zwaan verdient!“<br />

Meike und ich grinsten uns an. Auf ihn war Verlass, mit einer<br />

Belohnung in unserem Stammcafe nach der Bootsfahrt<br />

hatten wir gerechnet.<br />

„<strong>Die</strong> anderen sind bestimmt auch da, vielleicht können wir<br />

ja heute Nachmittag was mit ihnen unternehmen“, schlug<br />

Mama vor.<br />

97


Ein Nachmittag im Wald<br />

„Hallo, da seid ihr ja!“<br />

Rainer begrüßte uns wie immer laut und gut gelaunt auf<br />

der Terrasse des Zwaan. Papa und Mama setzten sich zu<br />

den Erwachsenen.<br />

„Was denkt ihr, wen wir gesehen haben?“, posaunte Meike<br />

am Kindertisch los. <strong>Die</strong> anderen schauten uns neugierig<br />

an. Ich stieß sie mit einem Blick auf die Erwachsenen<br />

in die Seite.<br />

„Sei leise, sie müssen das ja nicht unbedingt mitkriegen!“<br />

Olli, den Mund voller Apfelkuchen mit Schlagsahne, raunte:<br />

„Wen habt ihr denn gesehen?“<br />

Flüsternd erzählten wir <strong>von</strong> unserer Begegnung auf der<br />

Anna Margaretha.<br />

„Also ist Dijkstra wahrscheinlich nicht alleine“, meinte<br />

Hanjo.<br />

„Stimmt!“, sagte Katja. „Hoffentlich klappt unsere Fußballaktion<br />

heute Abend, dann wissen wir vielleicht mehr.“<br />

„Na, was habt ihr denn da zu flüstern?“<br />

Uli erschien an unserem Tisch.<br />

„Erwachsene müssen ja nicht alles wissen!“, antwortete Pit<br />

schnell.<br />

„Soso.“<br />

Sein Vater lächelte.<br />

„Ich wollte euch eigentlich nur was für heute Nachmittag<br />

vorschlagen. Rainer und ich organisieren wieder unseren<br />

Spieletag. Habt ihr Lust mitzumachen?“<br />

Natürlich hatten wir Lust. Rainer und Uli planen den Spieletag<br />

jedes Jahr im Hollumer Wald. Ich war gespannt, was<br />

sie sich diesmal ausgedacht hatten. Wir verabredeten uns<br />

um drei Uhr am großen Spielplatz.<br />

98


<strong>Die</strong> beiden sahen zum Weglachen aus, als wir dort eintrafen.<br />

Uli trug ein knallrotes T-Shirt mit der Aufschrift ‚Heino’,<br />

eine blonde Perücke und die für den Sänger typische,<br />

dunkle Sonnenbrille, außerdem eine bayerische kurze Lederhose<br />

und einen Trachtenhut. Rainer hatte auch eine<br />

dunkle Sonnenbrille aufgesetzt, aber dazu ein weißes<br />

Hemd mit dunklem Schlips, einen schwarzen Anzug und<br />

schwarze Schuhe angezogen. Auf seinem Rücken klebte<br />

ein Schild, darauf stand mit großen Buchstaben: ‚Ich bin<br />

Heino sein kleiner Blues-Bruder.“<br />

Uli begrüßte uns.<br />

„Meine Damen und Herren, ich darf Sie alle recht herzlich<br />

willkommen heißen zu dem weltbekannten Spielnachmittag<br />

im weltbekannten Hollumer Wald, vorbereitet <strong>von</strong> den<br />

weltbekannten Spielexperten Heino und Heino sein kleiner<br />

Blues-Bruder.“<br />

Wir applaudierten.<br />

„Ja, vielen Dank für dieses Geräusch, wir haben es verdient,<br />

auch wenn wir noch nichts geleistet haben, und ich<br />

kann Ihnen versprechen, wir werden auch nichts leisten.<br />

Denn diejenigen, die etwas leisten werden, sind ausschließlich<br />

Sie, meine Damen und Herren! Was werden<br />

Sie nun leisten? Zunächst einmal haben Sie die Gelegenheit,<br />

sich ein wenig aufzuwärmen mit dem beliebten Phantasiespiel<br />

‚Das kotzende Känguru’. Jake, bitte erkläre die<br />

Regeln!“<br />

„Sehr gerne, Heino!“<br />

Rainer, genannt Jake, zog eine Mundharmonika aus der<br />

Tasche. Noch bevor er einen Ton spielen konnte, klatschten<br />

wir wieder. Dann entlockte er ihr einen kurzen Ton und<br />

erklärte uns, was wir tun sollten. Wir bildeten einen Kreis,<br />

während sich unser Blues-Bruder Jake in die Mitte stellte.<br />

Er zeigte plötzlich auf mich und rief: „Elefant!“<br />

Ich fasste sofort mit der linken Hand an meine Nase, legte<br />

den rechten Arm über den linken und deutete einen<br />

99


Rüssel an. Mama und Katja, die links und rechts neben<br />

mir standen, mussten an meinem Kopf mit ihren Armen<br />

die großen Elefantenohren zeigen. Es kam darauf an,<br />

gleichzeitig zu reagieren, denn die Figur musste immer<br />

durch drei Personen dargestellt werden. Schon zeigte<br />

Rainer auf den nächsten.<br />

„Toaster!“, rief er. Olli begann auf der Stelle zu hüpfen. Pit<br />

drehte sich zu ihm, streckte sein Hand aus und schrie Lara<br />

an: „Komm schon, gib mir deine Flossen!“<br />

Jetzt hüpfte Olli zwischen ihnen auf der Stelle, so dass er<br />

wirklich aussah wie eine Brotscheibe im Lara und Pit –<br />

Toaster. Und dann kam das ‚kotzende Känguru’. Rainer<br />

zeigte auf Heike. Sie hielt ganz schnell die Arme wie einen<br />

Halbkreis vor sich, das war der Kängurubeutel. Paula, die<br />

neben ihr stand, kotzte mit einem lauten Würgegeräusch<br />

hinein. Wir lachten uns schlapp. Vor allem Olli war kaum<br />

zu bremsen, warf sich ins Gras und trommelte mit den<br />

Fäusten auf den Boden. Auch Papa fand es so komisch,<br />

dass er vergaß auf der anderen Seite in den Beutel zu<br />

kotzen. Also musste er in die Mitte.<br />

Eine Waschmaschine, einen Dackel, einen Mixer, alles<br />

Mögliche mussten wir darstellen, bis Rainer und Uli uns<br />

vorschlugen ‚Pott-erlösen’ zu spielen.<br />

„Meine Damen und Herren, dieses Spiel geht folgendermaßen!“,<br />

begann Heino – Uli.<br />

„Was bedeutet das Wort erlösen? Hätte unser frommer<br />

Rainer es erklärt, würde er sicher behaupten, es habe etwas<br />

mit der Kirche zu tun. Aber in diesem Spiel geht es<br />

darum, Gefangene aus einem Pott zu befreien. Wir haben…“,<br />

er zeigte auf einen mit rotem Band abgegrenzten<br />

Bereich am Waldrand, „…hinter den beiden Sitzbänken<br />

den Pott eingerichtet. <strong>Die</strong> Fänger dürfen die Gefangenen<br />

hier einsperren. <strong>Die</strong>jenigen, die noch nicht gefangen wurden,<br />

können ihre Mitspieler aber durch Abschlagen wieder<br />

befreien!“<br />

„Ich will fangen!“<br />

100


„Ich auch!“<br />

Olli und Pit meldeten sich sofort. Uli war einverstanden<br />

und bestimmte noch zusätzlich Paula und Heike.<br />

„Ihr zählt jetzt laut bis 50, die anderen können sich in dieser<br />

Zeit verstecken. Das Spiel ist beendet, wenn alle erwischt<br />

wurden und beginnt, wenn ich in diese Trillerpfeife<br />

blase!“<br />

Dann ließ er einen ohrenbetäubenden Pfiff folgen und wir<br />

rannten so schnell wie möglich in den Wald. Olli, Pit, Paula<br />

und Heike hörte ich laut zählen. Ich lief einen Weg entlang,<br />

der steil bergauf führte. Der ganze Wald bestand aus<br />

Hügeln und Tälern und war durchzogen <strong>von</strong> Sandwegen.<br />

Es war ziemlich anstrengend darauf schnell zu rennen.<br />

Deshalb orientierte ich mich nach links ins Unterholz, um<br />

mir ein sicheres Versteck zu suchen. Erst jetzt merkte ich,<br />

dass mir jemand folgte. Ich bekam einen ziemlichen<br />

Schreck, aber es war Hanjo.<br />

Wir duckten uns hinter einem Gebüsch und ruhten uns<br />

aus.<br />

„Ich dachte schon, Pit oder Paula würden mich verfolgen!“,<br />

wisperte ich.<br />

„Keine Angst, die dürften gerade erst mit dem Zählen fertig<br />

sein. Außerdem versuchen sie bestimmt erst mal die Erwachsenen<br />

zu fangen. <strong>Die</strong> sind niemals so weit in den<br />

Wald gerannt wie wir.“<br />

Ich ließ mich auf dem Waldboden nieder. Hanjo setzte<br />

sich neben mich. Das Versteck war gut, denn wir konnten<br />

<strong>von</strong> hier aus beobachten, ob sich jemand <strong>von</strong> vorne<br />

näherte.<br />

„Wie findest du eigentlich bis jetzt die Ferien?“, fragte er<br />

mich.<br />

„Na ja“, ich zögerte ein bisschen mit der Antwort, „eigentlich<br />

gefallen sie mir gut. Und ich bin gespannt, wie es mit<br />

unserem Fall weitergeht. Du hast echt coole Ideen dazu.“<br />

101


Das war mir jetzt rausgerutscht. Am liebsten hätte ich mir<br />

die Zunge abgebissen. Hanjo schaute mich überrascht an<br />

und lächelte.<br />

„Meinst du? Aber du auch ..., übrigens finde ich dich echt<br />

nett.“<br />

Das war das erste Mal, dass ein Junge so etwas zu mir<br />

sagte. Und ausgerechnet Hanjo. Wahrscheinlich bekam<br />

ich ein knallrotes Gesicht. Ich grinste irgendwie blöd, weil<br />

mir nichts weiter einfiel. Plötzlich knackte es vor uns und<br />

wir hörten Schritte und Stimmen. Erschreckt schauten wir<br />

hoch. Ich wollte schon loslaufen, aber dann sahen wir einen<br />

blonden Haarschopf, der sich durch das Gebüsch<br />

zwängte.<br />

„Du bist es, Meike, ich dachte schon Pit oder Paula hätten<br />

uns erwischt!“, flüsterte ich erleichtert.<br />

„Heike und Olli waren hinter mir her, aber sie sind auf dem<br />

Weg weitergerannt. Ich habe sie gerade noch abhängen<br />

können!“, zischte sie aufgeregt.<br />

„Haben sie schon jemand gefangen?“, wollte Hanjo wissen.<br />

„Papa und Marlies auf jeden Fall, die sind schon am Anfang<br />

erwischt worden. Ich glaube, Lara haben sie auch!“<br />

„Wir sollten uns mal zum Pott schleichen, um die Lage zu<br />

peilen“, schlug ich vor.<br />

Hanjo und Meike hatten nichts dagegen. Vorsichtig schaute<br />

ich aus dem Gebüsch auf den Weg. „Es ist niemand zu<br />

sehen“, flüsterte ich, „ihr könnt raus kommen.“<br />

Leise schlichen wir den Weg entlang in Richtung Spielplatz.<br />

„Nach der nächsten Biegung sind wir da. Wir kriechen hier<br />

besser wieder ins Gebüsch. Wenn wir es schaffen unbemerkt<br />

bis zu der Baumgruppe zu kommen, können wir sehen,<br />

wie viele Gefangene sie schon gemacht haben“,<br />

raunte Hanjo. So geräuschlos wie möglich schlichen wir<br />

weiter.<br />

„Wir sind ja die einzigen, die noch frei sind“, wisperte meine<br />

102


Schwester, als wir ankamen, „was sollen wir jetzt machen?“<br />

„Ganz einfach, wir müssen versuchen sie zu erlösen“,<br />

antwortete ich.<br />

„Und wie stellst du dir das vor?“<br />

„Ich hätte da eine Idee“, mischte sich Hanjo ein,. „wir teilen<br />

uns auf und kommen <strong>von</strong> verschiedenen Seiten, um sie zu<br />

überraschen. Und wenn die Gefangenen eine Kette bilden,<br />

können wir sie alle auf einmal befreien.“<br />

„Okay!“, antwortete ich, „am besten ist es, wir beide<br />

schleichen auf die andere Seite des Platzes, du nach<br />

links, ich nach rechts. Sobald wir da sind, renne ich los,<br />

um sie abzulenken. Wenn ich unterwegs bin, startest du<br />

und versuchst die anderen zu befreien. Meike, du bleibst<br />

hier!“<br />

Tief geduckt, auf allen Vieren, kroch ich durchs Unterholz.<br />

Direkt am Boden roch es noch stärker nach Wald, irgendwie<br />

frisch und modrig zugleich. Ich hatte den Eindruck einen<br />

Riesenlärm zu machen. Jeder Zweig, der unter mir<br />

zerbrach, knackte unglaublich laut. Trotzdem schaffte ich<br />

es, unbemerkt auf die andere Seite zu kommen. Olli und<br />

Heike waren nicht da, sie schienen immer noch nach uns<br />

zu suchen. Paula und Pit beobachteten den Weg, aus<br />

dem sie unseren Angriff vermuteten oder auf die Rückkehr<br />

<strong>von</strong> Heike und Olli warteten. <strong>Die</strong> Gefangenen sahen nicht<br />

so aus, als wollten sie <strong>von</strong> uns befreit werden. Im Gegenteil,<br />

sie schienen eine Menge Spaß zu haben. Papa alberte<br />

mit Lara und Marlies herum und Mama und Katja unterhielten<br />

sich. Ich versuchte Meike und Hanjo zu erspähen,<br />

konnte sie aber nicht sehen. Dann stürzte ich mit lautem<br />

Gebrüll aus meinem Versteck und rannte los. „Ihr müsst<br />

eine Kette bilden!“, schrie ich den Gefangenen zu.<br />

„Achtung, sie ist bestimmt nicht alleine!“, rief Paula, die<br />

unseren Plan zu durchschauen schien. Sie rannte mir entgegen<br />

und versuchte mich zu erwischen, während Pit am<br />

Pott stehen blieb und auf die Gefangenen aufpasste. Jetzt<br />

103


krachte es wieder im Unterholz und ich sah Meike und<br />

Hanjo aufspringen.<br />

„Heike, Olli!“, schrie Pit, „ihr müsst zurückkommen, wir<br />

werden angegriffen, Meike, Hannah und Hanjo versuchen<br />

die Gefangenen zu befreien!“<br />

Ich schlug einen Haken, um Paula auszuweichen. Beim<br />

ersten Mal klappte es, aber dann stolperte ich über eine<br />

Wurzel und stürzte.<br />

„Das war’s für dich!“, rief sie, „ab in den Pott!“<br />

Paula rannte sofort weiter, um Pit zu helfen. Während ich<br />

auf dem Boden lag, sah ich, dass die Gefangenen sich tatsächlich<br />

an den Händen gefasst und eine lange Kette gebildet<br />

hatten. So kamen sie Hanjo und Meike ein Stück<br />

entgegen. Hanjo rannte auf sie zu, aber er hatte nicht mit<br />

Paula gerechnet, die sich ihm unbemerkt <strong>von</strong> hinten genähert<br />

