Die Hexe von Ameland - EWK-Verlag
Die Hexe von Ameland - EWK-Verlag Die Hexe von Ameland - EWK-Verlag
- Seite 2 und 3: 2 Mathias Meyer-Langenhoff Die Hexe
- Seite 4 und 5: Mathias Meyer-Langenhoff Die Hexe v
- Seite 6 und 7: Endlich Ferien Als ich nach Hause k
- Seite 8 und 9: „Die hättest du doch längst ein
- Seite 10 und 11: habe viel mit uns zu tun, denn die
- Seite 12 und 13: Das Wiedersehen Meike und ich hielt
- Seite 14 und 15: Rainer will Papa unbedingt davon ü
- Seite 16 und 17: wollte letztes Jahr schon mit Papa
- Seite 18 und 19: „Wieso?“ „Auf dem Kopf ganz k
- Seite 20 und 21: Vorne öffnete sich die Bugklappe d
- Seite 22 und 23: „Komm, wir gehen nach hinten und
- Seite 24 und 25: mussten noch eher abspringen und ih
- Seite 26 und 27: Katja hatte wie immer die Aufgabe,
- Seite 28 und 29: Unsere Eltern warteten schon auf un
- Seite 30 und 31: glaube, wir waren gerade fünf Minu
- Seite 32 und 33: Sie hielten seit einer Stunde vor d
- Seite 34 und 35: „Hey, Walter! Sieh mal, wen ich h
- Seite 36 und 37: Der Besuch im Museum Endlich trudel
- Seite 38 und 39: Nach dem Spiel ruhten wir uns auf d
- Seite 40 und 41: 40 Vor langer, langer Zeit wohnte i
- Seite 42 und 43: eine Galionsfigur. Die Geschichte v
- Seite 44 und 45: Er stellte sich uns als Jaap Mathij
- Seite 46 und 47: „Ja genau, Jaap will uns von den
- Seite 48 und 49: „Aber du hast doch auch keine Ahn
- Seite 50 und 51: „Wir verstecken uns im Gebüsch,
2<br />
Mathias Meyer-Langenhoff<br />
<strong>Die</strong> <strong>Hexe</strong><br />
<strong>von</strong> <strong>Ameland</strong>
Liebe Leserin, lieber Leser,<br />
die Online-Ausgabe <strong>von</strong><br />
„<strong>Die</strong> <strong>Hexe</strong> <strong>von</strong> <strong>Ameland</strong>“<br />
haben wir, im Einvernehmen mit dem Autor, pünktlich<br />
zu Ostern 2010 kostenlos im Internet verfügbar gemacht.<br />
Bitte beachten Sie, dass das Werk dennoch auch weiterhin<br />
vollen urheberrechtlichen Schutz genießt, und Nachdrucke<br />
und Vervielfältigungen jeglicher Art, auch auszugsweise,<br />
nur nach ausdrücklicher Zustimmung des<br />
<strong>Verlag</strong>es gestattet sind.<br />
Natürlich kann sich jeder, der lieber auf Papier liest, als<br />
am Bildschirm, die <strong>Hexe</strong> <strong>von</strong> <strong>Ameland</strong> am eigenen<br />
Drucker für den eigenen Bedarf auch ausdrucken.<br />
Einfacher wäre es allerdings,<br />
die fix und fertig gedruckte Ausgabe bei uns oder bei<br />
Ihrer Buchhandlung zu bestellen.<br />
Unser Online-Shop: http://www.ewk-verlag.de<br />
Beim Autor gibt es das Buch übrigens auch als Hörbuch<br />
http://www.meyer-langenhoff.de/<br />
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Mathias Meyer-Langenhoff<br />
<strong>Die</strong> <strong>Hexe</strong> <strong>von</strong> <strong>Ameland</strong><br />
mit Illustrationen der Töchter Johanna (12) und Antonia (15)<br />
4<br />
ONLINE-Ausgabe<br />
März 2010, <strong>EWK</strong>-<strong>Verlag</strong> Kühbach-Unterbernbach<br />
Satz und Gestaltung: E.W.K. ...der Unternehmerberater e.K., Kühbach<br />
© <strong>EWK</strong> ...der Unternehmerberater e.K., Alle Rechte vorbehalten<br />
ISBN 978-3- 938175-55-2
Für Karola<br />
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Endlich Ferien<br />
Als ich nach Hause kam, hörte ich Papa schon <strong>von</strong> weitem<br />
singen: „<strong>Ameland</strong>, schönes Land, Perle im Meer...“<br />
Mit hochrotem Kopf stand er vor unserem Auto und<br />
stemmte sein Fahrrad auf den Dachgepäckträger.<br />
„Hallo, meine Große, ist dir eigentlich klar, dass es gleich<br />
losgeht?“, keuchte er und wischte sich den Schweiß <strong>von</strong><br />
der Stirn.<br />
„Ich weiß, Papa, ist ja nicht das erste Mal, dass du mich<br />
daran erinnerst“, antwortete ich.<br />
Endlich hatten wir Sommerferien. Mein Zeugnis war so<br />
lala ausgefallen, aber sechs Wochen ausschlafen, keine<br />
Hausaufgaben und vorerst keine Vokabeln lernen, konnte<br />
ich echt gut gebrauchen. Vielleicht auch nur fünfeinhalb, je<br />
nachdem, wann Papa das baldige Ende der Ferien bemerkte<br />
und dann behauptete, ich müsste mich auf das<br />
neue Schuljahr vorbereiten.<br />
Mama wuchtete einen voll gepackten Koffer nach dem anderen<br />
in den Hausflur.<br />
„Stell’ deine Schultasche am besten in den Schrank. In der<br />
Küche steht dein Mittagessen, wir müssen uns beeilen!<br />
Deine Schwester ist noch bei Anne, um sich zu verabschieden.<br />
Sobald sie zurück ist, starten wir!“, rief sie mir<br />
zu. Mama hat immer Angst, die Fähre zur Insel zu verpassen.<br />
Mit langen Beinen stieg ich über die Hindernisse, die<br />
sie aufgebaut hatte und ich fragte mich, wie Papa die jemals<br />
alle im Auto verstauen wollte.<br />
Meikes Freundin wohnt bei uns in der Nachbarschaft.<br />
Schon seit einer Woche waren sie jeden Tag zusammen,<br />
nur weil sie sich jetzt in den Ferien ein paar Wochen lang<br />
nicht sehen können. Eigentlich mag ich Meike sehr, aber<br />
wenn sie ohne Anne auskommen muss, hängt sie mir<br />
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derart auf der Pelle, dass ich Angst habe, sie verfolgt mich<br />
sogar bis aufs Klo.<br />
„So, die Arbeit ist erledigt!“<br />
Papa rieb sich die Hände.<br />
„Ich bin zufrieden mit mir. So viele Koffer kann man in einem<br />
kleinen Auto normalerweise nicht unterbringen!“<br />
Mit stolz geschwellter Brust schaute er zu Mama und zeigte<br />
auf den bis oben hin gefüllten Laderaum.<br />
„Aber was ist mit der Lebensmittelkiste in der Küche?“, lächelte<br />
sie, „du hast doch selbst gesagt, du willst nicht sofort<br />
auf <strong>Ameland</strong> im Supermarkt einkaufen müssen.“<br />
Papas Gesicht verfinsterte sich. Fassungslos starrte er<br />
Mama an. Ich dachte schon, jetzt würden sie mit ihrem üblichen<br />
Streit anfangen, wie viel man mitnehmen darf und<br />
so. Aber Papa begann zu meiner Überraschung völlig<br />
klaglos damit, <strong>von</strong> neuem zu packen.<br />
Als er alles wieder verstaut hatte, tauchte Meike auf, wie<br />
immer, erst wenn es nichts mehr zu tun gibt.<br />
„Na Paps, bist du soweit?“, fragte sie, setzte sich ins Auto<br />
und verschränkte die Arme vor der Brust.<br />
„Ihr schafft es einfach nie, pünktlich fertig zu sein!“<br />
<strong>Die</strong>ser Satz brachte Mama aus der Fassung.<br />
„Meike Sommer!“, rief sie, in einem Ton, der signalisierte,<br />
dass es ernst wurde, „Du steigst sofort wieder aus und<br />
holst deine Kuscheltiere und Bücher <strong>von</strong> oben. Darum<br />
kann ich mich nicht auch noch kümmern.“<br />
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„<strong>Die</strong> hättest du doch längst einpacken können, ich sitze<br />
schon im Auto!“, rief Meike.<br />
„Hallo Meike“, dachte ich, „merkst du noch was?“<br />
Jetzt mischte sich Papa ein.<br />
„Meine liebe Tochter“, begann er freundlich, aber bestimmt,<br />
„wir haben die ganze Zeit gepackt. Es wird Zeit,<br />
dass du als Neunjährige auch mal was tust, und zwar augenblicklich!“<br />
Beim letzten Wort wurde seine Stimme lauter. Meike<br />
brummelte etwas, was ich nicht verstand, stieg aber ohne<br />
weiteren Protest wieder aus, lief nach oben in ihr Zimmer<br />
und holte ihre Sachen selbst. Endlich waren wir reisefertig.<br />
Mama schloss die Haustüre ab, setzte sich hinters Lenkrad<br />
und startete den Motor.<br />
„Alles klar bei euch? Also Haus, mach’s gut, wir sehen uns<br />
in drei Wochen wieder!“, rief sie. Nur Papa musste noch<br />
seine unvermeidlichen Fragen stellen.<br />
„Haben wir das Fährenticket?“<br />
„Ja, Schatz.“<br />
„Ist das Geld im Auto?“<br />
„Ja, Schatz.“<br />
Hast du an das Geschenk für unsere Vermieter gedacht?“<br />
„Mein Gott, ja!“<br />
Erst jetzt lehnte er sich entspannt in seinen Sitz zurück<br />
und begann, in der Zeitung zu blättern.<br />
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<strong>Die</strong> Anreise<br />
Ich schaute aus dem Fenster. Je länger wir fuhren, desto<br />
holländischer kam mir alles vor. Wir überquerten immer<br />
wieder Brücken, kamen an Windmühlen vorbei, fuhren an<br />
Kanälen entlang oder durch Städte, in denen es nur so<br />
<strong>von</strong> Radfahrern wimmelte. <strong>Die</strong> Zeit verging wie im Flug.<br />
Irgendwann fragte Meike: „Gehen wir eigentlich an den<br />
Strand, wenn wir da sind?“<br />
Papa stimmte sofort zu.<br />
„Das ist eine gute Idee, am besten nehmen wir gleich die<br />
Badesachen mit!“<br />
Papa und das Meer, das ist wirklich eine ganz besondere<br />
Beziehung. Es grenzt schon an ein Wunder, wenn er im<br />
Laufe der Ferien wenigstens einmal schwimmen geht. Erst<br />
kann er es kaum erwarten, aber dann traut er sich höchstens<br />
mit einer Fußspitze ins Wasser und behauptet, es sei<br />
viel zu kalt zum Schwimmen. Aber jetzt war er wieder total<br />
begeistert.<br />
„Ihr glaubt gar nicht, wie ich mich darauf freue, wieder in<br />
die Nordsee zu springen!“, meinte er mit leuchtenden Augen.<br />
„Ist ja gut, Martin!“, riefen wir im Chor und grinsten ihn an.<br />
Für einen Augenblick schien er sich zu ärgern, aber dann<br />
zuckte er nur mit den Schultern.<br />
„Mein Gott, man hat’s nicht leicht, wenn man mit drei<br />
Frauen verreist.“<br />
Danach wurde es still im Auto. Papa las seine Zeitung,<br />
Meike hörte Musik vom MP3-Player, Mama fuhr und<br />
schaute dabei ab und zu in den Rückspiegel, als ob sie<br />
sich vergewissern wollte, dass wir noch da waren.<br />
Ich hatte mir noch mal Astrid Lindgrens Ferien auf Saltkrokan<br />
zum Lesen herausgesucht. Papa meint, das Buch<br />
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habe viel mit uns zu tun, denn die Familie verbringe ihre<br />
Ferien schließlich auch regelmäßig auf einer Insel.<br />
<strong>Die</strong> Melchersons fuhren gerade mit dem Schiff nach<br />
Saltkrokan. Ich dachte an unsere Fähre, mit der wir nach<br />
<strong>Ameland</strong> übersetzen würden. Lange konnte die Autofahrt<br />
bis zum Hafen in Holwerd nicht mehr dauern.<br />
Und tatsächlich. Plötzlich rief Mama begeistert: „Achtung,<br />
wer als erster das Meer entdeckt, bekommt <strong>von</strong> mir einen<br />
Euro!“<br />
Das spielen wir immer kurz vor der Küste, denn das letzte<br />
Stück fährt man am Deich entlang. Man kann die Nordsee<br />
zwar noch nicht sehen, aber sie schon riechen. Mein Herz<br />
begann zu klopfen, ich freute mich riesig und stellte mir<br />
vor, wie der raue Wind meine Haare zerzaust.<br />
Nach einer Linkskurve durchbrach die Straße plötzlich den<br />
Deich und lief schnurgerade auf den im Watt liegenden<br />
Hafen zu. Jetzt kam der Moment, den ersten Blick auf die<br />
Nordsee zu erwischen.<br />
„Das Meer, ich sehe es, ich sehe es!“<br />
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Meike hatte sich hinten auf dem Rücksitz ganz lang gemacht,<br />
um die erste sein zu können.<br />
„Ich bekomme den Euro!“<br />
„Quatsch, ich war schneller!“, rief Papa, „mindestens eine<br />
halbe Sekunde.“<br />
Mama und ich erklärten Meike zur Gewinnerin.<br />
Es war Flut. <strong>Die</strong> weite, silberne Wasseroberfläche glitzerte<br />
so hell in der Sonne, dass ich meine Augen zukneifen<br />
musste. Mama öffnete ihr Seitenfenster.<br />
“Aaah, diese Luft! Kinder riecht diese Frische, das ist reine<br />
Natur!“<br />
Begeistert sah sie uns an. Wir hatten es geschafft. Gleich<br />
würden wir unsere Freunde aus Berlin und Coesfeld treffen,<br />
mit denen wir seit Jahren die Ferien gemeinsam verbrachten.<br />
Nach einem kurzen Stopp am Schalter der Fährgesellschaft,<br />
wo wir unser Ticket zeigen mussten, fuhren wir auf<br />
den Parkplatz und reihten uns in die Autoschlange ein.<br />
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Das Wiedersehen<br />
Meike und ich hielten am Anleger nach der Fähre Ausschau.<br />
Bei klarem Wetter entdeckten wir sie manchmal<br />
schon am Horizont, noch klein wie eine Nussschale. Aber<br />
jetzt sahen wir nichts und gingen sofort weiter zum Hafenrestaurant.<br />
Dort konnte man warten und durch riesige<br />
Fensterscheiben aufs Meer schauen.<br />
Als ich die schwere Glastür öffnete, sah ich auf den ersten<br />
Blick, dass Mama und Papa unsere Freunde schon getroffen<br />
hatten. In der hinteren Ecke des Restaurants herrschte<br />
großer Trubel. Unsere Eltern begrüßten gerade die Münstermänner.<br />
Marlies, Rainer und ihre Kinder Paula, Lara<br />
und Oliver wohnen in Coesfeld, einer kleinen Stadt in der<br />
Nähe der holländischen Grenze. Paula ist dreizehn und<br />
meine beste Freundin.<br />
„Hi, Hanna!“<br />
Sofort steuerte sie auf mich zu.<br />
„Ich muss dir unbedingt was erzählen!“<br />
„Lass mich raten“, antwortete ich, „es geht um deine Clique.“<br />
„Genau, Schlaumeierin, hab’ ich dir da<strong>von</strong> schon geschrieben?<br />
Ach ja. - Aber jetzt pass auf! Das Neueste ist:<br />
Eine aus meiner Clique, Tine, hat ein neues Piercing am<br />
Bauchnabel, das sieht so geil aus!“<br />
„Echt jetzt? Lässt du dir auch eins machen?“<br />
Paula verdrehte die Augen und deutete auf ihren Vater.<br />
„Er will nicht. Als ich gefragt habe, ist er fast ausgeflippt.“<br />
„Das tut doch auch weh, ich hätte viel zu viel Angst.“<br />
„Tine fand es gar nicht so schlimm. Nach zwei Tagen hat<br />
sie nichts mehr da<strong>von</strong> gemerkt“, entgegnete Paula.<br />
Wir sehen uns eigentlich nur in den Ferien, aber wir mailen<br />
uns oft. Deshalb weiß ich auch einiges über ihre<br />
12
Clique. Tine und die anderen Mädchen sind fast alle ein<br />
oder zwei Jahre älter. Vielleicht zieht sich Paula auch deshalb<br />
ganz anders an als ich. Sie trägt zum Beispiel fast bei<br />
jedem Wetter bauchnabelfreie T-Shirts.<br />
„Und was ist mit mir?“<br />
Am Tisch saß Paulas Schwester Lara und strahlte mich<br />
an. Sie ist zwölf, so wie ich. So stark wie sie ist kein anderes<br />
Mädchen, das ich kenne. Wie immer war sie braungebrannt.<br />
„Du weißt doch, dass du mir egal bist!“<br />
Ich ging lachend auf sie zu und gab ihr einen Kuss auf die<br />
Backe.<br />
„Wie viele Hanteln hast du wieder gestemmt?“<br />
„Keine Ahnung“, strahlte sie, „aber letzte Woche hab’ ich<br />
die 50-Meter-Strecke gewonnen.“<br />
Sie ballte triumphierend ihre Faust. Lara ist Wettkampfschwimmerin.<br />
Oliver war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich<br />
unternahm er mal wieder eine seiner berühmten Entdeckungstouren.<br />
‚Olli’, wie Paula und Lara ihn nennen,<br />
sprüht vor Ideen. Er ist extrem neugierig mit seinen acht<br />
Jahren. Mama hält ihn für einen ziemlichen Chaoten, aber<br />
ich finde, er hat eigentlich super Einfälle, nur übertreibt<br />
er’s manchmal.<br />
„Wat leuk, jij bent ook weer hier!”, rief<br />
Rainer in seinem komischen Holländisch<br />
und klopfte mir mit seiner riesengroßen<br />
Pranke auf die Schultern.<br />
Er sieht aus wie ein großer<br />
Bär mit seinem dicken<br />
Bauch und den behaarten<br />
Armen.<br />
„Bist du denn jetzt endlich<br />
getauft?“, wollte er wissen.<br />
„Bis jetzt noch nicht“,<br />
antwortete ich etwas genervt,<br />
denn er stellt diese Frage oft.<br />
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Rainer will Papa unbedingt da<strong>von</strong> überzeugen uns religiös<br />
zu erziehen. Auch Marlies begrüßte mich.<br />
„Wie geht es dir, Hannah?“<br />
„Super! Ich freu’ mich total auf die Ferien“, antwortete ich<br />
lachend.<br />
Erst jetzt sah ich die Franzens. Pit und Hanjo beschäftigten<br />
sich mit einer leeren Coladose, die sie sich gegenseitig<br />
zuwarfen.<br />
„Ihr seid mal wieder die letzten!“, nörgelte der dünne Pit.<br />
„Ich sitze mir hier schon seit einer Stunde den Hintern<br />
platt. Geht ihr gleich mit nach draußen?“<br />
Er ist so alt wie ich und begeisterter Fußballfan.<br />
„Ich habe voll viel trainiert zu Hause, wetten, dass ich es<br />
dieses Jahr schaffe, den Ball dreißig Mal auf dem Fuß zu<br />
jonglieren?“<br />
„Lass gut sein, Ronaldo“, grinste Hanjo, „das wird sowieso<br />
nichts.“<br />
Dabei blinzelte er wie immer durch seine kleine Brille.<br />
„Wie war die Reise, Professor?“, fragte ich. Er verdrehte<br />
die Augen.<br />
„Jetzt geht das schon wieder los!“<br />
Damit ärgere ich ihn gerne. Er geht in die achte Klasse<br />
und ist ein bisschen dick. Er hasst es, Professor genannt<br />
zu werden. Seiner Meinung nach redet ein Professor nur<br />
über Sachen, die kein Mensch versteht. Seine Mutter Heike<br />
lächelte: „Das Necken scheint ja schon wieder Spaß zu<br />
machen. Ich hoffe, es bleibt auch dabei und wird nicht<br />
wieder zu einem Krach zwischen euch.“<br />
„Keine Angst Heike, diesmal kriegen wir das schon hin!“,<br />
antwortete ich. Gleichzeitig dachte ich: „So sicher bin ich<br />
mir da gar nicht!“<br />
„Könnt ihr euch übrigens noch an das Deichwettrutschen<br />
erinnern? Für dieses Jahr habe ich schon eine neue Idee,<br />
wenn das Wetter schlecht ist“, meinte sie.<br />
„Und was für eine?“<br />
Neugierig sah ich Heike an.<br />
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„Das wird noch nicht verraten, sonst ist es ja keine Überraschung<br />
mehr!“<br />
Letztes Jahr, nach drei Tagen Dauerregen, war unsere<br />
Laune ziemlich im Keller. Da schlug sie vor, wir sollten unsere<br />
Regenhosen anziehen und vom Deich rutschen. Es<br />
war so glatt wie auf einer Rodelbahn. Solche Ideen hat nur<br />
Heike.<br />
Als ich an ihr herunter schaute, bekam ich große Augen.<br />
„Ist was mit mir?“, fragte sie verwundert.<br />
„Klar ist was mit dir, Mama“, rief Katja, „ihr fallen deine<br />
neuen, eleganten Schuhe auf!“<br />
Sie trug trotz des schönen Wetters knallgelbe, große<br />
Gummistiefel, die bei jedem Schritt auf dem Fliesenboden<br />
des Restaurants quietschten. Ich musste lachen. Wahrscheinlich<br />
hatte sie die Dinger <strong>von</strong> einem Flohmarkt. Sie<br />
geht da öfter einkaufen. <strong>Die</strong> Sachen passen ihr zwar nicht<br />
immer hundertprozentig, aber sie sind echt cool. Auch Katja<br />
grinste. Sie ist schon vierzehn und bestimmt einen Meter<br />
fünfundsiebzig groß. Wahrscheinlich hat sie das <strong>von</strong><br />
ihrem Vater Uli. Ich glaube, der kann durch keine Tür gehen,<br />
ohne sich zu bücken.<br />
„Guckt mal, die Fähre kommt!“, rief Olli, der wieder aufgetaucht<br />
war.<br />
„Endlich!“<br />
Pit sprang auf und rannte nach draußen zum Anleger. Wir<br />
liefen hinterher. Überall auf dem großen, weißen Schiff<br />
standen Menschen.<br />
„<strong>Die</strong> Armen“, sagte er, die müssen bestimmt schon bald<br />
wieder arbeiten oder in die Schule.“<br />
„Hör bloß auf mit der Schule!“, meinte Paula naserümpfend,<br />
„die steht mir bis hier! Unser Klassenlehrer hat uns<br />
bis zum Schluss noch mit Vokabeln und Tests genervt.“<br />
„Unserer war auch nicht besser!“<br />
Hanjo nickte verständnisvoll.<br />
„Wisst ihr was? Ich habe eine Idee. Morgen, oder so, fahren<br />
wir nach Buren. Da gibt’s ein kleines Museum. Ich<br />
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wollte letztes Jahr schon mit Papa hin, aber da haben wir<br />
es nicht mehr geschafft.“<br />
„Was soll denn das?“<br />
Pit verdrehte die Augen.<br />
„Da<strong>von</strong> hast du im Auto aber nichts erzählt. In den Ferien<br />
in ein Museum? Ist doch ätzend!“<br />
„Weißt du doch gar nicht, ich hab’ gelesen, das soll ganz<br />
interessant sein. Da gibt’s nämlich was über eine Strandräuberin,<br />
die so was Ähnliches wie eine <strong>Hexe</strong> gewesen<br />
sein soll.“<br />
Meine Schwester war sofort begeistert.<br />
„Tolle Idee, die will ich auch sehen!“, rief sie mit strahlenden<br />
Augen.<br />
Plötzlich standen unsere Eltern hinter uns.<br />
„Los, ab mit euch in die Autos, wir müssen gleich auf die<br />
Fähre!“, rief Heike.<br />
Kurze Zeit später waren wir an Bord. Vom Bug aus beobachteten<br />
wir die Abfahrt. Am Ufer wurden die schweren<br />
Taue gelöst. <strong>Die</strong> großen Maschinen ließen das Schiff erzittern<br />
und bewegten es ganz langsam rückwärts. Ich<br />
schaute in das brodelnde Wasser. Nachdem sich das<br />
Schiff weit genug vom Anleger entfernt hatte, stoppte es,<br />
drehte die Nase in Richtung <strong>Ameland</strong> und begann Fahrt<br />
aufzunehmen.<br />
Mit Lara und Katja lief ich kreuz und quer über das Schiff.<br />
„Wie viele Menschen wohl auf so einer Fähre mitfahren<br />
können?“, überlegte Katja.<br />
„Hm, darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht.<br />
Aber vielleicht können wir’s herausbekommen“, sagte ich.<br />
„Super Idee“, meinte Lara, „wir gehen über das Sonnendeck<br />
nach oben und fragen einfach auf der Brücke den<br />
Kapitän.“<br />
„Quatsch, das geht nicht, der ist doch beschäftigt.“<br />
Katja runzelte die Stirn, ließ sich aber trotzdem überreden.<br />
Wir drängten uns über die voll besetzten Decks langsam<br />
nach oben.<br />
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„Und, wie sollen wir jetzt weiterkommen?“, fragte sie nach<br />
der Hälfte des Weges, „die Kapitänsbrücke ist ja noch höher.“<br />
Wir blieben stehen und schauten uns um, ob irgendwo eine<br />
Treppe vom Sonnendeck aus weiter hinauf führte. Dabei<br />
fielen mir zwei Männer auf, die irgendwie anders aussahen<br />
als die meisten hier.<br />
„Guck mal!“, flüsterte ich Katja zu, der hat eine echt komische<br />
Frisur.“<br />
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„Wieso?“<br />
„Auf dem Kopf ganz kurz und hinten im Nacken fallen ihm<br />
die Haare fast bis auf die Schultern.“<br />
„Stimmt, der sieht nicht besonders nett aus. Und diese<br />
große Narbe auf der Backe, echt unheimlich.“<br />
Er war muskulös und groß, seine Arme, die er vor der<br />
Brust verschränkte, erschienen mir so dick wie Papas Beine.<br />
„Wisst ihr, woran mich der andere erinnert?“, fragte Lara.<br />
„Keine Ahnung.“<br />
„An eine Kugel auf zwei Beinen, der ist ja nur klein, dick<br />
und rund“, kicherte sie. Der kleine Dicke trug eine schwarze<br />
Sonnenbrille, einen hellen Anzug und einen großen Hut<br />
und redete andauernd auf den Großen ein. Bei jedem<br />
Wort wippte und zitterte der buschige schwarze Schnauzbart,<br />
der ihm unter der Nase wuchs.<br />
„Der sieht aus wie ein Walross“, staunte Katja.<br />
„Was sind denn das für Typen? Los, mal hören, worüber<br />
die sich unterhalten!“<br />
Sofort steuerte Lara auf die beiden Männer zu. Den Besuch<br />
auf der Kapitänsbrücke hatte sie vergessen. Wir gingen<br />
hinter ihr her und stellten uns unauffällig zu den Männern<br />
an die Reling. Der Dicke redete immer noch wild gestikulierend<br />
auf den anderen ein.<br />
„Was glaubst du eigentlich, warum wir hier sind? Du<br />
kannst doch auf dieser Scheißinsel keinen Urlaub machen.<br />
Wir müssen diese Figur wieder auftreiben. Und<br />
wenn du nicht spurst, mein Lieber, werde ich auf der Stelle<br />
zum Handy greifen und unserem Auftraggeber sagen,<br />
dass du aussteigst!“<br />
Seine Stimme überschlug sich fast. „Mir reicht es wirklich.<br />
Ich will endlich die Kohle sehen! Noch einmal lass’ ich<br />
mich nicht so abspeisen – und wenn wir die ganze Insel<br />
umgraben müssen, um das verfluchte Ding wiederzufinden.“<br />
18
Der mit dem langen Nackenhaar nickte und antwortete mit<br />
tiefer Stimme: „Ja, ja, Walter, ist gut. Du hast recht. Wir<br />
machen es so wie du sagst. Aber jetzt lass uns noch<br />
schnell einen dieser Marzipankuchen kaufen, dafür könnte<br />
ich sterben!“<br />
„Vielleicht eher als dir lieb ist“, grummelte der Dicke drohend.<br />
Dann gingen sie unter Deck zur Schiffscafeteria.<br />
„Was war denn das? <strong>Die</strong> zwei haben doch irgendwas<br />
Merkwürdiges vor!“<br />
Lara wollte sofort hinter ihnen her.<br />
„Stopp!“, sagte ich, „das geht nicht. <strong>Die</strong> merken es, wenn<br />
wir sie schon wieder belauschen!“<br />
„Du hast Recht“, Katja nickte, „ich glaube, es ist besser,<br />
wir erzählen erst mal den anderen da<strong>von</strong>.“<br />
Wir wollten sie gerade suchen, da hörten wir auf Holländisch<br />
eine Durchsage: „Wir werden in wenigen Minuten<br />
<strong>Ameland</strong> erreichen, bitte begeben Sie sich in ihre Kraftfahrzeuge!“<br />
Mama und Papa kamen uns, zusammen mit den Franzens<br />
und Münstermännern, entgegen.<br />
„Wir haben euch gesucht. Ihr könnt doch nicht einfach<br />
verschwinden!“<br />
Mama machte sich manchmal zu viele Sorgen. Schließlich<br />
konnte man auf dem Schiff nicht weglaufen und außerdem<br />
fuhren wir ja nicht das erste Mal nach <strong>Ameland</strong>. Wir gingen<br />
zu unseren Autos.<br />
„Am besten treffen wir uns nachher am Strand!“, rief Katja.<br />
Ich nickte und stieg ein.<br />
Meike saß schon auf ihrem Platz.<br />
„Wo seid ihr gewesen?“, fragte sie neugierig.<br />
„Das erzähle ich dir später“, antwortete ich und sah sie<br />
dabei durchdringend an, damit sie mich jetzt nicht mit Fragen<br />
löcherte. Mama und Papa sollten <strong>von</strong> unserer Beobachtung<br />
nämlich nichts mitbekommen. Zu meinem Erstaunen<br />
verstand sie mich und schwieg.<br />
19
Vorne öffnete sich die Bugklappe der Fähre, die Autos<br />
wurden gestartet, jeden Augenblick konnte es losgehen.<br />
Endlich kamen wir an die Reihe. Wie immer fuhren wir<br />
nach Hollum, dem größten Ort auf <strong>Ameland</strong>, im Westen<br />
der Insel. Schon die Fahrt auf der kleinen Inselstraße war<br />
unser erstes Urlaubserlebnis. Wir freuten uns auf unseren<br />
‚Huckel’ kurz vor Ballum, eine kleine Erhöhung auf der<br />
Straße. Meist saß Papa dieses letzte Stück am Steuer.<br />
„Achtung, jetzt!“<br />
Er beschleunigte, damit wir das Gefühl hatten, mit dem<br />
Auto etwas zu fliegen.<br />
„Hüüüüüüüüpp!“, riefen wir im Chor, ‚hoben’ ab und hatten<br />
die Erhöhung einen Augenblick später hinter uns. Dann<br />
folgte seine Standardfrage: „Seht ihr eigentlich schon den<br />
Leuchtturm?“<br />
„Da vorne, auf der linken Seite!“, rief Meike. Sie hatte wie<br />
immer den Leuchtturmsuchwettbewerb gewonnen und<br />
damit das erste Eis der Sommerferien. Schließlich erreichten<br />
wir die Ortseinfahrt <strong>von</strong> Hollum und kamen an dem<br />
Backfischgeschäft vorbei. Sofort stieg mir der würzige Geruch<br />
in die Nase. Das Rettungsbootmuseum auf der anderen<br />
Seite lag still im Sonnenlicht. Wir fuhren um den Ortskern<br />
herum zu unserem Ferienhaus. An der alten Kirche<br />
stellten wir unser Auto ab und gingen zum Haus unserer<br />
Vermieter.<br />
20
Einzug im Ferienhaus<br />
Wim und Henny de Jong, ein freundliches, älteres Ehepaar,<br />
wohnen seit ihrer Geburt auf <strong>Ameland</strong> und verlassen<br />
die Insel nur ganz selten. Sie kamen uns schon entgegen.<br />
„Goeden Dag, da seid ihr ja endlich!“, begrüßte uns Wim.<br />
„Ich habe schon gedacht, ihr wollt dieses Jahr nichts mit<br />
uns zu tun haben.“<br />
Er drückte meine Hand, als wollte er sie zerquetschen und<br />
zog mich an seinen großen dicken Bauch, den er unter einem<br />
weiten Strickpullover zu verstecken versuchte.<br />
Henny umarmte Mama und Papa und strich Meike mit ihrer<br />
Hand über den Kopf.<br />
„Dann kommt mal rein!“, lud sie uns ein und wir betraten<br />
das Häuschen, dessen Eingangstür so niedrig ist, dass<br />
Papa aufpassen musste, sich nicht den Kopf zu stoßen.<br />
„Es ist schön wieder bei euch zu sein“, sagte Mama. Sie<br />
saß auf dem kleinen, braunen Sofa und streckte sich behaglich<br />
aus. Der Duft <strong>von</strong> holländischem Kaffee lag in der<br />
Luft. Wegen der kleinen Fenster kam nicht viel Licht in die<br />
Küche. Wahrscheinlich wirkte es hier deshalb auch nicht<br />
ganz so sauber wie bei uns, aber Meike und ich fanden es<br />
echt gemütlich. Henny servierte den Kaffee in kleinen<br />
Tassen mit blauen Windmühlen.<br />
„Was wollt ihr Kinderen denn trinken?“, fragte Wim.<br />
„Am liebsten Cassis“, meinte Meike, „bei euch schmeckt er<br />
am besten.“<br />
Wir lieben diese Limonade mit Johannisbeergeschmack.<br />
„Wie war eure Reise?“, erkundigte sich Wim, während er<br />
eingoss. Papa und Mama begannen zu erzählen und sofort<br />
vertieften sich die Erwachsenen in ein Gespräch.<br />
21
„Komm, wir gehen nach hinten und gucken uns unser<br />
Zimmer an. Außerdem will ich unbedingt wissen, wie es<br />
‚Gelbes P’ geht!“, sagte Meike. Wim hatte den ehemaligen<br />
Kuhstall zu einer Ferienwohnung umgebaut, die er im<br />
Sommer vermietete. Wir wohnten direkt unter dem Dach<br />
und kletterten über eine steile Treppe nach oben. Es sah<br />
aus wie immer. Im Gegensatz zur Küche blitzte hier alles<br />
strahlend sauber. Henny hatte ‚schoon gemaakt’, sauber<br />
gemacht, wie sie immer sagte. Wir ließen uns auf die Betten<br />
fallen, die bei jeder Bewegung quietschten. Es roch<br />
frisch nach Lavendel, und durch die Dachfenster schien<br />
die Sonne. Wir wippten auf unseren Betten wie auf einem<br />
Trampolin, sprangen mit einem Satz wieder hinaus und<br />
liefen nach unten zur Schafswiese. Wenn man am Zaun<br />
stand, konnte man bis zum Deich sehen, der die Insel zur<br />
Wattseite vor dem Meer schützte.<br />
„Gelbes P, komm her! Ich hab’ was Leckeres für dich.<br />
Komm mein kleines, dummes Schaf!“<br />
Meike lockte unser Lieblingsschaf mit einem großen, roten<br />
Apfel an. Wir hatten es im letzten Jahr so getauft, weil es<br />
am Hals eine gelbe Plakette mit einem ‚P’ trug.<br />
22
Inzwischen hatte Mama das Auto auf den Hof gefahren<br />
und wir mussten auspacken helfen.<br />
„So, jetzt fahren wir zuerst mal an den Strand, außerdem<br />
habe ich Hunger auf etwas Herzhaftes und das muss nach<br />
Lage der Dinge Pommes mit Majo und eine ‚Frikandel<br />
spezial’ mit besonders viel Majonaise, Ketchup und Zwiebeln<br />
sein“, meinte Papa nach getaner Arbeit und leckte<br />
sich erwartungsvoll die Lippen. Wir hatten nichts dagegen,<br />
auch wenn Mama die Nase rümpfte, weil sie diese Art der<br />
Ernährung unmöglich fand.<br />
„Aber du hast auch versprochen, mit uns Schwimmen zu<br />
gehen, Papa. Heute ist es ziemlich windig, wir haben bestimmt<br />
super Wellen am Strand. Also nimm deine Badesachen<br />
mit!“<br />
Ich wollte ihn zumindest an sein Versprechen erinnern.<br />
„Selbstverständlich, meine Große, was man versprochen<br />
hat, sollte man ja möglichst halten“, antwortete er. Aber an<br />
dem Wort möglichst und seinem Gesicht merkte ich, dass<br />
er schon wieder nach Ausreden suchte. Wir fuhren mit unseren<br />
Fahrrädern zum Strand.<br />
„Ob Franzens auch schon da sind?“, wollte Meike wissen.<br />
„Keine Ahnung“, antwortete ich, „aber mit Katja habe ich<br />
ausgemacht, dass wir uns so schnell wie möglich treffen.<br />
Wir müssen besprechen, was wir mit den beiden komischen<br />
Typen <strong>von</strong> der Fähre machen.“<br />
Ich hatte ihr beim Füttern des Schafes <strong>von</strong> den Männern<br />
erzählt.<br />
„Vielleicht können wir sie verfolgen, schließlich sind wir<br />
acht Kinder“, meinte Meike.<br />
„Abwarten, wir wissen ja gar nicht, ob wir die beiden noch<br />
einmal treffen“, antwortete ich. Wir kamen am Leuchtturm<br />
vorbei, <strong>von</strong> dort konnten wir schon den Aufgang zum<br />
Strand sehen und den tiefer liegenden Parkplatz. Mit<br />
Schwung rasten wir hinunter und versuchten, auf der anderen<br />
Seite, ohne abzusteigen, wieder hochzufahren. Ich<br />
schaffte den halben Weg hinauf, Meike und Mama<br />
23
mussten noch eher abspringen und ihr Rad schieben. Aber<br />
Papa sauste an uns vorbei, gelangte wie immer als<br />
einziger fahrend bis oben und rief uns entgegen: „Achtung,<br />
Achtung, ich melde pflichtgemäß: <strong>Die</strong> Nordsee ist immer<br />
noch da, wo sie hingehört!“<br />
<strong>Die</strong> Wellen waren zwar nicht so hoch, wie wir gehofft hatten,<br />
aber dafür sahen wir die Sonne langsam am Horizont<br />
versinken. Sie stand schon ziemlich tief und tauchte die<br />
ganze Meeresoberfläche in ein orangegelbes Licht.<br />
„Es ist immer wieder beeindruckend“, meinte Mama und<br />
hakte sich bei Papa unter. Meike und ich hatten keine Zeit<br />
für romantische Betrachtungen. Wir rannten zum Wasser.<br />
Ich wollte unbedingt feststellen, ob es immer noch salzig<br />
schmeckte.<br />
Ich tauchte meinen Finger ins Meer, leckte ihn ab und<br />
spürte sofort den typischen Salzgeschmack auf meiner<br />
Zunge. Dann kam Meike.<br />
„Na, “ meinte sie außer Atem, „alles klar?“<br />
Zur Antwort holte ich mit dem Fuß aus und spritzte sie<br />
nass. Das war der Auftakt zu einer kleinen Wasserschlacht.<br />
„Hey, jetzt wird’s aber Zeit für die Badeanzüge!“<br />
Mama und Papa standen hinter uns und sahen lachend<br />
zu. Nur Papa machte keine Anstalten seine Badehose anzuziehen.<br />
„Was ist los, Martin? Du freust dich doch so sehr auf ‚deine’<br />
Nordsee!“<br />
Mama hatte so ein ‚Na-siehste-Gesicht’. Ein bisschen Triumph<br />
in ihrer Stimme war unüberhörbar.<br />
„Los, Papa! Das stimmt, du hast es versprochen!“, riefen<br />
Meike und ich wie aus einem Mund. Vorsichtig näherte er<br />
sich dem Wasser. Es sah wieder nicht danach aus, als<br />
wollte er sein Versprechen einlösen.<br />
„Also, ehrlich gesagt, es ist jetzt doch schon ein bisschen<br />
spät zum Schwimmen. Außerdem scheint mir das Wasser<br />
kälter zu sein als im letzten Jahr.“<br />
24
„Das stimmt doch gar nicht!“, antwortete ich.<br />
„Es ist ziemlich warm und das Wasser ist so wie immer!“<br />
„Nein!“, sagte Papa jetzt mit fester Stimme und drehte<br />
‚seiner’ Nordsee den Rücken zu, „Ich warte noch mit dem<br />
Schwimmen, vielleicht versuche ich es morgen.“<br />
Das wollten Meike und ich auf keinen Fall. Mit viel Geschrei<br />
stürzten wir uns ins Wasser. Wir ließen uns treiben,<br />
tauchten durch die heranbrandenden Wellen hindurch<br />
oder warfen uns ihnen entgegen. Nach einer Weile froren<br />
wir, außerdem knurrte mein Magen. Während wir uns abtrockneten,<br />
kamen auch die anderen. Katja flüsterte mir<br />
zu: „Wir treffen uns nach dem Baden an unserem Geheimversteck<br />
in den Dünen, du weißt schon!“<br />
Ich nickte. Dann rannte sie ins Wasser.<br />
„Wenn ihr Hunger habt, könnt ihr einen Apfel essen“,<br />
meinte Mama, die in ihrer Tasche immer Proviant dabei<br />
hat.<br />
„Aber wir wollten doch oben im Strandcafe Pommes essen“,<br />
entgegnete Meike enttäuscht. Papa beruhigte sie.<br />
„Keine Angst, ich habe für alle einen Tisch reserviert.<br />
Schließlich wollen wir Männer unseren Ferien-Eröffnungs-<br />
Eierlikör trinken.“<br />
Mama, Marlies und Heike machten sich in jedem Jahr darüber<br />
lustig und spotteten, sie hätten gar nicht gewusst, alte<br />
Eierlikörtanten geheiratet zu haben. Aber unsere Väter<br />
ließen sich das nicht ausreden.<br />
Als die anderen vom Schwimmen zurückkamen, warfen<br />
sich Olli und Pit pudelnass in den Sand und rollten sich<br />
einmal herum. Jetzt sahen sie aus wie riesige panierte<br />
Schnitzel.<br />
„Oh nein, so könnt ihr euch doch gar nicht abtrocknen!“<br />
Marlies war nicht begeistert, aber Pit und Olli rubbelten<br />
sich den Sand mit den Handtüchern einfach wieder ab.<br />
„Wir wollen noch kurz in die Dünen, bevor wir ins Strandcafe<br />
gehen, wir nehmen unsere Sachen mit und kommen<br />
dann nach!“<br />
25
Katja hatte wie immer die Aufgabe, die Erwachsenen zu<br />
informieren, wenn wir Kinder etwas Überraschendes vorhatten.<br />
Wir rollten unsere nassen Badesachen und Handtücher<br />
zusammen und rannten zu unserem ‚Geheimversteck’,<br />
einer kleinen, nicht einsehbaren Mulde, direkt hinter<br />
der Spitze der größten Düne.<br />
Olli hatte sie im letzten Jahr auf einem seiner Streifzüge<br />
entdeckt. <strong>Die</strong> Jungen hatten zu der Zeit ihren ‚Maartick’und<br />
erklärten die Mulde zu ihrer ‚Kapelle’. Maar war<br />
ein altes Wurzelholzstück. Das Meer hatte es wahrscheinlich<br />
irgendwo an einem Waldufer entführt und auf <strong>Ameland</strong><br />
wieder an den Strand gespült. Hanjo hatte es gefunden<br />
und zu seinem ‚Gott’ erklärt. Vor jedem Fußballballspiel<br />
gegen uns Mädchen flehten die Jungen im Versteck Maar<br />
um Unterstützung an, und komischerweise gewannen sie<br />
dann auch. Erst als ihre Glückssträhne riss, flaute ihre Begeisterung<br />
für Maar wieder ab. Pit lieh sich schließlich Katjas<br />
Taschenmesser und schnitzte ein kleines Boot daraus.<br />
Katja informierte alle über die beiden Männer <strong>von</strong> der Fähre.<br />
Dann senkte sie ihre Stimme: „Und stellt euch vor: Pit<br />
und ich haben sie schon wieder getroffen. Sie wohnen in<br />
einer Pension direkt neben dem Bäcker. Zuerst habe ich<br />
es gar nicht bemerkt, aber plötzlich stand der kleine Dicke,<br />
der aussieht wie ein Walross, neben mir und kaufte sich<br />
vier Stücke Kuchen. Ich bin unauffällig hinter ihm her und<br />
sah ihn in die Pension Wijman gehen. Ich finde, wir sollten<br />
herausfinden, was die beiden vorhaben. Am Besten ist es,<br />
wenn wir sie abwechselnd beschatten.“<br />
„Wie stellst du dir das vor? Was ist, wenn sie mit einem<br />
Auto fahren? Wir können ihnen doch nicht mit den Rädern<br />
hinterher jagen. <strong>Die</strong> sind zu schnell für uns, vielleicht fahren<br />
sie ja nach Buren, an das andere Ende der Insel!“<br />
Paula winkte ab.<br />
„Stimmt“, gab Katja zu, „aber es gibt sicher einen Grund,<br />
warum sie sich ausgerechnet in Hollum und nicht in Buren<br />
ein Zimmer genommen haben.“<br />
26
„Lasst uns doch erst mal anfangen mit der Beschattung,<br />
wenn sie wirklich ein Auto benutzen, können wir immer<br />
noch überlegen, was wir machen!“, schlug ich vor. <strong>Die</strong> anderen<br />
nickten zustimmend. Nur Olli hatte einen seiner typischen<br />
Einfälle.<br />
„Wir mieten einen Hubschrauber, dann können wir sie <strong>von</strong><br />
oben beobachten und überall hin verfolgen.“<br />
„Halt die Klappe, Olli!“, meinte Lara, der die Ideen ihres<br />
kleinen Bruders manchmal auf die Nerven gingen, „Ich<br />
schlage vor, dass zwei <strong>von</strong> uns heute Abend zur Pension<br />
gehen und feststellen, ob die Typen noch da sind. Falls sie<br />
irgendwo hingehen, werden sie verfolgt!“<br />
Laras Idee fanden wir gut. Hanjo und Katja wollten die erste<br />
Wache übernehmen. Zumindest so lange ihre Eltern<br />
nichts bemerkten. Morgen würden wir dann weiter sehen,<br />
denn natürlich konnten wir sie nicht die ganze Nacht beobachten.<br />
Wir liefen zum Strandcafe.<br />
27
Unsere Eltern warteten schon auf uns.<br />
„Wo seid ihr gewesen?“, rief Rainer uns entgegen, „wir<br />
wollten doch zusammen essen. Jetzt wird es aber Zeit,<br />
sonst ist alles kalt. Eet smakelijk!“<br />
Zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit gab er<br />
mit seinen Niederländischkenntnissen an.<br />
Wir ließen uns das aber nicht zweimal sagen, denn inzwischen<br />
hatten wir einen ziemlichen Kohldampf. Zum<br />
Schluss gab es für jeden ein Eis und die drei Väter löffelten<br />
genüsslich ihren Eierlikör mit Sahne, auf den sich Papa<br />
schon die ganze Zeit gefreut hatte.<br />
„Ich kann nicht mehr“, stöhnte Paula und hielt sich mit beiden<br />
Händen ihren Bauch.<br />
„Und ich bin total fertig“, antwortete ich, „mir reicht’s für<br />
heute. Ich freu’ mich auf mein Bett.“<br />
„Aber morgen früh müssen wir uns sofort treffen“, flüsterte<br />
Katja.<br />
<strong>Die</strong> Mütter bezahlten und wir verließen das Strandcafe.<br />
Weil die Franzens und die Münstermänner fast in der Dorfmitte<br />
wohnten und wir an der Wattseite, trennten sich unsere<br />
Wege. Das letzte Stück fuhren wir allein.<br />
Zu Hause gingen Meike und ich sofort schlafen.<br />
„Was meinst du, ob Katja und Hanjo die beiden Männer<br />
sehen?“, fragte sie. Ich gähnte.<br />
„Keine Ahnung, morgen wissen wir mehr, „jetzt bin ich jedenfalls<br />
zu müde, um noch darüber nachzudenken.“<br />
Ob Meike noch geantwortet hat, weiß ich nicht mehr, denn<br />
mir fielen sofort die Augen zu.<br />
28
<strong>Die</strong> Begegnung am Geheimversteck<br />
Am nächsten Morgen hatten wir es ziemlich eilig zu Franzens<br />
zu kommen. Papa und Mama saßen schon beim<br />
Frühstück.<br />
„Ich soll euch <strong>von</strong> Katja ausrichten, dass ihr euch um<br />
10.00 Uhr treffen wollt“, sagte Papa. Er hatte sie beim<br />
Brötchenholen getroffen.<br />
„Es schien wohl ziemlich wichtig zu sein. Habt ihr irgendwas<br />
Bestimmtes vor?“<br />
„Ähm nein. Ja. Wir..., wir wollen zusammen an den Strand<br />
und Muscheln suchen, zum Kettenbasteln.“<br />
<strong>Die</strong> Ausrede gefiel mir, sie klang ganz gut.<br />
„Wie kommst du denn darauf?“, meinte Meike und schaute<br />
mich verwundert an. Ich trat gegen ihr Bein.<br />
„Ach stimmt ja, das hätte ich fast vergessen!“, sagte sie<br />
schnell. Mama zog leicht ihre Augenbrauen hoch.<br />
„Na ja, dann nehmt doch die Tragetasche mit, darin könnt<br />
ihr eure Muscheln sammeln.“<br />
Sie hat immer praktische Ideen, auch wenn wir die Tasche<br />
jetzt eigentlich gar nicht gebrauchen konnten.<br />
„Ihr seid aber gegen halb eins zurück!“<br />
Mit einem „Klar Paps!“ sausten wir nach draußen.<br />
<strong>Die</strong> anderen saßen schon bei Franzens, bis auf Lara und<br />
Paula, die seit einer Stunde vor der Pension Wache hielten.<br />
„Und, was ist passiert gestern Abend?“, fragten Meike und<br />
ich wie aus einem Mund.<br />
„Wir sind noch bis kurz vor Mitternacht vor der Pension<br />
geblieben“, antwortete Hanjo.<br />
„Nach dem Schwimmen haben Katja und ich so getan, als<br />
wären wir total kaputt. Dann sind wir ins Bett und kurze<br />
Zeit später durch unser Zimmerfenster abgehauen. Ich<br />
29
glaube, wir waren gerade fünf Minuten da, als Walross,<br />
der kleine Dicke mit dem Schnauzbart, und der Große mit<br />
der Nackenlocke mit Fahrrädern in die Dünen fahren wollten.“<br />
„Woher wusstet ihr, dass sie da hin fahren wollten?“,<br />
staunte ich.<br />
„Ich konnte hören, wie der Dicke jemanden nach dem Weg<br />
fragte. Wir sind dann hinterher.“<br />
„<strong>Die</strong> suchen eine Galionsfigur <strong>von</strong> einem Schiff, das irgendwann<br />
mal am Strand <strong>von</strong> <strong>Ameland</strong> gekentert sein<br />
soll“, erklärte Katja.<br />
„Was ist denn eine Galionsfigur?“, wollte Olli wissen.<br />
„Eine Art Verzierung am Bug <strong>von</strong> Segelschiffen, mehr<br />
weiß ich auch nicht. Walross jedenfalls will die Figur unbedingt<br />
wiederhaben, um endlich sein Geld kassieren zu<br />
können.“<br />
„Wieso Geld, und was heißt wiederhaben?“, erkundigte ich<br />
mich.<br />
„Keine Ahnung“, antwortete Katja.<br />
„Und wieso ist diese Figur ausgerechnet hier in Hollum in<br />
den Dünen?“, fragte Meike.<br />
„Weiß ich auch nicht. Aber sie haben in der Nähe unseres<br />
Geheimverstecks fast alles umgegraben!“, raunte Hanjo<br />
aufgeregt.<br />
„Und, haben sie was gefunden?“<br />
Olli rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.<br />
„Nein, Walross war deshalb auch stinkesauer und hat den<br />
Großen die ganze Zeit angemeckert. Wollt ihr wissen, was<br />
der dann gemacht hat?“<br />
„Klar, jetzt erzähl schon!“, antwortete ich ungeduldig.<br />
„Er hat den Dicken gepackt, ihn in die Luft gestemmt und<br />
durchgeschüttelt wie eine Puppe.“<br />
Wir waren echt beeindruckt. Leicht war die Kugel auf zwei<br />
Beinen bestimmt nicht.<br />
„Walross hat keinen Ton mehr gesagt und dann sind sie<br />
zurück zu ihrer Pension.“<br />
30
Hanjo schaute uns erwartungsvoll an. Olli sprang begeistert<br />
hoch.<br />
„Cool, jetzt suchen wir die Figur, kassieren eine fette Belohnung<br />
und können bis zum Ende der Ferien Pommes<br />
und ‚Frikandel spezial’ essen!“<br />
Dazu machte er einen Handstand.<br />
„Jetzt stell dich mal wieder auf die Füße“, meinte Pit, der<br />
mit seinem Lieblingsspielzeug, dem<br />
Fußball jonglierte.<br />
„Aber du hast Recht. <strong>Die</strong> Idee ist gar<br />
nicht so schlecht.“<br />
„Genau. Wir fahren jetzt zu unserem<br />
Geheimversteck und suchen sie.<br />
Vielleicht haben wir ja mehr Glück<br />
als die beiden Typen. Zwei <strong>von</strong> uns<br />
sollten sie aber beobachten, um<br />
rechtzeitig Bescheid zu sagen, falls<br />
sie wieder auftauchen“, schlug ich<br />
vor.<br />
„Okay, so machen wir’s“, nickte Hanjo.<br />
„Na, was habt ihr denn hier für eine geheime Beratung?“,<br />
fragte Heike, die in den Garten gekommen war.<br />
„Das willst du doch nicht wirklich wissen, Mama“, antwortete<br />
Hanjo, „schließlich hast du selbst gesagt, die Beratung<br />
ist geheim.“<br />
„Wir haben gerade überlegt, zum Strand zu fahren, um<br />
dort Fußball zu spielen“, sagte Pit geistesgegenwärtig. Wir<br />
stimmten schnell zu, so dass es für Heike wohl ziemlich<br />
echt aussah. Jedenfalls fragte sie nicht weiter nach, sondern<br />
hielt es für eine gute Idee.<br />
„Seid ihr gegen Mittag wieder zurück? Papa will nämlich<br />
kochen.“<br />
„Na klar, Mama, Hauptsache es gibt Spaghetti!“, rief Pit<br />
noch, während wir schon losrannten, um Paula und Lara<br />
in unseren Plan einzuweihen.<br />
31
Sie hielten seit einer Stunde vor der Pension Wache, hatten<br />
aber bis jetzt nichts Auffälliges bemerkt.<br />
„Walross stand eben vor der Tür zum Telefonieren. Ich<br />
schätze, am anderen Ende war sein Boss, denn er sagte<br />
fast nichts außer ‚Ja, ja’ und dazu machte er ein ziemlich<br />
ernstes Gesicht. Im Augenblick sind sie drinnen“, berichtete<br />
Paula. Sie und Lara waren einverstanden, die Typen<br />
weiter zu beobachten, während wir nach der Figur suchten.<br />
„Sobald sie sich in Richtung Dünen bewegen, müsst ihr<br />
uns warnen!“, sagte Hanjo.<br />
„Selbstverständlich, Herr Professor!“, meinte Lara schnippisch,<br />
„darauf wären wir jetzt ohne dich sicher nicht gekommen.“<br />
„Am Besten fangen wir oben an und arbeiten uns langsam<br />
nach unten. Wenn wir eine Kette bilden, dürfte uns eigentlich<br />
nichts entgehen“, schlug Hanjo vor, als wir vor unserem<br />
Versteck in den Dünen standen.<br />
Ich glaube, wir haben fast jeden Zentimeter <strong>von</strong> oben bis<br />
unten durchwühlt und alles Mögliche gefunden. Einen Badeschuh,<br />
einen alten Ball, eine Brille mit einem Bügel, drei<br />
Dosen Sonnencreme – aber keine Galionsfigur. Meike und<br />
ich sammelten nebenbei einige Muscheln in unserer Tasche.<br />
Wir saßen gerade enttäuscht wieder vor unserem<br />
Treffpunkt, als Paula und Lara auftauchten.<br />
„Sie sind kurz hinter uns, Walross hat gesagt, sie wollen<br />
jetzt noch mal alles umgraben. Wir müssen verschwinden,<br />
sie werden jeden Augenblick hier sein!“, rief Lara aufgeregt.<br />
Wir sprangen auf und versteckten uns im Gebüsch,<br />
das einigermaßen Deckung bot. Nur wenige Augenblicke<br />
später sahen wir sie kommen. Walross schnaufte und<br />
schwitzte. Mit kleinen Schritten schob er seinen dicken<br />
Bauch die Düne hoch. Obwohl die Sonne schon heiß vom<br />
Himmel schien, trug er wieder seinen Anzug, die Brille und<br />
den großen Hut. Nackenlocke folgte ihm in kurzen Jeans,<br />
er hatte Sandalen an den Füßen und seinen großen<br />
32
Brustkorb in ein T-Shirt gezwängt, so dass wir neben seinen<br />
enormen Muskelbergen auch seine Tatoos gut sehen<br />
konnten. Auf dem linken Oberarm trug er ein großes Segelboot,<br />
auf dem rechten hatte er sich ein flammendes<br />
Schwert tätowieren lassen. In einer Hand hielt er eine<br />
Schaufel.<br />
Ich duckte mich flach auf den Boden. Beide standen direkt<br />
vor unserem Geheimversteck. Walross sah sich um und<br />
schien zu überlegen, wo sie mit ihrer Suche <strong>von</strong> gestern<br />
weitermachen sollten.<br />
„Pass mal auf, Lu!“, sagte er, „ich bleibe jetzt hier und zeige<br />
dir die Stellen, die wir noch nicht gründlich genug untersucht<br />
haben. Immer wenn ich’s dir sage, nimmst du die<br />
Schaufel und gräbst nach der Galionsfigur, klar?!“<br />
„Moment mal, Walter, gestern Abend hast du gesagt, heute<br />
würdest du graben. Ich habe doch schon geschuftet wie<br />
ein Bagger.“<br />
„Du weißt genau, dass ich mich nicht bücken darf. Mein<br />
Arzt hat mir jede Anstrengung verboten!“<br />
Ich konnte deutlich Walross’ unverschämtes Grinsen sehen.<br />
Ächzend setzte er sich in den Sand und forderte Nackenlocke<br />
auf, ein paar Meter weiter rechts mit der Arbeit<br />
anzufangen.<br />
Wir saßen fest. Meike, die direkt neben mir lag, wisperte<br />
mir zu: „Was sollen wir denn jetzt machen? Sobald wir uns<br />
bewegen, werden sie uns doch bemerken.“<br />
„Keine Ahnung“, flüsterte ich zurück, „wir müssen eben<br />
abwarten.“<br />
Noch während ich das sagte, hörte ich plötzlich Olli<br />
schreien: „Lass mich los! Wenn du mich nicht sofort loslässt,<br />
werden meine Freunde dich fertig machen, außerdem<br />
kommt mein Vater und sagt dir seine Meinung!“<br />
Nackenlocke hatte Olli am Hosenbund gepackt. Er hielt<br />
ihn mit seinem rechten Arm hoch in die Luft, so dass es<br />
aussah, als wäre er bei seinen ersten Schwimmübungen.<br />
33
„Hey, Walter! Sieh mal, wen ich hier gefunden habe!“<br />
Walross stand auf und ging auf Nackenlocke und den zappelnden<br />
Olli zu.<br />
„Na, Kleiner, bist du alleine oder hast du noch irgendwo<br />
Freunde? Was machst du hier eigentlich?“<br />
„Das sage ich nicht, das geht euch gar nichts an, lass<br />
mich jetzt endlich los!“<br />
Ollis Stimme wurde schriller und klang jetzt auch nicht<br />
mehr mutig, sondern bereits etwas weinerlich. Nackenlocke<br />
lachte laut und dröhnend. Plötzlich sah ich Pit hochspringen<br />
und seinen Fußball, den er immer dabei hatte,<br />
mit aller Kraft auf Nackenlockes Rücken schießen. Das<br />
war wie ein Signal für uns. Laut schreiend sprangen wir<br />
auf und warfen mit Sand nach den beiden Kerlen.<br />
„Verdammte Bande, was soll das eigentlich, wo kommt ihr<br />
her?!“<br />
Walross schnaubte überrascht und ziemlich ärgerlich,<br />
auch Nackenlocke schien auf unseren Überraschungsangriff<br />
nicht gefasst zu sein. Er ließ Olli fallen und versuchte<br />
sich den Sand aus den Augen zu reiben. Sofort rappelte<br />
Olli sich wieder auf und zusammen rannten wir zu unseren<br />
Fahrrädern. So schnell wir konnten, rasten wir zurück<br />
nach Hollum.<br />
„Denen haben wir es aber gegeben, habt ihr gesehen, wie<br />
ich dem Großen meine Meinung gesagt habe?“, keuchte<br />
Olli, als wir ausgepumpt bei Franzens auf dem Rasen saßen.<br />
„Mann, war ich gut, der weiß jetzt absolut, mit wem er es<br />
zu tun hat, mit Olli, dem Superman!“<br />
„Ja, absolut. Jetzt halt endlich deine Klappe. Was wäre<br />
gewesen, wenn er dich nicht wieder los gelassen hätte?<br />
Dann könntest du nicht so große Töne spucken. Außerdem<br />
solltest du dich ruhig mal bei Pit bedanken. Wenn er<br />
nicht die Idee mit dem Fußball gehabt hätte, würden die<br />
beiden dich wahrscheinlich jetzt noch ausquetschen!“<br />
34
„Hör auf zu meckern!“, sagte ich, „wir sollten lieber überlegen,<br />
was wir machen. Olli werden sie jetzt auf jeden Fall<br />
wiedererkennen. Und außerdem wissen sie, dass wir sie<br />
belauscht haben. Also müssen wir ab heute vorsichtiger<br />
sein.“<br />
„Hannah hat Recht“, schaltete sich Katja ein, „die beiden<br />
werden jetzt bestimmt genau darauf achten, ob sie jemand<br />
verfolgt. Wir müssen uns erst mal mit dieser Galionsfigur<br />
beschäftigen. Vielleicht wissen die in dem Museum mehr.<br />
Morgen fahren wir zusammen mit dem Rad nach Buren.“<br />
„Gute Idee“, fand Paula, „Papa muss noch arbeiten. Aber<br />
Mama können wir bestimmt sofort dazu überreden.“<br />
Rainer, Paulas Papa, war Musiklehrer und schrieb in den<br />
Ferien manchmal an Kompositionen für einen Chor.<br />
Wir beschlossen also, unseren Eltern Buren und das Museum<br />
schmackhaft zu machen. Das Dorf lag am anderen<br />
Ende der Insel.<br />
„Na, Kinder, schon zurück vom Strand?“<br />
Uli schlug Pit freundschaftlich auf den Rücken. Er zuckte<br />
zusammen. Aber als er seinen Vater erkannte, hatte er<br />
sich sofort wieder in der Gewalt.<br />
„Was ist denn mit dir los?“, meinte Uli, „du bist doch sonst<br />
nicht so schreckhaft!“<br />
„Mann, Papa, ich dachte schon hinter mir steht der gefährlichste<br />
Verteidiger der Welt“, grinste Pit. Er dachte irgendwie<br />
immer an Fußball.<br />
„Ich wollte euch zum Essen rufen!“, antwortete Uli.<br />
Für den Nachmittag verabredeten wir uns am Strand. <strong>Die</strong><br />
Sonne schien und kein Windhauch wehte. Über Nackenlocke<br />
und Walross sprachen wir kaum. <strong>Die</strong> Idee, nach Buren<br />
zu fahren, fanden alle Eltern gut. Am nächsten Tag wollten<br />
wir uns mit Proviant, Badezeug und Fahrrädern vor<br />
Franzens Haus treffen.<br />
35
Der Besuch im Museum<br />
Endlich trudelten auch die Letzten am Treffpunkt ein. Marlies<br />
hatte Rainer versprochen, erst spät zurück zu kommen,<br />