hatte. Schon war er gefangen. Aber Meike raste<br />

wie ein kleiner Wirbelwind zum Pott und schaffte es tatsächlich<br />

alle zu erlösen. Mit Triumphgeheul rannten sie<br />

wieder in den Wald.<br />

„So ein Mist, so ein verdammter!“, fluchte Pit laut.<br />

„Ich habe es doch gesagt, Mama und Olli hätten nicht zu<br />

zweit weg gehen dürfen. Das ist zu gefährlich.“<br />

„Tja, unser genialer Angriffsplan hat euch wohl etwas<br />

durcheinander gebracht, was?“, grinste Hanjo.<br />

„Quatsch, wir kriegen sie schon wieder, keine Angst, du<br />

kannst dich jedenfalls für den Rest des Spiels im Pott ausruhen!“<br />

„Abwarten“, meinte Hanjo und verschränkte siegesgewiss<br />

die Arme vor der Brust. Er behielt Recht. Schon kurze Zeit<br />

später wurden wir wieder befreit. Nach etwa zwei Stunden<br />

hatten wir genug und fuhren erschöpft und gut gelaunt zurück<br />

ins Dorf. Über die Galionsfigur sprachen wir kein<br />

Wort. Aber als wir uns trennten, hörte ich, wie Pit Lara zuraunte:<br />

„Bis nachher, ich komme gegen sechs mit dem<br />

Ball bei euch vorbei.“<br />

Ich war gespannt, ob unser Plan funktionierte.<br />

104


Neues <strong>von</strong> Dijkstra<br />

Wim und Henny standen auf der Schafswiese und reparierten<br />

den Zaun, als wir zu unserer Wohnung kamen. Papa<br />

und Mama leisteten ihnen Gesellschaft. Meike und ich<br />

wollten duschen, denn wir fühlten uns ziemlich schmutzig<br />

und verschwitzt.<br />

„Ob die Jungs und Lara bei Dijkstra was herausfinden?“,<br />

fragte Meike, die als erste unter der Dusche stand.<br />

„Ich hoffe es. Vor allen Dingen bin ich gespannt, wer der<br />

jüngere Mann vom Rettungsboot ist. Am besten gehen wir<br />

nach dem Abendbrot noch mal zu Franzens, vielleicht sind<br />

sie dann schon zurück!“<br />

„Gute Idee“, gurgelte Meike hinter dem Duschvorhang.<br />

Plötzlich schrie sie laut auf.<br />

„Was ist los? Was hast du?“<br />

Erschreckt riss ich den Vorhang zur Seite.<br />

„Das Wasser ist plötzlich so kalt. Au, und jetzt wird es total<br />

heiß!“<br />

In Panik sprang sie aus der Dusche. Ich wusste sofort,<br />

woran es lag. Ich hatte mir am Waschbecken die Zähne<br />

geputzt und wenn man den Hahn öffnete, wurde es beim<br />

Duschen plötzlich kalt und dann wieder heiß. Das verriet<br />

ich ihr aber nicht, sonst wäre sie wieder den ganzen<br />

Abend sauer auf mich gewesen.<br />

„Stell dich nicht so an!“, schimpfte ich und prüfte die Temperatur.<br />

„Alles in Ordnung, jetzt beeil’ dich, ich will auch noch duschen!“<br />

Später aßen wir mit Mama und Papa zu Abend.<br />

„Wir wollen nachher noch zu Franzens“, sagte ich.<br />

„Einverstanden!“, antwortete Papa, „vielleicht kommen wir<br />

105


später nach. Ich habe mir eine Zeitung gekauft, die will ich<br />

erst noch lesen.“<br />

„<strong>Die</strong>se Zeitung habe ich gekauft, mein Schatz!“, meinte<br />

Mama.<br />

„Wie kommst du darauf?“, entgegnete er leicht gereizt.<br />

„Ich habe sie mitgebracht, und zwar heute Morgen vom<br />

Bäcker!“<br />

„Und was ist das hier?“<br />

Triumphierend hielt sie ihm ebenfalls eine Zeitung unter<br />

die Nase. Jetzt hatten sie zwei. Meike und ich schauten<br />

uns an, denn wir wussten, was kommen würde. <strong>Die</strong> unvermeidliche‚Wir-müssen-uns-beim-Einkaufen-besser-absprechen-Diskussion’.<br />

Erwachsene können ganz schön<br />

kindisch sein. Für uns war es das Beste, schnell zu verschwinden.<br />

Mama und Papa waren so in ihr Streitgespräch vertieft,<br />

dass sie gar nicht merkten, als wir gingen. Wenigstens<br />

mussten wir jetzt nicht beim Aufräumen helfen.<br />

„Na endlich!“, begrüßte uns Katja.<br />

„Los, wir gehen rüber zur Eisdiele. Ich will wissen, was bei<br />

Dijkstra passiert ist. Pit ist gleich mit dem Spülen fertig,<br />

dann kann er mitgehen.“<br />

„Pit hat gespült? Was ist denn mit dem los?“, fragte ich erstaunt.<br />

„Er hat für die nächsten drei Tage Strafspülen aufgebrummt<br />

bekommen. Lara und Olli übrigens auch.“<br />

In diesem Augenblick kamen Uli und Pit aus der Küche.<br />

„Ah, ist wieder große Kinderversammlung?“, staunte Uli.<br />

„Wir wollen gegenüber noch ein Eis essen“, antwortete<br />

Paula.<br />

„Pit nehmen wir mit, er ist ja mit dem Spülen fertig, oder?“<br />

„Ja, meinetwegen“, brummte er, „Hauptsache, du lässt<br />

den Ball hier, mein Sohn.“<br />

„Klar, Papa, kein Problem. Vorläufig hab’ ich genug vom<br />

Fußballspielen.“<br />

106


Er musste sich das Grinsen etwas verkneifen, aber Uli<br />

schien es nicht zu merken. Wir setzten uns an einen der<br />

großen Holztische. Da Pit, Olli und Lara bis jetzt noch gar<br />

nichts verraten hatten, waren wir alle sehr gespannt.<br />

„Jetzt erzählt schon!“, rief Meike aufgeregt, „ich halte es<br />

nicht mehr aus.“<br />

„Einen Moment“, mischte sich Pit ein, „zuerst wollen wir<br />

ein Eis. Und ich finde, ihr könnt uns einladen, denn es war<br />

unser gemeinsamer Plan und nur Olli, Lara und ich müssen<br />

strafspülen!“<br />

Wir hatten nichts dagegen, Paula und ich gaben die Bestellung<br />

auf.<br />

„Also, jetzt legt los!“, sagte ich, als alle versorgt waren.<br />

„Es war super. Lara hat alles aufgedeckt, wir haben den<br />

Fall gelöst!“<br />

Olli klopfte schon wieder große Sprüche. Wir schauten Lara<br />

erwartungsvoll an. Aber sie reagierte nicht so streng wie<br />

sonst auf seine Angeberei.<br />

„Jetzt lass mich mal erzählen, Olli, schließlich bin ich auch<br />

in Dijkstras Arbeitszimmer gewesen.“<br />

„T’schuldigung“, murmelte er.<br />

„Also, wie verabredet haben wir uns vor Dijkstras Haus getroffen.<br />

Pit brachte den Ball mit und wir schossen ein paar<br />

Mal hin und her. Dabei guckten wir immer wieder durch<br />

sein Fenster.“<br />

„Dann sah ich Dijkstra ins Wohnzimmer kommen“, fuhr Pit<br />

fort, „er setzte sich an den Tisch und ich gab Lara und Olli<br />

ein Zeichen. Das war unsere Chance.“<br />

Olli fiel begeistert ein: „Also nicken wir uns zu, ich lege Pit<br />

den Ball auf und er schießt ein Wahnsinnstor. Der Ball<br />

landet genau auf Dijkstras Wohnzimmertisch, es klirrt wie<br />

irre, überall fliegen Scherben herum. Es war supergeil!“<br />

„Stimmt, ich hab’ ihn wirklich genau mit dem Spann erwischt.<br />

Dijkstra sprang sofort auf und war in Nullkommanichts<br />

draußen.“<br />

107


„So richtig wütend wirkte er gar nicht“, sagte Lara, „er stieß<br />

zwar einen dieser holländischen Flüche aus, blieb aber<br />

sonst ziemlich ruhig. Wir sollten ins Haus kommen, er<br />

wollte wissen, wie wir heißen und wo wir wohnen und so.“<br />

„Wie ging es weiter, was habt ihr denn jetzt rausgefunden?“,<br />

fragte ich ungeduldig.<br />

„Das kann nur Lara erzählen.“<br />

Olli und Pit warfen ihr einen neidischen Blick zu und lehnten<br />

sich zurück.<br />

„Also gut“, fuhr sie fort, „ wir haben natürlich erst mal ganz<br />

brav unsere Namen und Adressen angegeben. Olli ist losgegangen<br />

und hat Papa geholt. Der ist auch sofort gekommen<br />

und hat sich die Bescherung angesehen. Mit<br />

Dijkstra hat er lange geredet und diese ganzen Versicherungsfragen<br />

geklärt. Wir mussten in der Zeit aufräumen.<br />

Sie haben sich sogar ganz gut verstanden. Ihr kennt ja<br />

Papa, wenn er ins Quatschen kommt, kann es schon mal<br />

länger dauern.“<br />

„Richtig“, schaltete sich Olli noch mal ein, „und dann ist<br />

Lara aufs Klo gegangen.“<br />

„Jedenfalls habe ich das gesagt“, fuhr sie lächelnd fort.<br />

„und jetzt kommt es: Ich tat so, als ob ich ins Badezimmer<br />

ginge, schlich die Treppe nach oben, öffnete ein paar Türen<br />

und fand sein Arbeitszimmer. Und da bin ich rein.“<br />

Lara machte eine Pause.<br />

„Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!“<br />

Paula rutschte unruhig auf ihrem Platz hin und her. Ihr Eis<br />

lief in kleinen braunen Streifen an ihrer Hand entlang. Triumphierend<br />

rückte Lara endlich mit der wichtigsten Information<br />

heraus.<br />

„Da stand ein Schreibtisch und darauf lag ein Brief, den<br />

Dijkstra bekommen hatte. Den hatte ein Ruud geschrieben,<br />

und während ich las, wurde es mir klar, das war sein<br />

Sohn.“<br />

108


„Das muss der Typ sein, den Hannah und Meike auf dem<br />

Boot gesehen haben. Aber wieso kannst du einen holländischen<br />

Brief lesen?“, staunte Katja.<br />

„Ich hab’ in der Schule Niederländisch und außerdem eine<br />

holländische Freundin“, antwortete Lara stolz.<br />

„Ruud wollte mehr Geld und hatte einen Vorschlag.“<br />

„Was für einen, erzähl weiter!“, ging ich dazwischen.<br />

„Er schlug seinem Vater einen <strong>Die</strong>bstahl vor. Und was<br />

wollten sie sich wohl unter den Nagel reißen?“<br />

„<strong>Die</strong> Galionsfigur“, murmelte Hanjo versonnen.<br />

„Dijkstras Sohn hatte also die Idee. Aber selbst wenn der<br />

Alte Schulden hat, verstehe ich nicht, wieso ein angesehener<br />

Geschäftsmann wie er sich darauf einlässt“, wunderte<br />

er sich. Lara zuckte mit den Schultern.<br />

„Keine Ahnung, aber eins ist klar. Der Sohn hat den Kontakt<br />

zu Nackenlocke und Walross hergestellt und sie mit<br />

dem <strong>Die</strong>bstahl der Figur beauftragt. <strong>Die</strong> sollten sie in den<br />

Dünen verstecken und dafür einen Teil der Versicherungssumme<br />

bekommen.“<br />

„Aber ich verstehe immer noch nicht, warum die Galionsfigur<br />

jetzt verschwunden ist“, sagte ich.<br />

„Ganz einfach, dieser Ruud schlug seinem Vater vor, nach<br />

dem <strong>Die</strong>bstahl die Figur aus dem Versteck zu holen. Und<br />

dann haben sie Walross und Nackenlocke gegenüber behauptet,<br />

sie sei weg.“<br />

„Also wollten sich die Dijkstras den ehrlich verdienten Ganovenlohn<br />

sparen“, nickte Hanjo.<br />

„Genau, Ruud und Wim wollten nicht bezahlen oder nur<br />

ein bisschen. Deshalb haben wir auch Nackenlocke und<br />

Walross auf der Fähre getroffen. Sie sind nämlich zuerst<br />

abgereist, wahrscheinlich, weil sie den Dijkstras geglaubt<br />

haben. Und als wir sie auf der Fähre trafen, hatten sie’s<br />

sich wieder anders überlegt.“<br />

„<strong>Die</strong>se Volltrottel. Fragt sich, wer jetzt die wahren Ganoven<br />

sind, Dijkstra und Sohn oder Nackenlocke und Walross?“,<br />

meinte Hanjo.<br />

109


„Stimmt“, nickte Lara, „dieser Ruud ist schlauer als Walross<br />

und Nackenlocke zusammen. Wisst ihr, wie er seinen<br />

Vater gezwungen hat mitzumachen?“<br />

Wir zuckten mit den Schultern.<br />

„Er drohte ihm auf <strong>Ameland</strong> zu erzählen, Wim sei ein<br />

Rauschgifthändler.“<br />

„Stimmt das denn?“, fragte Meike jetzt verständnislos.<br />

„Keine Ahnung, aber vielleicht weiß Jaap mehr, er wollte ja<br />

mit seinem Polizistenfreund sprechen.“<br />

„Aber wo ist denn jetzt diese verdammte Figur?“, wollte<br />

Hanjo endlich wissen.<br />

„Sie ist...“, Lara schaute uns stolz an. „unter einer Bank<br />

auf dem Platz vergraben, auf dem wir heute Nachmittag<br />

gespielt haben.“<br />

„Das heißt, wir haben über der Galionsfigur gespielt ohne<br />

es zu wissen?“<br />

Ich konnte es kaum glauben. Lara, Pit und Olli nickten.<br />

„Das ist ein Ding!“<br />

Hanjo schüttelte den Kopf.<br />

„Aber was machen wir jetzt?“<br />

„Ganz einfach“, jubelte Olli, „wir gehen heute Nacht in den<br />

Wald und holen sie uns. Dann haben wir den Fall gelöst<br />

und kassieren vielleicht noch eine fette Belohnung.“<br />

„<strong>Die</strong> Idee ist gar nicht so schlecht“, überlegte Katja, „denn<br />

wenn die Dijkstras die Figur aus ihrem Versteck holen<br />

würden, müssten wir ja mit der Suche wieder <strong>von</strong> vorne<br />

anfangen.“<br />

Das leuchtete mir zwar ein, aber ich hatte keine Lust, bei<br />

Dunkelheit im Hollumer Wald herumzulaufen.<br />

„Wie stellst du dir das vor“, fragte ich deshalb, „sollen wir<br />

versuchen heute Nacht abzuhauen?“<br />

„Ja genau, das ist supercool, das machen wir, unsere Eltern<br />

merken das sowieso nicht, Papa schläft doch wie ein<br />

Stein. <strong>Die</strong> Superdetektive ...!“<br />

Olli schien mal wieder auszuflippen.<br />

110


„Halts Maul!“ Sofort fiel Lara ein, dass sie ihm eigentlich<br />

versprochen hatte es nicht mehr zu sagen.<br />

„Tut mir leid!“, entschuldigte sie sich, „aber wenn du hier<br />

so rumschreist, weiß es gleich ganz <strong>Ameland</strong>.“<br />

Er verschränkte die Arme vor der Brust, sagte aber nichts.<br />

„Also suchen wir heute Nacht im Wald nach der Figur?“<br />

Katja sah uns an. Alle nickten, ich auch, obwohl ich Bedenken<br />

hatte. Erstens hatte Mama einen sehr leichten<br />

Schlaf und ich wusste nicht, ob wir wirklich unbemerkt das<br />

Haus verlassen konnten, zweitens hatte ich so was noch<br />

nie gemacht und drittens hatte ich einfach Angst.<br />

„Dann treffen wir uns um zwei Uhr am Ortsausgang. Am<br />

Besten gehen wir jetzt nach Hause, damit wir noch etwas<br />

Schlaf bekommen!“<br />

Katja wirkte ziemlich entschlossen.<br />

Auf dem Heimweg sprachen Meike und ich kein Wort. Ich<br />

überlegte, wie wir heute Nacht nach draußen schleichen<br />

könnten. Trotz meiner Angst wollte ich schließlich dabei<br />

sein. Kurz vor unserem Haus zog Meike an meinem<br />

Ärmel.<br />

„Ich weiß nicht, ob ich wirklich mitgehen soll. Ich hab’<br />

Schiss. Was ist, wenn wir verschlafen und zu spät zum<br />

Treffpunkt kommen? Wir haben doch keinen Wecker.“<br />

Daran hatte ich zwar auch schon gedacht, aber ich nahm<br />

Meikes Hand und spielte die große Schwester.<br />

„Wir schaffen das schon, wir schlafen einfach abwechselnd.<br />

Angst hab’ ich auch, aber die anderen sind ja dabei,<br />

was soll schon passieren.“<br />

Ich schaute auf die Uhr.<br />

„Es ist jetzt viertel nach zehn. Wenn wir gleich ins Bett gehen,<br />

können wir noch fast dreieinhalb Stunden schlafen.<br />

Willst du zuerst wach bleiben oder soll ich?“<br />

Meike überlegte nicht lange.<br />

„Lass mich, ich kann jetzt sowieso nicht schlafen!“<br />

111


„Gut, weck’ mich um viertel nach zwölf, dann übernehme<br />

ich die Wache!“<br />

Mama und Papa waren doch nicht mehr zu Franzens gegangen.<br />

Sie saßen im Wohnzimmer und lasen. Ihren Streit<br />

schienen sie beendet zu haben.<br />

„Gut, dass ihr jetzt kommt“, meinte Papa und gähnte herzhaft,<br />

„ich wollte euch gerade abholen. Wahrscheinlich haben<br />

wir heute Nachmittag zu lange Pott-erlösen gespielt,<br />

ich bin richtig müde.“<br />

„Wir auch“, sagte ich. Meike nickte heftig.<br />

„Wirklich?“, staunte Mama. Ich biss mir auf die Zunge, ich<br />

hätte an Meikes Tick niemals müde zu werden, denken<br />

müssen. Aber sie wusste jetzt, worauf es ankam.<br />

„Doch, doch!“, sagte sie.<br />

„Ich bin richtig fertig <strong>von</strong> heute Nachmittag. Bei Franzens<br />

bin ich schon fast eingeschlafen.“<br />

„Das liegt bestimmt an der guten Seeluft“, lächelte Mama,<br />

„also dann schlaft gut, ihr beiden.“<br />

Wir gingen nach oben. Erst jetzt fiel mir auf, wie laut die<br />

Treppenstufen knarrten.<br />

„Wie sollen wir hier heute Nacht nach unten kommen, ohne<br />

dass Mama und Papa etwas merken?“, flüsterte ich<br />

Meike zu.<br />

„Wir müssen ausprobieren, welche Stufen am wenigsten<br />

knarren“, antwortete sie. Wir taten also so, als müssten wir<br />

noch mal auf die Toilette oder hätten etwas vergessen und<br />

gingen die Treppe mehrmals hinauf und hinunter. Es war<br />

am Besten die Stufen nur am Rand zu betreten, da knarrten<br />

sie fast gar nicht.<br />

Als wir im Bett lagen, ging es mir wie Meike. Ich hatte das<br />

Gefühl, überhaupt nicht einschlafen zu können. Irgendwann<br />

merkte ich, dass mich jemand heftig schüttelte.<br />

„Du musst jetzt wach bleiben!“, wisperte Meike, „ich bin<br />

dran mit schlafen!“<br />

„Das stimmt nicht“, murmelte ich, „ich darf doch bis viertel<br />

nach zwölf!“<br />

112


„Was glaubst du, wie spät es jetzt ist?“, raunte Meike und<br />

zeigte mir das Zifferblatt meiner Armbanduhr. Ich setzte<br />

mich hin und rieb mir die Augen.<br />

„Das gibt’s doch gar nicht! Ich dachte, ich wäre gerade<br />

erst eingeschlafen!“<br />

Aber Meike hatte sich schon umgedreht und antwortete<br />

nicht mehr. Jetzt musste ich versuchen, wach zu bleiben.<br />

Es fiel mir leichter als ich dachte, denn ich spürte meine<br />

wachsende Aufregung. Gegen viertel vor zwei weckte ich<br />

Meike. Leise zogen wir uns an und schlichen wie abgesprochen<br />

die Treppe hinunter. Kurz vor der letzten Stufe<br />

passierte es. Wahrscheinlich war ich nicht vorsichtig genug,<br />

jedenfalls knarrte es laut. Meike drehte sich um und<br />

sah mich böse an. Ich erstarrte, in meinem Kopf raste es.<br />

Was sollte ich Mama sagen, wenn sie aufsteht und uns<br />

hier angezogen auf dem Weg nach draußen sieht? Aber<br />

es rührte sich nichts, Papa schnarchte. Wir blieben eine<br />

Weile still stehen und horchten in die Dunkelheit. Dann<br />

schlichen wir weiter. Jetzt mussten wir nur noch den<br />

Schlüssel der Wohnungstür umdrehen und die Tür so geräuschlos<br />

wie möglich öffnen, es klappte. Meinen Patzer<br />

auf der Treppe hatte ich wieder gut gemacht. Aufatmend<br />

standen wir endlich draußen, gingen zu unseren Rädern<br />

und schoben sie vorsichtig vom Hof.<br />

„Puh, das wäre geschafft“, entfuhr es mir. Meike nickte.<br />

Schweigend fuhren wir zu unserem Treffpunkt.<br />

113


<strong>Die</strong> Nacht im Wald<br />

„Na, seid ihr auch schon da?“<br />

Hanjo grinste uns an.<br />

„Hör bloß auf zu meckern, schließlich hatten wir genug Arbeit<br />

damit dich überhaupt wach zu kriegen!“, kam Katja<br />

uns zu Hilfe.<br />

„Wir haben ihm sogar einen Becher Wasser ins Gesicht<br />

geschüttet, sonst hätte er einfach weiter gepennt, der<br />

Schnarchhahn.“<br />

„Ja, ja, schon gut“, murmelte Hanjo, „wir müssen los, sonst<br />

wird es nachher hell und wir stehen hier immer noch herum!“<br />

Am Hollumer Wald folgten wir zu Fuß dem weichen, mit<br />

Tannennadeln bedeckten Weg in die Dunkelheit hinein.<br />

Ich war froh, als Meike nach meiner Hand fasste. Hanjo<br />

und Pit gingen mit einer Taschenlampe voran. Wenn sie<br />

den Lichtstrahl nach oben richteten, konnten wir an den<br />

langen Stämmen der Kiefern hochsehen. Sie kamen mir<br />

vor wie eine Armee riesiger Soldaten, die in Reih und<br />

Glied auf den Feind warten.<br />

„Das sieht echt unheimlich hier aus“, flüsterte ich Meike<br />

zu. Auf einmal knackte es neben uns im Unterholz. <strong>Die</strong><br />

Jungs blieben stehen und leuchteten in die Richtung, aus<br />

der das Geräusch kam. Meike und ich zuckten zusammen,<br />

ich spürte, wie sie meine Hand krampfhaft festhielt. Vor<br />

uns glühten zwei große, feurige Punkte. Ich schrie auf:<br />

„Hilfe, was ist das?“<br />

Dann sah ich im Zickzackkurs etwas auf dem Waldweg<br />

da<strong>von</strong> rennen. Hanjo lachte.<br />

„Das war ein Hase, der hatte größere Angst vor euch als<br />

ihr vor ihm.“<br />

114


„Sehr witzig!“, fauchte ich, „das hätte euch auch passieren<br />

können!“<br />

Aber ein bisschen schämte ich mich für meine Schreckhaftigkeit.<br />

Wir gingen weiter. Endlich lag der Platz, auf dem<br />

wir gestern Nachmittag noch gespielt hatten, still und ruhig<br />

im silbernen Mondlicht vor uns.<br />

„Was stand jetzt in dem Brief, wo haben sie die Figur versteckt?“,<br />

fragte Paula. Lara sah sich suchend um.<br />

„Unter einer Bank, aber hier sind ja sechs Bänke.“<br />

„Macht nichts“, meinte Olli, „wir teilen uns auf und buddeln<br />

unter allen gleichzeitig.“<br />

„Und wie stellst du dir das vor ohne Spaten?“, fragte ich.<br />

Katja schaute jetzt Hanjo an.<br />

„Hast du Papas Klappspaten vergessen?“<br />

„Daran hättest du mich ruhig erinnern können!“, fuhr er<br />

auf.<br />

„So ein Mist, nur weil du nicht mitdenken kannst, müssen<br />

wir jetzt mit den Händen buddeln!“<br />

Ich blitzte Hanjo böse an. Jetzt konnte ich ihm das Jungengetue<br />

<strong>von</strong> vorhin heimzahlen.<br />

„Hört auf zu streiten“, mischte sich Katja wieder ein, „wir<br />

machen’s so wie Olli gesagt hat. Hannah, du suchst mit<br />

Meike unter der ersten Bank, Olli und Lara, ihr geht zur<br />

nächsten und wir gehen zu den Bänken auf der anderen<br />

Seite. Wer was gefunden hat, meldet sich!“<br />

Zuerst versuchten Meike und ich festzustellen, ob man<br />

vielleicht schon auf den ersten Blick erkennen konnte,<br />

dass hier jemand etwas vergraben hatte. Aber wir sahen<br />

nichts Auffälliges.<br />

„Am besten reißen wir erst mal das Gestrüpp weg“, schlug<br />

ich vor, „dann können wir besser buddeln, darunter ist ja<br />

nur weicher Sandboden.“<br />

Während wir gruben, schaute ich immer wieder zu den<br />

anderen. Alle hatten mit der Arbeit begonnen. „Hier ist<br />

nichts!“, raunte Meike mir zu. Unser Loch war schon ziemlich<br />

tief.<br />

115


Plötzlich hörten wir Pit rufen.<br />

„Ich glaube ich habe sie, hier liegt was, kommt rüber!“<br />

Wir rannten zu ihm.<br />

„Schaut euch das an. Hier liegt doch eine Kiste!“<br />

Er hatte den Deckel einer dunklen Holzkiste freigelegt und<br />

klopfte ein paar Mal kräftig mit der Faust drauf.<br />

„Das muss sie sein. Gib mal dein Taschenmesser, Katja!“<br />

Mir klopfte das Herz bis zum Hals, hatten wir die Figur<br />

wirklich gefunden? Pit versuchte den Deckel <strong>von</strong> der Kiste<br />

zu lösen.<br />

„Mist, da sind ganz schön große Nägel drin!“<br />

Immer wieder setzte er das Messer an, um ihn abzuhebeln,<br />

aber es tat sich nichts. Plötzlich stand Olli mit einem<br />

dicken Stein hinter uns.<br />

„Geht mal weg“, sagte er, „mit dem Messer kommen wir ja<br />

nicht weiter.“<br />

Wir traten zur Seite, und bevor wir ihn daran hindern konnten,<br />

schleuderte er mit aller Kraft den Stein auf die Kiste.<br />

Jetzt war zwar ein Loch im Deckel, aber wahrscheinlich<br />

hatte ganz <strong>Ameland</strong> den Lärm gehört.<br />

„Bist du verrückt?“, schimpfte Lara, aber dann sahen wir in<br />

der Kiste etwas rot und grün schimmern. Vorsichtig begann<br />

Olli das zersplitterte Holz zu entfernen.<br />

„Wie sieht die denn aus?“, meinte Meike ungläubig. <strong>Die</strong><br />

Jungens kicherten, denn die Galionsfigur war eine Frau<br />

mit langen, feuerroten Haaren. Sie trug ein grünes Kleid<br />

mit einem so großen Ausschnitt, dass man eine ihrer<br />

Brüste sehen konnte. <strong>Die</strong> linke Hand streckte sie zum Siegeszeichen<br />

nach vorne, in der rechten hielt sie eine kleine<br />

Kugel oder einen Apfel, den sie an ihre Brust drückte.<br />

„Und danach haben wir jetzt die ganze Zeit gesucht?“,<br />

fragte Paula entgeistert. Hanjo schaute sich die Figur genau<br />

an.<br />

„<strong>Die</strong> sieht doch super aus. Ich finde, es hat sich gelohnt.<br />

Aber wie kriegen wir sie hier weg?“<br />

116


117


Wir waren ratlos. Wir hätten sie zwar zusammen bis zum<br />

Waldrand tragen können, aber für den ganzen Weg nach<br />

Hause war sie zu schwer.<br />

„Am Besten rufen wir jetzt Jaap an!“, schlug ich vor.<br />

„Weißt du wie spät es ist?“ Hanjo schüttelte den Kopf.<br />

„Blödmann“, dachte ich, „gestern Nachmittag sagt er mir<br />

was Nettes, und jetzt ist er die ganze Zeit gemein. Jungens<br />

sind schon komisch.“<br />

„Hannah hat Recht!“, unterstützte mich Paula, „wir sollten<br />

auf jeden Fall Jaap anrufen, egal wie spät es ist. Wir brauchen<br />

sein Auto!“<br />

„Gut!“, sagte Katja, „dann sag ihm Bescheid!“<br />

Paula wählte seine Nummer. Es dauerte eine ganze Weile,<br />

bis er ans Telefon ging. Wir konnten alles verstehen,<br />

weil sie ihr Handy auf ‚Mithören’ gestellt hatte.<br />

„Met Jaap Mathijsen“, meldete er sich verschlafen.<br />

„Ich bin es, Paula. Hör mal, Jaap, wir haben die Galionsfigur<br />

gefunden. Wir sind hier im Wald, sie liegt direkt vor<br />

uns.“<br />

„Waaas?“<br />

Jetzt war er hellwach.<br />

„Wo seid ihr genau? Wie sieht sie aus? Ist sie in Ordnung?“<br />

Paula erklärte ihm alles.<br />

„Ich fasse es nicht!“, hörten wir ihn jetzt wieder.<br />

„Passt auf, ich komme, ich bin in einer halben Stunde da<br />

und bringe Gerrit mit, der muss sich das auch angucken.<br />

Bitte fasst sie jetzt nicht weiter an!“<br />

Er legte auf.<br />

„Bin gespannt, was dieser Polizist zu unserer Entdeckung<br />

sagen wird“, meinte Hanjo.<br />

Wir setzten uns auf die Bänke und kuschelten uns ein<br />

bisschen aneinander. Inzwischen war es kühl geworden,<br />

und ich spürte meine Müdigkeit. Den anderen ging es<br />

auch so, keiner <strong>von</strong> uns sprach ein Wort. Ab und zu<br />

schlich sich ein Gähnen in unsere Gesichter.<br />

118


Endlich hörten wir Stimmen und sahen den Schein einer<br />

Taschenlampe. Das mussten sie sein.<br />

„Was macht ihr verrückten Kinder bloß für Sachen“, schüttelte<br />

Jaap den Kopf, als sie vor uns standen. Der andere<br />

Mann trug die typisch blaue Uniform holländischer Polizisten.<br />

„Das ist mein Freund Gerrit“, sagte Jaap, „aber wo ist jetzt<br />

die Figur?“<br />

Wir zeigten ihm die Kiste.<br />

„God verdomme, Kinder, ihr habt meine Marijke tatsächlich<br />

gefunden!“, rief er begeistert. Liebevoll tätschelte er ihr<br />

die Wangen und flüsterte Gerrit ein paar holländische<br />

Worte zu. „Ich bin so froh, sie zurück zu haben. Woher<br />

wusstet ihr denn, dass sie hier versteckt ist?“, fragte er<br />

uns. Schnell berichteten wir das Wichtigste. Von Meikes<br />

und meinen Beobachtungen auf dem Rettungsboot, dem<br />

Besuch bei Dijkstra zu Hause und dem Plan, noch in der<br />

Nacht nach der Figur im Wald zu suchen.<br />

„Das war eine gute Idee <strong>von</strong> euch“, sagte Jaap schließlich.<br />