damit er in Ruhe arbeiten konnte.<br />
Wir fuhren auf direktem Weg zu den Dünen, denn dort war<br />
das Radfahren einfach schöner, außerdem mussten wir<br />
uns bei Gegenwind nicht so anstrengen. Pit und Olli rasten<br />
los. Sie fahren bei gemeinsamen Ausflügen fast immer<br />
voraus. Irgendwann kommen sie wieder zurück, um zu<br />
sehen, wo wir anderen bleiben oder warten an einer versteckten<br />
Stelle, um dann plötzlich wieder hinter uns aufzutauchen.<br />
Papa sagt immer, die beiden sind wie Hunde. <strong>Die</strong><br />
gehen bei Sparziergängen den Weg ihres Herrchens auch<br />
meist drei- bis viermal.<br />
„Super Wetter, heute“, meinte Hanjo, nachdem wir eine<br />
Weile unterwegs waren.<br />
„Gut, dass der Wind <strong>von</strong> hinten kommt, ich hätte keine<br />
Lust gehabt, die ganze Zeit voll in die Kette zu treten.“<br />
Ich lachte: „Du bist echt faul. Aber sieh’ mal, wir sind<br />
gleich am Strandübergang <strong>von</strong> Ballum!“<br />
„Mir wäre lieber, wir wären jetzt im Dorf, wegen der<br />
Pommesbude.“<br />
Unserer Meinung nach gab es in Ballum am Kreisverkehr<br />
die besten Pommes auf ganz <strong>Ameland</strong>.<br />
„Ich bin froh, dass wir da nicht hinfahren. Ich hab’ mich so<br />
oft darauf gefreut, aber danach war mir meist voll<br />
schlecht.“<br />
„Wahrscheinlich warst du zu gierig“, grinste Hanjo.<br />
Während die Erwachsenen sich ins Cafe setzten, liefen wir<br />
hinunter an den Strand. Glücklicherweise war Flut und wir<br />
konnten uns direkt in die Wellen stürzen. Bei Ebbe durfte<br />
36
man nicht baden, wegen der Gefahr, vom abfließenden<br />
Wasser ins Meer gezogen zu werden.<br />
„Wir spielen Ticken“, schlug Pit vor.<br />
„Olli und ich ticken, ihr dürft aber nur bis zum zweiten<br />
Pfahl ins Wasser, sonst kriegen wir euch nie.“<br />
Hatten sie uns gefangen, mussten wir stehen bleiben und<br />
darauf warten, wieder befreit zu werden. Olli erwischte<br />
mich ziemlich schnell und planschte die ganze Zeit in meiner<br />
Nähe, um mich zu bewachen.<br />
Während ich nach den anderen Ausschau hielt, sah ich<br />
plötzlich, nicht weit <strong>von</strong> mir, etwas Schwarzes im Wasser.<br />
„Hey, Olli, guck mal da vorne“, sagte ich, „was schwimmt<br />
denn da?“<br />
„Keine Ahnung. Du willst mich ja bloß ablenken. Hör’ auf<br />
damit, die anderen werden dich sowieso nicht befreien.“<br />
„Ehrlich, da ist wirklich etwas Schwarzes im Wasser!“<br />
Es schwamm an mir vorbei, ließ sich mit den Wellen treiben<br />
und tauchte dann unter. Plötzlich wusste ich Bescheid.<br />
„Oh nein, Olli, das ist ein Seehund, pass auf, er kommt<br />
bestimmt direkt auf dich zu!“<br />
Ich schrie. Jetzt glaubte er mir, dass ich ihm nichts vormachen<br />
wollte und sah in die Richtung, in die ich zeigte. Auf<br />
einmal tauchte das Tier auf und schaute sich neugierig<br />
um. Es sah richtig süß aus, aber genauso schnell wie es<br />
gekommen war, verschwand es auch wieder.<br />
„Echt cool“, meinte Olli, „das glaubt uns bestimmt keiner!“<br />
Er ballte die Faust und rief: „Ich bin Olli, der mit dem Seehund<br />
schwimmt!“<br />
Plötzlich berührte mich etwas unter Wasser. Ich zuckte<br />
zusammen, aber es war nicht der Seehund, sondern Lara.<br />
Sie schlug mich frei. Ich nutzte meine Chance und türmte.<br />
Pit, der das mitbekommen hatte, schimpfte: „Mensch, Olli,<br />
pass doch auf, so kriegen wir die anderen nie!“<br />
Aber nach einiger Zeit schafften sie es doch.<br />
37
Nach dem Spiel ruhten wir uns auf dem warmen Sand aus<br />
und ließen uns <strong>von</strong> der Sonne trocknen. Dabei erzählten<br />
wir unsere Seehundgeschichte. Und Olli hatte Recht, sie<br />
glaubten uns kein Wort. Wir alberten noch herum, bis unsere<br />
Eltern kamen.<br />
„Kommt Kinder, es geht weiter, schließlich wollen wir noch<br />
ins Museum!“, rief Marlies.<br />
Kurze Zeit später fuhren wir wieder auf dem Weg die Dünen<br />
hinauf und hinunter. Mal mussten wir ordentlich in die<br />
Pedalen treten, mal konnten wir in großem Tempo hinunterrasen.<br />
Das machte einen Riesenspaß, und wir erreichten<br />
Buren ziemlich schnell.<br />
„Aufs Museum habe ich noch gar keine Lust,“ nölte Pit,<br />
„können wir nicht erst mal unser Picknick machen?“<br />
„Ja, ja, ist ja gut“, antwortete Heike, „da vorne auf der Wiese<br />
ist es schön windstill, da bleiben wir.“<br />
Heike hatte sich richtig ins Zeug gelegt und kleine Frikadellen,<br />
Nudelsalat, frische Brötchen, gekochte Eier und alle<br />
möglichen anderen Schlemmereien eingepackt, eigentlich<br />
eine große Auswahl. Aber Hanjo wollte nichts essen<br />
und maulte, weil sie vergessen hatte, seine Chips einzupacken.<br />
„Da hättest du ja auch selber dran denken können“, meinte<br />
Heike.<br />
„Mensch Mama, ich hab’ die Tüte extra zu deinem Rucksack<br />
gelegt. <strong>Die</strong> hast du absichtlich übersehen!“<br />
„Hier gibt es so viele tolle Sachen, Hanjo. Hör auf, dich so<br />
anzustellen!“, mischte sich Katja ein.<br />
Obwohl die beiden sich sonst heftig streiten konnten, gab<br />
Hanjo diesmal nach, sagte nichts und aß ein Brötchen.<br />
Nach einer halbe Stunde waren nur noch ein paar Reste<br />
übrig. Ich war echt satt. Pit lag auf dem Boden und starrte<br />
träumend in den blauen Himmel. Plötzlich rülpste er laut.<br />
„Meine Güte, Pit!“, schimpfte Heike, „muss das denn<br />
sein?“<br />
„T’schuldigung“, murmelte er, „ist mir so rausgerutscht.“<br />
38
Meike und ich kicherten.<br />
„Typisch Jungs“, flüsterte sie mir zu.<br />
„Ja, Pit, wenn’s dir auch geschmeckt hat, dann können wir<br />
ja weiterfahren“, meinte Papa.<br />
„Wie weit ist es noch?“, wollte Paula wissen.<br />
„Ich schätze, wir sind gleich da, das Museum liegt ja am<br />
Ortseingang <strong>von</strong> Buren“, antwortete Marlies. Wir packten<br />
unsere Sachen und räumten den Müll weg. Schon kurze<br />
Zeit später standen wir vor einem Bauernhaus.<br />
‚Het kleine Museum’ – ‚Das kleine Museum’, stand auf<br />
dem Schild am Eingang. Pit stieg vom Fahrrad und protestierte<br />
lautstark.<br />
„Das sieht ja völlig öde aus! Ich hab’ echt keine Lust, mir<br />
irgendwelche alten Ackergeräte und so was anzugucken!“<br />
„Jetzt wart’ doch erst mal ab, vielleicht ist es drinnen ja interessanter!“,<br />
beruhigte ihn Hanjo.<br />
Und tatsächlich, schon im ersten Raum wurden wir positiv<br />
überrascht.<br />
„Ist doch cool hier“, meinte Paula, „die haben ja den<br />
Strand nachgebaut. Dafür haben sie bestimmt einen ganzen<br />
Lastwagen voll Sand gebraucht!“<br />
Sogar Pit sah jetzt einigermaßen interessiert aus.<br />
„<strong>Die</strong> Fototapete mit den Nordseewellen ist auch nicht<br />
schlecht“, grinste er. Lara zeigte auf eine Puppe auf dem<br />
Sand, die sich nach einem Stück Holz bückte.<br />
„Guckt mal, das muss die Rixt sein. <strong>Die</strong> sieht echt aus wie<br />
eine <strong>Hexe</strong>!“<br />
Ihre Geschichte konnte man sich für einen Euro erzählen<br />
lassen.<br />
„Na gut, dann will ich mal nicht so sein“, seufzte Mama<br />
und steckte die Münze in den Schlitz des Automaten. Zuerst<br />
hörten wir aus dem Lautsprecher einen kräftigen<br />
Sturm und das Rauschen der Wellen. Dann begann eine<br />
geheimnisvolle Stimme:<br />
39
40<br />
Vor langer, langer Zeit wohnte in einem einsamen,<br />
entlegenen Winkel vom Oerd, der unbewohnten<br />
Ostseite <strong>Ameland</strong>s, eine alte Fischerwitwe mit ihrem<br />
Sohn. Sie war bereits in grauer Vergangenheit auf die<br />
Insel gekommen und hatte sich in einer armseligen<br />
Hütte, weit <strong>von</strong> der bewohnten Welt entfernt, niedergelassen.<br />
Viel hatte sie scheinbar nicht für ihren Lebensunterhalt<br />
nötig, denn die Ameländer sahen sie<br />
niemals im Dorf. Mutter und Sohn begnügten sich mit<br />
der Milch ihrer einzigen Kuh und lebten ansonsten <strong>von</strong><br />
dem, was die Natur zu bieten hatte. Und natürlich<br />
konnten sie auch allerlei am Wasser finden, denn in<br />
jenen frühen Zeiten strandeten häufig Schiffe vor der<br />
Ameländer Küste. Klein, mager und krumm gebogen<br />
wurde die Witwe manchmal am Strand gesehen. Mit<br />
ihrer ungeheuerlichen Hakennase berührte sie beinahe<br />
den Boden, wenn sie am Wasser nach allem suchte,<br />
was sie vielleicht gebrauchen konnte.<br />
Rixt, so hieß sie, hatte an ihrem Sohn Sjoerd eine<br />
gute Stütze. Das ganze Jahr über jagte er Wildkaninchen<br />
und im Frühjahr, wenn sie im Überfluss zu finden<br />
waren, brachte er Möweneier nach Hause. Als Sjoerd<br />
jedoch erwachsen geworden war, folgte er dem Ruf<br />
der See und verließ <strong>Ameland</strong> und die kleine Hütte.<br />
Lange Zeit nach Sjoerds Abschied konnte Rixt vom<br />
Oerd sich noch selbst versorgen, wollte mit keinem<br />
etwas zu tun haben, und so gab es auch niemanden,<br />
der sich um sie kümmerte. Das ging so lange gut, bis<br />
einmal für eine ganze Weile kein Schiff strandete und<br />
es für sie auf dem Strand nichts mehr zu holen gab.<br />
Als die Not groß geworden war, brütete Rixt in ihrer<br />
kleinen Hütte auf dem Oerd einen teuflischen Plan
aus, den sie in einer stockfinsteren Nacht in die Tat<br />
umsetzte.<br />
Der Sturmwind heulte um die Insel, als wieder<br />
einmal ein Schiff vor der Ameländer Küste in Not geriet.<br />
Rixt band ihrer Kuh eine brennende Sturmlaterne<br />
zwischen die Hörner und jagte das Tier auf die höchste<br />
Düne. Ihre List hatte Erfolg. Der Steuermann des<br />
Schiffs vermutete an der Stelle, wo die Lampe flackerte,<br />
einen sicheren Hafen und nahm Kurs auf das Vertrauen<br />
erweckende Licht. <strong>Die</strong> Folgen waren schrecklich.<br />
Das Schiff lief auf eine Sandbank, kenterte und<br />
zerbrach in der wüsten Brandung; die gesamte Besatzung<br />
ertrank. Noch bevor der Morgen dämmerte, ging<br />
Rixt zum Strand, um zu sehen, ob es für sie etwas zu<br />
holen gab. Doch sie entdeckte nichts, als einen leblosen<br />
Körper, der am Strand lag. Als sie neugierig näher<br />
trat und ihn umdrehte, stellte sie zu ihrem Entsetzen<br />
fest, dass es ihr Sohn Sjoerd war, der Steuermann<br />
des Schiffes, den sie mit ihrer teuflischen Falle in den<br />
Tod getrieben hatte.<br />
Kilometerweit hörte man ihre herzzerreißenden<br />
Schreie, die selbst die tosende Brandung übertönten.<br />
Und noch heute, wenn der Sturmwind wie damals über<br />
<strong>Ameland</strong> rast, irrt die alte Rixt auf dem Oerd umher<br />
und man hört ihre klagende Stimme, die immer<br />
wieder ‚Sjoe-oe-oe-urd’ ruft.<br />
Mir lief es kalt den Rücken hinunter.<br />
„Könnte unsere Galionsfigur nicht <strong>von</strong> diesem Schiff<br />
stammen?“, meinte Lara. Sie hatte unsere Eltern, die direkt<br />
neben uns standen, völlig vergessen. Prompt fragte<br />
Marlies: „Von welcher Galionsfigur redest du denn da?“<br />
Katja reagierte am schnellsten: „Eehm – wir denken uns<br />
gerade eine Art Abenteuerspiel aus und dazu gehört auch<br />
41
eine Galionsfigur. <strong>Die</strong> Geschichte <strong>von</strong> der Rixt passt sehr<br />
gut dazu.“<br />
Marlies, Heike und Mama schauten sich lächelnd an, sagten<br />
aber weiter nichts. Während die Erwachsenen sich im<br />
Museum umsahen, gingen wir Kinder nach draußen auf<br />
den Hof, um uns bei den Ziegen und Schafen ungestört<br />
unterhalten zu können.<br />
„Bist du bescheuert, <strong>von</strong> der Figur zu reden, wenn unsere<br />
Eltern direkt dahinter stehen?“, schimpfte Paula. Lara<br />
schaute betreten auf die Ziegen.<br />
„Jetzt hört schon auf, ist ja nichts passiert“, meinte Katja<br />
beschwichtigend.<br />
„<strong>Die</strong> Frage ist, ob diese Geschichte <strong>von</strong> der Strandräuberin<br />
erfunden wurde oder ob sie wirklich passiert ist. Wenn<br />
sie stimmt, könnte Lara Recht haben.“<br />
„Eigentlich müsste es in diesem Museum doch jemanden<br />
geben, der etwas darüber weiß.“<br />
Pit sah sich suchend um.<br />
„Wir könnten den Mann dort fragen.“<br />
Meike zeigte auf einen großen, blonden Holländer mit Vollbart,<br />
der sich mit einer Gruppe Kinder unterhielt. Hanjo<br />
sollte ihn ansprechen. Wir warteten ab, bis er die Führung<br />
beendet hatte und gingen dann auf ihn zu.<br />
„Guten Tag, dürfen wir ihnen auch eine Frage stellen? Wir<br />
würden gerne noch mehr über die Rixt vom Oerd und dieses<br />
Schiff wissen“, sagte Hanjo freundlich.<br />
Der Mann in der Tracht der alten Ameländer Seefahrer<br />
schaute Hanjo und uns erstaunt und erfreut zugleich an.<br />
Er war der Museumsleiter.<br />
„Aha. Ihr habt euch also die Geschichte angehört. Was<br />
soll ich euch noch erzählen?“<br />
Hanjo schien einen Augenblick zu überlegen. Dann fragte<br />
er: „Wissen Sie, ob dieses Schiff eine Galionsfigur hatte?“<br />
Kaum hatte Hanjo das Wort ‚Galionsfigur’ ausgesprochen,<br />
veränderte sich der Gesichtsausdruck des Mannes. Sein<br />
42
Blick wirkte plötzlich gehetzt. Bevor er antwortete, drehte<br />
er sich hastig um, als wollte er sich vergewissern, dass<br />
niemand uns beobachtete oder zuhörte. Dann antwortete<br />
er flüsternd: „Wie kommt ihr darauf? Wieso glaubt ihr,<br />
dass dieses Schiff eine Galionsfigur hatte? Ich will euch<br />
mal was sagen. Das Beste ist, ihr fragt gar nicht weiter.<br />
Kümmert euch nicht um, Dinge, die euch nichts angehen,<br />
das ist alles viel zu lange her!“<br />
Er drehte sich um und ließ uns stehen. Wir waren sprachlos.<br />
Damit hatten wir nicht gerechnet. Warum wirkte er<br />
plötzlich so nervös?<br />
„Das gibt’s doch gar nicht!“<br />
Katja fasste sich zuerst.<br />
„Was ist denn mit dem los?“<br />
„Keine Ahnung, aber ich habe das Gefühl, wir haben in eine<br />
Art Nespenwest gestochen!“, meinte Hanjo.<br />
„Das heißt doch Wespennest. ‚Nespenwest’! Das ist gut,<br />
ich lach’ mich tot.“<br />
Olli fing wie irre an zu lachen.<br />
„Halts Maul!“<br />
Erst der scharfe Ton Laras brachte ihn zum Schweigen.<br />
Meike schlug vor: „Wir gehen dem Museumsleiter einfach<br />
hinterher, er ist doch ins Haus gegangen. Vielleicht ist er<br />
in seinem Büro.“<br />
Weil er zuerst freundlich war, sollten Katja, Hanjo und ich<br />
noch einmal versuchen, ihn anzusprechen. Wir mussten<br />
nicht lange suchen. <strong>Die</strong> Tür seines Büros war verschlossen,<br />
aber wir hörten ihn sehr laut und aufgeregt telefonieren.<br />
Zwar sprach er niederländisch, aber Bruchstücke<br />
konnten wir verstehen. Er erzählte <strong>von</strong> Hanjo, wunderte<br />
sich, dass Kinder sich für die Figur interessierten und wollte<br />
alles tun, um sie zurückzubekommen.<br />
Dann wurde es ruhig. Er schien aufgelegt zu haben. Ich<br />
wollte gerade klopfen, als sich die Tür öffnete.<br />
„Was macht ihr denn hier? Habt ihr etwa gelauscht?“<br />
43
Er stellte sich uns als Jaap Mathijsen vor und ließ uns eintreten.<br />
Zuerst zögerten wir, weil er uns beim Lauschen erwischt<br />
hatte. Aber da er uns jetzt wieder freundlich ansah,<br />
betraten wir sein Büro und erzählten ihm unser Erlebnis<br />
mit den beiden Ganoven.<br />
„Jetzt verstehe ich euch. Aber ihr habt mir gerade einen<br />
fürchterlichen Schrecken eingejagt. Mir ist hier aus dem<br />
Museum nämlich mein schönstes und teuerstes Ausstellungsstück<br />
gestohlen worden. Und das will ich eigentlich<br />
erst mal geheim halten.“<br />
„Und was ist das?“, fragte Pit.<br />
„Eine Galionsfigur“, murmelte Jaap verlegen.<br />
Also doch. Offenbar gab es tatsächlich einen Zusammenhang<br />
zwischen der Geschichte und der Figur.<br />
„Das Schlimme ist, sie gehört nicht dem Museum, sondern<br />
ist die Leihgabe einer alten Ameländer Kapitänsfamilie.<br />
<strong>Die</strong> wissen bis jetzt nicht, dass sie verschwunden ist.“<br />
„Was ist denn eine Kapitänsfamilie?“, wollte Hanjo wissen.<br />
Jaap lächelte: „Das sind Nachfahren der Walfänger. <strong>Ameland</strong><br />
lebte im 18. Jahrhundert vor allem vom Walfang. Um<br />
1770 wohnten hier rund einhundertdreißig Kapitäne und<br />
Seeleute, die sich ihr Geld damit verdienten.“<br />
„Ach so. In Hollum gibt es so schöne alte, kleine Häuser,<br />
dann sind die wahrscheinlich aus dieser Zeit, oder?“<br />
Hanjos Augen leuchteten. <strong>Die</strong> Sache fing an, ihm Spaß zu<br />
machen.<br />
„Genau. Du hast Recht“, fuhr Jaap fort, „die Seeleute<br />
brachten derart viel Tran und Ambra nach Hause, dass<br />
<strong>Ameland</strong> in dieser Zeit sehr reich wurde. Bis zu jenem<br />
schrecklichen Tag, an dem eine große Zahl <strong>von</strong> Schiffen<br />
am Nordpol vom Packeis eingeschlossen wurde und viele<br />
der Walfänger den Tod fanden.“<br />
„Aber was hat das jetzt mit der Galionsfigur zu tun?“<br />
Katja brachte uns zum Thema zurück.<br />
44
„Wie gesagt, die Nachfahren einer solchen Kapitänsfamilie<br />
haben sie dem Museum geliehen. Es kann zwar nicht<br />
wirklich nachgewiesen werden, dass sie <strong>von</strong> dem gestrandeten<br />
Schiff stammt, das Rixt vom Oerd auf die Sandbank<br />
gelockt hat, aber viele hier auf der Insel glauben fest daran.<br />
Als das Schiff an den Strand gespült wurde, hat die<br />
gewaltige Brandung die Galionsfigur angeblich vom Bug<br />
abgebrochen. Aus lauter Wut und Verzweiflung über den<br />
Tod ihres Sohnes soll die alte Rixt die Figur verflucht haben<br />
und so hat lange Zeit niemand gewagt, sie anzufassen.<br />
Irgendjemand hat sich dann aber doch getraut, und<br />
später ist sie in den Besitz der Kapitänsfamilie übergegangen.“<br />
Jaap wirkte traurig und wütend zugleich, denn er hatte den<br />
Besitzern hoch und heilig versprochen für die Sicherheit<br />
der Figur zu sorgen.<br />
„Was soll ich nur machen? Ich habe keine Ahnung, wie ich<br />
die Marijke zurückbekommen kann.“<br />
„Welche Marijke?“, fragte ich.<br />
„<strong>Die</strong> Galionsfigur. Ich nenne sie so, weil sie mir richtig ans<br />
Herz gewachsen ist.“<br />
„Ich weiß zwar nicht warum“, sagte Hanjo darauf, „aber eines<br />
ist klar. Außer den <strong>Die</strong>ben, die deine Marijke aus dem<br />
Museum gestohlen haben, sind offenbar auch unsere beiden<br />
Ganoven hinter ihr her - und deshalb werden wir dir<br />
helfen!“, fügte er mit fester Stimme hinzu.<br />
In diesem Moment klopfte es laut an der Tür. Jaap öffnete.<br />
„Da seid ihr ja!“, riefen unsere Eltern wie aus einem Mund,<br />
„wir haben euch überall gesucht. Was macht ihr denn<br />
hier?“<br />
„Wir haben uns bei Jaap über das Museum informiert. Er<br />
ist der Museumsleiter. Er hat uns übrigens eingeladen,<br />
morgen noch mal wiederzukommen!“<br />
Verwundert schauten wir Katja an. Aber dann fiel bei uns<br />
der Groschen.<br />
45
„Ja genau, Jaap will uns <strong>von</strong> den Walfischfängern erzählen!“,<br />
versicherte jetzt auch Hanjo.<br />
Jaap, der uns ja gerade erst kennen gelernt hatte, schien<br />
überhaupt nicht überrascht.<br />
„Das stimmt, meine Herrschaften“, wandte er sich an unsere<br />
Eltern, „ich heiße übrigens Jaap Mathijsen. Wir hatten<br />
hier ein sehr nettes Gespräch. Es würde mich wirklich<br />
freuen, ihre Kinder morgen wiederzusehen, denn es gibt<br />
noch einiges über die Geschichte <strong>Ameland</strong>s zu berichten.“<br />
Unsere Eltern fühlten sich sehr geschmeichelt, es schien<br />
ihnen zu gefallen, wissbegierige Kinder zu haben. Nur<br />
Mama erhob Einspruch: „Moment! Eigentlich wollten wir<br />
doch morgen eine Bootsfahrt zu der Robbenkolonie auf<br />
der Sandbank im Watt machen.“<br />
Da wir alle kräftig protestierten, ließ sie sich schnell dazu<br />
bewegen, die Tour zu verschieben. Wir verabredeten uns<br />
für den nächsten Tag gegen zwei Uhr nachmittags im Museum.<br />
46
Der Plan<br />
<strong>Die</strong>smal fuhren wir mit dem Bus nach Buren. Jaap wartete<br />
schon an der Haltestelle auf uns.<br />
„Hallo! Schön euch zu sehen!“, rief er.<br />
„Ich muss euch unbedingt etwas erzählen. Aber dazu gehen<br />
wir am besten ins Haus.“<br />
Wir betraten sein Büro.<br />
„Was ist passiert“, fragte Hanjo sofort, „ist die Figur wieder<br />
da?“<br />
„Leider nein“, entgegnete Jaap, „im Gegenteil. Ich habe<br />
gestern Abend Besuch <strong>von</strong> euren Bekannten vom Schiff<br />
bekommen.“<br />
„Das gibt’s doch nicht! Nackenlocke und Walross waren<br />
hier?“, rief Pit erstaunt.<br />
„Was wollten die? Haben sie dir was getan?“<br />
„Nicht direkt“, antwortete Jaap, „aber als ich gestern<br />
Abend das Museum abschließen wollte, spürte ich, wie<br />
sich <strong>von</strong> hinten eine Hand, so groß wie eine Bratpfanne,<br />
auf meine Schulter legte. Es war euer Freund Nackenlocke.<br />
Er zwang mich wieder ins Haus zu gehen. Der kleine<br />
Dicke stand direkt hinter ihm und sagte zu mir: Wir gehen<br />
am besten in ihr Büro, wir müssen reden.“<br />
„Ja, was haben sie denn gewollt?“, rief Lara atemlos.<br />
„Jetzt mach es doch nicht so spannend!“<br />
„Nackenlocke und Walross höchstpersönlich haben vor<br />
zwei Wochen die Figur aus dem Museum geklaut und sie<br />
dann in den Dünen versteckt“, fuhr Jaap kopfschüttelnd<br />
fort.<br />
„Genau dort, wo ihr sie getroffen habt. Weil sie die Marijke<br />
aber nicht mehr finden können, glauben sie, ich hätte sie<br />
mir zurückgeholt. Der Dicke war deshalb ziemlich sauer.“<br />
47
„Aber du hast doch auch keine Ahnung, wo sie ist!“, meinte<br />
Katja.<br />
„Natürlich nicht. Genau das habe ich ihnen auch gesagt,<br />
aber sie glauben mir nicht! Heute Abend wollen sie wiederkommen.<br />
Wenn ich ihnen die Figur nicht gebe, drohen<br />
sie, mir das Museum kurz und klein zu schlagen. Und sie<br />
meinen es ernst. Bevor sie gingen hat Nackenlocke die<br />
Rixt-Puppe umgestoßen und ihr den Kopf abgerissen!“<br />
Damit hatten wir nicht gerechnet. Fragend schauten wir<br />
Hanjo an.<br />
„Du musst auf ihre Forderung eingehen“, sagte er ruhig.<br />
„Das kapier’ ich jetzt nicht“, meinte Olli, „was meinst du<br />
damit?“<br />
„Ist doch ganz einfach“, entgegnete Paula, „Hanjo meint,<br />
wir binden ihnen einen Bären auf, wir tun so, als ob wir auf<br />
ihre Forderung eingehen!“<br />
„Ach so“, nickte Olli und fing plötzlich an zu lachen, „das<br />
ist gut, einen Bären aufbinden, toll, das muss aber ein<br />
ziemlich großer Bär für Nackenlocke sein!“<br />
„Hör auf, Olli“, sagte Lara streng, „wir müssen jetzt ernsthaft<br />
nachdenken.“<br />
„Ich finde es echt gemein, der Rixt einfach den Kopf abzureißen!“,<br />
empörte sich Meike.<br />
„Ja genau, das ist es“, strahlte Hanjo, „vielleicht sollten wir<br />
ihnen keinen Bären aufbinden, sondern eine Rixt!“<br />
Er wandte sich an Jaap. „Was hast du gesagt, wann wollen<br />
die beiden heute Abend wieder am Museum sein?“<br />
„So gegen sieben. Da schließe ich normalerweise ab. Hast<br />
du vielleicht eine Idee?“<br />
„Ich glaube schon. Wenn das klappt, was ich vorhabe,<br />
werden sie <strong>Ameland</strong> und die Rixt vom Oerd so schnell<br />
nicht mehr vergessen. Ich hoffe, sie nehmen dann die<br />
nächste Fähre und verlassen die Insel auf Nimmer-<br />
Wiedersehen!“<br />
„Jetzt bin ich aber gespannt“, sagte Jaap, „ich wäre wirklich<br />
erleichtert, wenn wir die beiden los werden könnten.“<br />
48
„Also, passt auf!“, begann Hanjo. „Wenn die Gauner heute<br />
Abend wieder auftauchen, müssen wir sie irgendwie ins<br />
Oerd locken. Am besten hängst du eine Nachricht an die<br />
Tür, ungefähr so: Hallo. Es ist alles vorbereitet, wie gewünscht.<br />
Kommt bis spätestens 8 Uhr zum Ententeich.“<br />
„Wieso gerade dahin?“, wollte ich wissen.<br />
„Weil der Ententeich ziemlich groß ist und am Ufer Bäume<br />
und Büsche stehen, wo wir uns gut verstecken können.<br />
Außerdem sind da keine anderen Menschen. Um diese<br />
Zeit ist der Zutritt verboten. Das Oerd ist Naturschutzgebiet.<br />
Ich war im letzten Jahr mit Papa schon mal da und<br />
kenne die Gegend.“<br />
„Aber wie sollen Nackenlocke und Walross da hin kommen?“,<br />
gab ich zu bedenken, „dafür brauchen sie doch<br />
Fahrräder.“<br />
„Kein Problem“, meinte Jaap, „das Museum besitzt welche,<br />
die stellen wir einfach vors Haus. Wie ich die beiden<br />
einschätze, werden sie keine Sekunde zögern, sie zu benutzen.“<br />
„Gute Idee. Weiter!“, stieß Olli ungeduldig hervor.<br />
„Also, erst mal ist es wichtig schon vor den beiden am Ententeich<br />
zu sein, damit wir alles in Ruhe für ihren Empfang<br />
vorbereiten können. Deshalb müssen wir unseren Eltern<br />
klar machen, dass wir heute später nach Hause kommen.<br />
Mein Plan funktioniert nur, wenn es dunkel ist.“<br />
Erwartungsvoll sahen wir Katja an, unsere Spezialistin für<br />
Elternüberzeugungsarbeit.<br />
„Ist ja gut“, meinte sie, „ich lasse mir was einfallen. Aber<br />
erst will ich deinen Plan hören, Hanjo!“<br />
„Eigentlich ganz einfach. Kurz gesagt: ich möchte Nackenlocke<br />
und Walross so erschrecken, dass ihnen Hören und<br />
Sehen vergeht. Und dafür eignet sich die Rixt vom Oerd<br />
bestens, aber wir müssen sie wieder auferstehen lassen.<br />
Hört zu…“<br />
Hanjo senkte seine Stimme und erklärte endlich alles genau.<br />
49
„Wir verstecken uns im Gebüsch, die beiden dürfen uns<br />
weder sehen noch hören. Für dich, Katja, habe ich eine<br />
schöne Rolle, du spielst die Rixt. Du musst dich so verkleiden,<br />
dass du Ähnlichkeit mit der Puppe hast, der Nackenlocke<br />
im Museum den Kopf abgerissen hat. Ich schätze,<br />
die Nacht wird ziemlich klar, deshalb brauchen wir eine<br />
Nebelmaschine, damit dein Auftritt schön gruselig aussieht.<br />
Zusammen mit dem Mondlicht müssten wir dich eigentlich<br />
richtig gut in Szene setzen können.<br />
Alle anderen verteilen sich an unterschiedlichen Stellen<br />
und verstecken sich. Pit, du organisierst Fußbälle, und<br />
zwar so viele du bekommen kannst. Wenn die Gauner so<br />
richtig in Panik sind, pfefferst du ihnen deine Knaller um<br />
die Ohren. Und du musst dich mit Dünensand bewaffnen,<br />
Olli. Sobald sie in deine Nähe kommen, bewirfst du sie,<br />
denn das mögen sie ja nicht. <strong>Die</strong> anderen sammeln tote<br />
Quallen am Strand, die kleinen sind super Wurfgeschosse.<br />
Von den glibberigen Dingern werden sie bestimmt ganz<br />
begeistert sein.“<br />
„Aber <strong>von</strong> dir muss ich noch was wissen, Jaap. Kennst du<br />
jemanden mit einer alten, kratzigen Stimme?“<br />
„Vielleicht, aber wieso?“<br />
„Dann könnten wir ein paar freundliche Sätze der Rixt aufnehmen<br />
und sie mit einem CD-Player abspielen, sobald<br />
die beiden am Teich auftauchen.“<br />
Jaap überlegte.<br />
„Ich könnte mir da schon jemand vorstellen.“<br />
„Aber was soll sie sagen?“, fragte ich atemlos.<br />
„Ganz einfach“, entgegnete Hanjo grinsend, „in Kurzform:<br />
Haut ab, wenn euch euer Leben lieb ist. Nehmt die nächste<br />
Fähre!“<br />
Er sah uns triumphierend an.<br />
„Na, was haltet ihr <strong>von</strong> meiner Idee?“<br />
Mit offenem Mund starrten wir ihn an. Aber dann brach es<br />
aus uns heraus. Wir redeten alle durcheinander.<br />
„Das ist cool!“, schrie Olli in totaler Begeisterung.<br />
50
„Ich weiß, wo ganz viele tote Quallen liegen!“, rief Meike.<br />
„Aber ich habe keine Ahnung, wo ich die vielen Fußbälle<br />
herkriegen soll!“, sagte Pit aufgeregt. Nur Jaap blieb ruhig.<br />
„Stopp“, sagte er mit seiner lauten, dunklen Stimme, „bevor<br />
ihr weiter durcheinander redet, möchte ich was dazu<br />
sagen. Ich finde deine Idee gut, Hanjo. <strong>Die</strong> Gangster haben<br />
mir einen solchen Schreck eingejagt, dass ich mich<br />
darauf freue ihnen genau den heimzuzahlen. Allerdings<br />
weiß ich nicht, wie ihr euren Eltern beibringen wollt, bis tief<br />
in die Nacht am Ententeich zu bleiben. Ihr könnt doch<br />
nicht allein durch die Dunkelheit vom Oerd nach Hollum<br />
zurückfahren. Das erlauben sie nicht.“<br />
„Also, Katja, was ist jetzt?“ Hanjo sah sie an.<br />
„Na ja“, sagte sie und neigte ein wenig ihren Kopf, „ich hätte<br />
da schon eine Idee. Wir könnten unseren Eltern doch<br />
erzählen, dass Jaap eine Museumsnacht für Kinder durchführt<br />
und uns auch dazu eingeladen hat. Dann hätten wir<br />
genug Zeit und niemand müsste sich unnötig Sorgen machen.“<br />
„Aber dafür brauchen wir noch Sachen <strong>von</strong> zu Hause,<br />
Schlafsack, Zahnbürste und so“, gab ich zu bedenken.<br />
„Und es wäre nicht schlecht, eine Art Einladungsschreiben<br />
zeigen zu können. Das wirkt noch echter!“<br />
Jaap setzte sich sofort hin und begann zu formulieren. Er<br />
schrieb, die Museumsnacht fange gegen 19.00 Uhr an und<br />
vor allem Kinder seien herzlich eingeladen. Wir waren sicher,<br />
unsere Eltern damit überzeugen zu können. Außerdem<br />
nahmen wir uns vor, sie noch einmal an den guten<br />
Eindruck zu erinnern, den Jaap bei unserem gemeinsamen<br />
Museumsbesuch auf sie gemacht hatte.<br />
„Ich bin echt gespannt, wie das heute Abend wohl wird!“,<br />
meinte Meike.<br />
„Ich auch. Deshalb sollten wir jetzt schnell nach Hollum<br />
fahren, um die Einladung zu zeigen. Außerdem müssen<br />
wir ja wohl noch einiges vorbereiten. Aber wo ich die Bälle<br />
her bekommen soll, weiß ich immer noch nicht!“, sagte Pit.<br />
51
„Mach dir mal keine Sorgen“, beruhigte ihn Jaap, „mir fällt<br />
da schon was ein. Wenn ihr zurück seid, wirst du genug<br />
zur Verfügung haben!“<br />
Während der Busfahrt nach Hollum redeten wir aufgeregt<br />
durcheinander und schwelgten in Vorfreude auf das Abenteuer.<br />
Nur Paula und Lara sagten kein Wort, aber das fiel<br />
mir erst auf kurz bevor wir aussteigen mussten.<br />
„Was ist los mit euch?“, fragte ich.<br />
„Habt ihr keine Lust auf die Museumsnacht?“<br />
„Doch, natürlich!“, antwortete Lara, „aber ich glaube, Papa<br />
wird Probleme machen.“<br />
„Ach Quatsch!“, rief Olli, „ihr seid immer so ängstlich. Dann<br />
hauen wir eben einfach ab. Wir können doch heimlich aus<br />
dem Fenster klettern.<br />
„Halts Maul, Olli!“, wies Lara ihn wie immer zurecht.<br />
„Was denkst du, wie Papa reagieren wird, wenn wir heute<br />
Abend nicht mit in die Kirche gehen? Wir hatten es ihm<br />
versprochen. Du weißt genau, wie sauer er werden kann,<br />
wenn wir ein Versprechen nicht einhalten.“<br />
Jetzt kapierte er auch, was los war. Paula seufzte.<br />
„Ich schätze, das kriegen wir nicht durch.“<br />
Als der Bus in Hollum hielt, waren auch die anderen über<br />
die Probleme <strong>von</strong> Paula, Lara und Olli informiert.<br />
„Wir gehen noch zur Eisbude an der Ecke, da können wir<br />
überlegen, wie wir Rainer überreden können!“, schlug Katja<br />
vor. Wir setzten uns an einen der schweren Holztische<br />
auf dem kleinen Platz vor der Bude.<br />
„Also, was machen wir?“, begann sie wieder. Meike hatte<br />
eine gute Idee.<br />
„Wir müssen Rainer bestechen. Und ich weiß auch schon<br />
wie. Wenn er Paula, Lara und Olli mitfahren lässt, versprechen<br />
Hannah und ich am nächsten Sonntag mit ihm<br />
zusammen in die Kirche zu gehen.“<br />
Sie hatte Recht. Rainer wäre bestimmt begeistert, denn er<br />
versuchte uns ja immer wieder zur Taufe zu überreden.<br />
Schon deshalb, weil er hoffte, Papa damit ärgern zu<br />
52
können. Jetzt schaute Paula schon viel zuversichtlicher.<br />
„Könnte funktionieren“, sagte sie.<br />
„Los, das versuchen wir sofort!“<br />
Wir marschierten zum Haus der Münstermänner. Rainer<br />
und Marlies saßen im Garten und lasen.<br />
„Hallo, Kinderen!“, rief Rainer, „gut, dass ihr zurück seid.<br />
Ihr wisst ja, nachher wollen wir zusammen in de Kerk.<br />
Meike und Hannah gehen sicher auch gerne mit, oder?“<br />
Er sprach – wie immer – in seinem Deutsch-Holländisch<br />
mit uns. Lara und Paula fanden das ziemlich blöd, aber<br />
diesmal ließen sie sich nichts anmerken. Rainers Frage<br />
war unsere Chance.<br />
„Ja, das würden wir eigentlich gerne machen, Rainer“, begann<br />
ich, „Papa sagt auch immer, wir sollen es ruhig mal<br />
ausprobieren, wenn wir wollen.“<br />
Seine Gesichtszüge wurden sofort ernsthafter.<br />
„Ach ja? Das hat er wirklich gesagt? Das hätte ich nach<br />
unseren Diskussionen nicht für möglich gehalten. Also<br />
geht ihr nachher tatsächlich mit?“<br />
„Würden wir wirklich sehr gerne, nur nicht heute Abend“,<br />
antwortete ich so freundlich wie möglich, „wir können nämlich<br />
alle an einer Museumsnacht in Buren teilnehmen.<br />
Aber nächsten Sonntag, da hätten wir Zeit.“<br />
Paula gab ihm die Einladung. Während Rainer las, warteten<br />
wir gespannt auf seine Antwort. Dann schaute er Paula<br />
an.<br />
„Ach so, dann wird aus unserem gemeinsamen Kirchenbesuch<br />
heute Abend wohl nichts werden. Aber wenn Hannah<br />
und Meike uns nächsten Sonntag begleiten, könnte<br />
ich das verschmerzen.“<br />
Wir hatten es geschafft, der Anfang war gemacht. Wenn<br />
die Münstermänner es erlaubten, konnten unsere Eltern<br />
und die Franzens auch nicht dagegen sein. Erleichtert<br />
gingen wir nach Hause und verabredeten uns gegen<br />
sechs wieder an der Bushaltestelle.<br />
53
<strong>Die</strong> Nacht im Oerd<br />
Es gab keine Probleme. Nur unsere Eltern wollten uns zuerst<br />
mit dem Auto nach Buren bringen, aber das konnten<br />
wir ihnen wieder ausreden.<br />
Bepackt mit allem, was man für eine Nacht braucht, erreichten<br />
Meike und ich als letzte die Haltestelle. Als der<br />
Bus kam, öffnete sich die Tür mit einem lauten Zischen.<br />
„Na, wollt ihr wieder zum Museum?“, fragte der Fahrer, der<br />
uns inzwischen schon kannte.<br />
„Jaap hat euch doch sicher schon jeden kleinen Winkel<br />
gezeigt.“<br />
„Das stimmt“, antwortete ich, „aber er hat uns zu einer<br />
Museumsnacht eingeladen. Wir machen auch eine Wanderung<br />
ins Oerd.“<br />
„Oh, das wird sicher spannend!“, sagte der Busfahrer und<br />
fügte lachend hinzu, „hoffentlich habt ihr da keine Begegnung<br />
mit der alten Rixt.“<br />
„Doch, das könnte schon sein!“, gluckste Olli.<br />
Wir sahen ihn strafend an, denn schließlich sollte unser<br />
Plan geheim bleiben. Ich wartete auf Laras Reaktion.<br />
„Halts Maul, Olli!“, zischte sie auch schon und kniff ihm in<br />
den Arm. Er wusste, was er falsch gemacht hatte, und<br />
setzte sich kleinlaut in die hinterste Sitzreihe. Keiner <strong>von</strong><br />
uns sagte während der Busfahrt ein Wort, denn wir waren<br />
jetzt doch etwas nervös.<br />
„Was macht ihr denn für ein Gesicht?“, begrüßte uns Jaap,<br />
als wir in Buren ausstiegen.<br />
„Kommt, ich zeige euch, was ich besorgt habe.“<br />
Wir gingen in sein Büro. Dort stand ein Fahrradanhänger<br />
beladen mit Sachen für unsere nächtliche Aktion.<br />
„Mensch, das ist ja cool!“, rief Pit völlig begeistert, weil er<br />
ein großes Netz mit Fußbällen entdeckt hatte.<br />
„Wo hast du die denn her?“<br />
54
„Tja, als Museumsleiter hat man so seine Beziehungen“,<br />
antwortete Jaap lächelnd. Aber er hatte nicht nur Fußbälle<br />
besorgt. Wir trauten unseren Augen kaum, als wir den CD-<br />
Player mit den großen Boxen entdeckten, die batteriebetriebene<br />
Nebelmaschine, jede Menge Eimer, Tücher,<br />
Schaufeln, und dazu alte Röcke und Schminke. Hanjo sah<br />
auf seine Uhr.<br />
„Wir müssen schnell verschwinden, sonst treffen wir Nackenlocke<br />
und Walross schon hier am Museum. Es ist<br />
viertel vor sieben!“<br />
„Du hast Recht“, sagte Jaap, „aber ich lese euch noch vor,<br />
was ich den beiden geschrieben habe.“<br />
Sehr geehrte Herren<br />
mir ist klar, dass ich die Galionsfigur nicht länger<br />
verbergen kann. Sie ist an einer geheimen Stelle<br />
am Ententeich im Oerd versteckt. Dort will ich sie<br />
Ihnen auch übergeben. Damit uns niemand beobachtet,<br />
treffen wir uns nach Einbruch der Dunkelheit<br />
um 23.00 Uhr am Nordufer.<br />
Jaap Mathijsen.<br />
„Sehr gut!“, sagte Hanjo, der, wie wir alle, zufrieden zugehört<br />
hatte.<br />
„Aber wie sollen Nackentolle und Walross an die Nachricht<br />
kommen?“, fragte ich.<br />
„Am besten kleben wir den Brief an die Eingangstür, dann<br />
finden sie ihn sofort, und wir haben Zeit alles vorzubereiten“,<br />
antwortete Jaap.<br />
55
„Und wenn sie direkt zum Ententeich fahren?“, fragte Paula<br />
besorgt. „Darüber habe ich auch schon nachgedacht“,<br />
meinte er.<br />
„Zwei <strong>von</strong> euch müssen sie beobachten und uns rechtzeitig<br />
warnen.“<br />
„Das übernehmen wir“, meinte Paula, „mein Handy habe<br />
ich dabei, aber wen kann ich dann anrufen?“<br />
Jaap griff in die Brusttasche seines Hemdes. „Wie wäre es<br />
mit mir? <strong>Die</strong> Dinger kennen wir auf <strong>Ameland</strong> auch schon<br />
eine ganze Weile.“ Lächelnd zeigte er sein Handy und gab<br />
ihr seine Nummer.<br />
„Und wenn jemand anders den Brief findet?“<br />
„Wir passen schon auf“, beruhigte mich Lara, „Paula und<br />
ich verstecken uns hinter dem Weidenzaun. Da sehen wir<br />
alles.“<br />
„Außerdem kommt am Abend sowieso kein anderer Besucher<br />
mehr. Mach dir keine Gedanken!“, fügte Jaap hinzu.<br />
„Okay, jetzt haut schon ab!“, sagte Lara.<br />
Wir stiegen auf die Räder, die Jaap für uns geliehen hatte<br />
und fuhren schweigend hinter ihm her. Nach einer halben<br />
Stunde erreichten wir unser Ziel.<br />
„Du meinst, hier können wir unsere Show aufführen?“,<br />
wunderte sich Katja.<br />
„Ich denke schon“, antwortete Jaap.<br />
„Eigentlich ist hier alles so, wie Hanjo es beschrieben hat.<br />
Es gibt genügend Verstecke und auf der anderen Uferseite<br />
kannst du als Rixt erscheinen und im Nebel spuken.“<br />
„Genau, es ist perfekt“, sagte Hanjo, der sich aufmerksam<br />
umsah. Pit, Olli und Meike, ihr geht zum Strand und besorgt<br />
die Quallen und den Sand. Wir bauen schon mal die<br />
56
Anlage und die Nebelmaschine auf. Ich schätze, es ist gut,<br />
wenn wir vorher noch einen kleinen Probedurchlauf<br />
machen.“<br />
Meike nahm die Eimer aus dem Anhänger, Pit und Olli<br />
bewaffneten sich mit den Sandschaufeln und marschierten<br />
los. Wir begannen am Teich mit unseren Vorbereitungen.<br />
Es gab eine Menge zu tun. <strong>Die</strong> Nebelmaschine, die Jaap<br />
besorgt hatte, war echt schwer. Er und Hanjo trugen sie<br />
gemeinsam, während Katja und ich eine Autobatterie und<br />
den CD – Player schleppten.<br />
Am anderen Ufer sah Hanjo sich prüfend um und untersuchte<br />
an verschiedenen Stellen das Gebüsch.<br />
„Was machst du da?“, fragte ich ihn.<br />
„Wonach sieht es denn aus?“, gab er zur Antwort.<br />
„Sieht aus, als ob Hund Hanjo seinen Knochen vergraben<br />
will!“, kicherte ich.<br />
„Sehr witzig, ich suche eine Stelle, an der wir uns und die<br />
Sachen verstecken können!“<br />
„Jetzt zankt nicht herum“, mischte Jaap sich ein.<br />
Ich ärgerte mich ein bisschen, denn eigentlich wollte ich<br />
nur, dass Hanjo erklärte, was er vorhatte. Ich kann es<br />
nicht leiden, wenn einer die ganze Zeit den großen Boss<br />
spielt und einsame Entscheidungen trifft. Katja schien<br />
meine Gedanken gelesen zu haben.<br />
„Mach dir nichts draus“, sagte sie, „ich kenne ihn, der ist<br />
immer so, wenn er nachdenkt. Dann kann man ihn besser<br />
in Ruhe lassen.“<br />
Hanjo entschied sich für einen großen Haselnussstrauch.<br />
Wir stellten die Nebelmaschine so auf, dass sie ihren Nebel<br />
genau durch die Zweige und Blätter ans Ufer pusten<br />
konnte.<br />
„Hier kannst du herumtanzen, Katja!“<br />
Hanjo zeigte auf die Stelle, wo die Rixt auftreten sollte.<br />
„Droh ihnen mit der Faust und was sonst noch alles dazu<br />
gehört. Wir bedienen die Nebelmaschine und den CD-<br />
Player. Vom anderen Ufer aus können uns die Typen<br />
57
estimmt nicht sehen, wenn wir hinter dem Strauch versteckt<br />
sind.“<br />
„Stimmt, und wir können uns nach hinten verdrücken, falls<br />
die Gauner es wagen sollten, auf unsere Seite zu<br />
kommen!“<br />
Jaap zeigte auf mannshohes Schilfgras hinter uns, in dem<br />
wir uns notfalls perfekt verstecken konnten. Ich musste<br />
schlucken, denn ich hatte noch gar nicht daran gedacht,<br />
dass es auch schief gehen könnte.<br />
Nachdem wir alles aufgebaut hatten, verwandelte sich<br />
Katja in die Rixt. Jaap hatte die Kleidung der Puppe aus<br />
seinem Museum mitgebracht.<br />
Einen schwarzen, bodenlangen Rock aus sehr schwerem<br />
Stoff und eine dunkle Bluse, die mit großen Knöpfen bis<br />
zum Hals geschlossen wurde. Darüber eine blaue Schürze<br />
und eine weiße Haube, die mit großen Bändern unter dem<br />
Kinn verknotet wurde.<br />
Katja sah richtig echt aus.<br />
„Schaut mich nicht so an!“, sagte sie.<br />
„Du siehst der Rixt total ähnlich“, staunte Jaap.<br />
„Jetzt müssen wir nur noch dein Gesicht etwas auf alt<br />
schminken und dir dieses kleine Kissen als Buckel auf<br />
dem Rücken befestigen, dann bist du perfekt – die Rixt<br />
vom Oerd lebt!“<br />
„Hört auf!“, entgegnete Katja ärgerlich, „ich bin und bleibe<br />
ich!“<br />
„Klar, Schwesterchen!“, meinte Hanjo, „aber wenn die beiden<br />
Kerle nur ein bisschen abergläubisch sind, werden sie<br />
darauf bestimmt nicht kommen. Und wenn sie dann richtig<br />
Schiss haben, geben wir ihnen den Rest.“<br />
Drüben sahen wir Meike, Pit und Olli schwer bepackt mit<br />
ihren Eimern und Schaufeln vom Strand zurückkommen.<br />
Ich winkte und rief ihnen zu: „Wartet auf uns! Sobald wir<br />
hier fertig sind, kommen wir rüber!“<br />
58
Sie schienen es verstanden zu haben, denn alle drei ließen<br />
sich erschöpft ins Gras am Ufer des Ententeichs fallen.<br />
„Gut, wir können gehen“, sagte Jaap schließlich, nachdem<br />
er noch einmal geprüft hatte, ob auch wirklich alles funktionierte<br />
und der Nebel wie geplant durch den Strauch waberte.<br />
Hanjo meinte: „Ich bleibe noch. Sobald ihr drüben<br />
seid, schalte ich den CD-Player an. Wir müssen sicher<br />
sein, dass die Stimme der Rixt auf der anderen Seite gut<br />
zu verstehen ist.“<br />
Wir nickten.<br />
„Ich bin sowieso gespannt, was du aufgenommen hast,<br />
Jaap. Schließlich muss ich als Rixt ja wissen, womit ich<br />
die beiden Kerle erschrecke“, grinste Katja.<br />
„Wart’s ab“, lächelte Jaap.<br />
Auf der anderen Seite wurden wir schon ungeduldig erwartet.<br />
„Wir hatten Glück!“, rief Pit uns aufgeregt entgegen, „hier,<br />
schaut mal!“<br />
Er zeigte uns drei Eimer mit toten Quallen. Sie sahen wirklich<br />
scheußlich wabbelig aus.<br />
„Ich schätze, das sind bestimmt an die fünfzig, nur kleine,<br />
die man gut werfen kann“, meinte Meike.<br />
„<strong>Die</strong> meisten werde ich abfeuern!“, schrie Olli total begeistert.<br />
„Quatsch!“, Pit stieß ihn an, „du wirfst doch mit Sand.“<br />
Jaap schaute auf seine Armbanduhr.<br />
„Jetzt wird es Zeit, wir müssen mit unseren Vorbereitungen<br />
fertig werden.“<br />
Er winkte Hanjo zu, der auf der anderen Seite immer noch<br />
auf das Zeichen wartete, den CD-Player einzuschalten.<br />
„Jetzt bin ich gespannt“, murmelte Katja.<br />
Was wir sahen und hörten klang wirklich unheimlich. Zuerst<br />
quoll der Nebel aus dem Haselnussstrauch und dann<br />
ertönte eine alte, raue Frauenstimme. Sie heulte, jammerte,<br />
59
drohte und wurde immer wütender. Es klang wirklich sehr<br />
gefährlich. Mir lief es kalt den Rücken herunter.<br />
„Das ist ja voll gut!“, meinte Pit begeistert.<br />
„Mensch, Jaap, wie hast du das hinbekommen?“<br />
„Vor allem, wessen Stimme hast du da aufgenommen?“,<br />
wollte Katja wissen.<br />
„Na ja“, antwortete Jaap, „ehrlich gesagt wusste ich ziemlich<br />
schnell, wer dafür in Frage kam. <strong>Die</strong> Wirtin vom<br />
Strandcafe in Buren. Sie hat sofort ja gesagt, obwohl sie<br />
ganz anders aussieht als ihre Stimme vermuten lässt.“<br />
Katja und ich schauten uns an. Jaap sagte das mit einem<br />
solchen Nachdruck, dass wir ziemlich sicher waren, er<br />
müsse sie genauer kennen. „Du könntest sie uns ja mal<br />
vorstellen“, schlug ich vor.<br />
„Hmm“, brummte er, „alles zu seiner Zeit.“<br />
Hanjo war inzwischen zu uns herüber gekommen.<br />
„Und?“, fragte er atemlos, „wie wirkt es? Konntet ihr alles<br />
verstehen?“<br />
„Es ist total super!“, schrie Olli, „die beiden werden laufen<br />
wie die Hasen, die werden glauben, sie kommen nicht<br />
mehr heil <strong>von</strong> der Insel. Und nach der Rixt kommt unser<br />
Einsatz, oder Hanjo?“<br />
Olli schaute ihn begeistert an.<br />
„Genau! Ich erkläre euch mal, wie’s weitergeht. Meike und<br />
Olli, ihr versteckt euch hier in diesem Loch!“<br />
Er zeigte auf eine Vertiefung ein paar Meter vom Ufer entfernt,<br />
die am Rand mit Sträuchern bewachsen war.<br />
„Ich schätze, hier werden sie in Panik vorbeilaufen. Dann<br />
werft ihr mit Sand, was die Eimer hergeben. Falls sie dann<br />
versuchen, auf ihre Fahrräder zu springen, müssen Paula<br />
und Lara sie mit den Quallen eindecken. Da vorne hinter<br />
dem Gebüsch haben sie gute Deckung. Wenn sie die Hosen<br />
richtig voll haben, sind Pit und ich an der Reihe. Von<br />
der kleinen Anhöhe aus haben wir ein super Schussfeld<br />
und können ihnen die Bälle richtig um die Ohren knallen.“<br />
Ein toller Plan. Auch Jaap war zufrieden.<br />
60
„Perfekt“, sagte er.<br />
„Am besten legt ihr euch das Wurfmaterial jetzt bereit.“<br />
Er schaute wieder auf seine Uhr.<br />
„Ich bin gespannt, ob sich der ganze Aufwand lohnt. Paula<br />
und Lara müssten sich eigentlich gleich melden, falls die<br />
Gauner meinen Brief gelesen haben.“<br />
Unsere restlichen Vorbereitungen hatten wir schnell erledigt.<br />
„Kommt, wir ruhen uns noch aus“, schlug Jaap vor, „ich<br />
habe eine kleine Überraschung für euch mitgebracht.“<br />
Wir setzten uns ans Ufer.<br />
„Olli, holst du bitte den Korb aus dem Fahrradanhänger?“<br />
Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Er riss das Geschirrtuch<br />
herunter und steckte schnuppernd seine Nase hinein.<br />
„Hmm, lecker!“, rief er. „Jetzt komm schon her damit!“,<br />
meinte Pit ungeduldig. Jaap hatte die tollsten Ameländer<br />
Spezialitäten mitgebracht. Eine große Tüte mit Poffen, das<br />
sind riesige Rosinenbrötchen, Marzipankuchen und drei<br />
Tüten Vanillevla, ein sahniger Vanillepudding, der besonders<br />
gut mit Schokoladenstreußel schmeckte.<br />
„Mensch, Jaap!“, sagte Hanjo mit vollem Mund, „lecker,<br />
genau das hab’ ich jetzt gebraucht!“<br />
Jaap lachte: „Prima, dann können wir es ja mit den Ganoven<br />
aufnehmen.“<br />
Es begann zu dämmern.<br />
„Eigentlich müssten Paula und Lara sich jetzt melden, es<br />
ist schon viertel nach zehn“, meinte Katja besorgt.<br />
Wie auf Bestellung klingelte Jaaps Handy. Wir zuckten zusammen,<br />
auch Jaap schien erschrocken zu sein.<br />
„Hallo, Jaap, hier“, sagte er.<br />
„O. k., alles klar, kommt jetzt so schnell wie möglich, ihr<br />
müsst den kürzeren Weg nehmen, dann seid ihr mindestens<br />
eine viertel Stunde früher hier.“<br />
Er hatte ihnen schon vorher erklärt, wie sie fahren sollten.<br />
„Und, was ist jetzt?“<br />
Ich konnte die Spannung kaum aushalten.<br />
61
„<strong>Die</strong> Gauner sind da“, antwortete Jaap. Paula sagt, sie waren<br />
pünktlich um sieben am Museum. Nachdem sie den<br />
Brief gelesen hatten, sind sie mit den Rädern ins Dorf gefahren<br />
und haben in einer Kneipe die Zeit abgewartet.“<br />
„Endlich, dann kann es ja losgehen!“<br />
Hanjo rieb sich zufrieden die Hände. Er begann, die Sachen<br />
in den Korb zu räumen.<br />
„Kommt“, meinte Jaap, „ihr müsst euch beeilen, ihr wisst<br />
ja, was ihr zu tun habt. Geht bitte kein Risiko ein, wenn die<br />
Ganoven nicht so reagieren wie wir hoffen, zieht ihr euch<br />
sofort zurück. Schiebt die Fahrräder da hinten ins Gebüsch.“<br />
Wir halfen Hanjo beim Aufräumen und wollten uns verstecken.<br />
„Halt!“, rief er plötzlich, „wir müssen doch noch auf Lara<br />
und Paula warten. Wie lange werden sie noch brauchen,<br />
Jaap?“<br />
„Falls sie sich nicht verfahren haben, müssten sie jeden<br />
Augenblick hier sein.“<br />
Inzwischen war es dunkel. Wir schauten alle ungeduldig in<br />
die Richtung, aus der sie kommen mussten. Den Weg<br />
konnten wir ein Stückchen einsehen, ehe er zwischen den<br />
großen Sträuchern verschwand. Endlich hörten wir das<br />
Geklapper ihrer Räder und das Summen der Fahrraddynamos,<br />
gleich darauf sahen wir sie auch schon in einem<br />
Höllentempo auf uns zurasen. Sie bremsten und sprangen<br />
ab. Wir redeten alle gleichzeitig auf sie ein.<br />
„Was habt ihr gesehen? Wie weit sind die Typen?“<br />
Paula schnappte nach Luft.<br />
„Mann, sind wir gerast. Es wird Zeit, dass wir hier wegkommen.<br />
Sehr weit hinter uns können sie nicht mehr sein.<br />
Ich schätze, die gehen fest da<strong>von</strong> aus, die Figur zu bekommen.<br />
Sie waren echt begeistert, als sie den Brief gelesen<br />
hatten!“<br />
„Denen wird die Begeisterung noch vergehen“, brummte<br />
Jaap. Gut, dass er ruhig blieb. Schnell und genau erklärte<br />
62
er Paula und Lara ihre Aufgabe, was wir vorbereitet hatten<br />
und wo sie ihre Räder verstecken sollten.<br />
„Wir müssen in jedem Fall in Verbindung bleiben, Paula.<br />
Unsere Handys schalten wir am besten auf Dauerempfang.<br />
Du musst sofort Bescheid sagen, wenn du die beiden<br />
Ganoven kommen siehst. Alles klar, Leute? Dann<br />
geht’s jetzt los!“<br />
Wir klatschten uns ab. Es war klar, dass wir uns aufeinander<br />
verlassen konnten.<br />
Ich ging mit Jaap und Katja zum anderen Ufer des Teiches.<br />
Wir prüften zum hundertsten Mal die Technik, alles<br />
funktionierte. Katja legte noch ein wenig <strong>von</strong> der schwarzen<br />
Schminke auf, um auch wirklich alt auszusehen. Dann<br />
gingen wir hinter den Sträuchern in Deckung. Jaap nahm<br />
noch einmal Kontakt zu Paula auf.<br />
„Wir sind so weit. Du weißt ja, sobald du Nackenlocke und<br />
Walross kommen siehst, musst du uns warnen!“<br />
„Alles klar!“, hörte ich ihre Stimme. Ich saß gespannt wie<br />
ein Flitzebogen am CD-Player und wartete auf das Zeichen<br />
zum Einschalten. Jaap hockte hinter der Nebelmaschine<br />
und Katja war bereit, auf die ‚Uferbühne’ zu treten,<br />
um die Rixt vom Oerd auferstehen zu lassen.<br />
„Hast du Angst?“, flüsterte Katja.<br />
„Und wie“, raunte ich, „mein Herz klopft mir bis zum Hals.<br />
Ich würde mich besser fühlen, wenn Mama oder Papa hier<br />
wären!“<br />
„Geht mir ähnlich“, wisperte Katja. Plötzlich hörten wir<br />
wieder Paulas Stimme im Handy.<br />
„Sie sind da“, sagte Jaap.<br />
63
Der Auftritt der Rixt vom Oerd<br />
Walross konnte ich zuerst erkennen, Nackenlocke fuhr<br />
gleich hinter ihm. Am Ufer ließen sie ihre Räder einfach<br />
auf den Boden fallen. Wenn das Papa sähe, würde er einen<br />
Wutanfall bekommen. Er kann es überhaupt nicht leiden,<br />
wenn wir achtlos mit unsere Sachen umgehen. Komisch,<br />
dass ich gerade jetzt daran denken musste.<br />
„Pass auf, Katja!“, flüsterte Jaap hinter mir, „sobald die<br />
ersten Nebelschwaden aufziehen, musst du raus!“<br />
„Ich weiß“, antwortete sie. Walross und Nackenlocke standen<br />
am Ufer und schauten sich nach allen Seiten um.<br />
Wahrscheinlich waren sie gespannt, ob Jaap auftauchen<br />
würde.<br />
„Jetzt!“ Er stieß mich an und drückte auf den Knopf der<br />
Nebelmaschine, die ersten Schwaden waberten am Ufer<br />
entlang. Ich konnte erkennen, wie die Gauner sie bemerkten<br />
und zu uns hinüber schauten. Katja stand auf, zwängte<br />
sich durch den Haselnussstrauch und baute sich in ihrer<br />
vollen Größe im Nebel auf. Ich drückte auf den Knopf des<br />
CD-Players. Auf voller Lautstärke stand er ja schon, das<br />
hatte ich fast jede Minute geprüft. Katja schaute zur anderen<br />
Uferseite und hob drohend ihre Faust.<br />
Dann erklang die CD-Stimme: „Ihr zwei Gauner, hört ihr<br />
mich. Ich bin die Rixt vom Oerd.“<br />
Das lange Heulen ertönte, dabei hob Katja beide Arme<br />
und schüttelte wie wild ihren Körper.<br />
„Was macht ihr hier auf <strong>Ameland</strong>? Ich werde dafür sorgen,<br />
dass ihr meinem Sohn Sjoerd folgen müsst. Uuuhuuuhuh.<br />
Ich bin so traurig, weil ich meinen Sohn verloren habe.<br />
Uuuuuh, ich bin so traurig!“<br />
64
Meine Angst war verflogen. Wie gebannt schaute ich zur<br />
anderen Seite. Im Mondlicht war alles gut zu sehen. Ich<br />
riss meine Augen weit auf, um ja nichts zu verpassen. Den<br />
Ganoven schien es ähnlich zu gehen, denn in dem Augenblick,<br />
als Katja im Nebel auftauchte, traten sie auf ihrer<br />
Seite noch näher ans Ufer. Nackenlocke begann wie wild<br />
auf Katja zu zeigen und stieß immer wieder Walross an.<br />
Der stand da wie angewurzelt. Jetzt veränderte sich die<br />
Stimme der Rixt. Sie klang nicht mehr weinerlich, sondern<br />
wütend.<br />
„Ihr werdet für Sjoerd büßen, ihr habt auf <strong>Ameland</strong> nichts<br />
zu suchen. Ich werde euch vernichten, wartet, wartet, ich<br />
komme...!“<br />
Dann folgte wütendes Schreien. Hinter mir hörte ich Jaap<br />
aufgeregt zischen: „Katja, du musst jetzt los rennen und<br />
65