Gerrit nickte zustimmend.<br />

„Ich weiß zwar nicht, was eure Eltern dazu sagen, wenn<br />

sie zu Hause eure leeren Betten entdecken, aber es hat<br />

sich in jedem Falle gelohnt, schnell etwas zu unternehmen.<br />

Als Polizist hätte ich auch nicht anders gehandelt.<br />

Und jetzt passt auf, Jaap und ich müssen euch noch etwas<br />

erzählen!“<br />

„Dijkstra wurde <strong>von</strong> seinem Sohn Ruud unter Druck gesetzt“,<br />

fuhr er fort, „ich glaube, er hätte sich sonst auf diese<br />

Sache bestimmt nicht eingelassen. Ruud hat ihm nicht<br />

nur den Brief geschrieben, den du gelesen hast, sondern<br />

ihn immer wieder telefonisch und durch SMS um Geld angebettelt.<br />

Er ist nämlich in Amsterdam in Drogenkreisen<br />

ziemlich bekannt. Meine Kollegen haben ihn dort schon<br />

lange unter Beobachtung.“<br />

119


„Steckt der alte Dijkstra mit ihm unter einer Decke, hat er<br />

auch was mit Rauschgift zu tun?“, fragte Meike.<br />

„Nein, glücklicherweise nicht. Ruud hat ihn gezwungen<br />

mitzumachen.“<br />

„Wissen wir schon“, sagte Lara stolz, „das stand in dem<br />

Brief, den ich gelesen hab’.“<br />

„Stimmt ja“, lächelte Gerrit, „dann ist euch natürlich auch<br />

klar, dass Wim Dijkstra als Geschäftsmann erledigt wäre,<br />

wenn die Ameländer ihn für einen Rauschgifthändler hielten.<br />

Wahrscheinlich hofft er, seinen Sohn mit dem Geld für<br />

die Figur endlich loswerden zu können. Ich habe zu Tieneke,<br />

seiner Frau in Leeuwarden, Kontakt aufgenommen.<br />

Sie weiß schon länger <strong>von</strong> Ruud. <strong>Die</strong> vielen Nachrichten<br />

und Briefe waren ihr nicht verborgen geblieben. Sie wusste,<br />

dass Dijkstra, lange bevor die beiden geheiratet hatten,<br />

eine unglückliche Beziehung zu einer Frau vom Festland<br />

hatte. Sie haben sich aber bald wieder getrennt und sie ist<br />

nach Amsterdam gezogen. Aus dieser Beziehung ist Ruud<br />

entstanden, aber Wim hat nie etwas da<strong>von</strong> erfahren. Später<br />

ist die Frau in Amsterdam durch einen Autounfall ums<br />

Leben gekommen. Na ja, und dann begann irgendwann<br />

Ruuds traurige Karriere als Drogensüchtiger. Um das alles<br />

zu finanzieren, hat er Kontakt zu seinem Vater aufgenommen<br />

und ihn nach und nach unter Druck gesetzt.“<br />

„Also hat Dijkstra eigentlich versucht seinem Sohn zu helfen“,<br />

sagte ich.<br />

„Ja“, fuhr Gerrit fort, „aber es ändert nichts daran, dass er<br />

sich auf eine kriminelle Tat eingelassen hat. Wim ist wahrscheinlich<br />

bis heute nicht klar, wie tief Ruud schon gesunken<br />

ist. Er hat seinem Vater zwar versprochen, ihn in Ruhe<br />

zu lassen, wenn alles klappt, aber mit Geld ist Ruud<br />

nicht mehr zu helfen. Und genau das müssen wir Wim klar<br />

machen.“<br />

„Deshalb brauchen wir auch noch einmal eure Hilfe“,<br />

schaltete sich Jaap ein.<br />

120


Ich kämpfte schon eine ganze Weile gegen die Müdigkeit,<br />

aber jetzt wurde ich wieder hellwach.<br />

„Was habt ihr denn vor?“, fragte ich.<br />

„Kurz gesagt geht es darum, den Dijkstras vorzumachen,<br />

Walross und Nackenlocke hätten sich die Figur zurückgeholt.“<br />

„Wie soll das funktionieren?“, wollte Katja wissen.<br />

„Indem wir ihnen einen Brief schreiben, dass wir, also Nackenlocke<br />

und Walross, endlich unseren noch ausstehenden<br />

Anteil haben wollen. Galionsfigur gegen Geld sozusagen.“<br />

„Aber Dijkstra hat doch gesehen, dass die beiden Gauner<br />

auf die Fähre gegangen sind“, sagte ich.<br />

„Stimmt“, entgegnete Gerrit, „aber er hat ihre Abfahrt nicht<br />

abgewartet. Sie könnten es sich ja wieder anders überlegt<br />

haben. Das wäre ja nicht das erste Mal.“<br />

„Und was soll das bringen? Eigentlich kannst du sie doch<br />

jetzt schon festnehmen, bei den Beweisen“, meinte Hanjo.<br />

„Wir hoffen, dass der Schock einer Festnahme durch die<br />

Polizei in Anwesenheit <strong>von</strong> Zeugen Wim dazu bringt alles<br />

freiwillig zu gestehen. Vor Gericht könnte er dann mit einer<br />

milderen Strafe rechnen. Wenn Gerrit ihn nämlich mühsam<br />

verhören müsste, würde Dijkstra wahrscheinlich<br />

nichts sagen, er kann ein ziemlicher Dickkopf sein. Und<br />

dann muss er sehr lange ins Gefängnis“, erklärte Jaap.<br />

„Genau“, nickte Gerrit, „deshalb wollen wir Wim und Ruud<br />

in dem Brief vorschlagen die Figur morgen um Mitternacht<br />

am Leuchtturm zu übergeben. Und dabei greifen wir noch<br />

mal tief in die Ameländer Gruselkiste.“<br />

„Hört sich gut an“, gähnte Pit, „aber erzähl’ uns den Rest<br />

morgen, ich muss dringend ins Bett.“<br />

„Na gut, es wird sowieso Zeit für euch, nach Hause zu fahren.<br />

Am besten treffen wir uns um fünf im Strandcafe. Wir<br />

bringen euch jetzt zurück nach Hollum.“<br />

„Tolle Idee“, murmelte Olli, stand auf und taumelte schlaftrunken<br />

in Richtung Waldrand. Wir folgten ihm. Jaap und<br />

121


Gerrit trugen die Kiste mit der Figur. Der Weg durch den<br />

Wald war jetzt nicht mehr aufregend, denn wir waren zu<br />

müde, um noch vor irgendetwas Angst zu haben. Außerdem<br />

dämmerte es schon, so dass wir auch ohne Taschenlampe<br />

ganz gut sehen konnten.<br />

Ich weiß nicht genau, wie wir es geschafft haben, aber<br />

Meike und ich kamen unbemerkt ins Haus. Papa lag im<br />

Bett und schnarchte immer noch, <strong>von</strong> Mama hörten wir<br />

nichts, also schlief sie wohl auch fest. Wir schlichen die<br />

Treppe hinauf. <strong>Die</strong>smal knarrte sie gar nicht, endlich konnten<br />

wir uns in unsere Betten kuscheln. Ganz weit weg hörte<br />

ich noch die Kirchturmuhr schlagen, dann schlief ich<br />

ein.<br />

122


<strong>Die</strong> Rache des Kapitäns<br />

Irgendetwas kitzelte mich. Ich dachte zuerst an eine Fliege,<br />

aber Papa saß an meinem Bett und berührte mit seinem<br />

Finger meine Nasenspitze. Ich wischte mit der Hand<br />

über mein Gesicht und blinzelte vorsichtig ins Tageslicht.<br />

„Hallo, meine Große, guten Morgen, willst du nicht langsam<br />

aufstehen?“<br />

<strong>Die</strong> Sonne schien schon durch das Dachfenster unseres<br />

Zimmers.<br />

„Wie spät ist es denn?“, murmelte ich.<br />

„Mittlerweile schon halb zwei nachmittags. Eigentlich ist<br />

der Tag schon halb vorüber“, meinte Papa mit sanfter<br />

Stimme. Ich setzte mich auf.<br />

„Wo ist Meike?“<br />

„<strong>Die</strong> ist schon unten. Aber lange ist sie auch noch nicht<br />

wach.“<br />

„Warum hast du mich denn nicht eher geweckt?“<br />

„Habe ich ja versucht.“<br />

Papas Lächeln kam mir irgendwie verdächtig vor. Wusste<br />

er etwas <strong>von</strong> der letzten Nacht? Ich wollte auf Nummer sicher<br />

gehen. Schnell sprang ich aus dem Bett, zog ein<br />

Sweatshirt über und ging nach unten in die Küche. Meike<br />

saß mit Mama am Tisch. Beide sahen mich an und Mama<br />

lächelte genauso wie Papa. Jetzt war ich sicher, irgendetwas<br />

wussten sie über unsere Nachtwanderung. Ob Meike<br />

geplaudert hatte?<br />

„Da kommt ja die zweite Nachtschwärmerin!“, begrüßte<br />

mich Mama. Ich schaute meine Schwester böse an, sie<br />

zuckte mit den Schultern.<br />

„Ich kann nichts dafür“, murmelte sie.<br />

„Jetzt setz dich erst mal hin!“, meinte Mama. Mein Herz<br />

klopfte, ich war gespannt, was jetzt passieren würde.<br />

123


„Ich habe heute Morgen ein sehr langes Telefongespräch<br />

mit Jaap geführt. Da habt ihr noch fest geschlafen. Mit mir<br />

hat er übrigens als Dritte gesprochen. Marlies, Rainer, Uli<br />

und Heike wissen also auch Bescheid.“<br />

Papa war inzwischen auch in die Küche gekommen.<br />

„Dass ihr nachts einfach aufsteht und euch auf so gefährliche<br />

Abenteuer einlasst. Was habt ihr euch dabei gedacht?<br />

Wenn euch dabei etwas passiert wäre!“<br />

Er schüttelte heftig den Kopf, musste aber gleichzeitig ein<br />

bisschen grinsen.<br />

„Also…“, begann ich zögernd, „wir haben uns schon etwas<br />

dabei gedacht.“<br />

„Genau!“, mischte Meike sich ein, „wir mussten heute<br />

Nacht nämlich nach der Figur suchen!“<br />

Ich trat gegen ihr Schienbein.<br />

„Du brauchst deine Schwester nicht zu treten. Ich habe ja<br />

schon gesagt, dass ich mit Jaap telefoniert habe. Er hat<br />

mir alles erzählt, wir sind also völlig auf dem Laufenden.“<br />

„Ja, und, Mama, was sagst du dazu?“, begann Meike jetzt<br />

wieder.<br />

„Ist doch super, was wir alles herausgefunden haben,<br />

oder?“<br />

Jetzt wartete ich gespannt auf ihre Antwort. Aus dem Augenwinkel<br />

konnte ich beobachten, wie Papa ihr leicht zunickte.<br />

„Ja“, setzte Mama zögernd wieder ein, „im Prinzip sind<br />

Papa und ich beeindruckt und...“<br />

Papa nahm ihr das Wort aus dem Mund: „… und deshalb<br />

haben wir beschlossen, euch zu helfen. Ein bisschen Abenteuer<br />

gibt unseren Ferien schließlich eine ganz neue<br />

Note.“<br />

„Echt jetzt?“, entfuhr es Meike. Auch ich starrte ihn ungläubig<br />

an.<br />

„Was meinst du damit, was habt ihr denn vor?“, wollte ich<br />

wissen. Mama kam ihm zuvor.<br />

124


„Ich habe Jaap am Telefon übrigens sehr deutlich meine<br />

Meinung gesagt. Ich fand es unmöglich <strong>von</strong> ihm, uns <strong>von</strong><br />

all dem nichts zu erzählen. Als Museumsdirektor hat er<br />

völlig unverantwortlich gehandelt!“<br />

Papa versuchte zu beschwichtigen.<br />

„Mama hat natürlich recht, eigentlich wollten wir euch jeden<br />

weiteren Kontakt zu Jaap verbieten. Aber da er ein<br />

netter Mann ist, haben wir Eltern es uns anders überlegt.“<br />

Ich atmete tief durch.<br />

„Aber wie seid ihr überhaupt darauf gekommen?“, wollte<br />

Meike wissen.<br />

„Und wie wollt ihr uns denn jetzt helfen?“, schob ich nach.<br />

„Jaap hat uns <strong>von</strong> seinem Plan schon kurz erzählt“, fuhr<br />

Papa fort, „es geht ja darum, Dijkstra und seinen Sohn<br />

heute Nacht zum Reden zu bringen. Um vier werden wir<br />

ihn bei den Münstermännern treffen, dann will er uns zusammen<br />

mit dem Polizisten alles genau erklären.“<br />

„Wir sind eigentlich gar nicht <strong>von</strong> selbst drauf gekommen“,<br />

sagte Mama jetzt wieder zu Meike, „Jaap hat <strong>von</strong> sich aus<br />

angerufen. Und das wurde auch höchste Zeit, kann ich nur<br />

sagen!“<br />

„Schade“, murmelte Meike.<br />

„Ihr werdet noch froh sein, uns mit im Boot zu haben“,<br />

stellte Papa fest.<br />

Ich war erleichtert, dass Jaap Mama und Papa eingeweiht<br />

hatte. Aber ich verstand nicht, wofür er die Erwachsenen<br />

brauchte.<br />

<strong>Die</strong> Zeit bis vier Uhr verging reichlich langsam, wir gingen<br />

noch nach draußen und besuchten ‚Gelbes P’.<br />

Endlich war es aber soweit. Olli und Pit spielten auf dem<br />

Rasen Fußball, als wir bei den Münstermännern eintrafen.<br />

„Seid bloß vorsichtig“, rief Uli leicht irritiert, als Pit den Ball<br />

kerzengerade in die Luft schoss, „ich will nicht schon wieder<br />

eine zerbrochene Fensterscheibe bezahlen!“<br />

125


„Meine Güte, Papa, ich hab’ jetzt schon tausend Mal erklärt,<br />

warum das zu unserem Plan gehörte. Hör endlich<br />

auf zu nerven!“<br />

„Ja, ja, ist schon gut!“<br />

Uli zuckte mit den Schultern und lächelte uns entschuldigend<br />

an.<br />

„Der Bursche macht es mir nicht einfach“, murmelte er<br />

mehr zu sich selbst.<br />

„Wem sagst du das“, stöhnte Papa mit einem Seitenblick<br />

auf Meike und mich.<br />

„Jetzt lasst uns nicht mehr über die Nachtwanderung reden“,<br />

schlug Rainer vor. Er wandte sich an Jaap und Gerrit:<br />

„Ich bin sicher, alle sind neugierig, wie euer Plan aussieht.<br />

Also, mein Lieber, lass hören, worum geht es genau?“<br />

Jaap unterbrach sein Gespräch mit unseren Müttern und<br />

räusperte sich.<br />

„Den Kindern habe ich es ja schon gesagt, ich bin sehr<br />

froh über ihre Hilfe. Ich glaube, ohne sie wären wir nicht so<br />

weit, wie wir jetzt sind. Und...“, er schaute jetzt Rainer an,<br />

„ich bin auch froh, euch Eltern endlich eingeweiht zu haben,<br />

denn ab und zu hatte ich doch ein schlechtes Gewissen.“<br />

„Ich finde es doof, dass sie jetzt mitmachen!“, rief Olli, „wir<br />

hätten den Rest auch allein geschafft.“<br />

„Genau“, stimmte Lara zu, „ich würde den Fall lieber ohne<br />

euch zu Ende bringen. Bis jetzt sind wir doch auch gut klar<br />

gekommen!“<br />

Olli schien es kaum zu glauben. Kein ‚Halts Maul, Olli!’ ,<br />

kein Meckern.<br />

„Was ist los mit dir?“, murmelte er, „bist du krank?“<br />

Jaap sagte lächelnd: „Ich glaube, Lara war einfach nur<br />

deiner Meinung. Du wirst dich daran gewöhnen müssen.“<br />

Rainer und Marlies schauten sich verwundert an. Wahrscheinlich<br />

hatten Lara, Olli und Paula <strong>von</strong> dem Streit nach<br />

der Nacht im Oerd noch gar nichts erzählt.<br />

126


„Aber jetzt will ich erklären, warum wir die Eltern brauchen“,<br />

kam Jaap zurück zum Thema.<br />

„Gerrit und ich haben nach einem Weg gesucht, Wim<br />

Dijkstra da<strong>von</strong> zu überzeugen, aus der Sache auszusteigen.<br />

Er muss begreifen, dass es so nicht weitergeht. Wie<br />

ihr wisst, sind die meisten Ameländer ein bisschen abergläubisch.<br />

Sie haben großen Respekt vor Sagengestalten<br />

und Märchenfiguren.“<br />

„Eben!“, sagte jetzt Gerrit, „deshalb soll es heute Nacht zur<br />

‚Rache des Kapitäns’ kommen.<br />

„Ach so“, sagte Hanjo jetzt etwas enttäuscht, „und weil den<br />

niemand <strong>von</strong> uns spielen kann, braucht ihr unsere Eltern.“<br />

Er schaute seinen Vater an.<br />

„Wie wär’s mit dir, Papa?“ Uli schüttelte den Kopf.<br />

„Nicht so schnell, erst will ich wissen, worum es geht!“<br />

„Also gut“, Jaap machte es sich auf einem Stuhl bequem.<br />

„Dann hört zu! <strong>Die</strong> meisten Ameländer kennen die Geschichte<br />