da vorne in dem anderen Gebüsch wieder verschwinden!“<br />
Sie schien es nicht zu hören. Wie aufgedreht tanzte sie<br />
am Ufer herum, gestikulierte, schimpfte und zog die wildesten<br />
Grimassen. Ich machte mir Sorgen um Katja, so<br />
hatte ich sie noch nie erlebt.<br />
„Hannah, du musst was tun!“<br />
Jaap kauerte jetzt neben mir.<br />
„Wir müssen sie unbedingt vom Ufer weg bringen, die CD<br />
ist gleich zu Ende, wenn sie dann nicht verschwunden ist,<br />
werden die Halunken etwas merken!“<br />
„Okay, okay!“, raunte ich. In meinem Kopf raste es, ich<br />
schaute auf die Ganoven. Walross stand immer noch wie<br />
versteinert, Nackenlocke sprang fast genauso wild hin und<br />
her wie Katja. In diesem Augenblick stampfte sie wie <strong>von</strong><br />
Sinnen direkt an meinem Gebüsch vorbei. Ich löste mich<br />
aus meiner Erstarrung, dachte „jetzt oder nie“ und sprang<br />
hinter ihr hoch. Dann packte ich sie <strong>von</strong> hinten an Rock<br />
und Bluse und zog sie rücklings durch das Gebüsch. Um<br />
mich herum krachte es, einige Äste ratschten mir durch<br />
das Gesicht. Aber da lagen wir, für die beiden Ganoven<br />
unsichtbar, schon wieder auf dem Boden. Immer noch hatte<br />
ich Katja fest in meinen Armen.<br />
„Hoffentlich haben sie mich nicht gesehen!“, schoss es mir<br />
durch den Kopf. Gleichzeitig zischte ich Katja zu: „Bist du<br />
verrückt, du solltest doch nach dem wütenden Schreien<br />
sofort verschwinden!“<br />
Schwer wie ein Stein lag sie auf mir, atmete tief durch und<br />
rührte sich nicht. Dann hörte ich sie seufzen: „Ah, herrlich!<br />
Endlich konnte ich mal jemand anders sein, eine wunderbare<br />
Rolle!“<br />
„Du bist gut!“, flüsterte Jaap aufgeregt, „das war doch kein<br />
Theaterauftritt. Ich hoffe, Nackenlocke und Walross haben<br />
nichts gemerkt. Du hast toll reagiert, Hannah!“<br />
Jaap hatte inzwischen die Nebelmaschine und den CD-<br />
Player abgeschaltet. Wir richteten uns auf, um zu sehen,<br />
was sich jetzt auf der anderen Seite tat und trauten unseren<br />
66
Augen nicht. <strong>Die</strong> Halunken standen nicht mehr am<br />
Ufer, sondern lagen ein paar Meter weiter hinten auf dem<br />
Boden zwischen ihren Rädern. Walross sah aus wie ein<br />
riesiger, auf dem Rücken liegender Käfer, Nackenlocke<br />
wollte sich gerade wieder aufzurappeln. Er fluchte, während<br />
er versuchte aus der Rückenlage hochzukommen.<br />
Walross schimpfte die ganze Zeit heftig auf ihn ein. Beide<br />
hatten Schwierigkeiten aufzustehen, weil immer wieder<br />
etwas auf sie zuflog und sie mit lautem Klatschen erneut<br />
umriss. Das mussten die Quallen sein, die Lara und Paula<br />
abfeuerten. Sie hatten sich extra Handschuhe mitgebracht,<br />
um sie anfassen und gezielt werfen zu können.<br />
Zwar waren die Tierchen schon tot, aber sie taten mir<br />
doch etwas leid. Sie hatten es eigentlich nicht verdient, mit<br />
diesen Halunken Bekanntschaft machen zu müssen. <strong>Die</strong><br />
aber rieben sich die Augen. Wahrscheinlich, um den Sand<br />
heraus zu wischen, mit dem Meike und Olli sie beworfen<br />
hatten. Dann war der Quallenangriff vorüber, Lara und<br />
Paula hatten offenbar keine Munition mehr. Nackenlocke<br />
taumelte hoch und half auch Walross auf die Beine. Sie<br />
griffen ihre Fahrräder und versuchten aufzusteigen. Der<br />
Große schaffte es zuerst. Er trat heftig in die Pedale, um<br />
möglichst schnell wegzukommen. Walross hatte jedoch<br />
Probleme und rutschte immer wieder ab.<br />
„Warte, Lu, warte!“, schrie er und stolperte mit dem Fahrrad<br />
an der Hand hinter ihm her, bis wir sie nicht mehr sehen<br />
konnten. Jaap versuchte Kontakt zu Paula aufzunehmen.<br />
„Hallo Paula, melde dich, was ist los bei euch?“<br />
Endlich hörten wir sie.<br />
„Alles klar, es hat funktioniert, wir haben alle Quallen abgefeuert.<br />
Das war geil, ich habe den Dicken zweimal am<br />
Kopf getroffen, er ist umgefallen wie ein nasser Sack.<br />
Gleich kommen sie bei Hanjo und Pit vorbei!“<br />
Katja riss Jaap das Handy vom Ohr.<br />
„Das sah spitzenmäßig aus, Paula, super!“<br />
67
„Jetzt sei leise, wenn alles nach Plan läuft, müsste gleich<br />
die dritte Angriffswelle kommen“, sagte Jaap. Wir lauschten<br />
angestrengt in die Nacht. Und tatsächlich. Wir hörten<br />
einen dumpfen Aufprall, Geklapper der Fahrräder und erneut<br />
lautes Fluchen und Aufheulen. Dazwischen immer<br />
wieder ein dumpfes Geräusch, gefolgt <strong>von</strong> weiteren Flüchen<br />
und Schreien der beiden Kerle. Von der Erhöhung<br />
aus schossen Pit und Hanjo ihre Bälle auf unsere Freunde.<br />
Dann war es still, wahrscheinlich hatten sie jetzt endgültig<br />
das Weite gesucht. Hoffentlich hatten sie genug <strong>von</strong><br />
<strong>Ameland</strong> und der bösen Rixt.<br />
Uns hielt es nicht mehr an unserem Ufer. Katja und ich liefen<br />
so schnell es ging zu den anderen. Jaap folgte uns,<br />
auch er wollte hören, was passiert war. Von weitem sahen<br />
wir sie bereits am Ufer des Teichs einen Siegestanz aufführen.<br />
Olli sprang mir um den Hals, Paula und Lara hielten<br />
sich an den Händen und drehten sich wie wild im<br />
Kreis. Dabei riefen sie immer wieder: „Wir haben sie verjagt,<br />
wir haben sie verjagt!“<br />
Pits und Hanjos Augen strahlten um die Wette, stolz begannen<br />
sie zu erzählen.<br />
„Hey, Moment!“, rief Jaap, „wartet noch, ich will auch wissen,<br />
was passiert ist!“<br />
Nachdem ich Olli endlich <strong>von</strong> meinem Hals abgeschüttelt<br />
hatte, konnte ich ebenfalls zuhören. Sie berichteten, dass<br />
sie auf der Anhöhe eine kleine Sandmauer gebaut und<br />
dort alle Bälle aufgereiht hatten, um genauer und schneller<br />
schießen zu können. Als sie die Stimme der Rixt hörten,<br />
wussten sie, gleich würde es losgehen.<br />
„Ich war mir ganz sicher“, fuhr Pit fort, „wenn sie an uns<br />
vorbeifahren, würden wir sie treffen.“<br />
Er sah uns an wie Supermann.<br />
„Als die Gauner fluchten, wussten wir, der Sandangriff und<br />
die Quallen hatten gewirkt. Zuerst kommt Nackenlocke.<br />
Ich nehme Anlauf, haue den Ball mit Vollspann weg und<br />
treffe ihn am Arm. Der erschreckt sich so, dass er nach<br />
68
vorne über den Lenker absteigt. Walross, der direkt hinter<br />
ihm fährt, kann gar nicht so schnell reagieren und ist<br />
schon voll auf ihm drauf. Er macht fast einen Kopfstand im<br />
Sand. Als er liegt, heult er laut auf und Nackenlocke flucht<br />
wie ein alter Seemann.“<br />
„Aber was habt ihr mit den anderen Bällen gemacht, habt<br />
ihr sie noch mal getroffen?“, fragte Katja.<br />
„Na, was denkst du denn!“, antwortete Hanjo schon fast<br />
beleidigt. Ich hab’ den Dicken noch vier Mal an seinem<br />
Wanst getroffen und Pit Nackenlocke sogar einmal im Gesicht.<br />
<strong>Die</strong> hatten voll die Panik. Als erster saß der Dicke<br />
auf seinem Rad, Nackenlocke lief ihm nach und dann verschwanden<br />
sie in der Dunkelheit.“<br />
Wir jubelten. Paula machte Katja noch ein Kompliment für<br />
ihren Rixt-Auftritt.<br />
„Das sah <strong>von</strong> hier wirklich klasse aus. Wenn ich nicht gewusst<br />
hätte, dass du es bist, hätte ich auch Schiss gehabt!“<br />
Katja grinste.<br />
„Es hat auch voll Spaß gemacht. Ich glaube, ich werde<br />
nach den Ferien in unserer Schultheatergruppe mitmachen“,<br />
antwortete sie.<br />
„Da kannst du dich meinetwegen richtig ausleben, jedenfalls<br />
ist das nicht so gefährlich wie hier“, mischte sich Jaap<br />
schmunzelnd ein.<br />
„Wisst ihr was Kinder, ich bin jetzt ziemlich kaputt. Lasst<br />
uns zum Museum zurückfahren, dort hauen wir uns aufs<br />
Ohr!“<br />
Ich schaute auf meine Uhr. Inzwischen war es schon nach<br />
Mitternacht. Jaap hatte recht, es wurde Zeit, schlafen zu<br />
gehen. Schnell suchten wir unsere Sachen zusammen,<br />
holten die Räder aus dem Versteck und packten alles wieder<br />
in den Fahrradanhänger. Im Museum saßen die anderen<br />
noch zusammen und quatschten. Aber ich war so müde,<br />
dass ich es gerade noch schaffte, meinen Schlafsack<br />
aufzurollen und hineinzukriechen.<br />
69
Wiedersehen mit Nackenlocke und Walross<br />
„Hey, Hannah, es gibt Frühstück“, flüsterte mir jemand ins<br />
Ohr. Ich schlug langsam die Augen auf und sah in Meikes<br />
Gesicht. <strong>Die</strong> anderen saßen schon an dem großen Tisch,<br />
der mitten in Jaaps Büro stand. Es roch sehr gut. Jaap<br />
hatte Brötchen geholt und Kakao gekocht. Ich nahm Meikes<br />
Hand und ließ mich <strong>von</strong> ihr hochziehen.<br />
„Du kannst aber lange schlafen“, meinte Hanjo mit vollem<br />
Mund.<br />
„Wie spät ist es denn?“, fragte ich.<br />
„Schon elf“, antwortete Katja. Ich zog ein Sweatshirt über<br />
und setzte mich zu den anderen.<br />
„Kinder, jetzt hört mir mal zu. Ich möchte mich bei euch<br />
bedanken. Ihr wart großartig gestern Abend und ich bin<br />
ziemlich sicher, dass die beiden Gauner mein Museum so<br />
schnell nicht mehr besuchen werden. Ich glaube, auch <strong>von</strong><br />
<strong>Ameland</strong> haben sie die Nase gestrichen voll, auch wenn<br />
es eigentlich nicht mein Ziel sein kann, Gäste <strong>von</strong> unserer<br />
schönen Insel zu vertreiben.“<br />
Jaap schien ganz gerührt zu sein, jedenfalls ließ er sich in<br />
seiner Dankesrede kaum bremsen.<br />
„Jetzt hör schon auf!“, murmelte Hanjo.<br />
„Als Museumsleiter hätte ich mir nicht träumen lassen, so<br />
viele Jahrhunderte nach ihrem Tod, die Rixt noch einmal<br />
in ihrer ganzen Bosheit zu erleben. Kinder, ich danke euch<br />
dafür. Nur weiß ich leider immer noch nicht, wo die Galionsfigur<br />
ist“, fügte er leiser hinzu.<br />
„Egal!“, rief Olli dazwischen, „wir sind die Obercoolen, wir<br />
finden sie, denn wir finden alles, uns kann keiner besiegen,<br />
wir sind die Besten!“<br />
70
Wir schauten jetzt alle erwartungsvoll auf Lara. Und sie<br />
sagte das, was sie immer sagte: „Halts Maul, Olli, es<br />
reicht!“<br />
Paula unterstützte sie.<br />
„Genau, kannst du nicht mal einmal die Klappe halten!“<br />
„Nein, nein, nein, das kann ich nicht!“, schrie er plötzlich<br />
ziemlich wütend, „ich will das auch gar nicht, ihr sollt mich<br />
nicht immer anmachen, ich bin der Größte, auch wenn’s<br />
euch nicht gefällt!“<br />
Meike und ich sahen uns an. Irgendwie hatte Olli wirklich<br />
einen Tick. Und jetzt drehte er total ab. Er sprang hoch,<br />
riss den Stuhl zurück und hüpfte auf den Tisch. Wir alle,<br />
auch Jaap, waren so überrascht, dass wir nicht mehr daran<br />
dachten, unser Geschirr mit dem Frühstück in Sicherheit<br />
zu bringen, denn Olli begann jetzt auf dem Tisch herumzutanzen.<br />
„Ich bin der Größte, ich bin der Größte!“, rief er immer<br />
wieder und trampelte zwischen den Tellern und Tassen<br />
herum. <strong>Die</strong> Milchtüte fiel um, der Kakao in den Tassen<br />
schwappte über und ergoss sich in Pfützen auf den Tisch.<br />
Sogar Lara und Paula standen staunend da und sagten<br />
71
nichts mehr. Jaap griff als erster ein. Er sprang auf, und zu<br />
unserer Überraschung kletterte er auch auf den Tisch, auf<br />
dem Olli inzwischen wie Rumpelstilzchen hin und her<br />
hüpfte. Paula, die sich gefasst hatte, fauchte ihn an:<br />
„Komm sofort da runter, Olli, oder ich rede die ganzen Ferien<br />
nicht mehr mit dir!“<br />
Er tanzte drohend auf sie zu: „Wenn du nicht meine<br />
Schwester wärst...!“, schnauzte er sie an. Aber dann stand<br />
Jaap direkt hinter ihm, ergriff ihn mit einem lauten „Schluss<br />
jetzt!“ und nahm ihn wie ein großes Bündel unter den Arm.<br />
Er ging mit dem zappelnden Olli zu seinem Platz zurück<br />
und stieg vom Tisch. Dann ließ Jaap ihn los, denn er hatte<br />
sich inzwischen wieder beruhigt.<br />
„Wir beide gehen jetzt mal eben nach nebenan“, sagte<br />
Jaap mit ruhiger Stimme zu ihm, und dann, uns anschauend,<br />
„es wäre nett, wenn ihr hier ein bisschen aufräumen<br />
könntet. Es ist ja sowieso langsam Zeit für euch nach<br />
Hause zu fahren.“<br />
Nachdem die beiden im Nebenraum verschwunden waren,<br />
begannen wir, das Chaos zu beseitigen. So hatten wir Olli<br />
noch nie erlebt. Auch Lara und Paula sahen sich verwundert<br />
an und räumten schweigend den Tisch ab. Nachdem<br />
wir unsere Sachen gepackt hatten, kamen Olli und Jaap<br />
zurück.<br />
„Olli hat euch etwas zu sagen“, meinte Jaap schmunzelnd.“<br />
„Es tut mir leid, was ich eben angestellt habe“, murmelte<br />
er, „aber ich habe es satt, immer nur der kleine, dumme<br />
Bruder zu sein. Ich kann einfach nicht mehr hören, dass<br />
ich die Klappe halten soll!“, fügte er mit Blick auf Lara hinzu.<br />
„Ich möchte, dass ihr mich ernst nehmt.“<br />
„Du bist eben manchmal echt anstrengend!“, sagte Katja.<br />
„Du flippst so oft aus und nervst uns dann mit deiner Angeberei!“<br />
72
Lara und Paula nickten. Sie waren froh, dass Katja ausgesprochen<br />
hatte, was sie als Schwestern ja nicht nur in den<br />
Ferien mit ihm auszuhalten hatten. Olli wollte etwas antworten,<br />
aber seine Stimme stockte jetzt. Jaap kam ihm zu<br />
Hilfe.<br />
„Er möchte einfach <strong>von</strong> euch mehr akzeptiert werden und<br />
verspricht auch ruhiger zu sein.“<br />
Lara und Paula gingen auf Olli zu und umarmten ihn. Als<br />
sie ihm etwas ins Ohr flüsterten, fing er schon wieder an<br />
zu grinsen.<br />
„Da jetzt der erste Inselkoller überstanden ist, können wir<br />
ja gleich den Bus zurück nach Hollum nehmen“, brummelte<br />
Hanjo.<br />
„Unsere Eltern warten bestimmt schon. Außerdem hätte<br />
ich Lust, einfach mal am Strand zu liegen und Ferien zu<br />
machen.“<br />
„Eine gute Idee“, entgegnete Jaap.<br />
„Sobald ich etwas Neues in Erfahrung gebracht habe,<br />
werde ich mich bei euch melden. Außerdem muss ich<br />
noch einiges hier im Museum erledigen. Also kommt gut<br />
nach Hause und grüßt eure Eltern <strong>von</strong> mir.“<br />
Wir gingen zur Haltestelle. Der Bus kam kurze Zeit später,<br />
aber diesmal mit einem Fahrer, den wir nicht kannten. Wir<br />
fuhren schweigend zurück nach Hollum.<br />
„Ich finde, wir gehen erst mal nach Hause und dann treffen<br />
wir uns gegen drei Uhr am Strand“, schlug ich vor, als wir<br />
ausstiegen.<br />
„Gute Idee“, sagte Katja, „das Wetter scheint ja ganz<br />
schön zu werden. Also bis heute Nachmittag.“<br />
Als Meike und ich die Hofeinfahrt zu unserer Ferienwohnung<br />
betraten, saßen Mama und Papa auf der Sonnenterrasse.<br />
„Hallo, ihr zwei!“, rief Mama, „da seid ihr ja wieder. Wie<br />
war die Museumsnacht?“<br />
73
„Och, eigentlich sehr schön“, antwortete ich etwas ausweichend,<br />
„wir sind noch lange mit Jaap im Oerd gewesen. Er<br />
hat uns den großen Ententeich gezeigt.“<br />
„Ach, ich dachte, ihr wolltet die Nacht im Museum verbringen.<br />
Wenn Jaap mit euch unterwegs war, wer hat denn<br />
die anderen Besucher betreut?“, fragte Mama erstaunt. Ich<br />
schluckte, aber zum Glück kam Meike mir zu Hilfe und<br />
quatschte wie immer fröhlich drauf los.<br />
„Heute Nachmittag wollen wir an den Strand, Mama, wir<br />
haben uns schon verabredet. Das Wetter ist ja auch toll.<br />
Bei euch auf der Terrasse ist es mir jetzt schon viel zu<br />
heiß.“<br />
„Nun mal langsam!“<br />
Papa legte seine Zeitung zur Seite und sah Meike und<br />
mich an.<br />
„Ihr seid gerade erst wieder zu Hause und plant sofort den<br />
nächsten Ausflug? Vielleicht denkt ihr auch mal daran,<br />
dass ihr hier mit euren Eltern Urlaub macht?“<br />
Normalerweise hätte mich Papas Frage sofort aufgeregt,<br />
aber um ihn und Mama <strong>von</strong> der Nacht im Oerd abzulenken,<br />
blieb ich ruhig.<br />
„Ja Papa, ich weiß, aber wir haben uns doch verabredet,<br />
und die anderen gehen auch.“<br />
Ich stand auf, setzte mich auf seinen Schoß und legte<br />
meine Arme um seinen Hals. Außerdem hatte Meike ihren<br />
‚Ach-du-lieber-Papa-Blick’ aufgesetzt, bei dem sie ihren<br />
Kopf leicht schräg legte. Dagegen war er machtlos.<br />
„Na ja, wenn ihr meint, aber ich habe eine Idee“, sagte<br />
Papa, „wir kommen einfach mit, vielleicht können wir ja ein<br />
bisschen Völkerball oder Fußball spielen.“<br />
Mama nickte. Wir hatten Glück, die Nacht im Oerd sprachen<br />
sie nicht mehr an.<br />
Kurz vor drei fuhren wir los. An den Fahrrädern am<br />
Strandübergang sahen wir, dass die anderen schon da<br />
waren. Meike rannte voraus. <strong>Die</strong> Sonne hatte den Strand<br />
inzwischen so aufgeheizt, dass mir beim Gehen im Sand<br />
74
die Fußsohlen brannten. <strong>Die</strong> Jungs, Meike und Lara tobten<br />
schon im Wasser. Katja und Paula saßen auf ihren<br />
Handtüchern und unterhielten sich.<br />
„Wollt ihr nicht schwimmen?“, fragte ich die beiden, während<br />
ich mich umzog.<br />
„Doch, na klar“, antwortete Paula, „wir haben nur auf dich<br />
gewartet.“<br />
Dann sprang sie auf und wir rannten um die Wette zum<br />
Wasser. Katja sauste hinter uns her.<br />
Kreischend stürzten wir uns in die kühle Nordsee. Als ich<br />
wieder auftauchte, traute ich meinen Augen nicht. Neben<br />
mir erhob sich der prustende Kopf <strong>von</strong> Papa aus der<br />
Gischt.<br />
„Damit hast du wohl nicht gerechnet?!“, rief er.<br />
„Nein“, antwortete ich, „das ist die Sensation des Tages,<br />
es muss heiß sein, richtig heiß.“<br />
Meike, die Papa inzwischen auch entdeckt hatte, hing sich<br />
<strong>von</strong> hinten an seinen Hals.<br />
„Was machst du denn hier, das gibt’s doch gar nicht!“<br />
Er drehte sich um, ergriff sie und warf sie in die nächste<br />
große Welle. Sie kreischte vor Begeisterung. Ich versuchte<br />
schnell wegzutauchen. Aber er hatte auch mich schon gepackt,<br />
stemmte mich hoch und warf mich mit Schwung<br />
wieder ins Wasser. Eine ganze Weile tobten wir so herum,<br />
bis uns kalt wurde und wir zurück zu unserer Decke liefen.<br />
„Wir müssen etwas tun, um uns wieder aufzuwärmen!“,<br />
rief Pit. Er hatte sich den Ball geschnappt und jonglierte<br />
ihn mit seinem Zauberfuß. <strong>Die</strong> Väter sahen ihm zu.<br />
„Komm Papa!“, schrie Meike, „du wolltest doch heute mit<br />
uns Fußball spielen!“<br />
„Ja, genau! Männer, ihr spielt auch mit, wir zeigen den<br />
Kids, was eine Harke ist! Hey, Frieda, Marlies, Heike, wir<br />
brauchen euch, wir spielen zusammen gegen die Kinder<br />
und ich spendiere heute Abend auf dem Rückweg eine<br />
Runde Eis für das Siegerteam!“<br />
75
Papas Begeisterung kannte keine Grenzen. Pit und Olli<br />
markierten schnell mit ein paar Handtüchern die Tore und<br />
dann ging’s los. Alle waren gut drauf. Genau wegen dieser<br />
Stimmung fuhr ich so gerne nach <strong>Ameland</strong>. Papa sagt<br />
zwar jedes Jahr, dies werde wohl der letzte gemeinsame<br />
Urlaub sein, aber recht hatte er mit dieser düsteren Prophezeiung<br />
noch nie. Ich glaube fest daran, dass die Münstermänner<br />
und Franzens auch im nächsten Jahr wieder<br />
mitfahren werden.<br />
<strong>Die</strong> Erwachsenen hatten Anstoß. Papa führte den Ball.<br />
„Jetzt werden wir euch mal zeigen, wie man Fußball<br />
spielt!“, rief er übermütig.<br />
„Los, Rainer, geh in die Spitze, du altes Kampfschwein!“<br />
Rainer, der ja nicht gerade zu den schlanken Vätern gehörte,<br />
schnaufte tief durch und trabte gemächlich nach<br />
vorne. Papa spielte ihm flach den Ball zu, aber Rainer<br />
schaffte es nicht, ihn zu stoppen. Er stolperte über seine<br />
eigenen Beine und fiel mit einem verzweifelten Aufschrei<br />
wie ein gefällter Baum zu Boden. Das sah aus wie eine Live-Sendung<br />
<strong>von</strong> Pleiten, Pech und Pannen. Wir bekamen<br />
fast Bauchschmerzen vor Lachen. Pit beruhigte sich am<br />
schnellsten, nahm Rainer den Ball ab und dribbelte auf<br />
das Tor der Erwachsenen zu. Olli lief auf der anderen Seite<br />
mit, Katja und ich starteten in der Mitte durch.<br />
„Los, Pit, ich stehe frei, her mit dem Ball!“, brüllte Olli und<br />
fuchtelte wild mit den Armen. Aber Uli und Heike kamen<br />
irgendwie dazwischen und fingen Pits Flanke ab. Heike<br />
hatte ihre eigene Vorstellung vom Fußballspielen und hielt<br />
den Ball mit der Hand fest.<br />
„Stopp, dass war Hand, das ist unfair, Heike!“, schrie Olli.<br />
„Genau, Mama, das geht nicht!“<br />
Auch Katja und Hanjo protestierten.<br />
„Quatsch, stellt euch nicht so an, nur weil das Spiel Fußball<br />
heißt, soll ich meine Hand nicht benutzen dürfen?“,<br />
grinste sie. Rainer war inzwischen wieder aufgestanden<br />
und stand in der Nähe unseres Tores.<br />
76
„Gib ‚mich’ die Kirsche!“, rief er, „los Heike, ich bin bereit<br />
für das Tor des Jahrhunderts!“<br />
Aber damit hatten Meike, Lara und ich gerechnet, wir fingen<br />
ihren Schuss ab, bevor er Rainer erreichte. Lara<br />
stoppte den Ball und passte ihn zu mir. Meike startete<br />
schon in Richtung des gegnerischen Tores. Als ich sie anspielen<br />
wollte, sah ich aus dem Augenwinkel, dass Rainer<br />
seine gewaltigen Körpermassen auf Höchstgeschwindigkeit<br />
gebracht hatte, um mir den Ball abzujagen. Ich wartete<br />
cool ab, schlug, kurz bevor er mich erreichte, einen<br />
kleinen Haken und ließ ihn ins Leere laufen.<br />
Marlies gelang es aber nicht so schnell ihm auszuweichen.<br />
Verzweifelt suchte Rainer nach der Notbremse.<br />
„Rainer, verdammt, bleib stehen!“, schrie sie ihn an, aber<br />
er prallte auf sie wie ein Güterwaggon auf einen Prellbock<br />
am Rangierbahnhof. Mit lautem Aufschrei fielen beide zu<br />
Boden. <strong>Die</strong>se Gelegenheit nutzten wir, und Meike erzielte<br />
durch einen eleganten Schlenzer, an Mama vorbei, unser<br />
Führungstor.<br />
Wir gewannen sechs zu zwei und hätten sicher noch höher<br />
gesiegt, aber die Erwachsenen konnten nicht mehr.<br />
Der Nachmittag verging wie im Flug. Immer wieder stürzten<br />
wir uns ins Wasser, wärmten uns durch Völkerball<br />
oder andere Spiele am Strand auf und quatschten zusammen.<br />
Es war schon kurz vor sieben, als Papa sagte:<br />
„Ich finde, wir gehen jetzt nach Hause, es wird Zeit für ein<br />
vernünftiges Abendessen. Am Leuchtturm kaufe ich euch<br />
noch das versprochene Eis.“<br />
Keiner widersprach, denn wir hatten uns alle ziemlich ausgetobt.<br />
Mama, Heike und Marlies übernahmen das Aufräumkommando,<br />
während Papa, Rainer und Uli tatenlos<br />
daneben standen und mal wieder eifrig diskutierten. Ich<br />
stieß Katja an.<br />
„Gleich werden unsere Väter Stress bekommen.“<br />
„Ja, hoffentlich“, flüsterte sie, „und die Jungens bekommen<br />
gleich Stress mit mir.“<br />
77
Pit, Olli und Hanjo hatten sich schon angezogen und spielten<br />
wieder mit dem Ball, während wir Mädchen unseren<br />
Müttern beim Einräumen halfen. Hier stimmte etwas nicht.<br />
„Ihr glaubt doch wohl nicht im Ernst, wir packen alles zusammen,<br />
und ihr könnt lässig am Strand tiefsinnige Gespräche<br />
führen!“, fuhr Marlies unsere Herren Väter an. Sie<br />
unterbrachen ihre Unterhaltung. Papa machte sich sofort<br />
an die Arbeit, Uli brummelte etwas, half dann aber auch<br />
mit. Rainer ließ sich jedoch nichts anmerken und ging zu<br />
den Jungs hinüber.<br />
Auch Katja platzte der Kragen.<br />
„Los Hanjo, Pit, Olli, ihr seid genauso fürs Aufräumen zuständig<br />
wie wir!“<br />
„Meine Güte, jetzt stell dich nicht so an“, knurrte Hanjo.<br />
Rainer setzte sich in den Sand und wartete, bis wir fertig<br />
waren. Selbst die bösen Blicke <strong>von</strong> Marlies konnten ihn<br />
nicht aus der Ruhe bringen.<br />
„Ich schätze, es gibt heute Abend noch eine Diskussion<br />
zwischen Mama und Papa“, flüsterte Lara Paula zu.<br />
„Ja“, nickte sie, „Mama hat aber Recht, denn Olli fängt ja<br />
auch schon so an. Immer wenn es was zu tun gibt, verpisst<br />
er sich.“<br />
Als alles verpackt war, gingen wir zu unseren Fahrrädern.<br />
„Ich bin richtig kaputt“, stöhnte Katja. <strong>Die</strong> letzte Nacht und<br />
der Nachmittag haben mir echt den Rest gegeben.“<br />
„Und ich habe einen Riesenhunger!“, entgegnete Paula.<br />
„Ich schätze, Papa wird heute Abend kochen, um Mama<br />
wieder zu besänftigen. Ich muss ihm wahrscheinlich helfen,<br />
damit wir noch vor Mitternacht was auf den Tisch bekommen.“<br />
Ich lachte.<br />
„Aber gleich gibt’s ja schon eine kleine Vorspeise, die<br />
Siegprämie für unser Fußballspiel.“<br />
„Stimmt“, antwortete Paula, „das könnte mir helfen die Zeit<br />
bis zum Abendessen zu überstehen.“<br />
78
Am Dünenübergang bestiegen wir unsere Fahrräder. Ich<br />
fuhr am Ende der Gruppe, Papa vorne an der Spitze.<br />
„Wir sind ganz schön viele“, dachte ich, als ich alle vor mir<br />
herfahren sah. Mit einem lang gezogenen „Haaaaalt!“ und<br />
erhobenem Arm ließ Papa die Gruppe am Leuchtturmkiosk<br />
stoppen. Ich musste grinsen, denn das sah aus wie<br />
in einem Western, den ich mal zusammen mit ihm gesehen<br />
habe. Da ritt der Held einer Gruppe <strong>von</strong> Cowboys<br />
voran und brachte sie genauso zum Stehen.<br />
Wir bekamen unser Eis, dann bogen die Münstermänner<br />
an ihrer Straße ab und wir fuhren mit den Franzens noch<br />
durch Hollum. Plötzlich durchfuhr mich ein riesiger<br />
Schreck. Vor der Pension Wijman standen Walross und<br />
Nackenlocke mit gepackten Koffern und diskutierten aufgeregt<br />
mit einem Mann, den wir nicht kannten. Er war<br />
ziemlich groß, hatte einen blonden Vollbart, eine Knollennase<br />
und trug die typischen Ameländer Holzschuhe.<br />
„Guck mal, wer da steht!“, zischte ich Katja zu. Sie wurde<br />
blass. Ich ahnte, was sie dachte.<br />
„Du brauchst keine Angst zu haben, sie können dich nicht<br />
erkennen. Als Rixt sahst du völlig anders aus!“, versuchte<br />
ich sie zu beruhigen. Katja wollte erst nicht weiterfahren,<br />
aber Walross und Nackentolle beachteten uns gar nicht.<br />
Auch Meike hatte sie gesehen.<br />
„Man, bin ich froh, dass sie dich nicht erkannt haben, Katja.<br />
<strong>Die</strong> haben überhaupt nichts geschnallt, ich glaube, die<br />
fahren ab. Aber wer war der andere Mann? Der sah ja aus<br />
wie ein typischer Ameländer!“<br />
„Meike, jetzt halt mal die Luft an!“, sagte ich, „keine Ahnung<br />
wer das war. Wir fragen Jaap, vielleicht kennt der<br />
ihn.“<br />
Unsere Eltern waren vorgefahren und warteten schon bei<br />
Franzens auf uns.<br />
„Kinder, es wird Zeit, ich habe einen Bärenhunger und ihr<br />
sicher auch, oder?“, rief Papa.<br />
79
„Eigentlich noch nicht“, antwortete ich, „wir würden gerne<br />