übrigens.“<br />

„Vor vielen Jahrhunderten befuhr ein Handelsschiff die<br />

Nordsee und versorgte die Bewohner der westfriesischen<br />

Inseln mit Gütern. So transportierte es Waren <strong>von</strong> <strong>Ameland</strong><br />

nach Terschelling, fuhr nach Texel oder auf die kleine<br />

Insel Schiermonnigkoog. Jedenfalls machte der Kapitän all<br />

die Jahre immer gute Geschäfte und bezahlte seine Besatzung<br />

angemessen.<br />

Eines Tages, das Schiff fuhr gerade vor der Küste <strong>Ameland</strong>s<br />

entlang, beobachteten die beiden Matrosen, die gerade<br />

Wache hatten, wie der Kapitän in seiner Kajüte eine<br />

kleine Truhe öffnete. Zufrieden betrachtete er ihren Inhalt.<br />

Neugierig geworden verließen sie ihren Posten und schlichen<br />

zum Fenster seiner Kajüte. Was sie sahen, erfüllte<br />

sie mit Begierde. <strong>Die</strong> Truhe war nämlich bis zum Rand mit<br />

Münzen gefüllt und der Kapitän ließ sie genießerisch<br />

durch seine Hände gleiten. <strong>Die</strong> beiden Matrosen schauten<br />

sich an, sie wollten diese Münzen unbedingt haben. Zwar<br />

fuhren sie jetzt schon seit drei Jahren mit dem Kapitän zur<br />

127


See und hatten in dieser Zeit immer eine sehr gute Heuer<br />

bekommen, doch jetzt sahen sie die Gelegenheit, endgültig<br />

auszusorgen.<br />

Leise schlichen sie vom Fenster zur Tür der Kajüte. Der<br />

eine Matrose hatte sein Messer gezogen und es sich zwischen<br />

die Zähne geklemmt. Der andere nahm ein Netz,<br />

das neben dem Steuerrad lag. Vorsichtig lauschten sie an<br />

der Tür, sie hörten die Münzen klimpern und den Kapitän<br />

leise kichern.<br />

Das war die Gelegenheit. Sie rissen die Kajütentür auf und<br />

stürzten sich auf ihn. Er war zu überrascht, um sich zu<br />

wehren. Der erste Matrose warf ihm das Netz über den<br />

Kopf, jetzt konnte er sich nicht mehr frei bewegen. Zappelnd<br />

und brüllend versuchte der Kapitän sich zu befreien.<br />

<strong>Die</strong> beiden Matrosen bekamen Angst. Was würde passieren,<br />

wenn es ihm gelänge das Netz wieder abzustreifen?<br />

Meuterei und Raub gehörten schließlich zu den schlimmsten<br />

Verbrechen, die man auf See begehen konnte. Sie<br />

wussten, dass sie zu weit gegangen waren. Aber es gab<br />

keinen Weg zurück, sie mussten ihn für immer zum<br />

Schweigen bringen.<br />

Der zweite Matrose erhob sein Messer und stach so lange<br />

zu, bis der Kapitän sich nicht mehr rührte. Sie ließen <strong>von</strong><br />

ihm ab und gruben wie <strong>von</strong> Sinnen mit ihren Händen in<br />

der Münztruhe.<br />

Aber was sollten sie mit der Leiche machen? Ihnen blieb<br />

nur ein Ausweg, sie über Bord zu werfen. Der erste Matrose<br />

fasste sie an den Füßen, der zweite unter den Armen<br />

und so trugen sie den toten Kapitän mühsam auf Deck.<br />

Sie schleppten ihn an die Reling und wuchteten seinen<br />

schweren Körper ins Wasser. Mit einem lauten Klatschen<br />

fiel er in die eiskalte Nordsee.<br />

„Möge es der Teufel geben, dass derjenige, der ihn auffischt<br />

oder am Strand findet, ihn für immer und ewig mit<br />

sich herumschleppen muss!“, schimpften sie.<br />

128


Sie hatten ihren bösen Fluch noch nicht ganz ausgesprochen,<br />

da erhob sich ein schrecklicher Sturm. Seine Gewalt<br />

war so groß, dass schon nach wenigen Minuten der große<br />

Segelmast und das Ruder brachen und das Schiff hilflos<br />

auf den Wellen des Meeres trieb.<br />

Entsetzt sprangen sie ins Wasser. <strong>Die</strong> einzige Chance, die<br />

sie hatten, bestand darin, sich schwimmend an den Strand<br />

<strong>von</strong> <strong>Ameland</strong> zu retten. <strong>Die</strong> Wellen schlugen so hoch wie<br />

Häuser. Nach und nach näherten die Matrosen sich aber<br />

der Insel <strong>Ameland</strong>. Irgendwo am Strand <strong>von</strong> Ballum wurden<br />

sie an Land gespült. Froh und glücklich den schrecklichen<br />

Sturm lebend überstanden zu haben, erhoben sie<br />

sich. Beim Zucken der Blitze sahen sie, dass große Teile<br />

der Ladung des Schiffes am Strand lagen.<br />

„Lass uns nach wertvollen Sachen suchen, die wir vielleicht<br />

in Nes verkaufen können“, sagte der erste Matrose.<br />

Sie hofften, vielleicht sogar die Truhe mit einigen der Münzen<br />

wieder zu finden. Also liefen sie am Strand entlang<br />

und hielten nach Dingen Ausschau, die sie noch gebrauchen<br />

konnten. In einiger Entfernung lag ein größerer,<br />

dunkler Gegenstand. In großer Eile liefen sie zu der Stelle<br />

und hofften, etwas Wertvolles zu finden. Gierig streckten<br />

sie ihre Hände aus, um ihn umzudrehen. Und dann passierte<br />

etwas Schreckliches. Als sie sich vorbeugten, fühlten<br />

sie zwei eiskalte Arme an ihren Schultern, Hände, die<br />

sich in ihren Jacken festkrallten und nicht mehr loslassen<br />

wollten. Schmerzhaft spürten sie die Fingernägel in der<br />

Haut. Sie zerrten, zogen und schüttelten sich, aber sie<br />

konnten das Wesen, das sich an ihnen festgekrallt hatte,<br />

nicht mehr loswerden. Als ein weiterer Blitz den Strand erhellte,<br />

sahen sie zu ihrem Entsetzen in das verzerrte Gesicht<br />

des Kapitäns, den sie gefunden hatten, und der sie<br />

jetzt fest im Griff hatte. Er schaute sie mit gebrochenen,<br />

toten Augen an. So oft sie auch versuchten ihn abzuschütteln,<br />

er schien sich immer fester an sie zu krallen.<br />

129


Schließlich wankten die beiden laut klagend, den leblosen<br />

Körper zwischen sich, in die Ballumer Dünen. Der Fluch,<br />

den sie ausgestoßen hatten, als sie den Ermordeten über<br />

Bord geworfen hatten, erfüllte sich nun an ihnen selbst.<br />

Angeblich sollen sie bis heute noch irgendwo in den Dünen<br />

herumgeistern und den Kapitän <strong>von</strong> einem Ende der<br />

Insel zum anderen schleppen.“<br />

Wir starrten Jaap an.<br />

„Was ist los mit euch, warum sagt ihr nichts?“, fragte er<br />

verwundert.<br />

„Oh Mann, ich hab’ mir beim Zuhören schon fast in die<br />

Hose gemacht!“, sagte Pit ziemlich beeindruckt.<br />

„<strong>Die</strong> Geschichte war super“, meinte Lara, „aber was machen<br />

wir damit? Denkst du an eine ähnliche Show wie am<br />

Ententeich?“<br />

„Genau“, antwortete Jaap, „und dafür brauche ich die Erwachsenen,<br />

denn nur sie können den Kapitän und die<br />

Matrosen spielen.“<br />

Papa und Uli winkten sofort ab.<br />

„Mit mir musst du da nicht rechnen, ich habe keine schauspielerischen<br />

Fähigkeiten“, meinte Papa.<br />

„Ich finde diese Aufgabe reizvoll.“<br />

Rainer grinste in die Runde.<br />

„Schließlich bin ich als Lehrer auch so eine Art Schauspieler,<br />

und als untoter Kapitän könnte ich mal ganz neue Seiten<br />

<strong>von</strong> mir zeigen.“<br />

„Aber es geht nicht nur um den Kapitän, wir brauchen<br />

auch die beiden Matrosen. Also, meine Herren, die Kinder<br />

sind Kinder, sie können keine erwachsenen Matrosen<br />

spielen. Wenn wir die beiden Dijkstras zum Reden bringen<br />

wollen, brauchen wir euch!“, betonte Gerrit. Papa hob abwehrend<br />

die Hände, er war nicht sehr angetan <strong>von</strong> der<br />

Idee.<br />

„Nein, nein, ich kann das nicht. Außerdem ist doch die<br />

Frage, ob das ganze nicht auch gefährlich werden kann!“<br />

130


„Es kann nichts passieren“, antwortete Gerrit, „wir wissen,<br />

dass sie keine Waffen haben und sollten sie euch angreifen,<br />

sind wir sofort da. Mein Kollege und ich sind im<br />

Leuchtturm und Jaap versteckt sich mit euch im Gebüsch.“<br />

Erwartungsvoll schauten wir unsere Väter an. Auch Mama<br />

und Heike schienen inzwischen überzeugt zu sein.<br />

„Es kann doch wirklich nichts passieren“, beruhigte sie<br />

Heike.<br />

„Wenn ich das richtig sehe, werdet ihr Rainer tragen müssen,<br />

keine leichte Aufgabe“, lächelte Mama.<br />

„Aber ich verstehe immer noch nicht genau, wieso du<br />

glaubst, dass die beiden Dijkstras dadurch freiwillig gestehen?“<br />

„Ich baue auf ihren Aberglauben“, antwortete Jaap, „wenn<br />

der Kapitän ihnen richtig droht, glauben sie die nächsten<br />

zu sein, die ihn durch die Ameländer Dünen schleppen<br />

müssen.“<br />

„Und dann kommt der Auftritt der Polizei“, fuhr Gerrit fort,<br />

„ihr drei Darsteller verschwindet und wir nehmen die<br />

Dijkstras fest. Aus Dankbarkeit werden sie singen wie die<br />

Vögelchen!“<br />

„Aber dann haben wir ja überhaupt nichts mehr zu tun!“,<br />

mischte sich jetzt Hanjo ein.<br />

„Doch, doch“, sagte Gerrit, „da ihr bisher schon so viel für<br />

die Aufklärung der Geschichte getan habt, brauchen wir<br />

euch als Zeugen. Ihr versteckt euch mit uns im Leuchtturm,<br />

über die Außenmikrofone könnt ihr alles mithören.<br />

Ihr habt die Sache angefangen, mit euch soll sie auch zu<br />

Ende gehen!“<br />

„Vorausgesetzt die beiden Dijkstras lassen sich wirklich<br />

ins Bockshorn jagen“, murmelte Papa, der immer noch zu<br />

zweifeln schien.<br />

„Ich bin sicher, es wird klappen!“, antwortete Jaap.<br />

„Ihr braucht nichts zu sagen. Wir haben die Stimme des<br />

Kapitäns auf CD aufgenommen. Außerdem meint es das<br />

131


Wetter heute Nacht gut mit uns, es soll stürmisch sein und<br />

regnen. Genau richtig für unseren Plan!“<br />

„Also, was ist jetzt?“<br />

Hanjo schaute Papa und Uli auffordernd an.<br />

„Ihr müsst einfach mitmachen!“<br />

<strong>Die</strong> beiden nickten.<br />

„Na gut, aber seid bloß rechtzeitig da, falls es gefährlich<br />

werden sollte!“<br />

Ich freute mich. Papa würde den Matrosen sicher gut spielen.<br />

Er brauchte den Kapitän ja nur zu tragen und ein verzweifeltes<br />

Gesicht machen. Bei Rainers Körpergewicht<br />

dürfte ihm das sowieso nicht schwer fallen.<br />

„Wie gesagt, Gerrit und ich haben schon ein bisschen vorgearbeitet“,<br />

erzählte Jaap jetzt weiter.<br />

„Wir kennen einen Schauspieler, der auf <strong>Ameland</strong> geboren<br />

wurde. Er besucht hier gerade seine Eltern, deshalb haben<br />

wir ihn gebeten für uns den Kapitän zu sprechen.<br />

„Wie heißt der denn?“, fragte Meike neugierig.<br />

„Bart de Gee, aber du hast bestimmt noch nichts <strong>von</strong> ihm<br />

gehört“, antwortete Jaap, „er ist eigentlich nur in Holland<br />

bekannt.“<br />

„Und was sagt er? Das müssen wir ja wissen, wenn wir<br />

uns auf unsere Rolle vorbereiten sollen!“, meinte Uli jetzt.<br />

„Wenn die beiden Matrosen mit dem Kapitän jammernd<br />

und klagend aus dem Gebüsch kommen, ruft er nach Wim<br />

und Ruud. Er droht und verlangt <strong>von</strong> ihnen, seine Matrosen<br />

abzulösen. Sie sollen ihn ab sofort selbst durch die<br />

Dünen schleppen. Als Strafe für den Raub der Galionsfigur.<br />

Wenn sie dann richtig Angst haben, kommen wir,<br />

nehmen sie fest, und sie können sich alles <strong>von</strong> der Seele<br />

reden. Aber ich schlage vor, ihr drei hört euch die CD an<br />

und bereitet euch gemeinsam mit Jaap auf euren Auftritt<br />

vor. Ich fahre mit meinem Kollegen zum Leuchtturm und<br />

installiere die Technik. Wir treffen uns um elf, damit wir auf<br />

jeden Fall vor den Dijkstras da sind. Sie werden heute beobachtet.<br />

Wir sind also über jeden Schritt, den sie<br />

132


machen, informiert. Wenn sie früher kommen, können wir<br />

uns rechtzeitig zurückziehen.“<br />

Ich schaute auf die Kirchturmuhr, die ich <strong>von</strong> der Terrasse<br />

aus gut sehen konnte. Sie zeigte halb sechs. Wind war<br />

aufgekommen und die Sonne versteckte sich hinter Wolkenfetzen,<br />

die am Himmel entlang jagten. Das Wetter<br />

schlug also tatsächlich um. Rainer, Uli, Papa und Jaap<br />

fuhren zum Museum nach Buren und wir beschlossen, zu<br />

Hause zu warten und später zusammen zum Leuchtturm<br />

zu fahren.<br />

„Was glaubst du, wird es klappen?“, fragte ich Katja, während<br />

wir zurückgingen.<br />

„Warum nicht“, antwortete sie, „schließlich hat es im Oerd<br />

auch funktioniert. Und wenn es stimmt, was Jaap sagt,<br />

und die Ameländer wirklich so abergläubisch sind, dann<br />

müssten sie vor der Rache des Kapitäns noch größere<br />

Angst haben als Nackenlocke und Walross vor der Rixt.“<br />

„Kann schon sein“, seufzte ich, „aber Papa und Uli wirkten<br />

ja nicht sonderlich begeistert.“<br />

„<strong>Die</strong> kriegen das schon hin!“, meinte Meike.<br />

„Ich glaube sogar, sie werden genauso viel Spaß an der<br />

Sache haben wie du.“<br />

Katja grinste.<br />

„Mal sehen“, antwortete sie. Vor dem Haus der Franzens<br />

trennten wir uns.<br />

„Wenn wir vorher <strong>von</strong> Gerrit oder Jaap nichts hören, holen<br />

wir euch gegen viertel vor elf wieder ab und fahren zusammen<br />

zum Leuchtturm. <strong>Die</strong> Münstermänner treffen wir<br />

am Ortsausgang“, sagte Mama zu Heike.<br />

Es wehte inzwischen immer stärker. <strong>Die</strong> Sonne war fast<br />

verschwunden und die ersten Regentropfen fielen. Als wir<br />

zu unserer Hofeinfahrt kamen, drängten sich die Schafe<br />

bereits Schutz suchend auf ihrer Wiese zusammen. Nur<br />

‚Gelbes P’ stand allein in der Nähe des Zauns und schien<br />

auf uns zu warten. Wir streichelten es und gaben ihm ein<br />

saftiges Grasbüschel zu fressen.<br />

133


„Guck mal“, sagte Meike, „der Regen fällt gar nicht mehr<br />

vom Himmel, sondern kommt <strong>von</strong> der Seite.“<br />

„Weißt du was? Wir holen unsere Regenjacken und probieren<br />

aus, ob wir sie als Segel benutzen können!“, schlug<br />

ich vor. Meike war begeistert, denn der Wind blies jetzt so<br />

stark, er würde uns bestimmt halten, wenn wir uns gegen<br />

ihn lehnten. Zurück auf der Wiese ergriffen wir die beiden<br />

flatternden Enden der offenen Jacke und streckten die<br />

Arme nach hinten, bis sie sich aufblähte.<br />

„Es geht, es geht!“, schrie Meike, „ich bin eine Möwe, ich<br />

kann fliegen!“<br />

Auch bei mir funktionierte es. Das machte zwar Spaß,<br />

aber der Regen lief mir in Strömen durchs Gesicht und<br />

nach kurzer Zeit war ich nass bis auf die Haut. Ich klappte<br />

meine triefende Jacke zusammen und rannte zurück ins<br />

Haus. Mama saß im Wohnzimmer.<br />

„Ich wollte euch gerade rufen“, sagte sie, „ist Meike immer<br />

noch draußen?“<br />

„Ja, sie steht noch auf der Schafswiese und lehnt sich mit<br />

der Regenjacke…“<br />

Ich konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, weil ein greller<br />