noch ein bisschen bei Katja bleiben. Wir kommen in einer<br />
halben Stunde nach, ja?“<br />
Mama zog die Augenbrauen hoch.<br />
„Ihr solltet eigentlich beim Kochen helfen“, meinte sie.<br />
Meike sah Papa an, ihr ‚Ach-du-lieber-Papa-Blick“ funktionierte.<br />
„Na gut“, sagte er, „kommt in einer Stunde nach, dann ist<br />
das Essen fertig. Aber ihr müsst anschließend aufräumen.“<br />
„Alles klar, Paps!“, zwitscherte Meike. Wir setzten uns mit<br />
Katja in den Garten. Um diese Zeit war er am schönsten.<br />
Es war windstill, die Abendsonne tauchte alles in ein goldgelbes<br />
Licht. <strong>Die</strong> großen Hortensienbüsche und die langen<br />
roten und gelben Stockrosen leuchteten jetzt besonders<br />
kräftig.<br />
„Wir rufen Jaap an!“, meinte Katja.<br />
„Und wie? Hier im Haus ist doch kein Telefon und wir haben<br />
kein Handy“, sagte ich.<br />
„Wir gehen zur Telefonzelle an der Ecke!“, bestimmte sie.<br />
Katja hatte noch etwas Kleingeld. Jaaps Telefonnummer<br />
stand auf einem kleinen Zettel, den ich glücklicherweise in<br />
meiner Hosentasche wieder fand.<br />
Jaap meldete sich sofort.<br />
„Hallo Jaap, hier ist Katja, wir müssen dir unbedingt etwas<br />
erzählen!“<br />
Sie beschrieb ihm den Mann, der mit den beiden Ganoven<br />
gesprochen hatte. Am anderen Ende der Leitung entstand<br />
eine Pause.<br />
„Was ist? Was sagt er?“, fragte Meike erwartungsvoll. Katja<br />
zuckte mit den Schultern, hielt die Hörmuschel zu und<br />
flüsterte: „Nichts. Jaap, bist du noch da?“<br />
„Eh, ja, entschuldige Katja, ich war so überrascht. Bist du<br />
sicher, dass dieser Mann dabei stand? Hatte er wirklich<br />
eine Knollennase?“<br />
80
Jetzt sprach Jaap so laut und aufgeregt, dass wir jedes<br />
Wort verstehen konnten.<br />
„Ja, wenn ich’s dir doch sage!“, entgegnete Katja.<br />
„Das begreife ich nicht“, hörten wir ihn antworten, „das<br />
kann nur Wim Dijkstra sein, ihm gehört die Galionsfigur.<br />
Aber wieso kennt der Nackenlocke und Walross?“<br />
„Ich dachte, dass könntest du uns erklären“, meinte Katja.<br />
„Du hast doch gesagt, die beiden Ganoven standen mit<br />
Koffern vor der Pension. Wie lange ist das jetzt her?“<br />
Katja schaute auf ihre Uhr.<br />
„Ich schätze etwas mehr als 30 Minuten.“<br />
„Dann wollen sie wahrscheinlich die Fähre um halb neun<br />
nehmen. Ich fahre nach Nes“, hörten wir Jaap sagen.<br />
„Ich will mit eigenen Augen sehen, ob Mijnherr Dijkstra tatsächlich<br />
etwas mit Nackenlocke und Walross zu tun hat.“<br />
„Aber du weißt ja gar nicht, ob er die beiden zur Fähre<br />
bringen will“, zweifelte Katja.<br />
„Wahrscheinlich schon“, entgegnete Jaap, „denn der Bus<br />
ist weg und da sie kein Auto haben, kämen sie ja sonst zu<br />
spät. Jedenfalls muss ich es auf einen Versuch ankommen<br />
lassen.“<br />
„Er soll uns danach sofort wieder anrufen!“, wisperte Meike<br />
jetzt, „am besten auf Paulas Handy.“<br />
Katja gab es weiter.<br />
„Sei vorsichtig, lass dich nicht <strong>von</strong> ihnen erwischen!“, fügte<br />
sie hinzu.<br />
„Mach’ dir keine Sorgen“, antwortete Jaap, „bis später, ich<br />
melde mich dann bei Paula!“<br />
„Bis später.“<br />
Katja legte auf.<br />
„<strong>Die</strong> Sache wird ja immer verzwickter“, murmelte ich.<br />
„Also steckt der Besitzer der Figur mit den Gaunern unter<br />
einer Decke?“<br />
„Sieht so aus“, nickte Katja.<br />
81
„Aber wir müssen jetzt erst mal abwarten. Nach dem<br />
Abendessen treffen wir uns noch mal, vielleicht hat sich<br />
Jaap dann schon gemeldet.“<br />
Meikes Magen knurrte laut.<br />
„Los, wir müssen nach Hause, Mama und Papa warten<br />
und ich hab’ jetzt einen tierischen Hunger“, sagte sie.<br />
„Das ist ja auch nicht zu überhören“, lachte Katja, „bis<br />
nachher, am besten wieder bei uns.“<br />
„Willkommen, meine Damen“, sagte Papa ironisch, als wir<br />
nach Hause kamen.<br />
„Schön, dass Sie sich auch mal Zeit für uns nehmen.“<br />
„Tut mir leid“, entgegnete ich schuldbewusst, „aber Katja<br />
hatte so viel zu erzählen.“<br />
„Wir wollen uns nachher noch mal treffen“, fügte Meike<br />
schnell hinzu.“<br />
„Ihr seid ja heute sehr beschäftigt“, meinte Mama, „aber<br />
wir können zusammen zu den Franzens gehen, denn wir<br />
haben uns auch noch verabredet.“<br />
Papa stand auf und holte das Essen aus der Küche. Es<br />
gab Tortellini, Meikes Lieblingsessen. Mama erzählte,<br />
dass sie heute Abend mit Franzens und den Münstermännern<br />
nach Ballum fahren wollten. Uns kam das sehr gelegen,<br />
denn dann konnten wir ungestört unseren Fall besprechen.<br />
Meike und ich mussten nach dem Essen den<br />
Tisch abräumen und spülen. Aber diesmal maulten wir<br />
nicht herum, sondern erledigten alles so schnell wir konnten.<br />
Nur Meike ließ – wie immer – etwas fallen, diesmal<br />
ein Glas. Da das ziemlich regelmäßig passierte, gab sie<br />
Papa immer schon am Anfang des Monats einen Teil ihres<br />
Taschengeldes als Schadenersatz zurück. Das war ihr<br />
komischerweise lieber, als dann zu bezahlen, wenn sie<br />
etwas kaputt gemacht hatte.<br />
„Was habt ihr denn heute Abend vor, Kinder?“, fragte Heike,<br />
als wir alle wieder bei Franzens saßen.<br />
„Mal sehen, irgendwas wird uns schon einfallen“, antwortete<br />
Katja ausweichend.<br />
82
„Na gut“, meinte Marlies, die schon halb auf ihrem Fahrrad<br />
saß, „dann wünsche ich euch viel Spaß, wir kommen<br />
wahrscheinlich spät zurück.“<br />
„Aber du fährst nicht alleine nach Hause!“, fügte sie mit<br />
Blick auf Olli hinzu.<br />
„Natürlich nicht, Mama“, säuselte er mit treuem Augenaufschlag.<br />
Ich fahre auf jeden Fall zusammen mit Lara und<br />
Paula.<br />
„Dann ist ja alles klar!“, donnerte Rainer mit seiner lauten<br />
Stimme, „auf geht’s Freunde!“<br />
Unsere Eltern fuhren los. Endlich, denn wir waren natürlich<br />
gespannt, ob Jaap sich schon bei Paula gemeldet hatte.<br />
Und tatsächlich. Sie hatte Kontakt zu ihm.<br />
„Er hat vor einer halben Stunde angerufen“, begann sie.<br />
„Aber was hat er gesagt?“, fragte ich ungeduldig.<br />
„Er hat die drei an der Fähre beobachtet, der Mann ist der<br />
Besitzer der Galionsfigur, er heißt Wim Dijkstra“, antwortete<br />
Paula.<br />
„Das wissen wir doch schon. Jaap hat uns gegenüber den<br />
Namen auch erwähnt“, schaltete sich Katja aufgeregt ein.<br />
„Aber was hat er gesehen? Warum trifft sich Dijkstra mit<br />
den beiden Typen?“<br />
„Jaap ist total sauer, er glaubt, Dijkstra hat die beiden beauftragt,<br />
seine eigene Figur aus dem Museum zu klauen.“<br />
„Warum denn, wenn ihm die Figur sowieso gehört?“, wunderte<br />
sich Meike.<br />
„Dijkstra steckt in Geldschwierigkeiten“, erklärte Paula mit<br />
ernstem Gesicht, „Jaap nimmt an, dass Nackentolle und<br />
Walross die Figur gestohlen haben, weil Jaap sie für die<br />
Dauer der Ausstellung versichern lassen musste.“<br />
„Für eine ziemlich hohe Summe, stimmt’s?“, wollte Pit wissen.<br />
Paula nickte.<br />
„Genau, für 10.000 Euro, und die will Dijkstra wahrscheinlich<br />
jetzt abkassieren.“<br />
„Dann stellt sich aber die Frage, warum Walross und Nackenlocke<br />
die Figur in den Dünen in Hollum gesucht<br />
83
haben“, überlegte Hanjo, „eigentlich hätten sie doch wissen<br />
müssen, wo sie ist.“<br />
Er machte eine kleine Pause und kratzte sich am Kopf. Ein<br />
sicheres Zeichen, dass er nachdachte.<br />
„Wenn die Ganoven die Figur in Dijkstras Auftrag aus dem<br />
Museum geklaut haben, dann sollten sie sie wahrscheinlich<br />
für ihn auch in den Dünen verstecken. Und da sie jetzt<br />
nicht mehr da ist, will er die Ganoven entweder selbst reinlegen<br />
oder es ist noch jemand im Spiel, der Nackenlocke,<br />
Walross und Dijkstra zusammen über den Tisch ziehen<br />
will.“<br />
„Wenn da wirklich noch ein Unbekannter mitmischt, wie<br />
sollen wir den denn finden?“, fragte Pit. Selbst Hanjo zuckte<br />
mit den Schultern.<br />
„Keine Ahnung, im Moment fällt mir dazu nichts ein.“<br />
„Mir schon“, grinste Katja, „wie wär’s, wenn du jetzt mal ins<br />
Haus gehst und für uns alle was zu trinken holst. Bring<br />
auch gleich die Packung mit den Salzstangen mit, die liegt<br />
in der Küche im Schrank!“<br />
„Na gut, aber nur wenn Pit mit geht“, antwortete Hanjo<br />
seufzend, „sonst muss ich ja zwei Mal laufen.“<br />
Auf einmal hörten wir ein Quietschen, die Gartenpforte<br />
wurde geöffnet. Ob unsere Eltern etwas vergessen hatten?<br />
Aber es war Jaap.<br />
„Hallo Kinderen“, begrüßte er uns in seinem warmen, gemütlichen<br />
Deutsch mit holländischem Akzent. Gleichzeitig<br />
kamen Hanjo und Pit mit den Getränken und Salzstangen<br />
aus der Küche zurück.<br />
„Wir sprechen gerade über das, was du Paula schon am<br />
Telefon erzählt hast. Aber woher weißt du das alles?<br />
Konntest du verstehen, was die drei am Fährhafen gesagt<br />
haben?“, fragte Katja.<br />
„Zuerst nicht“, antwortete Jaap, „ich sah nur, wie sie sich<br />
aufgeregt unterhielten und dabei heftig gestikulierten. Vor<br />
allem Walross schien sehr wütend zu sein, denn er fasste<br />
Mijnherr Dijkstra immer wieder an den Kragen. Als andere<br />
84
auf die drei aufmerksam wurden, verzogen sie sich auf<br />
den Kai. Und das war mein Glück, denn sie standen direkt<br />
am Fenster des kleinen Lagerschuppens. Ich schlich mich<br />
auf der anderen Seite hinein. Was ich dann hörte, hat<br />
mich ziemlich überrascht.“<br />
Olli hielt die Spannung nicht mehr aus.<br />
„Komm Jaap, erzähl schon, ich platze gleich!“, stieß er<br />
hervor.<br />
„<strong>Die</strong> Ganoven wollten Geld <strong>von</strong> Dijkstra“, fuhr Jaap fort,<br />
„weil sie seinen Auftrag ja erledigt hatten. Walross meinte,<br />
das Verschwinden der Figur sei nicht ihre Schuld. Es sei<br />
abgemacht gewesen sie in den Dünen zu verstecken.“<br />
„Aber haben sie denn kein Geld bekommen, nachdem sie<br />
in deinem Museum eingebrochen waren?“, erkundigte ich<br />
mich.<br />
„Doch, aber wohl nur einen kleinen Vorschuss. Dijkstra<br />
hatte ja die Versicherungssumme noch nicht.“<br />
„Und darauf haben sie sich eingelassen?“, wunderte sich<br />
Hanjo.<br />
„Ja, besonders hell im Kopf sind die beiden wirklich nicht.<br />
Der Dicke meinte, jetzt bräuchten sie den Rest des Geldes<br />
und sogar noch mehr. Sie seien schließlich extra zurückgekommen,<br />
um Dijkstra zu helfen. Walross glaubt tatsächlich<br />
immer noch, ich hätte die Galionsfigur“, sagte Jaap<br />
kopfschüttelnd.<br />
„Und was hat Dijkstra dazu gesagt?“, wollte Katja wissen.<br />
„Eigentlich nichts, er hat sie auf später vertröstet. Walross<br />
und Nackenlocke hatten aber solche Angst, dass sie auf<br />
keinen Fall mehr auf der Insel bleiben wollten.“<br />
Wir verschluckten uns fast an den Salzstangen, so sehr<br />
mussten wir lachen.<br />
„Oh, die Armen, jetzt müssen sie ganz schnell zu ihrer<br />
Mama nach Hause fahren, die tun mir ja so leid!“, prustete<br />
Lara. Hanjo klopfte ihr kräftig auf den Rücken, weil sie <strong>von</strong><br />
einem Hustenanfall geschüttelt wurde.<br />
„Und Dijkstra?“, fragte er Jaap.<br />
85
„Der murmelte so etwas wie ‚Reisende soll man nicht aufhalten’<br />
und ging einfach weg.“<br />
Was haben Nackenlocke und Walross denn jetzt gemacht“,<br />
wollte ich noch wissen, „sind sie rüber zum Festland?“<br />
„Ja. Als die letzten Passagiere auf die Fähre gingen, nahmen<br />
sie ihre Koffer und rannten los. Sie sind auf und da<strong>von</strong>.“<br />
86
<strong>Die</strong> Jagd nach der Figur geht weiter<br />
„Also müssen wir uns jetzt an Dijkstra halten“, entfuhr es<br />
Hanjo mit einem Seufzer.<br />
„Du hast recht“, antwortete Jaap, „nur er weiß, wo die Figur<br />
ist. Aber die Frage ist, wie wir ihm dieses Geheimnis<br />
entlocken können.“<br />
Wir sahen uns ratlos an. Ob Hanjo eine Idee hatte? Er begann<br />
behutsam die bewusste Stelle an seinem Kopf zu<br />
kratzen, ein sicheres Zeichen, dass es hinter seiner Stirn<br />
zu arbeiten begann.<br />
„Wie wäre es“, sagte er gedehnt, „wenn jemand <strong>von</strong> uns<br />
versucht zu Dijkstra Kontakt aufzunehmen?“<br />
Jaap sah ihn ungläubig an. Auch wir wunderten uns.<br />
„Das ist doch sinnlos, wie sollen wir aus dem was raus<br />
kriegen?“, fragte Katja zweifelnd.<br />
„Na ja“, Hanjo kratzte sich schon wieder am Kopf.<br />
„Meine Idee ist, durch einen geplanten Zufall mit ihm ins<br />
Gespräch zu kommen.“<br />
„Durch einen geplanten Zufall? Was soll denn das sein?“,<br />
fuhr ich Hanjo ungeduldig an.<br />
„Wir könnten doch als Ferienkinder einfach etwas Pech<br />
haben“, grinste er, „aber um das genauer zu erklären,<br />
müsste ich <strong>von</strong> dir wissen, Jaap, wo Dijkstra wohnt und<br />
was für ein Typ er ist.“<br />
„Was soll ich da erzählen? Wie du weißt, stammt er aus<br />
einer Ameländer Kapitänsfamilie. Einer seiner Vorfahren<br />
gehörte zu den Walfängern, die damals im Packeis am<br />
Nordpol umgekommen sind. Danach war es ja vorbei mit<br />
dem Reichtum auf <strong>Ameland</strong>. Seine Familie, übrigens auch<br />
viele andere, musste sich eine neue Existenz aufbauen.<br />
<strong>Die</strong> Dijkstras verdienten ihr Geld seit der Zeit mit dem<br />
Handel. Wims Vater hat es in den letzten Jahrzehnten<br />
87
geschafft in Hollum einen gut gehenden Laden für Andenken,<br />
Spielsachen und Haushaltswaren aufzubauen. Eben<br />
für alles, was Ameländer und Touristen so gebrauchen<br />
können. Wim hat das Geschäft übernommen. Aber in letzter<br />
Zeit wurde die Konkurrenz immer größer und sein Laden<br />
lief nicht mehr so gut. Kürzlich hat er noch mal groß<br />
umgebaut und neu eröffnet. Vielleicht ist er deshalb so<br />
knapp bei Kasse.“<br />
„Klingt logisch“, meinte Hanjo, „aber was ist er für ein<br />
Mensch? Du kennst ihn ja schon länger.“<br />
„Eigentlich ist er ruhig und zurückhaltend. Er spricht fließend<br />
das Ameländisch, eine Art Spezialdialekt, den es nur<br />
hier gibt. <strong>Die</strong> Insel verlässt er selten. Und wie fast alle Bewohner<br />
kennt er unglaublich viele Sagen und Erzählungen.“<br />
„Wo wohnt er denn?“, wollte Hanjo noch wissen.<br />
„In einem sehr schön renovierten Kapitänshaus auf der<br />
Oosterlaan“, antwortete Jaap.<br />
„Also gut, dann erkläre ich mal, was ich vorhabe“, fuhr<br />
Hanjo fort.<br />
„Es geht darum mit Dijkstra in Kontakt zu treten, ohne<br />
dass er merkt, was wir eigentlich wollen. Dazu nutzen wir<br />
Pits und Ollis Fußballtalent. Ihr müsstet nämlich auf der<br />
Oosterlaan ein bisschen kicken. Dabei fliegt bedauerlicherweise<br />
euer Ball durch sein Fenster.“<br />
Hanjo schaute Pit und Olli erwartungsvoll an.<br />
„Wie stellst du dir das vor?“, fragte Pit.<br />
„Ganz einfach“, antwortete Hanjo mit einem Grinsen. Du<br />
tust dasselbe wie zu Hause und verwechselst einfach<br />
Fensterscheibe und Tor.“<br />
„<strong>Die</strong> Idee klingt nicht schlecht“, meinte Pit. „Machst du mit,<br />
Olli?“<br />
„Na klar!“, rief der begeistert und sprang auf. Mit einem<br />
schnellen Blick auf Lara vergewisserte er sich, diesmal mit<br />
seiner Reaktion nicht übertrieben zu haben. Sie ließ ihr<br />
88
erühmtes ‚Halts Maul, Olli!’ auch nicht hören. Im Gegenteil,<br />
sie schien genau so begeistert zu sein wie er.<br />
„Super Idee“, strahlte sie, „ich bin auch dabei, mit einem<br />
Ball kann ich ja ganz gut umgehen.“<br />
Jaap war etwas besorgt. „Und was sagen eure Eltern dazu?<br />
Wegen des Schadens, der dann entsteht, werden sie<br />
doch in die ganze Sache hineingezogen.“<br />
„Vielleicht wird es ja auch Zeit“, mischte ich mich jetzt ein.<br />
„Heute Mittag war es schon schwierig, sich nicht zu verplappern.<br />
Mama fand es nämlich merkwürdig, dass wir<br />
den ganzen Abend mit dir im Oerd, statt im Museum verbracht<br />
haben.“<br />
„Genau, gab Katja zu bedenken, „es könnte <strong>von</strong> Vorteil<br />
sein, wenn unsere Eltern dabei sind, aber aus einem ganz<br />
anderen Grund. Ein Gespräch über den Schaden zwischen<br />
Dijkstra und, zum Beispiel Rainer, wäre nämlich eine<br />
gute Gelegenheit sich unauffällig in seinem Haus umzusehen.“<br />
„Einverstanden“, meinte Jaap, „wenn eure Eltern Bescheid<br />
wissen, könnte ich sie endlich auch mal ein bisschen näher<br />
kennenlernen.“<br />
„Okay, was glaubst du, wann sie bei Dijkstra auftauchen<br />
können?“, fragte Hanjo.<br />
„Wahrscheinlich ist es am besten, wenn ihr zwischen<br />
sechs und sieben abends zu ihm geht, dann hat er seinen<br />
Laden geschlossen und ist zu Hause. Er wohnt allein, weil<br />
seine Frau mit den Kindern im letzten Jahr <strong>von</strong> <strong>Ameland</strong><br />
nach Leeuwarden gezogen ist. Sie hat sich <strong>von</strong> ihm getrennt.<br />
Ich glaube, sie hatten damals schon Geldsorgen,<br />
denn Wim hat um diese Zeit angefangen mehr zu trinken.“<br />
Jaap schien so nach und nach ein Licht aufzugehen.<br />
„Dann trefft euch morgen Abend in der Osterlaan“, sagte<br />
Hanjo zu Pit, Olli und Lara.<br />
„Gut, dann fahre ich jetzt nach Hause. Ich versuche noch<br />
mehr über Dijkstra herauszufinden. Ich hoffe, mein Freund<br />
Gerrit kann mir wieder helfen.“<br />
89
Jaap erhob sich.<br />
„Wer ist denn das?“, wollte Meike noch wissen.<br />
„Gerrit de Jong ist der freundlichste Polizist <strong>Ameland</strong>s, ich<br />
kenne ihn schon seit dreißig Jahren, wir sind zusammen<br />
auf die Schule gegangen. Er hat mir auch geraten den<br />
<strong>Die</strong>bstahl erst mal geheim zu halten.“<br />
Dann wandte er sich an Paula.<br />
„Wir telefonieren morgen, lass dein Handy eingeschaltet.“<br />
Sie nickte. Jaap ging nach vorne zur Straße und fuhr mit<br />
seinem Auto zurück nach Buren.<br />
Inzwischen war es stockdunkel.<br />
„Meike und ich gehen auch, sagte ich, „wir sind ziemlich<br />
müde.“<br />
Meine Schwester schaute mich böse an.<br />
„Wie kommst du darauf? Wann ich müde bin, bestimme<br />
ich immer noch selbst“, fuhr sie mich an. Aber Katja kam<br />
mir zu Hilfe.<br />
„Ich bin auch müde. Wir sollten wirklich schlafen gehen,<br />
morgen wird’s ja vielleicht wieder richtig spannend.“<br />
Auch die Münstermänner fuhren nach Hause, so dass<br />
Meike nachgab. Als wir im Bett lagen, wollte ich mit ihr<br />
noch quatschen. Aber sie antwortete schon nicht mehr.<br />
Kurz danach fielen auch mir die Augen zu.<br />
Am nächsten Morgen weckte Papa uns.<br />
„Hallo, meine Damen, falls ihr mit Mama und mir auf der<br />
Terrasse frühstücken wollt, müsst ihr aufstehen oder besser<br />
gesagt, dürft ihr aufstehen.“<br />
„Wie spät ist es denn?“, gähnte ich.<br />
„Schon zehn, die Sonne scheint, es sind zweiundzwanzig<br />
Grad, wir sind auf <strong>Ameland</strong>, der Sonneninsel.“<br />
So früh am Morgen konnte ich Papas <strong>Ameland</strong> - Begeisterung<br />
noch nicht vertragen. Aber ich stand trotzdem auf<br />
und ging nach unten. Mama schlürfte ihren Milchkaffee.<br />
„Hallo, meine Große!“, begrüßte sie mich, „hast du gut geschlafen?“<br />
90
„Es hätte etwas länger sein können“, antwortete ich, „aber<br />
Papa musste mir unbedingt sagen, wie toll er es hier findet.<br />
Er hat mir was <strong>von</strong> Sonneninsel erzählt oder so.“<br />
„Du hättest ja liegen bleiben können“, grinste er.<br />
„Was ist mit Meike?“, fragte Mama.<br />
„<strong>Die</strong> hat sich nach seinem Auftritt gleich wieder umgedreht.<br />
Ich glaube, sie schläft noch.“<br />
„Wie war es denn bei euch?“, erkundigte ich mich.<br />
„Wir haben im Cafe Nobeltje Karten gespielt“, antwortete<br />
Papa. Jedenfalls eine Weile, bis Rainer wie immer seine<br />
eigenen Regeln erfand. Alle, die mit ihm zusammen spielen<br />
mussten, haben verloren. Aber lustig war es trotzdem.<br />
Nachher hat er eine Geschichte nach der anderen erzählt.<br />
Du kennst ihn ja.“<br />
Es stimmt. Wenn man mit Rainer Karten spielt, tut er immer<br />
so, als wäre er ein eiskalter Zocker, der alles im Griff<br />
hat. Aber In Wirklichkeit hat er keine Ahnung.<br />
„Wann wart ihr denn zu Hause?“, erkundigte sich Mama.<br />
„Wir wollten euch ja eigentlich bei Franzens abholen.“<br />
„Wir sind schon gegen elf gegangen, weil wir so müde waren“,<br />
antwortete ich.<br />
„Das stimmt nicht, ich war überhaupt nicht müde.“<br />
Meike stand in der Tür und schaute mich wieder böse an.<br />
„Und warum hast du dann gestern Abend so oft gegähnt?“<br />
entgegnete ich.<br />
„Na und? Ich kann gähnen wann ich will, deshalb bin ich<br />
noch lange nicht müde“, antwortete sie schnippisch. Papa<br />
mischte sich ein.<br />
„Guten Morgen, mein Kind, jetzt setz dich erst mal hin.“<br />
Noch ziemlich verschlafen und mit zerzausten Haaren begann<br />
sie zu frühstücken.<br />
„Übrigens ist heute Rettungsboottag“, begann Mama jetzt.<br />
„Das alte Rettungsboot wird wieder mit dem Pferdegespann<br />
an den Strand gefahren. Aber dann gibt es noch<br />
etwas Besonderes, die Zuschauer können mit dem Boot<br />
91
auf der Nordsee ein paar Runden fahren. Habt ihr Lust<br />
dazu?“<br />
Meikes Stimmung besserte sich sofort. <strong>Die</strong> Aussicht auf<br />
eine Bootsfahrt gefiel ihr.<br />
„Ja, total cool!“, rief sie begeistert, „wann geht’s los?“<br />
„Es kommt darauf an“, sagte Papa, „wir können schon direkt<br />
zum Strand gehen oder uns die Ausfahrt mit den<br />
Pferden vom Museum aus im Dorf angucken. Dann müssen<br />
wir aber in einer Stunde dort sein.“<br />
Zwar hatten wir die Rettungsbootübung schon gesehen,<br />
aber wir wollten trotzdem wieder hin. Allein schon wegen<br />
der riesigen Pferde, die den schweren Anhänger mit dem<br />
Boot zogen. Schnell frühstückten wir zu Ende, zogen uns<br />
an und fuhren los. Vor dem Museum war ein riesiger<br />
Volksauflauf. Kinder und Erwachsene, die darauf warteten,<br />
dass die Vorstellung begann. Sogar die zwei schmutzigen<br />
Schafe auf der Wiese nebenan, die sich normalerweise<br />
nur für Gras interessierten, standen direkt am Zaun und<br />
glotzten.<br />
„Jetzt schau dir diese vielen Menschen an“, sagte Mama.<br />
Aber Papa hatte nur Augen für die riesigen Pferde, die ihm<br />
nicht sonderlich sympathisch schienen. Sie wurden gerade<br />
<strong>von</strong> kräftigen Männern in Gummistiefeln vor den Anhänger<br />
gespannt, auf dem das Rettungsboot zum Strand transportiert<br />
werden sollte.<br />
„Gleich erzählt er wieder <strong>von</strong> dem Pferdeerlebnis in seiner<br />
Kindheit“, flüsterte mir Meike zu.“<br />
„<strong>Die</strong>smal nicht“, wisperte ich, „die Geschichte kennen wir<br />
doch längst auswendig.“<br />
„Ich wette mit dir um ein Eis!“<br />
Aber Meike spielte unfair. Noch ehe ich sie daran hindern<br />
konnte, fragte sie Papa: „Warum guckst du denn die Pferde<br />
so komisch an?“<br />
„Das ist eine lange Geschichte“, begann er, „aber ich hatte<br />
als Kind einen Freund, der mit seinen Eltern auf einem<br />
Bauernhof lebte.“<br />
92
Triumphierend warf mir Meike einen kurzen Blick zu. Sie<br />
hatte die Wette gewonnen, denn jetzt ließ er sich nicht<br />
mehr bremsen.<br />
„Ich bin immer sehr gerne zu ihm gefahren, um mit ihm zu<br />
spielen. Er besaß ein Pony mit dem Namen Heinz, auf<br />
dem wir ab und zu ritten. Allerdings durfte ich nur auf<br />
Heinz sitzen, wenn mein Freund das Halfter hielt. Wir<br />
drehten auf der Schweinewiese unsere Runden. Meist<br />
ging es auch gut, aber eines Tages eben nicht.“<br />
„Und was ist da passiert?“, erkundigte sich Meike scheinheilig.<br />
„Na ja, aus welchen Gründen auch immer, war eine Sau<br />
mit ihren Ferkeln nicht im Stall, sondern auf der Wiese.<br />
Mitten im schönsten Trab stieg das Pony plötzlich vorne<br />
hoch und ich flog im hohen Bogen in die Schweinesuhle.“<br />
„Hast du dir wehgetan?“, fragte Meike, obwohl sie es genau<br />
wusste.<br />
„Und wie“, antwortete Papa, „ich fiel so unglücklich, dass<br />
ich nicht nur aussah wie ein Schwein, sondern mir auch<br />
noch den Arm gebrochen hatte. Seitdem kann ich Pferde<br />
nicht mehr ausstehen!“<br />
Meike stieß mir in die Seite.<br />
„Ich will heute Abend ein großes Nusseis.“<br />
Jetzt schaute Papa mich fragend an.<br />
„Hab’ ich euch diese Geschichte nicht schon mal erzählt?“<br />
Mama nickte heftig und ich murmelte: „Kann sein, irgendwie<br />
kam sie mir bekannt vor.“<br />
Inzwischen waren zehn Pferde im Geschirr. Durch die weit<br />
geöffneten Flügeltore des Museums sah man das blauweiße<br />
Rettungsboot oben auf dem Anhänger. Damit er<br />
nachher im Sand nicht stecken blieb, liefen die Räder wie<br />
bei einem Panzer in großen Laufketten. Plötzlich ertönte<br />
ein schriller Pfiff und die Pferde setzten sich in Bewegung.<br />
Mit lautem Geratter schob sich das Gefährt aus der Museumshalle<br />
auf die Straße und fuhr in Richtung Strand.<br />
93
<strong>Die</strong> Zuschauer nahmen in einer langen Reihe zu Fuß oder<br />
mit dem Rad die Verfolgung auf.<br />
„Lasst uns zum Strand vorfahren“, sagte Mama, „dann<br />
können wir besser sehen, wenn sie das Rettungsboot ins<br />
Meer ziehen.“<br />
Schon <strong>von</strong> weitem sahen wir auf dem Deich und den Dünen<br />
viele Menschen, die sich das Schauspiel ebenfalls<br />
ansehen wollten. Trotzdem gelang es uns, unter Führung<br />
<strong>von</strong> Mama, einen guten Platz zu erobern. Wenn es darum<br />
geht, ist sie ein echter Profi. Fast immer bekommt sie einen<br />
Parkplatz, einen guten Tisch im Restaurant oder, wie<br />
eben jetzt, einen Platz, <strong>von</strong> dem aus wir trotz der vielen<br />
Menschen eine gute Sicht auf das Rettungsboot hatten.<br />
<strong>Die</strong> riesigen, starken Pferde zogen den Anhänger mit dem<br />
Boot über den Strand und hielten kurz vor dem Wasser<br />
dampfend an. Meike stieß Mama an.<br />
„Gleich werden sie die Pferde ausspannen, oder?“<br />
Mama nickte.<br />
„Sie wollen sie zuerst an das Wasser gewöhnen.“<br />
Und tatsächlich konnten wir jetzt sehen, wie die Männer<br />
die Pferde ausschirrten und mit ihnen einige Runden im<br />
flachen Meer drehten. Danach wurden sie wieder eingespannt.<br />
Angefeuert durch laute Rufe zogen die schwarzen<br />
Riesen mit aller Kraft den Anhänger mit dem Boot so tief<br />
ins Wasser, bis es vom Wagen gelöst werden konnte und<br />
frei schwamm. <strong>Die</strong> Besatzung warf den Motor an und das<br />
Rettungsboot nahm Fahrt auf. Es sah toll aus, wie es<br />
durch die Wellen aufs offene Meer hinausfuhr. <strong>Die</strong> Pferde<br />
standen in der Zwischenzeit wieder auf dem Strand, um<br />
sich auszuruhen.<br />
„Habt ihr eigentlich das Denkmal gesehen, an dem wir<br />
vorbei gekommen sind?“, wollte Papa wissen.<br />
„Das mit den Pferden?“<br />
Er nickte.<br />
„1978 sind hier acht der zehn Pferde bei der Ausfahrt des<br />
Rettungsbootes ertrunken. Das Wetter war so stürmisch,<br />
94
dass die Tiere in Panik gerieten und nicht mehr auf den<br />
Strand zurückgeführt werden konnten.“<br />
„<strong>Die</strong> armen, wie schrecklich!“, rief Meike.<br />
„Warum haben sie denn das Rettungsboot dann nicht im<br />
Museum gelassen?“<br />
„Damals war es noch richtig im Einsatz“, meinte Mama.<br />
„<strong>Die</strong> Ameländer haben damit früher wirklich Menschen aus<br />
Seenot gerettet. Heute haben sie ein schnelles und modernes<br />
Rettungsboot, es liegt in der Ballumer Bucht, in<br />
dem kleinen Hafen.“<br />
„Da vorne kommt es übrigens!“, rief Papa jetzt. Elegant<br />
jagte das Boot über das Wasser, die letzten Meter Richtung<br />
Strand drosselte es seine Geschwindigkeit und ging<br />
vor Anker. Es besaß eine silbergraue Kajüte und eine große<br />
schwarze Reling, die mit einem Gummischlauch geschützt<br />
war und hieß Anna Margaretha.<br />
„Ist das ein cooles Teil!“, meinte Meike begeistert, „damit<br />
will ich unbedingt fahren!“<br />
Schnell stellten wir uns in der Menschenschlange an, die<br />
sich vor dem Boot gebildet hatte. Unsere Schuhe ließen<br />
wir am Strand stehen, denn man musste ein Stück durchs<br />
Wasser waten, um über eine Leiter an Bord klettern zu<br />
können. <strong>Die</strong> Rettungsleute halfen uns. Ich traute meinen<br />
Augen nicht. Der Mann, der mir freundlich seine Hand<br />
entgegenstreckte, war Wim Dijkstra.<br />
„Welkom an Boord!“, sagte er auf Niederländisch. Ich war<br />
so verdattert, dass ich gar nicht antwortete und schnell an<br />
ihm vorbei nach vorne ging. Meine Schwester stürzte auf<br />
mich zu.<br />
„Hast du ihn erkannt?“, fragte sie aufgeregt.<br />
„Was machen wir jetzt?“<br />
„Gar nichts!“, antwortete ich bestimmt.<br />
„Der kennt uns doch gar nicht und wir werden auch heute<br />
Abend nicht seine Fensterscheibe zerschießen.“<br />
Es ging los. Das Boot drehte gemächlich seinen Bug zum<br />
offenen Meer und fuhr dann immer schneller.<br />
95
„Fantastisch!“, rief Meike. Breitbeinig standen wir an der<br />
Reling, während uns der Wind ins Gesicht wehte und die<br />
Haare zerzauste. <strong>Die</strong> Anna Margaretha stieg vorne so<br />
hoch, dass ich das Gefühl hatte, sie würde gleich abheben.<br />
Aber jedes Mal, wenn sie den höchsten Punkt erreicht<br />
hatte, fiel sie zurück aufs Wasser. Ich hielt meine<br />
Nase in den Wind und schnupperte den Salzgeruch.<br />
Mama hielt sich krampfhaft fest und sah nicht besonders<br />
begeistert aus. Auch Papa war blass.<br />
„Das ist ja echt toll!“, rief er wenig überzeugend, als sich<br />
unsere Blicke trafen.<br />
„Sieht man dir aber nicht an!“, schrie ich gegen die dröhnenden<br />
Motoren und den pfeifenden Wind an. Mama nickte<br />
heftig.<br />
„Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich am Strand geblieben.<br />
Ich glaube, ich werde seekrank!“<br />
„Quatsch, das ist doch total cool!“, brüllte Meike.<br />
„Halt dich bloß vernünftig fest!“, rief Mama ihr zu, rutschte<br />
aber im gleichen Augenblick selbst aus. Papa half ihr wieder<br />
hoch.<br />
„Das solltest du besser machen!“, grinste Meike sie an.<br />
Kurz danach drosselte das Rettungsboot das Tempo,<br />
drehte und fuhr fast geräuschlos und langsam wieder zurück.<br />
Ich beobachtete Dijkstra. Er stand immer noch hinter uns<br />
an der Reling, zusammen mit einem jüngeren Mann. Ich<br />
stieß Meike an.<br />
„Guck mal, mit wem sich Dijkstra da unterhält. Hast du den<br />
schon mal gesehen?“<br />
„Nicht dass ich wüsste.“<br />
Meike zuckte mit den Schultern.<br />
„Aber irgendwie hat er mit ihm Ähnlichkeit.“ Ich schaute<br />
noch mal hin. Meike hatte Recht. Auch der jüngere hatte<br />
blonde Haare und eine knollige Nase. Ob sie verwandt<br />
waren?<br />
96
„Sehr nett sind die aber nicht zueinander“, sagte Meike.<br />
„Dijkstra sieht den jüngeren richtig böse an.“<br />
„Finde ich auch. Das müssen wir unbedingt den anderen<br />
erzählen.“<br />
<strong>Die</strong> Anna Margaretha tuckerte die letzten paar Meter Richtung<br />
Strand, dann ließen die Männer den Anker hinab und<br />
wir stiegen über die Leiter wieder <strong>von</strong> Bord. Mit einem<br />
freundlichen ‚tot ziens’, ‚bis bald’, verabschiedete Dijkstra<br />
sich <strong>von</strong> uns. Er konnte ja nicht wissen, was wir mit ihm<br />
vorhatten.<br />
„Ich bin froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben“,<br />
sagte Mama, „Fahrten auf Rettungsbooten gehören<br />
nicht zu meiner Lieblingsbeschäftigung.“<br />
„Mir geht’s ähnlich“, stimmte Papa zu, „ich finde, wir haben<br />
uns einen Besuch im Zwaan verdient!“<br />
Meike und ich grinsten uns an. Auf ihn war Verlass, mit einer<br />
Belohnung in unserem Stammcafe nach der Bootsfahrt<br />
hatten wir gerechnet.<br />
„<strong>Die</strong> anderen sind bestimmt auch da, vielleicht können wir<br />
ja heute Nachmittag was mit ihnen unternehmen“, schlug<br />
Mama vor.<br />
97
Ein Nachmittag im Wald<br />
„Hallo, da seid ihr ja!“<br />
Rainer begrüßte uns wie immer laut und gut gelaunt auf<br />
der Terrasse des Zwaan. Papa und Mama setzten sich zu<br />
den Erwachsenen.<br />
„Was denkt ihr, wen wir gesehen haben?“, posaunte Meike<br />
am Kindertisch los. <strong>Die</strong> anderen schauten uns neugierig<br />
an. Ich stieß sie mit einem Blick auf die Erwachsenen<br />
in die Seite.<br />
„Sei leise, sie müssen das ja nicht unbedingt mitkriegen!“<br />
Olli, den Mund voller Apfelkuchen mit Schlagsahne, raunte:<br />
„Wen habt ihr denn gesehen?“<br />
Flüsternd erzählten wir <strong>von</strong> unserer Begegnung auf der<br />
Anna Margaretha.<br />
„Also ist Dijkstra wahrscheinlich nicht alleine“, meinte<br />
Hanjo.<br />
„Stimmt!“, sagte Katja. „Hoffentlich klappt unsere Fußballaktion<br />
heute Abend, dann wissen wir vielleicht mehr.“<br />
„Na, was habt ihr denn da zu flüstern?“<br />
Uli erschien an unserem Tisch.<br />
„Erwachsene müssen ja nicht alles wissen!“, antwortete Pit<br />
schnell.<br />
„Soso.“<br />
Sein Vater lächelte.<br />
„Ich wollte euch eigentlich nur was für heute Nachmittag<br />
vorschlagen. Rainer und ich organisieren wieder unseren<br />
Spieletag. Habt ihr Lust mitzumachen?“<br />
Natürlich hatten wir Lust. Rainer und Uli planen den Spieletag<br />
jedes Jahr im Hollumer Wald. Ich war gespannt, was<br />
sie sich diesmal ausgedacht hatten. Wir verabredeten uns<br />
um drei Uhr am großen Spielplatz.<br />
98
<strong>Die</strong> beiden sahen zum Weglachen aus, als wir dort eintrafen.<br />
Uli trug ein knallrotes T-Shirt mit der Aufschrift ‚Heino’,<br />
eine blonde Perücke und die für den Sänger typische,<br />
dunkle Sonnenbrille, außerdem eine bayerische kurze Lederhose<br />
und einen Trachtenhut. Rainer hatte auch eine<br />
dunkle Sonnenbrille aufgesetzt, aber dazu ein weißes<br />
Hemd mit dunklem Schlips, einen schwarzen Anzug und<br />
schwarze Schuhe angezogen. Auf seinem Rücken klebte<br />
ein Schild, darauf stand mit großen Buchstaben: ‚Ich bin<br />
Heino sein kleiner Blues-Bruder.“<br />
Uli begrüßte uns.<br />
„Meine Damen und Herren, ich darf Sie alle recht herzlich<br />
willkommen heißen zu dem weltbekannten Spielnachmittag<br />
im weltbekannten Hollumer Wald, vorbereitet <strong>von</strong> den<br />
weltbekannten Spielexperten Heino und Heino sein kleiner<br />
Blues-Bruder.“<br />
Wir applaudierten.<br />
„Ja, vielen Dank für dieses Geräusch, wir haben es verdient,<br />
auch wenn wir noch nichts geleistet haben, und ich<br />
kann Ihnen versprechen, wir werden auch nichts leisten.<br />
Denn diejenigen, die etwas leisten werden, sind ausschließlich<br />
Sie, meine Damen und Herren! Was werden<br />
Sie nun leisten? Zunächst einmal haben Sie die Gelegenheit,<br />
sich ein wenig aufzuwärmen mit dem beliebten Phantasiespiel<br />
‚Das kotzende Känguru’. Jake, bitte erkläre die<br />
Regeln!“<br />
„Sehr gerne, Heino!“<br />
Rainer, genannt Jake, zog eine Mundharmonika aus der<br />
Tasche. Noch bevor er einen Ton spielen konnte, klatschten<br />
wir wieder. Dann entlockte er ihr einen kurzen Ton und<br />
erklärte uns, was wir tun sollten. Wir bildeten einen Kreis,<br />
während sich unser Blues-Bruder Jake in die Mitte stellte.<br />
Er zeigte plötzlich auf mich und rief: „Elefant!“<br />
Ich fasste sofort mit der linken Hand an meine Nase, legte<br />
den rechten Arm über den linken und deutete einen<br />
99
Rüssel an. Mama und Katja, die links und rechts neben<br />
mir standen, mussten an meinem Kopf mit ihren Armen<br />
die großen Elefantenohren zeigen. Es kam darauf an,<br />
gleichzeitig zu reagieren, denn die Figur musste immer<br />
durch drei Personen dargestellt werden. Schon zeigte<br />
Rainer auf den nächsten.<br />
„Toaster!“, rief er. Olli begann auf der Stelle zu hüpfen. Pit<br />
drehte sich zu ihm, streckte sein Hand aus und schrie Lara<br />
an: „Komm schon, gib mir deine Flossen!“<br />
Jetzt hüpfte Olli zwischen ihnen auf der Stelle, so dass er<br />
wirklich aussah wie eine Brotscheibe im Lara und Pit –<br />
Toaster. Und dann kam das ‚kotzende Känguru’. Rainer<br />
zeigte auf Heike. Sie hielt ganz schnell die Arme wie einen<br />
Halbkreis vor sich, das war der Kängurubeutel. Paula, die<br />
neben ihr stand, kotzte mit einem lauten Würgegeräusch<br />
hinein. Wir lachten uns schlapp. Vor allem Olli war kaum<br />
zu bremsen, warf sich ins Gras und trommelte mit den<br />
Fäusten auf den Boden. Auch Papa fand es so komisch,<br />
dass er vergaß auf der anderen Seite in den Beutel zu<br />
kotzen. Also musste er in die Mitte.<br />
Eine Waschmaschine, einen Dackel, einen Mixer, alles<br />
Mögliche mussten wir darstellen, bis Rainer und Uli uns<br />
vorschlugen ‚Pott-erlösen’ zu spielen.<br />
„Meine Damen und Herren, dieses Spiel geht folgendermaßen!“,<br />
begann Heino – Uli.<br />
„Was bedeutet das Wort erlösen? Hätte unser frommer<br />
Rainer es erklärt, würde er sicher behaupten, es habe etwas<br />
mit der Kirche zu tun. Aber in diesem Spiel geht es<br />
darum, Gefangene aus einem Pott zu befreien. Wir haben…“,<br />
er zeigte auf einen mit rotem Band abgegrenzten<br />
Bereich am Waldrand, „…hinter den beiden Sitzbänken<br />
den Pott eingerichtet. <strong>Die</strong> Fänger dürfen die Gefangenen<br />
hier einsperren. <strong>Die</strong>jenigen, die noch nicht gefangen wurden,<br />
können ihre Mitspieler aber durch Abschlagen wieder<br />
befreien!“<br />
„Ich will fangen!“<br />
100
„Ich auch!“<br />
Olli und Pit meldeten sich sofort. Uli war einverstanden<br />
und bestimmte noch zusätzlich Paula und Heike.<br />
„Ihr zählt jetzt laut bis 50, die anderen können sich in dieser<br />
Zeit verstecken. Das Spiel ist beendet, wenn alle erwischt<br />
wurden und beginnt, wenn ich in diese Trillerpfeife<br />
blase!“<br />
Dann ließ er einen ohrenbetäubenden Pfiff folgen und wir<br />
rannten so schnell wie möglich in den Wald. Olli, Pit, Paula<br />
und Heike hörte ich laut zählen. Ich lief einen Weg entlang,<br />
der steil bergauf führte. Der ganze Wald bestand aus<br />
Hügeln und Tälern und war durchzogen <strong>von</strong> Sandwegen.<br />
Es war ziemlich anstrengend darauf schnell zu rennen.<br />
Deshalb orientierte ich mich nach links ins Unterholz, um<br />
mir ein sicheres Versteck zu suchen. Erst jetzt merkte ich,<br />
dass mir jemand folgte. Ich bekam einen ziemlichen<br />
Schreck, aber es war Hanjo.<br />
Wir duckten uns hinter einem Gebüsch und ruhten uns<br />
aus.<br />
„Ich dachte schon, Pit oder Paula würden mich verfolgen!“,<br />
wisperte ich.<br />
„Keine Angst, die dürften gerade erst mit dem Zählen fertig<br />
sein. Außerdem versuchen sie bestimmt erst mal die Erwachsenen<br />
zu fangen. <strong>Die</strong> sind niemals so weit in den<br />
Wald gerannt wie wir.“<br />
Ich ließ mich auf dem Waldboden nieder. Hanjo setzte<br />
sich neben mich. Das Versteck war gut, denn wir konnten<br />
<strong>von</strong> hier aus beobachten, ob sich jemand <strong>von</strong> vorne<br />
näherte.<br />
„Wie findest du eigentlich bis jetzt die Ferien?“, fragte er<br />
mich.<br />
„Na ja“, ich zögerte ein bisschen mit der Antwort, „eigentlich<br />
gefallen sie mir gut. Und ich bin gespannt, wie es mit<br />
unserem Fall weitergeht. Du hast echt coole Ideen dazu.“<br />
101
Das war mir jetzt rausgerutscht. Am liebsten hätte ich mir<br />
die Zunge abgebissen. Hanjo schaute mich überrascht an<br />
und lächelte.<br />
„Meinst du? Aber du auch ..., übrigens finde ich dich echt<br />
nett.“<br />
Das war das erste Mal, dass ein Junge so etwas zu mir<br />
sagte. Und ausgerechnet Hanjo. Wahrscheinlich bekam<br />
ich ein knallrotes Gesicht. Ich grinste irgendwie blöd, weil<br />
mir nichts weiter einfiel. Plötzlich knackte es vor uns und<br />
wir hörten Schritte und Stimmen. Erschreckt schauten wir<br />
hoch. Ich wollte schon loslaufen, aber dann sahen wir einen<br />
blonden Haarschopf, der sich durch das Gebüsch<br />
zwängte.<br />
„Du bist es, Meike, ich dachte schon Pit oder Paula hätten<br />
uns erwischt!“, flüsterte ich erleichtert.<br />
„Heike und Olli waren hinter mir her, aber sie sind auf dem<br />
Weg weitergerannt. Ich habe sie gerade noch abhängen<br />
können!“, zischte sie aufgeregt.<br />
„Haben sie schon jemand gefangen?“, wollte Hanjo wissen.<br />
„Papa und Marlies auf jeden Fall, die sind schon am Anfang<br />
erwischt worden. Ich glaube, Lara haben sie auch!“<br />
„Wir sollten uns mal zum Pott schleichen, um die Lage zu<br />
peilen“, schlug ich vor.<br />
Hanjo und Meike hatten nichts dagegen. Vorsichtig schaute<br />
ich aus dem Gebüsch auf den Weg. „Es ist niemand zu<br />
sehen“, flüsterte ich, „ihr könnt raus kommen.“<br />
Leise schlichen wir den Weg entlang in Richtung Spielplatz.<br />
„Nach der nächsten Biegung sind wir da. Wir kriechen hier<br />
besser wieder ins Gebüsch. Wenn wir es schaffen unbemerkt<br />
bis zu der Baumgruppe zu kommen, können wir sehen,<br />
wie viele Gefangene sie schon gemacht haben“,<br />
raunte Hanjo. So geräuschlos wie möglich schlichen wir<br />
weiter.<br />
„Wir sind ja die einzigen, die noch frei sind“, wisperte meine<br />
102
Schwester, als wir ankamen, „was sollen wir jetzt machen?“<br />
„Ganz einfach, wir müssen versuchen sie zu erlösen“,<br />
antwortete ich.<br />
„Und wie stellst du dir das vor?“<br />
„Ich hätte da eine Idee“, mischte sich Hanjo ein,. „wir teilen<br />
uns auf und kommen <strong>von</strong> verschiedenen Seiten, um sie zu<br />
überraschen. Und wenn die Gefangenen eine Kette bilden,<br />
können wir sie alle auf einmal befreien.“<br />
„Okay!“, antwortete ich, „am besten ist es, wir beide<br />
schleichen auf die andere Seite des Platzes, du nach<br />
links, ich nach rechts. Sobald wir da sind, renne ich los,<br />
um sie abzulenken. Wenn ich unterwegs bin, startest du<br />
und versuchst die anderen zu befreien. Meike, du bleibst<br />
hier!“<br />
Tief geduckt, auf allen Vieren, kroch ich durchs Unterholz.<br />
Direkt am Boden roch es noch stärker nach Wald, irgendwie<br />
frisch und modrig zugleich. Ich hatte den Eindruck einen<br />
Riesenlärm zu machen. Jeder Zweig, der unter mir<br />
zerbrach, knackte unglaublich laut. Trotzdem schaffte ich<br />
es, unbemerkt auf die andere Seite zu kommen. Olli und<br />
Heike waren nicht da, sie schienen immer noch nach uns<br />
zu suchen. Paula und Pit beobachteten den Weg, aus<br />
dem sie unseren Angriff vermuteten oder auf die Rückkehr<br />
<strong>von</strong> Heike und Olli warteten. <strong>Die</strong> Gefangenen sahen nicht<br />
so aus, als wollten sie <strong>von</strong> uns befreit werden. Im Gegenteil,<br />
sie schienen eine Menge Spaß zu haben. Papa alberte<br />
mit Lara und Marlies herum und Mama und Katja unterhielten<br />
sich. Ich versuchte Meike und Hanjo zu erspähen,<br />
konnte sie aber nicht sehen. Dann stürzte ich mit lautem<br />
Gebrüll aus meinem Versteck und rannte los. „Ihr müsst<br />
eine Kette bilden!“, schrie ich den Gefangenen zu.<br />
„Achtung, sie ist bestimmt nicht alleine!“, rief Paula, die<br />
unseren Plan zu durchschauen schien. Sie rannte mir entgegen<br />
und versuchte mich zu erwischen, während Pit am<br />
Pott stehen blieb und auf die Gefangenen aufpasste. Jetzt<br />
103
krachte es wieder im Unterholz und ich sah Meike und<br />
Hanjo aufspringen.<br />
„Heike, Olli!“, schrie Pit, „ihr müsst zurückkommen, wir<br />
werden angegriffen, Meike, Hannah und Hanjo versuchen<br />
die Gefangenen zu befreien!“<br />
Ich schlug einen Haken, um Paula auszuweichen. Beim<br />
ersten Mal klappte es, aber dann stolperte ich über eine<br />
Wurzel und stürzte.<br />
„Das war’s für dich!“, rief sie, „ab in den Pott!“<br />
Paula rannte sofort weiter, um Pit zu helfen. Während ich<br />
auf dem Boden lag, sah ich, dass die Gefangenen sich tatsächlich<br />
an den Händen gefasst und eine lange Kette gebildet<br />
hatten. So kamen sie Hanjo und Meike ein Stück<br />
entgegen. Hanjo rannte auf sie zu, aber er hatte nicht mit<br />
Paula gerechnet, die sich ihm unbemerkt <strong>von</strong> hinten genähert<br />
hatte. Schon war er gefangen. Aber Meike raste<br />
wie ein kleiner Wirbelwind zum Pott und schaffte es tatsächlich<br />
alle zu erlösen. Mit Triumphgeheul rannten sie<br />
wieder in den Wald.<br />
„So ein Mist, so ein verdammter!“, fluchte Pit laut.<br />
„Ich habe es doch gesagt, Mama und Olli hätten nicht zu<br />
zweit weg gehen dürfen. Das ist zu gefährlich.“<br />
„Tja, unser genialer Angriffsplan hat euch wohl etwas<br />
durcheinander gebracht, was?“, grinste Hanjo.<br />
„Quatsch, wir kriegen sie schon wieder, keine Angst, du<br />
kannst dich jedenfalls für den Rest des Spiels im Pott ausruhen!“<br />
„Abwarten“, meinte Hanjo und verschränkte siegesgewiss<br />
die Arme vor der Brust. Er behielt Recht. Schon kurze Zeit<br />
später wurden wir wieder befreit. Nach etwa zwei Stunden<br />
hatten wir genug und fuhren erschöpft und gut gelaunt zurück<br />
ins Dorf. Über die Galionsfigur sprachen wir kein<br />
Wort. Aber als wir uns trennten, hörte ich, wie Pit Lara zuraunte:<br />
„Bis nachher, ich komme gegen sechs mit dem<br />
Ball bei euch vorbei.“<br />
Ich war gespannt, ob unser Plan funktionierte.<br />
104
Neues <strong>von</strong> Dijkstra<br />
Wim und Henny standen auf der Schafswiese und reparierten<br />
den Zaun, als wir zu unserer Wohnung kamen. Papa<br />
und Mama leisteten ihnen Gesellschaft. Meike und ich<br />
wollten duschen, denn wir fühlten uns ziemlich schmutzig<br />
und verschwitzt.<br />
„Ob die Jungs und Lara bei Dijkstra was herausfinden?“,<br />
fragte Meike, die als erste unter der Dusche stand.<br />
„Ich hoffe es. Vor allen Dingen bin ich gespannt, wer der<br />
jüngere Mann vom Rettungsboot ist. Am besten gehen wir<br />
nach dem Abendbrot noch mal zu Franzens, vielleicht sind<br />
sie dann schon zurück!“<br />
„Gute Idee“, gurgelte Meike hinter dem Duschvorhang.<br />
Plötzlich schrie sie laut auf.<br />
„Was ist los? Was hast du?“<br />
Erschreckt riss ich den Vorhang zur Seite.<br />
„Das Wasser ist plötzlich so kalt. Au, und jetzt wird es total<br />
heiß!“<br />
In Panik sprang sie aus der Dusche. Ich wusste sofort,<br />
woran es lag. Ich hatte mir am Waschbecken die Zähne<br />
geputzt und wenn man den Hahn öffnete, wurde es beim<br />
Duschen plötzlich kalt und dann wieder heiß. Das verriet<br />
ich ihr aber nicht, sonst wäre sie wieder den ganzen<br />
Abend sauer auf mich gewesen.<br />
„Stell dich nicht so an!“, schimpfte ich und prüfte die Temperatur.<br />
„Alles in Ordnung, jetzt beeil’ dich, ich will auch noch duschen!“<br />
Später aßen wir mit Mama und Papa zu Abend.<br />
„Wir wollen nachher noch zu Franzens“, sagte ich.<br />
„Einverstanden!“, antwortete Papa, „vielleicht kommen wir<br />
105
später nach. Ich habe mir eine Zeitung gekauft, die will ich<br />
erst noch lesen.“<br />
„<strong>Die</strong>se Zeitung habe ich gekauft, mein Schatz!“, meinte<br />
Mama.<br />
„Wie kommst du darauf?“, entgegnete er leicht gereizt.<br />
„Ich habe sie mitgebracht, und zwar heute Morgen vom<br />
Bäcker!“<br />
„Und was ist das hier?“<br />
Triumphierend hielt sie ihm ebenfalls eine Zeitung unter<br />
die Nase. Jetzt hatten sie zwei. Meike und ich schauten<br />
uns an, denn wir wussten, was kommen würde. <strong>Die</strong> unvermeidliche‚Wir-müssen-uns-beim-Einkaufen-besser-absprechen-Diskussion’.<br />
Erwachsene können ganz schön<br />
kindisch sein. Für uns war es das Beste, schnell zu verschwinden.<br />
Mama und Papa waren so in ihr Streitgespräch vertieft,<br />
dass sie gar nicht merkten, als wir gingen. Wenigstens<br />
mussten wir jetzt nicht beim Aufräumen helfen.<br />
„Na endlich!“, begrüßte uns Katja.<br />
„Los, wir gehen rüber zur Eisdiele. Ich will wissen, was bei<br />
Dijkstra passiert ist. Pit ist gleich mit dem Spülen fertig,<br />
dann kann er mitgehen.“<br />
„Pit hat gespült? Was ist denn mit dem los?“, fragte ich erstaunt.<br />
„Er hat für die nächsten drei Tage Strafspülen aufgebrummt<br />
bekommen. Lara und Olli übrigens auch.“<br />
In diesem Augenblick kamen Uli und Pit aus der Küche.<br />
„Ah, ist wieder große Kinderversammlung?“, staunte Uli.<br />
„Wir wollen gegenüber noch ein Eis essen“, antwortete<br />
Paula.<br />
„Pit nehmen wir mit, er ist ja mit dem Spülen fertig, oder?“<br />
„Ja, meinetwegen“, brummte er, „Hauptsache, du lässt<br />
den Ball hier, mein Sohn.“<br />
„Klar, Papa, kein Problem. Vorläufig hab’ ich genug vom<br />
Fußballspielen.“<br />
106
Er musste sich das Grinsen etwas verkneifen, aber Uli<br />
schien es nicht zu merken. Wir setzten uns an einen der<br />
großen Holztische. Da Pit, Olli und Lara bis jetzt noch gar<br />
nichts verraten hatten, waren wir alle sehr gespannt.<br />
„Jetzt erzählt schon!“, rief Meike aufgeregt, „ich halte es<br />
nicht mehr aus.“<br />
„Einen Moment“, mischte sich Pit ein, „zuerst wollen wir<br />
ein Eis. Und ich finde, ihr könnt uns einladen, denn es war<br />
unser gemeinsamer Plan und nur Olli, Lara und ich müssen<br />
strafspülen!“<br />
Wir hatten nichts dagegen, Paula und ich gaben die Bestellung<br />
auf.<br />
„Also, jetzt legt los!“, sagte ich, als alle versorgt waren.<br />
„Es war super. Lara hat alles aufgedeckt, wir haben den<br />
Fall gelöst!“<br />
Olli klopfte schon wieder große Sprüche. Wir schauten Lara<br />
erwartungsvoll an. Aber sie reagierte nicht so streng wie<br />
sonst auf seine Angeberei.<br />
„Jetzt lass mich mal erzählen, Olli, schließlich bin ich auch<br />
in Dijkstras Arbeitszimmer gewesen.“<br />
„T’schuldigung“, murmelte er.<br />
„Also, wie verabredet haben wir uns vor Dijkstras Haus getroffen.<br />
Pit brachte den Ball mit und wir schossen ein paar<br />
Mal hin und her. Dabei guckten wir immer wieder durch<br />
sein Fenster.“<br />
„Dann sah ich Dijkstra ins Wohnzimmer kommen“, fuhr Pit<br />
fort, „er setzte sich an den Tisch und ich gab Lara und Olli<br />
ein Zeichen. Das war unsere Chance.“<br />
Olli fiel begeistert ein: „Also nicken wir uns zu, ich lege Pit<br />
den Ball auf und er schießt ein Wahnsinnstor. Der Ball<br />
landet genau auf Dijkstras Wohnzimmertisch, es klirrt wie<br />
irre, überall fliegen Scherben herum. Es war supergeil!“<br />
„Stimmt, ich hab’ ihn wirklich genau mit dem Spann erwischt.<br />
Dijkstra sprang sofort auf und war in Nullkommanichts<br />
draußen.“<br />
107
„So richtig wütend wirkte er gar nicht“, sagte Lara, „er stieß<br />
zwar einen dieser holländischen Flüche aus, blieb aber<br />
sonst ziemlich ruhig. Wir sollten ins Haus kommen, er<br />
wollte wissen, wie wir heißen und wo wir wohnen und so.“<br />
„Wie ging es weiter, was habt ihr denn jetzt rausgefunden?“,<br />
fragte ich ungeduldig.<br />
„Das kann nur Lara erzählen.“<br />
Olli und Pit warfen ihr einen neidischen Blick zu und lehnten<br />
sich zurück.<br />
„Also gut“, fuhr sie fort, „ wir haben natürlich erst mal ganz<br />
brav unsere Namen und Adressen angegeben. Olli ist losgegangen<br />
und hat Papa geholt. Der ist auch sofort gekommen<br />
und hat sich die Bescherung angesehen. Mit<br />
Dijkstra hat er lange geredet und diese ganzen Versicherungsfragen<br />
geklärt. Wir mussten in der Zeit aufräumen.<br />
Sie haben sich sogar ganz gut verstanden. Ihr kennt ja<br />
Papa, wenn er ins Quatschen kommt, kann es schon mal<br />
länger dauern.“<br />
„Richtig“, schaltete sich Olli noch mal ein, „und dann ist<br />
Lara aufs Klo gegangen.“<br />
„Jedenfalls habe ich das gesagt“, fuhr sie lächelnd fort.<br />
„und jetzt kommt es: Ich tat so, als ob ich ins Badezimmer<br />
ginge, schlich die Treppe nach oben, öffnete ein paar Türen<br />
und fand sein Arbeitszimmer. Und da bin ich rein.“<br />
Lara machte eine Pause.<br />
„Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!“<br />
Paula rutschte unruhig auf ihrem Platz hin und her. Ihr Eis<br />
lief in kleinen braunen Streifen an ihrer Hand entlang. Triumphierend<br />
rückte Lara endlich mit der wichtigsten Information<br />
heraus.<br />
„Da stand ein Schreibtisch und darauf lag ein Brief, den<br />
Dijkstra bekommen hatte. Den hatte ein Ruud geschrieben,<br />
und während ich las, wurde es mir klar, das war sein<br />
Sohn.“<br />
108
„Das muss der Typ sein, den Hannah und Meike auf dem<br />
Boot gesehen haben. Aber wieso kannst du einen holländischen<br />
Brief lesen?“, staunte Katja.<br />
„Ich hab’ in der Schule Niederländisch und außerdem eine<br />
holländische Freundin“, antwortete Lara stolz.<br />
„Ruud wollte mehr Geld und hatte einen Vorschlag.“<br />
„Was für einen, erzähl weiter!“, ging ich dazwischen.<br />
„Er schlug seinem Vater einen <strong>Die</strong>bstahl vor. Und was<br />
wollten sie sich wohl unter den Nagel reißen?“<br />
„<strong>Die</strong> Galionsfigur“, murmelte Hanjo versonnen.<br />
„Dijkstras Sohn hatte also die Idee. Aber selbst wenn der<br />
Alte Schulden hat, verstehe ich nicht, wieso ein angesehener<br />
Geschäftsmann wie er sich darauf einlässt“, wunderte<br />
er sich. Lara zuckte mit den Schultern.<br />
„Keine Ahnung, aber eins ist klar. Der Sohn hat den Kontakt<br />
zu Nackenlocke und Walross hergestellt und sie mit<br />
dem <strong>Die</strong>bstahl der Figur beauftragt. <strong>Die</strong> sollten sie in den<br />