Blitzschlag unser Wohnzimmer erleuchtete, gefolgt <strong>von</strong><br />

einem lauten Donnern. Mama sprang sofort auf.<br />

„Jetzt wird es aber Zeit, dass Meike auch kommt!“<br />

Sie riss die Haustür auf, um sie zu rufen. Da zuckte der<br />

nächste Blitz über den dunklen Himmel, wieder donnerte<br />

es. Gleichzeitig fuhr eine heftige Windböe in den Flur und<br />

erwischte eine Vase, die auf einem Regal stand. Mit lautem<br />

Klirren zerbrach sie in tausend Scherben.<br />

„Meike, Meike, das ist zu gefährlich, komm sofort ins<br />

Haus!“<br />

Mama schrie aus Leibeskräften, aber meine Schwester<br />

reagierte nicht. Wir hörten sie juchzen, Angst schien sie<br />

nicht zu spüren. Typisch Meike. Wenn sie ein cooles Spiel<br />

gefunden hat, lässt sie sich durch nichts und niemanden<br />

stören.<br />

134


„Es ist immer dasselbe!“, schimpfte Mama, „dieses Kind<br />

macht, was es will. Zieh dir was Trockenes an, ich hole<br />

Meike <strong>von</strong> der Wiese!“<br />

Meike bemerkte Mama erst, als sie direkt hinter ihr stand.<br />

Ich sah, wie die beiden stritten. Meine Schwester wollte<br />

bleiben, aber Mama setzte sich durch und dann rannten<br />

sie zusammen zurück zum Haus. Es blitzte schon wieder,<br />

ich hielt mir die Ohren zu, um den Donner nicht zu hören.<br />

Als beide pudelnass im Flur standen, schrie Mama sie an:<br />

„Das machst du nicht noch einmal! Du kannst doch nicht<br />

mitten in einem gefährlichen Gewittersturm draußen bleiben!“<br />

„Wieso? Das war doch gar nicht schlimm, das hat voll<br />

Spaß gemacht!“, brüllte Meike genauso laut zurück.<br />

Ein komisches Bild. Da standen meine Mutter und meine<br />

kleine Schwester bei Sturm, Gewitter und Regen im Flur<br />

und diskutierten, ob es gefährlich ist, mit der Regenjacke<br />

auf einer Schafsweide eine fliegende Möwe zu spielen. Ich<br />

konnte mir das Lachen nicht verkneifen. Ärgerlich drehte<br />

sich Mama zu mir um.<br />

„Was gibt es denn da zu lachen? Das ist wirklich gefährlich,<br />

du hättest deine Schwester auf der Wiese gar nicht<br />

allein lassen dürfen!“<br />

Ich prustete noch heftiger los.<br />

„Stimmt ja, aber ihr müsst euch mal angucken, ihr seht<br />

aus wie zwei begossene Pudel!“<br />

Sie standen in einer mittleren Wasserpfütze, die sich inzwischen<br />

unter ihren Füßen ausgebreitet hatte. Jetzt<br />

mussten sie auch lachen.<br />

„Wisst ihr was?“, sagte Mama, „wir ziehen uns um und<br />

dann gibt’s zum Abendessen Tee mit viel Kandiszucker.“<br />

Kurze Zeit später saßen wir drei friedlich am Tisch, aßen<br />

Tomatenbrote und tranken dazu den heißen Tee. Draußen<br />

donnerte und blitzte es weiter und der Regen schlug prasselnd<br />

gegen die Fenster. Und doch konnten wir es kaum<br />

erwarten endlich zum Leuchtturm zu fahren.<br />

135


Gegen zehn klingelte das Handy. Es war Papa.<br />

„Wie läuft es bei euch, habt ihr alles vorbereitet?“, fragte<br />

Mama. Meike und ich hörten gespannt zu. Endlich hatte<br />

Mama aufgelegt.<br />

„Na, was ist jetzt?“, fragte ich.<br />

„Also, sie wissen, was sie nachher am Leuchtturm zu tun<br />

haben. Papa ist gespannt, ob wir ihn überhaupt erkennen.<br />

<strong>Die</strong> Kostüme und die Schminke hätten sie völlig verändert,<br />

sagt er. Gerrit scheint mit seinen Vorbereitungen am<br />

Leuchtturm auch so weit zu sein, bis jetzt läuft also alles<br />

nach Plan.“<br />

„Und was ist mit den beiden Dijkstras? Gerrits Kollege hat<br />

sie doch beobachtet“, wollte Meike wissen.<br />

„Im Augenblick sitzen sie im Zwaan an der Theke. Wahrscheinlich<br />

fahren sie <strong>von</strong> dort direkt zum Leuchtturm.<br />

Wims Sohn trinkt ein Bier nach dem anderen.“<br />

„Nicht schlecht“, sagte ich. „wenn er alles doppelt sieht,<br />

hat er nachher auch doppelt so viel Angst.“<br />

Endlich konnten wir los. Von dem Gewitter hörten wir nur<br />

noch ein leises Grollen. Das Radfahren war aber ziemlich<br />

anstrengend, denn der Wind kam <strong>von</strong> vorne und wehte<br />

uns den Regen direkt ins Gesicht. Wer schon mal in Holland<br />

Fahrrad gefahren ist, weiß wahrscheinlich, wo<strong>von</strong> ich<br />

rede.<br />

„Da seid ihr ja“, rief Pit, „ich warte schon fast eine viertel<br />

Stunde!“<br />

„Na und!“, entgegnete ich, „es ist doch jetzt genau viertel<br />

vor elf, wenn du es nicht abwarten kannst, dann bist du<br />

selbst schuld!“<br />

„Hannah hat recht“, meinte Heike, „es hat dich keiner gezwungen<br />

die ganze Zeit draußen zu warten. <strong>Die</strong> Sommers<br />

sind jedenfalls pünktlich!“<br />

Pit brummelte irgendetwas. Katja und Hanjo grinsten, sie<br />

kannten ihren Bruder. Vor allem spät abends hatte er selten<br />

gute Laune, da er als Frühaufsteher um diese Zeit<br />

136


eigentlich schon im Bett lag. An der Dorfausfahrt Richtung<br />

Leuchtturm trafen wir die Münstermänner.<br />

„Der Kapitän und die beiden Matrosen sind schon da“, rief<br />

Olli uns entgegen, „es wird Zeit, dass das Ermittlerteam<br />

auch an den Ort des Verbrechens eilt, ich will die beiden<br />

Ganoven endlich überführen!“<br />

„Jetzt schrei doch nicht so rum, Olli, wenn die Dijkstras<br />

hier vorbei fahren, bekommen sie alles mit! Dann ist unser<br />

schöner Plan sofort im Eimer, nur weil du nicht die Klappe<br />

halten kannst!“<br />

<strong>Die</strong>smal wies nicht Lara Olli zurecht, sondern Paula. Er<br />

schien aber Verständnis dafür zu haben, denn er hielt sich<br />

die Hand vor den Mund und sah sich erschrocken um.<br />

Mama schaute auf ihre Armbanduhr.<br />

„Es ist gleich elf!“, rief sie, „es wird Zeit!“<br />

Langsam setzten wir uns in Bewegung. Als wir den Schutz<br />

der Häuser <strong>von</strong> Hollum verließen, fiel uns der Wind wieder<br />

genau <strong>von</strong> vorne an. Nur mit Mühe kamen wir voran. Ich<br />

hatte meine Kapuze aufgesetzt und sie unter dem Kinn<br />

fest gebunden. Trotzdem spürte ich, wie mir der Regen<br />

langsam unter die Jacke lief. Schwer tretend und keuchend<br />

radelte ich neben Meike, die fast die ganze Zeit im<br />

Stehen fuhr, um überhaupt voranzukommen. Plötzlich<br />

schepperte es hinter mir.<br />

„Hilfe, pass doch auf!“, hörte ich Paula schreien. Ich<br />

bremste, um mich umzuschauen und sah sie auf der Straße<br />

liegen. Direkt vor ihr, das Rad gerade noch zwischen<br />

den Beinen haltend, stand Hanjo. Er hatte der stürzenden<br />

Paula wohl nicht mehr ausweichen können.<br />

„Warum musst du so plötzlich bremsen?“, brüllte er sie an.<br />

Sie antwortete nicht und heulte. Mama und Marlies begannen<br />

das Knäuel aus Armen, Beinen und Fahrrädern zu<br />

entwirren und halfen ihr wieder auf die Beine.<br />

„Jetzt schrei sie nicht an. In der Dunkelheit und bei dem<br />

Wetter kann das schnell passieren!“, meinte Heike. Allzu<br />

137


schlimm schien der Unfall aber nicht gewesen zu sein,<br />

denn Paula beruhigte sich schnell.<br />

„Ich bin in Ordnung“, sagte sie, „nur ein kleiner Riss in<br />

meiner Hose. Wir können weiterfahren.“<br />

Nach kurzer Zeit bogen wir <strong>von</strong> der Straße ab und folgten<br />

einem schmalen Weg durch ein kleines Wäldchen. Dann<br />

standen wir vor dem Leuchtturm. Mir kam es hier ziemlich<br />

gespenstisch vor.<br />

„Kannst du was <strong>von</strong> Papa, Rainer und Uli sehen?“, wisperte<br />

mir Meike zu.<br />

„Bis jetzt noch nicht“, antwortete ich und schaute mich um.<br />

Es war stockfinster, wir konnten den Wind durch die Bäume<br />

und Büsche heulen hören, nur ab und zu blitzte das<br />

Leuchtfeuer auf, dessen Scheinwerfer sich oben am Turm<br />

gleichmäßig drehte. Hin und wieder zuckte auch<br />

noch ein Blitz über den Himmel und tauchte<br />

alles sekundenlang in grell-fahles Licht.<br />

138


„Papa, Gerrit, wir sind da, wo seid ihr denn?“, rief Hanjo<br />

jetzt mit leicht zittriger Stimme. Ich hatte vor lauter Aufregung<br />

einen trockenen Mund. Marlies stellte ihr Rad ab, lief<br />

zu der großen, eisernen Eingangstür des Leuchtturms und<br />

klopfte mit ihrer Faust dagegen.<br />

„Hallo, Gerrit, mach auf!“ Plötzlich hörten wir im Innern des<br />

Leuchtturms Schritte, es schien jemand schnell eine Treppe<br />

hinabzulaufen. Dann drehte sich ein Schlüssel und die<br />

Tür öffnete sich.<br />

„Guten Abend. Herzlich willkommen im Leuchtturm <strong>von</strong><br />

<strong>Ameland</strong>!“, sagte Gerrit, der eine große Taschenlampe in<br />

der Hand hielt und sich und danach uns damit anstrahlte.<br />

„Entschuldigt, wenn ich euch habe warten lassen, aber ich<br />

war oben im Zimmer des Leuchtturmwärters.“<br />

„Hauptsache du bist jetzt da“, meinte Marlies.<br />

„Wo sollen wir die Räder lassen?“<br />

„Am besten stellt ihr sie hier im Eingangsbereich ab. Dann<br />

können die beiden Dijkstras sie nicht sehen.“<br />

Der Reihe nach schoben wir sie hinein und lehnten sie an<br />

die stählerne Innenwand des Leuchtturms. Gerrit schloss<br />

die Tür. Das Heulen des Windes konnten wir hier drinnen<br />

nur ganz dumpf hören.<br />

„Ich hoffe, wir werden einen schönen Abend erleben.“<br />

Gerrit lächelte uns an und breitete einladend seine Arme<br />

aus.<br />

„Wo sind Papa, Rainer und Uli?“, fragte Meike ganz aufgeregt.<br />

„Keine Angst, Meisje, die sind draußen gut versteckt und<br />

werden gleich ihren großen Auftritt haben.“<br />

Gerrit kniff ihr ein Auge zu.<br />

„Wir gehen nach oben.“<br />

Er stieg eine schmale Wendeltreppe hinauf und einer nach<br />

dem anderen folgten wir ihm. Jeder Schritt hallte, was im<br />

Dunkeln etwas unheimlich klang.<br />

„Haben die überhaupt kein Licht hier?“, flüsterte mir Katja<br />

zu, die hinter mir ging.<br />

139


„Doch, mein Kind, aber jetzt ist es zu gefährlich, das Licht<br />

im Turm einzuschalten. <strong>Die</strong> Dijkstras könnten etwas bemerken<br />

und misstrauisch werden!“, hörten wir Gerrit antworten.<br />

Erschrocken blieben wir stehen, denn Katja und<br />

ich liefen am Ende der Gruppe und er war vorausgegangen.<br />

„Wo bist du, Gerrit? Wieso hast du uns gehört?“, rief Katja<br />

in die Dunkelheit hinein.<br />

„Ich bin der Geist, der alles weiß! Quatsch, Katja. Hier ist<br />

doch alles aus Stahl, deshalb werden Geräusche gut übertragen.<br />

Im Leuchtturm kann nichts geheim bleiben. Man<br />

hört hier auch, wenn jemand flüstert!“<br />

Während er sprach, stiegen wir die Treppe weiter nach<br />

oben. Endlich hatten wir die dritte Plattform erreicht, auf<br />

der sich das Zimmer des Leuchtturmwärters befand. Bei<br />

Helligkeit hätten wir sicher eine tolle Sicht über das Meer<br />

und die Insel gehabt. Jetzt sahen wir nur die Dunkelheit<br />

und einzelne Lichter. Gerrit saß auf einem Stoß Taue, die<br />

wie große Lakritzschnecken aufgerollt auf dem Boden lagen<br />

und grinste uns an.<br />

„Du hast uns einen ziemlichen Schrecken eingejagt“,<br />

keuchte ich, noch außer Atem vom Treppen steigen.<br />

„Tut mir leid“, antwortete Gerrit, „aber es war zu schön<br />

diese Gelegenheit auszunutzen. Jetzt passt mal auf.“<br />

Er schaute auf seine Uhr.<br />

„Es ist kurz vor Mitternacht. Wenn alles nach Plan läuft,<br />

müssten die Dijkstras gleich eintreffen. Ihr müsst auf jeden<br />

Fall hier oben bleiben, dann könnt ihr jedes Wort verstehen,<br />

das unten gesprochen wird. Mein Kollege hat über<br />

dem Eingang ein sehr leistungsstarkes, kleines Mikro angebracht.“<br />

„Jetzt will ich aber genau wissen, wo unsere Schauspieler<br />

sind!“, wollte Mama wissen. Gerrit gab ihr ein Nachtfernglas.<br />

„Wenn du hier durch das Fenster nach unten siehst,<br />

kannst du den Leuchtturmplatz erkennen, er ist mit hellem<br />

140


Kies bedeckt. Am Rand wird es wieder dunkler, da beginnt<br />

das Gebüsch.“<br />

Mama schaute aus dem Fenster.<br />

„Stimmt, haben sie sich da versteckt?“<br />

„Genau“, antwortete er, „im Innern ist ein großer Hohlraum.<br />

Dort warten sie, bis die beiden Dijkstras auftauchen.<br />

Sobald sie da sind, werden sie so laut wie möglich durch<br />

die Zweige brechen, stehen bleiben und die beiden anstarren.“<br />

„Und Jaap bedient die Anlage mit der Stimme des Kapitäns“,<br />

ergänzte Hanjo und lächelte.<br />

„Genau, ich hoffe, er hat dort alles im Griff.“<br />

„Wann willst du mit deinem Kollegen eingreifen?“, fragte<br />

Heike.<br />

„Wir warten unten im Erdgeschoss hinter der angelehnten<br />

Eingangstür. Sobald wir <strong>von</strong> Jaap ein Zeichen bekommen,<br />

stürmen wir raus, Jaap schaltet die Scheinwerfer an und<br />

wir nehmen sie fest. Ich schätze, die beiden werden froh<br />

sein, wenn wir sie vor der Rache des Kapitäns schützen.“<br />

Hanjo klatschte begeistert in die Hände.<br />

„Eine wirklich starke Idee, die hätte <strong>von</strong> mir kommen können!“<br />

Plötzlich surrte Gerrits Handy.<br />

„Was ist los?“, fragte er. Dann wandte er sich an uns.<br />

„Es ist soweit, mein Kollege meldet, die beiden werden jeden<br />

Augenblick da sein. Also, verhaltet euch so, wie ich’s<br />

euch erklärt habe.“<br />

Er lief schnell nach unten, um ihm die Tür zu öffnen.<br />

Wir griffen nach den Nachtgläsern, die Gerrit für jeden <strong>von</strong><br />

uns besorgt hatte, und stürzten an die Fenster. Auch ich<br />

konnte den hellen Leuchtturmplatz gut erkennen. Der<br />

Wind heulte noch immer ziemlich kräftig und schüttelte<br />

das Gebüsch und die Bäume gehörig durcheinander, der<br />

Regen klatschte laut gegen die Fensterscheiben.<br />

„Ich sehe niemand“, sagte Pit, der direkt neben mir stand.<br />

141


„Wahrscheinlich sind sie noch nicht da oder sie stehen im<br />

Schutz des Gebüschs und warten ab“, antwortete ich.<br />

„Doch, da vorne, links am Weg, der auf die Straße führt,<br />

ich glaube, da stehen sie!“, wisperte Meike aufgeregt.<br />

„Papa, Rainer und Uli müssten doch eigentlich auftauchen.<br />

Verdammt, wo bleiben die denn?“<br />

„Bleib ruhig“, meinte Mama, Jaap und Gerrit machen das<br />

schon.“<br />

„Jetzt kann ich die Dijkstras deutlich sehen“, flüsterte Katja,<br />

„sie stehen unter dem großen Baum. Sie glotzen genau<br />

auf die Leuchtturmtür. Was ist, Papa? Du musst mit deinem<br />

Kapitän endlich auftauchen, sonst hauen sie wieder<br />

ab.“<br />

Den letzten Satz sagte sie zu sich selbst.<br />

Auf einmal drängten sich Papa, Uli und Rainer durch das<br />

Gebüsch. Am Rande des Platzes blieben sie im Halbdunkel<br />

stehen. Durch die immer noch zuckenden Blitze konnten<br />

wir sie gut erkennen.<br />

„Wie sehen die denn aus? Das gibt’s doch gar nicht!“,<br />

murmelte Hanjo fassungslos. Auch ich konnte es kaum<br />

glauben. Rainer, der Kapitän, hatte sich an Papa und Uli<br />

festgekrallt und stand oder hing zwischen ihnen. Er sah<br />

schrecklich aus. Soweit ich es <strong>von</strong> hier oben erkennen<br />

konnte, hatte er ein aschfahles Gesicht. Wieder zuckte ein<br />

Blitz am Himmel. Rainer starrte mit leerem Blick in die<br />

Richtung der beiden Dijkstras. Er trug alte, große Stiefel,<br />

die ihm über die Knie reichten. Seine Hose war zerrissen,<br />

offenbar auch sein Hemd oder Pullover, alles hing ihm in<br />

Fetzen vom Körper. In der Brust steckte ein Messer.<br />

„Das glaube ich nicht“, stammelte Olli, „ist das wirklich Papa?<br />

Der sieht ja aus wie eine lebende Leiche.“<br />

<strong>Die</strong> beiden Matrosen schienen schwer an ihrem Kapitän<br />

zu tragen. <strong>Die</strong> Haare hingen ihnen in wirren Strähnen ins<br />

Gesicht. Ihre Füße steckten in den typischen holländischen<br />

142


Holzklumpen, dazu trugen sie weite Hosen und dunkle<br />

Umhänge.<br />

„Könnt ihr erkennen, was die Dijkstras machen?“, fragte<br />

Lara atemlos.<br />

„<strong>Die</strong> bewegen sich gar nicht, die sind genauso fassungslos<br />

wie wir“, antwortete Mama. Wir hielten den Atem an, denn<br />

jetzt konnten wir die drohende Stimme des Kapitäns hören.<br />

Er sprach holländisch.<br />

„Wim, Ruud, was habt ihr getan? Du kennst mich, Wim,<br />

ich bin der Kapitän, seit Jahrhunderten tragen mich diese<br />

beiden Missetäter durch die Dünen. Sie sind alt und verbraucht<br />

und haben ihre Taten gebüßt. Sie sollen endlich<br />

ihre verdiente Ruhe bekommen. Du und Ruud, ihr kommt<br />

mir gerade recht. Ab heute müsst ihr mich tragen!“<br />

<strong>Die</strong> Dijkstras traten aus dem dunklen Schatten des Baumes<br />

heraus und starrten die drei Gestalten an.<br />

„Glauben die das, glauben die das?“, stammelte Pit neben<br />

mir.<br />

„Sie müssen!“, murmelte ich inbrünstig.<br />

Aber plötzlich passierte etwas Unerwartetes. Papa begann<br />

zu schwanken. Er schien Rainer nicht mehr halten zu können.<br />

„Was ist da los?“, rief Mama, „da stimmt doch was nicht?“<br />

Obwohl die Stimme des Kapitäns immer noch sprach und<br />

den beiden Dijkstras weiter drohte, konnten wir deutlich<br />

erkennen, dass unsere Väter irgendwie Probleme hatten.<br />

Papa hielt sich schmerzverzerrt den Rücken. Außerdem<br />

stand er plötzlich in einer merkwürdig gekrümmten Haltung.<br />

„Oh nein, er hat wieder sein Rückenproblem!“, rief Mama,<br />

„die müssen aufhören, sonst kann er sich gar nicht mehr<br />

bewegen.“<br />

Sofort rannte sie aufgeregt die enge Wendeltreppe hinunter.<br />

Inzwischen hatte Jaap den Scheinwerfer eingeschaltet,<br />

der den Leuchtturmplatz in grelles Licht tauchte. Gerrit<br />

und sein Kollege stürzten nach draußen und liefen auf die<br />

143


eiden Dijkstras zu. Im ersten Moment dachte ich, sie<br />

würden sich vielleicht wehren, aber sie blieben stehen und<br />

rührten sich nicht. <strong>Die</strong> Polizisten zückten ihre Handschellen<br />

und nahmen sie ohne Widerstand fest. Jaap versuchte<br />

Papa zu helfen, der mit schmerzverzerrtem Gesicht <strong>von</strong><br />

Rainer und Uli gestützt wurde. Uns hielt es jetzt auch nicht<br />

mehr oben.<br />

Als ich unten ankam, wankten mir Rainer und Uli mit Papa<br />

in der Mitte entgegen. Mama lief besorgt neben ihnen her.<br />

„Ich hätte es eigentlich wissen müssen“, sagte sie, „die<br />

Feuchtigkeit und der kühle Wind, das konnte nicht gut gehen.“<br />

„Du hast deine Matrosenrolle ja sehr eigenwillig interpretiert“,<br />

grinste Rainer.<br />

„Tut mir leid, ich habe es wohl ziemlich versaut“, murmelte<br />

Papa, „aber ich habe gehofft, mein Rücken bleibt stabil.<br />

Ich hatte schon lange keinen Ärger mehr.“<br />

„Schon lange nicht mehr?“<br />

Mama schüttelte ungläubig den Kopf.<br />

„Noch kurz vor dem Urlaub, als du unbedingt den Gartenweg<br />

pflastern musstest, hast du doch schon gestöhnt.<br />

Abends konntest du dich vor Schmerzen kaum noch bewegen.“<br />

„Also, alter Mann, was machen wir jetzt mit dir?“, fragte Uli,<br />

„vielleicht setzen wir dich hier auf diesen Stuhl?“<br />

„Ja, aber ihr müsst mich vorsichtig runterlassen.“<br />

Laut stöhnend suchte Papa sich mit Ulis und Rainers Hilfe<br />

eine Sitzposition, in der er es einigermaßen aushalten<br />

konnte. Etwas ratlos standen wir um ihn herum, Mama<br />

schob ihm ein Kissen zwischen Stuhllehne und Rücken,<br />

damit er gerade sitzen konnte.<br />

„Jetzt glotzt mich nicht so an. Wenn man so ein Schwergewicht<br />

wie diesen Kapitän tragen muss, kann einem<br />

schon mal die Bandscheibe rausflutschen. Rainer, du<br />

musst dringend abnehmen.“<br />

144


„Er hat Recht“, nickte Uli zustimmend und schaute auf<br />

Rainers gewaltigen Bauch.<br />

„Das viele Wasser in deinen Klamotten hat dich sogar<br />

noch schwerer gemacht.“<br />

Papa konnte schon wieder grinsen.<br />

„<strong>Die</strong> Rache des dicken Kapitäns habe ich überstanden, mit<br />

dem <strong>Hexe</strong>nschuss werde ich jetzt auch noch fertig. Seht<br />

lieber nach, was passiert ist.“<br />

Er deutete mit dem Kopf zur Tür.<br />

Draußen standen die beiden Dijkstras mit gesenktem Kopf<br />

und Handschellen aneinander gefesselt unter dem großen<br />

Baum. Als Gerrit uns kommen sah, stieß er Wim an.<br />

„Ich vermute, du kennst diesen Mann und einige der<br />

Kinder.“<br />

Er zeigte dabei auf Rainer.<br />

„Das ist nicht der Kapitän, wie du inzwischen wohl gemerkt<br />

hast, sondern der, mit dem du in deinem Wohnzimmer<br />

über die zerschossene Scheibe gesprochen hast. Ihnen<br />

und den anderen hier hast du zu verdanken, dass wir euch<br />

auf die Schliche gekommen sind.“<br />

Wim Dijkstra schaute uns müde an, er schämte sich. Es<br />

schien ihm peinlich zu sein, vor uns in Handschellen stehen<br />

zu müssen. Sein Sohn grinste frech, ihm machte es<br />

offenbar weniger aus.<br />

„Wim ist froh endlich erwischt worden zu sein. Ihn und<br />

Ruud bringen wir gleich mit dem Polizeiwagen nach Nes.<br />

Es wird noch eine lange Nacht für mich und meinen Kollegen“,<br />

sagte Gerrit lächelnd zu uns.<br />

„Aber sollten wir nicht als Zeugen zur Verfügung stehen?“,<br />

fragte Hanjo erstaunt.<br />

„Eure Aussagen können später zu Protokoll genommen<br />

werden, Wim hat versprochen freiwillig zu gestehen. Ich<br />

glaube, wir können in Ruhe nach Hause fahren“, meinte<br />

Jaap schmunzelnd.<br />

145


In der Zwischenzeit war der Polizeiwagen gekommen.<br />

Gerrits Kollege führte die beiden zum Auto und ließ sie<br />

hinten einsteigen.<br />

„Wo ist der verletzte Matrose?“, fragte Jaap.<br />

„Im Leuchtturm, er lässt sich pflegen“, antwortete Uli. Papa<br />

saß noch immer auf seinem Stuhl, während Mama seinen<br />

Rücken massierte. Gerrit und Jaap brachten Papa<br />

nach Hause. Wir halfen noch, die Sachen in den Leuchtturm<br />

zu räumen, anschließend fuhren wir zurück nach Hollum.<br />

Papa saß auf der Couch und wartete auf uns, denn er<br />

konnte sich wegen der Schmerzen nicht alleine ausziehen.<br />

Mama half ihm und Meike und ich brachten ihm eine<br />

Wärmflasche. Dann konnten wir endlich in unsere warmen<br />

Betten kriechen und schlafen.<br />

146


Das Fest<br />

Am nächsten Morgen schien die Sonne durch unser<br />

Schlafzimmerfenster. Meikes Bett war – wie meist – schon<br />

leer. Ich schlug meine Bettdecke zurück, streckte mich<br />

und ging nach unten. Von draußen hörte ich Stimmen, also<br />

mussten Mama, Papa und Meike auf der Terrasse sitzen.<br />

„Guten Morgen, Langschläferin.“<br />

<strong>Die</strong> drei grinsten mich an.<br />

„Weißt du, wie spät es ist?“, fragte Papa, der etwas steif<br />

auf seinem Stuhl saß.<br />

„Keine Ahnung“, antwortete ich, „aber wenn ihr mich schon<br />

so fragt, ist es sicher nicht mehr früh am Morgen.“<br />

„Genau!“, rief Meike mit Triumph in der Stimme, „du<br />

kannst dich gleich wieder hinlegen, es ist schon fast wieder<br />

Abend!“<br />

„Du spinnst“, knurrte ich sie an, „jetzt sagt mir schon, wie<br />

spät ist es?“<br />

„Es ist gleich drei“, antwortete Mama, „nach der letzten<br />

Nacht ist es kein Wunder, dass du so lange geschlafen<br />

hast.“<br />

Erschrocken ließ ich mich auf den Stuhl fallen. Erst jetzt<br />

fiel mir auf, dass die drei nicht beim Frühstück saßen,<br />

sondern Kekse, Kaffee und Kakao vor sich stehen hatten.<br />

„Wie lange seid ihr denn schon auf?“, fragte ich mit Blick<br />

auf Papa.<br />

„Schon ein bisschen länger, ich hab’ mich gegen zehn<br />

heute Morgen aus dem Bett gequält.“<br />

„Wie geht es deinem Rücken?“<br />

Mir kam die Szene <strong>von</strong> letzter Nacht wieder in den Sinn.<br />

„Ich hoffe, ich kann mich bald wieder normal bewegen,<br />

Mama hat mich zum Arzt gebracht. Er hat mir eine Spritze<br />

147


gegeben, die ganz gut anschlägt“, antwortete Papa. Ich<br />

war erleichtert. Mein Magen begann laut zu knurren.<br />

„Ich muss erst mal was essen“, sagte ich. Mit einer großen<br />

Schüssel Müsli kam ich zurück auf die Terrasse.<br />

„Oh“, meinte Papa erstaunt, „das müsste doch für den<br />

Rest des Tages reichen, oder?“<br />

„Lass noch Platz für heute Abend“, grinste Meike, „Jaap<br />

hat uns zu einem Fest eingeladen, er will die Rückkehr der<br />

Galionsfigur mit uns feiern.“<br />

Es ärgerte mich, wenn sie sich darüber lustig machten,<br />

wie viel ich im Augenblick essen konnte. Ich wunderte<br />

mich ja selbst manchmal.<br />

„Wie spät findet das Fest denn heute Abend statt?“, knurrte<br />

ich möglichst unfreundlich.<br />

„Um sieben sollen wir im Museum sein“, antwortete Papa<br />

lächelnd.<br />

„Und wie bekommen wir dich nach Buren? Du kannst doch<br />

kaum laufen.“<br />

Das saß. <strong>Die</strong> Frage war zwar gemein, aber Papa hatte es<br />

verdient. Er ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen.<br />

„Es wird schon“, antwortete er, „bis heute Abend werde ich<br />

wieder laufen wie ein junger Gott.“<br />

Ich vertiefte mich wieder in meine Müslischüssel.<br />

„Ich hätte Lust vorher noch einen kleinen Ausflug zu machen“,<br />

meinte Mama, „das Wetter ist ja wieder besser, wie<br />

wär’s mit einer Wattwanderung? <strong>Die</strong> Zeit reicht noch,<br />

wenn wir gleich losgehen.“<br />

„Nein, ich nicht!“ Meike winkte ab.<br />

„Außerdem kann Papa ja gar nicht mitgehen. Ich will lieber<br />

zum Strand und einfach schwimmen.“<br />

„Ich auch“, murmelte ich kauend, „das ist eindeutig die<br />

bessere Idee.“<br />

Mama zuckte mit den Schultern.<br />

„Na gut, aber Papa und ich bleiben hier. Ihr müsst alleine<br />

zum Strand fahren.“<br />

148


„Klar, wir schauen bei den anderen vorbei und fragen, ob<br />

sie mit wollen“, meinte Meike.<br />

„Komm Hannah, zieh dich an, ich suche schon mal die<br />

Sachen zusammen!“<br />

Schnell hatte Meike die Badetasche gepackt und wir konnten<br />

starten.<br />

„Seid bitte um sechs zurück“, rief Mama uns nach, „damit<br />

wir pünktlich nach Buren fahren können!“<br />

<strong>Die</strong> Franzens ließen sich schnell überreden, nur Hanjo war<br />

mit Uli auf einer Wanderung. <strong>Die</strong> Münstermänner hatten<br />

auch Lust. Zusammen verbrachten wir einen schönen<br />

Nachmittag am Strand. Ich freute mich, dass endlich alles<br />

vorbei war. <strong>Die</strong> Jagd nach der Galionsfigur fand ich zwar<br />

aufregend, aber ganz normale Ferien ohne Abenteuer gefielen<br />

mir auch.<br />

Als wir zurückkamen, ging es Papa schon wieder ganz<br />

gut. Wir trafen uns mit den anderen an der Haltestelle.<br />

Kurze Zeit später kam der Bus.<br />

„Hallo, da seid ihr ja wieder!“<br />

‚Unser’ Fahrer begrüßte uns mit einem freundlichen Lächeln.<br />

„Ihr wollt zum Museum, stimmt´s?“<br />

„Genau!“, schrie Olli, „wir feiern unseren Sieg. Das Böse<br />

ist endgültig erledigt.“<br />

Er reckte triumphierend die Faust.<br />

„Ja, ja, sagte der Busfahrer, Jaap hat es mir erzählt, aber<br />

vom Bösen kann man nicht unbedingt reden, glaube ich.<br />

<strong>Die</strong> zwei sind eher arme Schweine.“<br />

„Komm, Olli, setz dich hin!“, zischte ihn Lara an. Wir gingen<br />

nach hinten durch und noch während wir unsere Plätze<br />

suchten, fuhr der Bus mit einem Ruck los. Es ging wieder<br />

über die vertraute Strecke. Zuerst hinaus aus Hollum<br />

auf den Ballumer Weg, der direkt auf das kleine Dorf zulief.<br />

Auf dem Kopfsteinpflaster in Ballum rumpelten wir an<br />

dem alten Glockenturm vorbei, auf den ich unbedingt noch<br />

mal hoch klettern muss. Dann hielten wir fast direkt<br />

149


gegenüber unserer Lieblingspommesbude am Kreisverkehr.<br />

Über die Hauptstraße ging es weiter nach Nes. Nach<br />

kurzen Zwischenstopps im Dorf und am Fährhafen erreichten<br />

wir Buren. Am kleinen Museum ließ uns der Fahrer<br />

aussteigen.<br />

„Viel Spaß noch!“, rief er uns hinterher. Jaap stand wie<br />

immer schon an der Haltestelle.<br />

„Herzlich willkommen!“, begrüßte er uns fröhlich.<br />

„Da das Wetter ja wieder gut ist, werden wir draußen im<br />

Hof feiern. Hoffentlich habt ihr Hunger mitgebracht!“<br />

„Und wie“, brüllte Rainer, „ich könnte ganze Wildschweine<br />

verputzen, beim Teutates!“<br />

<strong>Die</strong> Erwachsenen lachten. „Wer ist eigentlich Teutates?“,<br />

wollte ich wissen.<br />

„Ein Kriegsgott der alten Gallier“, antwortete Rainer, „obwohl<br />

ich an den gar nicht glaube.“<br />

Als wir das Museum betraten, blieben wir erst mal wie angewurzelt<br />

stehen. Vor uns an der Wand hing die Galionsfigur.<br />

„Da staunt ihr, was?“, meinte Jaap, „aber dieser Platz ist<br />

für Marijke wie geschaffen.“<br />

„Ich hatte sie gar nicht so groß in Erinnerung“, sagte Pit,<br />

„im Dunklen in der Erde konnte man sie nicht so richtig erkennen.<br />

<strong>Die</strong> sieht voll stark aus.“<br />

Auch unsere Eltern schienen beeindruckt zu sein und sahen<br />

die Figur mit großen Augen an. Beleuchtet vom hellen<br />

Lichtkegel eines Scheinwerfers strahlte sie in ihrer ganzen<br />

Schönheit. <strong>Die</strong> Farbe ihres grünen Kleides kam jetzt richtig<br />

zur Geltung, genau wie ihre feuerroten Haare. Es sah aus,<br />

als wollte sie uns persönlich die Hand zum Siegeszeichen<br />

entgegenstrecken. Sicher freute sie sich, wieder hier im<br />

Museum zu sein.<br />

„Das ist ihr Platz!“, sagte Jaap stolz, „hier gehört sie hin<br />

und hier wird sie vorerst auch bleiben.“<br />

„Ich könnte zwar Wildschweine verputzen, aber die<br />

Schönheit dieses Weibes lässt mich meinen Hunger<br />

150


vergessen. Der Kapitän, der sie am Bug seines Schiffes<br />

führte, muss ein glücklicher Mann gewesen sein“, meinte<br />

Rainer bewundernd. Lara und Paula verdrehten die Augen.<br />

„Du musst noch erzählen, zu welchem Schiff sie jetzt<br />

wirklich gehörte“, bat Rainer.<br />

„Angeblich soll sie ja vom gestrandeten Schiff ihres Sohnes<br />

gewesen sein. Aber die Geschichte kennt ihr ja schon.<br />

Wahrscheinlicher ist allerdings, dass sie <strong>von</strong> einem der<br />

Walfangschiffe stammt. Deshalb war sie vermutlich auch<br />

im Besitz der Dijkstras. Aber jetzt lasst uns in den Hof gehen,<br />

die anderen warten schon auf uns.“<br />

Alle, die bei der Suche nach Marijke geholfen hatten, waren<br />

eingeladen. Gerrit und sein Kollege, außerdem ein<br />

großer bärtiger Mann mit einer warmen und freundlichen<br />

Stimme, der sich uns als Bart de Gee vorstellte, der holländische<br />

Schauspieler, der den Kapitän gesprochen hatte.<br />

Er unterhielt sich mit Ellen van Dijk, der Wirtin des<br />

Strandcafes <strong>von</strong> Buren, die der Rixt ihre Stimme gegeben<br />

hatte. Jaap strahlte richtig, als er sie uns vorstellte. Alle<br />

standen vor einem großen, langen Tisch mit weißer Decke<br />

und vielen Köstlichkeiten. In der Mitte des Hofes brannte<br />

ein Grillfeuer. Rainer würde also auch seinen Hunger auf<br />

Fleisch stillen können.<br />

„Oh, wie wunderbar!“, rief er, „ein halbes Wildschwein für<br />

den wahren Ameländer Obelix. Jaap, ich danke dir, du<br />

weißt, was dicke Männer brauchen!“<br />

„Rainer, ich muss deinen Redefluss mal kurz unterbrechen“,<br />

begann Jaap jetzt und rieb sich die Hände.<br />

„Ich möchte euch, meine Freunde, herzlich willkommen<br />

heißen. Ich habe euch zu diesem Festabend eingeladen,<br />

um mich zu bedanken. Insbesondere bei den Kindern,<br />

denn ohne eure Hilfe hätte ich die Galionsfigur niemals zurückbekommen.<br />

Ich bin froh und stolz eure Bekanntschaft<br />

gemacht zu haben. Das Museum hätte ohne euch sein<br />

wichtigstes Ausstellungsstück für immer verloren und<br />

151


großen Schaden genommen. Zwischen uns hat eine wunderbare<br />

Freundschaft begonnen, auf die ich auch in der<br />

Zukunft nicht mehr verzichten möchte. Unsere gemeinsamen<br />

Abenteuer haben uns, wie ich finde, zusammen geschweißt<br />

und ich hoffe, dies war nicht euer letzter Urlaub<br />

auf <strong>Ameland</strong>. Auch den Eltern gilt mein Dank, ihr habt<br />

Großartiges geleistet, genau wie meine holländischen<br />

Freunde. Ihr alle habt mich fantastisch unterstützt. Und<br />

jetzt wünsche ich euch einen guten Appetit. Nehmt bitte<br />

Platz!“<br />

Ich saß am Tisch zwischen Pit und Lara. „Ich weiß gar<br />

nicht, womit ich zuerst anfangen soll“, sagte Lara.<br />

„Versuchs mal mit dem Matjes, du stehst doch auf Fisch“,<br />

riet ich ihr, „oder mach’s wie Pit, der isst alles auf einmal.“<br />

Mit Erstaunen sahen wir auf seinem Teller Fisch, Käsewürfel,<br />

Pommes, einen großen Klecks holländischer Mayonnaise,<br />

kleine Frikadellen und noch vieles mehr. Es<br />

schien ihm zu schmecken. Rainer, Papa und Uli standen<br />

am Feuer und ließen sich <strong>von</strong> Jaap mit Grillfleisch versorgen.<br />

Auch alle anderen hatten sich am Tisch einen Platz<br />

gesucht. Rainer war wie immer kaum zu bremsen und unterhielt<br />

uns mit seinen Geschichten. Als er gerade mit einem<br />

großen Steak beschäftigt war, nutzte ich die Chance,<br />

Gerrit zu fragen, ob die Dijkstras gestanden hatten.<br />

„Eigentlich darf ich es ja nicht erzählen“, antwortete er, „aber<br />

ihr sollt es trotzdem wissen. Ich habe sie im Polizeigebäude<br />

in Nes noch lange verhört.“<br />

„Was haben sie zu dem Auftritt des Kapitäns und der Matrosen<br />

gesagt?“, wollte ich wissen.<br />

„Wim hat sich zunächst fürchterlich erschreckt und tatsächlich<br />

gedacht, er hätte eine Erscheinung. Aber als dein<br />

Vater wegen der Rückenschmerzen Rainer nicht mehr<br />

tragen konnte, wusste er sofort, was gespielt wurde.<br />

Trotzdem war er über die Verhaftung richtig erleichtert. Ich<br />

152


glaube, jetzt hat er verstanden, was mit seinem Sohn los<br />

ist.“<br />

„Was denn nun?“, murmelte Pit, der sich inzwischen seinen<br />

Teller zum zweiten Mal gefüllt hatte.<br />

„Ruud ist krank“, fuhr Gerrit fort, „er weiß eigentlich nicht,<br />

was er tut. Mit Geld kann man ihm nicht helfen. Er braucht<br />

Unterstützung <strong>von</strong> Fachleuten.“<br />

„Na hoffentlich kriegen die das hin“, murmelte Pit mit vollem<br />

Mund.<br />

„Das hoffe ich auch“, nickte Gerrit.<br />

„Und was passiert jetzt mit den beiden?“<br />

„Wir bringen sie morgen nach Leeuwarden, um sie dem<br />

Richter vorzuführen. Wahrscheinlich werden sie wegen<br />

Betruges und Erpressung angeklagt und Ruud wird eine<br />

Therapie machen müssen. Ich hoffe Wim kann später sein<br />

Geschäft hier auf <strong>Ameland</strong> wieder eröffnen.“<br />

Gerrit seufzte.<br />

„Eigentlich ist er nämlich ein guter Kerl.“<br />

Rainer hatte inzwischen sein Steak verputzt und wieder<br />

laut das Kommando am Tisch übernommen.<br />

„Man reiche mir mein Wildschwein!“, rief er, „ich muss<br />

euch noch eine besondere Geschichte erzählen, die ich<br />

extra für den heutigen Abend vorbereitet habe!“<br />

„Papa, weißt du, was auf den Festen am Ende der Asterix<br />

und Obelix Geschichten mit Troubadix, dem Sänger, immer<br />

passiert?“, grinste Lara.<br />

„Rainer schaute sie verständnislos an.<br />

„Nein, erzähl’ es mir Tochter, berichte mein Kind!“<br />

„Ganz einfach, er wird gefesselt, geknebelt und ruhig gestellt.<br />

Und jetzt schau mal, was ich hier habe?“<br />

Sie hielt ein Tuch und ein langes Seil hoch, stand vom<br />

Tisch auf und stürzte sich lachend zusammen mit Olli und<br />

Paula auf ihren Vater.<br />

153


„Ihr müsst mir helfen!“, rief er uns zu, „ich muss unbedingt<br />

noch diese wunderbare Geschichte erzählen, nur diese<br />

eine. Euch entgeht was. Lasst mich…!“<br />

Der letzte Satz wurde <strong>von</strong> dem Knebel erstickt, den sie<br />

ihm in den Mund schoben. Außerdem fesselten sie ihn mit<br />

dem langen Seil an seinem Stuhl, bis er nur noch seinen<br />

Kopf bewegen konnte. Wir lachten, auch Marlies schien<br />

ihren Spaß zu haben.<br />

„So, jetzt können wir weiter feiern!“, rief Paula triumphierend,<br />

„Vielerzählix ist ruhig gestellt!“<br />

Rainer musste aber nicht lange gefesselt und geknebelt<br />

auf dem Stuhl sitzen bleiben. Wir hatten bald Mitleid und<br />

befreiten ihn schnell wieder. Er versprach den Rest des<br />

Abends einfach mitzufeiern und seine Geschichte für sich<br />

zu behalten. Das Fest dauerte noch lange. <strong>Die</strong> Erwachsenen<br />

saßen am Tisch und unterhielten sich. Wir Kinder<br />

sind irgendwann zum Strand gegangen. Der schöne<br />

Abend hatte noch viele Menschen ans Meer gelockt. Eine<br />

Weile standen wir bei einer Gruppe <strong>von</strong> Jugendlichen, die<br />

ein Strandfeuer angezündet hatten. Dann lief ich allein ans<br />

Wasser.<br />

Es war eine wunderschöne Nacht. Über mir der klare<br />

Sternenhimmel, vor mir die rauschenden Wellen. Ich stand<br />

mit bloßen Füßen im Sand und schloss die Augen. <strong>Die</strong> Ferien<br />

waren noch lange nicht zu Ende.<br />

Plötzlich schob sich eine Hand in meine, Meike stand neben<br />

mir.<br />

„Morgen wird bestimmt wieder ein schöner Tag“, sagte sie.<br />

Ich nickte.<br />

Als wir uns umschauten, bemerkten wir, dass die anderen<br />

schon wieder auf dem Rückweg zum Museum waren.<br />

Schnell liefen wir ihnen nach.<br />

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