Dünen verstecken und dafür einen Teil der Versicherungssumme<br />
bekommen.“<br />
„Aber ich verstehe immer noch nicht, warum die Galionsfigur<br />
jetzt verschwunden ist“, sagte ich.<br />
„Ganz einfach, dieser Ruud schlug seinem Vater vor, nach<br />
dem <strong>Die</strong>bstahl die Figur aus dem Versteck zu holen. Und<br />
dann haben sie Walross und Nackenlocke gegenüber behauptet,<br />
sie sei weg.“<br />
„Also wollten sich die Dijkstras den ehrlich verdienten Ganovenlohn<br />
sparen“, nickte Hanjo.<br />
„Genau, Ruud und Wim wollten nicht bezahlen oder nur<br />
ein bisschen. Deshalb haben wir auch Nackenlocke und<br />
Walross auf der Fähre getroffen. Sie sind nämlich zuerst<br />
abgereist, wahrscheinlich, weil sie den Dijkstras geglaubt<br />
haben. Und als wir sie auf der Fähre trafen, hatten sie’s<br />
sich wieder anders überlegt.“<br />
„<strong>Die</strong>se Volltrottel. Fragt sich, wer jetzt die wahren Ganoven<br />
sind, Dijkstra und Sohn oder Nackenlocke und Walross?“,<br />
meinte Hanjo.<br />
109
„Stimmt“, nickte Lara, „dieser Ruud ist schlauer als Walross<br />
und Nackenlocke zusammen. Wisst ihr, wie er seinen<br />
Vater gezwungen hat mitzumachen?“<br />
Wir zuckten mit den Schultern.<br />
„Er drohte ihm auf <strong>Ameland</strong> zu erzählen, Wim sei ein<br />
Rauschgifthändler.“<br />
„Stimmt das denn?“, fragte Meike jetzt verständnislos.<br />
„Keine Ahnung, aber vielleicht weiß Jaap mehr, er wollte ja<br />
mit seinem Polizistenfreund sprechen.“<br />
„Aber wo ist denn jetzt diese verdammte Figur?“, wollte<br />
Hanjo endlich wissen.<br />
„Sie ist...“, Lara schaute uns stolz an. „unter einer Bank<br />
auf dem Platz vergraben, auf dem wir heute Nachmittag<br />
gespielt haben.“<br />
„Das heißt, wir haben über der Galionsfigur gespielt ohne<br />
es zu wissen?“<br />
Ich konnte es kaum glauben. Lara, Pit und Olli nickten.<br />
„Das ist ein Ding!“<br />
Hanjo schüttelte den Kopf.<br />
„Aber was machen wir jetzt?“<br />
„Ganz einfach“, jubelte Olli, „wir gehen heute Nacht in den<br />
Wald und holen sie uns. Dann haben wir den Fall gelöst<br />
und kassieren vielleicht noch eine fette Belohnung.“<br />
„<strong>Die</strong> Idee ist gar nicht so schlecht“, überlegte Katja, „denn<br />
wenn die Dijkstras die Figur aus ihrem Versteck holen<br />
würden, müssten wir ja mit der Suche wieder <strong>von</strong> vorne<br />
anfangen.“<br />
Das leuchtete mir zwar ein, aber ich hatte keine Lust, bei<br />
Dunkelheit im Hollumer Wald herumzulaufen.<br />
„Wie stellst du dir das vor“, fragte ich deshalb, „sollen wir<br />
versuchen heute Nacht abzuhauen?“<br />
„Ja genau, das ist supercool, das machen wir, unsere Eltern<br />
merken das sowieso nicht, Papa schläft doch wie ein<br />
Stein. <strong>Die</strong> Superdetektive ...!“<br />
Olli schien mal wieder auszuflippen.<br />
110
„Halts Maul!“ Sofort fiel Lara ein, dass sie ihm eigentlich<br />
versprochen hatte es nicht mehr zu sagen.<br />
„Tut mir leid!“, entschuldigte sie sich, „aber wenn du hier<br />
so rumschreist, weiß es gleich ganz <strong>Ameland</strong>.“<br />
Er verschränkte die Arme vor der Brust, sagte aber nichts.<br />
„Also suchen wir heute Nacht im Wald nach der Figur?“<br />
Katja sah uns an. Alle nickten, ich auch, obwohl ich Bedenken<br />
hatte. Erstens hatte Mama einen sehr leichten<br />
Schlaf und ich wusste nicht, ob wir wirklich unbemerkt das<br />
Haus verlassen konnten, zweitens hatte ich so was noch<br />
nie gemacht und drittens hatte ich einfach Angst.<br />
„Dann treffen wir uns um zwei Uhr am Ortsausgang. Am<br />
Besten gehen wir jetzt nach Hause, damit wir noch etwas<br />
Schlaf bekommen!“<br />
Katja wirkte ziemlich entschlossen.<br />
Auf dem Heimweg sprachen Meike und ich kein Wort. Ich<br />
überlegte, wie wir heute Nacht nach draußen schleichen<br />
könnten. Trotz meiner Angst wollte ich schließlich dabei<br />
sein. Kurz vor unserem Haus zog Meike an meinem<br />
Ärmel.<br />
„Ich weiß nicht, ob ich wirklich mitgehen soll. Ich hab’<br />
Schiss. Was ist, wenn wir verschlafen und zu spät zum<br />
Treffpunkt kommen? Wir haben doch keinen Wecker.“<br />
Daran hatte ich zwar auch schon gedacht, aber ich nahm<br />
Meikes Hand und spielte die große Schwester.<br />
„Wir schaffen das schon, wir schlafen einfach abwechselnd.<br />
Angst hab’ ich auch, aber die anderen sind ja dabei,<br />
was soll schon passieren.“<br />
Ich schaute auf die Uhr.<br />
„Es ist jetzt viertel nach zehn. Wenn wir gleich ins Bett gehen,<br />
können wir noch fast dreieinhalb Stunden schlafen.<br />
Willst du zuerst wach bleiben oder soll ich?“<br />
Meike überlegte nicht lange.<br />
„Lass mich, ich kann jetzt sowieso nicht schlafen!“<br />
111
„Gut, weck’ mich um viertel nach zwölf, dann übernehme<br />
ich die Wache!“<br />
Mama und Papa waren doch nicht mehr zu Franzens gegangen.<br />
Sie saßen im Wohnzimmer und lasen. Ihren Streit<br />
schienen sie beendet zu haben.<br />
„Gut, dass ihr jetzt kommt“, meinte Papa und gähnte herzhaft,<br />
„ich wollte euch gerade abholen. Wahrscheinlich haben<br />
wir heute Nachmittag zu lange Pott-erlösen gespielt,<br />
ich bin richtig müde.“<br />
„Wir auch“, sagte ich. Meike nickte heftig.<br />
„Wirklich?“, staunte Mama. Ich biss mir auf die Zunge, ich<br />
hätte an Meikes Tick niemals müde zu werden, denken<br />
müssen. Aber sie wusste jetzt, worauf es ankam.<br />
„Doch, doch!“, sagte sie.<br />
„Ich bin richtig fertig <strong>von</strong> heute Nachmittag. Bei Franzens<br />
bin ich schon fast eingeschlafen.“<br />
„Das liegt bestimmt an der guten Seeluft“, lächelte Mama,<br />
„also dann schlaft gut, ihr beiden.“<br />
Wir gingen nach oben. Erst jetzt fiel mir auf, wie laut die<br />
Treppenstufen knarrten.<br />
„Wie sollen wir hier heute Nacht nach unten kommen, ohne<br />
dass Mama und Papa etwas merken?“, flüsterte ich<br />
Meike zu.<br />
„Wir müssen ausprobieren, welche Stufen am wenigsten<br />
knarren“, antwortete sie. Wir taten also so, als müssten wir<br />
noch mal auf die Toilette oder hätten etwas vergessen und<br />
gingen die Treppe mehrmals hinauf und hinunter. Es war<br />
am Besten die Stufen nur am Rand zu betreten, da knarrten<br />
sie fast gar nicht.<br />
Als wir im Bett lagen, ging es mir wie Meike. Ich hatte das<br />
Gefühl, überhaupt nicht einschlafen zu können. Irgendwann<br />
merkte ich, dass mich jemand heftig schüttelte.<br />
„Du musst jetzt wach bleiben!“, wisperte Meike, „ich bin<br />
dran mit schlafen!“<br />
„Das stimmt nicht“, murmelte ich, „ich darf doch bis viertel<br />
nach zwölf!“<br />
112
„Was glaubst du, wie spät es jetzt ist?“, raunte Meike und<br />
zeigte mir das Zifferblatt meiner Armbanduhr. Ich setzte<br />
mich hin und rieb mir die Augen.<br />
„Das gibt’s doch gar nicht! Ich dachte, ich wäre gerade<br />
erst eingeschlafen!“<br />
Aber Meike hatte sich schon umgedreht und antwortete<br />
nicht mehr. Jetzt musste ich versuchen, wach zu bleiben.<br />
Es fiel mir leichter als ich dachte, denn ich spürte meine<br />
wachsende Aufregung. Gegen viertel vor zwei weckte ich<br />
Meike. Leise zogen wir uns an und schlichen wie abgesprochen<br />
die Treppe hinunter. Kurz vor der letzten Stufe<br />
passierte es. Wahrscheinlich war ich nicht vorsichtig genug,<br />
jedenfalls knarrte es laut. Meike drehte sich um und<br />
sah mich böse an. Ich erstarrte, in meinem Kopf raste es.<br />
Was sollte ich Mama sagen, wenn sie aufsteht und uns<br />
hier angezogen auf dem Weg nach draußen sieht? Aber<br />
es rührte sich nichts, Papa schnarchte. Wir blieben eine<br />
Weile still stehen und horchten in die Dunkelheit. Dann<br />
schlichen wir weiter. Jetzt mussten wir nur noch den<br />
Schlüssel der Wohnungstür umdrehen und die Tür so geräuschlos<br />
wie möglich öffnen, es klappte. Meinen Patzer<br />
auf der Treppe hatte ich wieder gut gemacht. Aufatmend<br />
standen wir endlich draußen, gingen zu unseren Rädern<br />
und schoben sie vorsichtig vom Hof.<br />
„Puh, das wäre geschafft“, entfuhr es mir. Meike nickte.<br />
Schweigend fuhren wir zu unserem Treffpunkt.<br />
113
<strong>Die</strong> Nacht im Wald<br />
„Na, seid ihr auch schon da?“<br />
Hanjo grinste uns an.<br />
„Hör bloß auf zu meckern, schließlich hatten wir genug Arbeit<br />
damit dich überhaupt wach zu kriegen!“, kam Katja<br />
uns zu Hilfe.<br />
„Wir haben ihm sogar einen Becher Wasser ins Gesicht<br />
geschüttet, sonst hätte er einfach weiter gepennt, der<br />
Schnarchhahn.“<br />
„Ja, ja, schon gut“, murmelte Hanjo, „wir müssen los, sonst<br />
wird es nachher hell und wir stehen hier immer noch herum!“<br />
Am Hollumer Wald folgten wir zu Fuß dem weichen, mit<br />
Tannennadeln bedeckten Weg in die Dunkelheit hinein.<br />
Ich war froh, als Meike nach meiner Hand fasste. Hanjo<br />
und Pit gingen mit einer Taschenlampe voran. Wenn sie<br />
den Lichtstrahl nach oben richteten, konnten wir an den<br />
langen Stämmen der Kiefern hochsehen. Sie kamen mir<br />
vor wie eine Armee riesiger Soldaten, die in Reih und<br />
Glied auf den Feind warten.<br />
„Das sieht echt unheimlich hier aus“, flüsterte ich Meike<br />
zu. Auf einmal knackte es neben uns im Unterholz. <strong>Die</strong><br />
Jungs blieben stehen und leuchteten in die Richtung, aus<br />
der das Geräusch kam. Meike und ich zuckten zusammen,<br />
ich spürte, wie sie meine Hand krampfhaft festhielt. Vor<br />
uns glühten zwei große, feurige Punkte. Ich schrie auf:<br />
„Hilfe, was ist das?“<br />
Dann sah ich im Zickzackkurs etwas auf dem Waldweg<br />
da<strong>von</strong> rennen. Hanjo lachte.<br />
„Das war ein Hase, der hatte größere Angst vor euch als<br />
ihr vor ihm.“<br />
114
„Sehr witzig!“, fauchte ich, „das hätte euch auch passieren<br />
können!“<br />
Aber ein bisschen schämte ich mich für meine Schreckhaftigkeit.<br />
Wir gingen weiter. Endlich lag der Platz, auf dem<br />
wir gestern Nachmittag noch gespielt hatten, still und ruhig<br />
im silbernen Mondlicht vor uns.<br />
„Was stand jetzt in dem Brief, wo haben sie die Figur versteckt?“,<br />
fragte Paula. Lara sah sich suchend um.<br />
„Unter einer Bank, aber hier sind ja sechs Bänke.“<br />
„Macht nichts“, meinte Olli, „wir teilen uns auf und buddeln<br />
unter allen gleichzeitig.“<br />
„Und wie stellst du dir das vor ohne Spaten?“, fragte ich.<br />
Katja schaute jetzt Hanjo an.<br />
„Hast du Papas Klappspaten vergessen?“<br />
„Daran hättest du mich ruhig erinnern können!“, fuhr er<br />
auf.<br />
„So ein Mist, nur weil du nicht mitdenken kannst, müssen<br />
wir jetzt mit den Händen buddeln!“<br />
Ich blitzte Hanjo böse an. Jetzt konnte ich ihm das Jungengetue<br />
<strong>von</strong> vorhin heimzahlen.<br />
„Hört auf zu streiten“, mischte sich Katja wieder ein, „wir<br />
machen’s so wie Olli gesagt hat. Hannah, du suchst mit<br />
Meike unter der ersten Bank, Olli und Lara, ihr geht zur<br />
nächsten und wir gehen zu den Bänken auf der anderen<br />
Seite. Wer was gefunden hat, meldet sich!“<br />
Zuerst versuchten Meike und ich festzustellen, ob man<br />
vielleicht schon auf den ersten Blick erkennen konnte,<br />
dass hier jemand etwas vergraben hatte. Aber wir sahen<br />
nichts Auffälliges.<br />
„Am besten reißen wir erst mal das Gestrüpp weg“, schlug<br />
ich vor, „dann können wir besser buddeln, darunter ist ja<br />
nur weicher Sandboden.“<br />
Während wir gruben, schaute ich immer wieder zu den<br />
anderen. Alle hatten mit der Arbeit begonnen. „Hier ist<br />
nichts!“, raunte Meike mir zu. Unser Loch war schon ziemlich<br />
tief.<br />
115
Plötzlich hörten wir Pit rufen.<br />
„Ich glaube ich habe sie, hier liegt was, kommt rüber!“<br />
Wir rannten zu ihm.<br />
„Schaut euch das an. Hier liegt doch eine Kiste!“<br />
Er hatte den Deckel einer dunklen Holzkiste freigelegt und<br />
klopfte ein paar Mal kräftig mit der Faust drauf.<br />
„Das muss sie sein. Gib mal dein Taschenmesser, Katja!“<br />
Mir klopfte das Herz bis zum Hals, hatten wir die Figur<br />
wirklich gefunden? Pit versuchte den Deckel <strong>von</strong> der Kiste<br />
zu lösen.<br />
„Mist, da sind ganz schön große Nägel drin!“<br />
Immer wieder setzte er das Messer an, um ihn abzuhebeln,<br />
aber es tat sich nichts. Plötzlich stand Olli mit einem<br />
dicken Stein hinter uns.<br />
„Geht mal weg“, sagte er, „mit dem Messer kommen wir ja<br />
nicht weiter.“<br />
Wir traten zur Seite, und bevor wir ihn daran hindern konnten,<br />
schleuderte er mit aller Kraft den Stein auf die Kiste.<br />
Jetzt war zwar ein Loch im Deckel, aber wahrscheinlich<br />
hatte ganz <strong>Ameland</strong> den Lärm gehört.<br />
„Bist du verrückt?“, schimpfte Lara, aber dann sahen wir in<br />
der Kiste etwas rot und grün schimmern. Vorsichtig begann<br />
Olli das zersplitterte Holz zu entfernen.<br />
„Wie sieht die denn aus?“, meinte Meike ungläubig. <strong>Die</strong><br />
Jungens kicherten, denn die Galionsfigur war eine Frau<br />
mit langen, feuerroten Haaren. Sie trug ein grünes Kleid<br />
mit einem so großen Ausschnitt, dass man eine ihrer<br />
Brüste sehen konnte. <strong>Die</strong> linke Hand streckte sie zum Siegeszeichen<br />
nach vorne, in der rechten hielt sie eine kleine<br />
Kugel oder einen Apfel, den sie an ihre Brust drückte.<br />
„Und danach haben wir jetzt die ganze Zeit gesucht?“,<br />
fragte Paula entgeistert. Hanjo schaute sich die Figur genau<br />
an.<br />
„<strong>Die</strong> sieht doch super aus. Ich finde, es hat sich gelohnt.<br />
Aber wie kriegen wir sie hier weg?“<br />
116
117
Wir waren ratlos. Wir hätten sie zwar zusammen bis zum<br />
Waldrand tragen können, aber für den ganzen Weg nach<br />
Hause war sie zu schwer.<br />
„Am Besten rufen wir jetzt Jaap an!“, schlug ich vor.<br />
„Weißt du wie spät es ist?“ Hanjo schüttelte den Kopf.<br />
„Blödmann“, dachte ich, „gestern Nachmittag sagt er mir<br />
was Nettes, und jetzt ist er die ganze Zeit gemein. Jungens<br />
sind schon komisch.“<br />
„Hannah hat Recht!“, unterstützte mich Paula, „wir sollten<br />
auf jeden Fall Jaap anrufen, egal wie spät es ist. Wir brauchen<br />
sein Auto!“<br />
„Gut!“, sagte Katja, „dann sag ihm Bescheid!“<br />
Paula wählte seine Nummer. Es dauerte eine ganze Weile,<br />
bis er ans Telefon ging. Wir konnten alles verstehen,<br />
weil sie ihr Handy auf ‚Mithören’ gestellt hatte.<br />
„Met Jaap Mathijsen“, meldete er sich verschlafen.<br />
„Ich bin es, Paula. Hör mal, Jaap, wir haben die Galionsfigur<br />
gefunden. Wir sind hier im Wald, sie liegt direkt vor<br />
uns.“<br />
„Waaas?“<br />
Jetzt war er hellwach.<br />
„Wo seid ihr genau? Wie sieht sie aus? Ist sie in Ordnung?“<br />
Paula erklärte ihm alles.<br />
„Ich fasse es nicht!“, hörten wir ihn jetzt wieder.<br />
„Passt auf, ich komme, ich bin in einer halben Stunde da<br />
und bringe Gerrit mit, der muss sich das auch angucken.<br />
Bitte fasst sie jetzt nicht weiter an!“<br />
Er legte auf.<br />
„Bin gespannt, was dieser Polizist zu unserer Entdeckung<br />
sagen wird“, meinte Hanjo.<br />
Wir setzten uns auf die Bänke und kuschelten uns ein<br />
bisschen aneinander. Inzwischen war es kühl geworden,<br />
und ich spürte meine Müdigkeit. Den anderen ging es<br />
auch so, keiner <strong>von</strong> uns sprach ein Wort. Ab und zu<br />
schlich sich ein Gähnen in unsere Gesichter.<br />
118
Endlich hörten wir Stimmen und sahen den Schein einer<br />
Taschenlampe. Das mussten sie sein.<br />
„Was macht ihr verrückten Kinder bloß für Sachen“, schüttelte<br />
Jaap den Kopf, als sie vor uns standen. Der andere<br />
Mann trug die typisch blaue Uniform holländischer Polizisten.<br />
„Das ist mein Freund Gerrit“, sagte Jaap, „aber wo ist jetzt<br />
die Figur?“<br />
Wir zeigten ihm die Kiste.<br />
„God verdomme, Kinder, ihr habt meine Marijke tatsächlich<br />
gefunden!“, rief er begeistert. Liebevoll tätschelte er ihr<br />
die Wangen und flüsterte Gerrit ein paar holländische<br />
Worte zu. „Ich bin so froh, sie zurück zu haben. Woher<br />
wusstet ihr denn, dass sie hier versteckt ist?“, fragte er<br />
uns. Schnell berichteten wir das Wichtigste. Von Meikes<br />
und meinen Beobachtungen auf dem Rettungsboot, dem<br />
Besuch bei Dijkstra zu Hause und dem Plan, noch in der<br />
Nacht nach der Figur im Wald zu suchen.<br />
„Das war eine gute Idee <strong>von</strong> euch“, sagte Jaap schließlich.<br />
Gerrit nickte zustimmend.<br />
„Ich weiß zwar nicht, was eure Eltern dazu sagen, wenn<br />
sie zu Hause eure leeren Betten entdecken, aber es hat<br />
sich in jedem Falle gelohnt, schnell etwas zu unternehmen.<br />
Als Polizist hätte ich auch nicht anders gehandelt.<br />
Und jetzt passt auf, Jaap und ich müssen euch noch etwas<br />
erzählen!“<br />
„Dijkstra wurde <strong>von</strong> seinem Sohn Ruud unter Druck gesetzt“,<br />
fuhr er fort, „ich glaube, er hätte sich sonst auf diese<br />
Sache bestimmt nicht eingelassen. Ruud hat ihm nicht<br />
nur den Brief geschrieben, den du gelesen hast, sondern<br />
ihn immer wieder telefonisch und durch SMS um Geld angebettelt.<br />
Er ist nämlich in Amsterdam in Drogenkreisen<br />
ziemlich bekannt. Meine Kollegen haben ihn dort schon<br />
lange unter Beobachtung.“<br />
119
„Steckt der alte Dijkstra mit ihm unter einer Decke, hat er<br />
auch was mit Rauschgift zu tun?“, fragte Meike.<br />
„Nein, glücklicherweise nicht. Ruud hat ihn gezwungen<br />
mitzumachen.“<br />
„Wissen wir schon“, sagte Lara stolz, „das stand in dem<br />
Brief, den ich gelesen hab’.“<br />
„Stimmt ja“, lächelte Gerrit, „dann ist euch natürlich auch<br />
klar, dass Wim Dijkstra als Geschäftsmann erledigt wäre,<br />
wenn die Ameländer ihn für einen Rauschgifthändler hielten.<br />
Wahrscheinlich hofft er, seinen Sohn mit dem Geld für<br />
die Figur endlich loswerden zu können. Ich habe zu Tieneke,<br />
seiner Frau in Leeuwarden, Kontakt aufgenommen.<br />
Sie weiß schon länger <strong>von</strong> Ruud. <strong>Die</strong> vielen Nachrichten<br />
und Briefe waren ihr nicht verborgen geblieben. Sie wusste,<br />
dass Dijkstra, lange bevor die beiden geheiratet hatten,<br />
eine unglückliche Beziehung zu einer Frau vom Festland<br />
hatte. Sie haben sich aber bald wieder getrennt und sie ist<br />
nach Amsterdam gezogen. Aus dieser Beziehung ist Ruud<br />
entstanden, aber Wim hat nie etwas da<strong>von</strong> erfahren. Später<br />
ist die Frau in Amsterdam durch einen Autounfall ums<br />
Leben gekommen. Na ja, und dann begann irgendwann<br />
Ruuds traurige Karriere als Drogensüchtiger. Um das alles<br />
zu finanzieren, hat er Kontakt zu seinem Vater aufgenommen<br />
und ihn nach und nach unter Druck gesetzt.“<br />
„Also hat Dijkstra eigentlich versucht seinem Sohn zu helfen“,<br />
sagte ich.<br />
„Ja“, fuhr Gerrit fort, „aber es ändert nichts daran, dass er<br />
sich auf eine kriminelle Tat eingelassen hat. Wim ist wahrscheinlich<br />
bis heute nicht klar, wie tief Ruud schon gesunken<br />
ist. Er hat seinem Vater zwar versprochen, ihn in Ruhe<br />
zu lassen, wenn alles klappt, aber mit Geld ist Ruud<br />
nicht mehr zu helfen. Und genau das müssen wir Wim klar<br />
machen.“<br />
„Deshalb brauchen wir auch noch einmal eure Hilfe“,<br />
schaltete sich Jaap ein.<br />
120
Ich kämpfte schon eine ganze Weile gegen die Müdigkeit,<br />
aber jetzt wurde ich wieder hellwach.<br />
„Was habt ihr denn vor?“, fragte ich.<br />
„Kurz gesagt geht es darum, den Dijkstras vorzumachen,<br />
Walross und Nackenlocke hätten sich die Figur zurückgeholt.“<br />
„Wie soll das funktionieren?“, wollte Katja wissen.<br />
„Indem wir ihnen einen Brief schreiben, dass wir, also Nackenlocke<br />
und Walross, endlich unseren noch ausstehenden<br />
Anteil haben wollen. Galionsfigur gegen Geld sozusagen.“<br />
„Aber Dijkstra hat doch gesehen, dass die beiden Gauner<br />
auf die Fähre gegangen sind“, sagte ich.<br />
„Stimmt“, entgegnete Gerrit, „aber er hat ihre Abfahrt nicht<br />
abgewartet. Sie könnten es sich ja wieder anders überlegt<br />
haben. Das wäre ja nicht das erste Mal.“<br />
„Und was soll das bringen? Eigentlich kannst du sie doch<br />
jetzt schon festnehmen, bei den Beweisen“, meinte Hanjo.<br />
„Wir hoffen, dass der Schock einer Festnahme durch die<br />
Polizei in Anwesenheit <strong>von</strong> Zeugen Wim dazu bringt alles<br />
freiwillig zu gestehen. Vor Gericht könnte er dann mit einer<br />
milderen Strafe rechnen. Wenn Gerrit ihn nämlich mühsam<br />
verhören müsste, würde Dijkstra wahrscheinlich<br />
nichts sagen, er kann ein ziemlicher Dickkopf sein. Und<br />
dann muss er sehr lange ins Gefängnis“, erklärte Jaap.<br />
„Genau“, nickte Gerrit, „deshalb wollen wir Wim und Ruud<br />
in dem Brief vorschlagen die Figur morgen um Mitternacht<br />
am Leuchtturm zu übergeben. Und dabei greifen wir noch<br />
mal tief in die Ameländer Gruselkiste.“<br />
„Hört sich gut an“, gähnte Pit, „aber erzähl’ uns den Rest<br />
morgen, ich muss dringend ins Bett.“<br />
„Na gut, es wird sowieso Zeit für euch, nach Hause zu fahren.<br />
Am besten treffen wir uns um fünf im Strandcafe. Wir<br />
bringen euch jetzt zurück nach Hollum.“<br />
„Tolle Idee“, murmelte Olli, stand auf und taumelte schlaftrunken<br />
in Richtung Waldrand. Wir folgten ihm. Jaap und<br />
121
Gerrit trugen die Kiste mit der Figur. Der Weg durch den<br />
Wald war jetzt nicht mehr aufregend, denn wir waren zu<br />
müde, um noch vor irgendetwas Angst zu haben. Außerdem<br />
dämmerte es schon, so dass wir auch ohne Taschenlampe<br />
ganz gut sehen konnten.<br />
Ich weiß nicht genau, wie wir es geschafft haben, aber<br />
Meike und ich kamen unbemerkt ins Haus. Papa lag im<br />
Bett und schnarchte immer noch, <strong>von</strong> Mama hörten wir<br />
nichts, also schlief sie wohl auch fest. Wir schlichen die<br />
Treppe hinauf. <strong>Die</strong>smal knarrte sie gar nicht, endlich konnten<br />
wir uns in unsere Betten kuscheln. Ganz weit weg hörte<br />
ich noch die Kirchturmuhr schlagen, dann schlief ich<br />
ein.<br />
122
<strong>Die</strong> Rache des Kapitäns<br />
Irgendetwas kitzelte mich. Ich dachte zuerst an eine Fliege,<br />
aber Papa saß an meinem Bett und berührte mit seinem<br />
Finger meine Nasenspitze. Ich wischte mit der Hand<br />
über mein Gesicht und blinzelte vorsichtig ins Tageslicht.<br />
„Hallo, meine Große, guten Morgen, willst du nicht langsam<br />
aufstehen?“<br />
<strong>Die</strong> Sonne schien schon durch das Dachfenster unseres<br />
Zimmers.<br />
„Wie spät ist es denn?“, murmelte ich.<br />
„Mittlerweile schon halb zwei nachmittags. Eigentlich ist<br />
der Tag schon halb vorüber“, meinte Papa mit sanfter<br />
Stimme. Ich setzte mich auf.<br />
„Wo ist Meike?“<br />
„<strong>Die</strong> ist schon unten. Aber lange ist sie auch noch nicht<br />
wach.“<br />
„Warum hast du mich denn nicht eher geweckt?“<br />
„Habe ich ja versucht.“<br />
Papas Lächeln kam mir irgendwie verdächtig vor. Wusste<br />
er etwas <strong>von</strong> der letzten Nacht? Ich wollte auf Nummer sicher<br />
gehen. Schnell sprang ich aus dem Bett, zog ein<br />
Sweatshirt über und ging nach unten in die Küche. Meike<br />
saß mit Mama am Tisch. Beide sahen mich an und Mama<br />
lächelte genauso wie Papa. Jetzt war ich sicher, irgendetwas<br />
wussten sie über unsere Nachtwanderung. Ob Meike<br />
geplaudert hatte?<br />
„Da kommt ja die zweite Nachtschwärmerin!“, begrüßte<br />
mich Mama. Ich schaute meine Schwester böse an, sie<br />
zuckte mit den Schultern.<br />
„Ich kann nichts dafür“, murmelte sie.<br />
„Jetzt setz dich erst mal hin!“, meinte Mama. Mein Herz<br />
klopfte, ich war gespannt, was jetzt passieren würde.<br />
123
„Ich habe heute Morgen ein sehr langes Telefongespräch<br />
mit Jaap geführt. Da habt ihr noch fest geschlafen. Mit mir<br />
hat er übrigens als Dritte gesprochen. Marlies, Rainer, Uli<br />
und Heike wissen also auch Bescheid.“<br />
Papa war inzwischen auch in die Küche gekommen.<br />
„Dass ihr nachts einfach aufsteht und euch auf so gefährliche<br />
Abenteuer einlasst. Was habt ihr euch dabei gedacht?<br />
Wenn euch dabei etwas passiert wäre!“<br />
Er schüttelte heftig den Kopf, musste aber gleichzeitig ein<br />
bisschen grinsen.<br />
„Also…“, begann ich zögernd, „wir haben uns schon etwas<br />
dabei gedacht.“<br />
„Genau!“, mischte Meike sich ein, „wir mussten heute<br />
Nacht nämlich nach der Figur suchen!“<br />
Ich trat gegen ihr Schienbein.<br />
„Du brauchst deine Schwester nicht zu treten. Ich habe ja<br />
schon gesagt, dass ich mit Jaap telefoniert habe. Er hat<br />
mir alles erzählt, wir sind also völlig auf dem Laufenden.“<br />
„Ja, und, Mama, was sagst du dazu?“, begann Meike jetzt<br />
wieder.<br />
„Ist doch super, was wir alles herausgefunden haben,<br />
oder?“<br />
Jetzt wartete ich gespannt auf ihre Antwort. Aus dem Augenwinkel<br />
konnte ich beobachten, wie Papa ihr leicht zunickte.<br />
„Ja“, setzte Mama zögernd wieder ein, „im Prinzip sind<br />
Papa und ich beeindruckt und...“<br />
Papa nahm ihr das Wort aus dem Mund: „… und deshalb<br />
haben wir beschlossen, euch zu helfen. Ein bisschen Abenteuer<br />
gibt unseren Ferien schließlich eine ganz neue<br />
Note.“<br />
„Echt jetzt?“, entfuhr es Meike. Auch ich starrte ihn ungläubig<br />
an.<br />
„Was meinst du damit, was habt ihr denn vor?“, wollte ich<br />
wissen. Mama kam ihm zuvor.<br />
124
„Ich habe Jaap am Telefon übrigens sehr deutlich meine<br />
Meinung gesagt. Ich fand es unmöglich <strong>von</strong> ihm, uns <strong>von</strong><br />
all dem nichts zu erzählen. Als Museumsdirektor hat er<br />
völlig unverantwortlich gehandelt!“<br />
Papa versuchte zu beschwichtigen.<br />
„Mama hat natürlich recht, eigentlich wollten wir euch jeden<br />
weiteren Kontakt zu Jaap verbieten. Aber da er ein<br />
netter Mann ist, haben wir Eltern es uns anders überlegt.“<br />
Ich atmete tief durch.<br />
„Aber wie seid ihr überhaupt darauf gekommen?“, wollte<br />
Meike wissen.<br />
„Und wie wollt ihr uns denn jetzt helfen?“, schob ich nach.<br />
„Jaap hat uns <strong>von</strong> seinem Plan schon kurz erzählt“, fuhr<br />
Papa fort, „es geht ja darum, Dijkstra und seinen Sohn<br />
heute Nacht zum Reden zu bringen. Um vier werden wir<br />
ihn bei den Münstermännern treffen, dann will er uns zusammen<br />
mit dem Polizisten alles genau erklären.“<br />
„Wir sind eigentlich gar nicht <strong>von</strong> selbst drauf gekommen“,<br />
sagte Mama jetzt wieder zu Meike, „Jaap hat <strong>von</strong> sich aus<br />
angerufen. Und das wurde auch höchste Zeit, kann ich nur<br />
sagen!“<br />
„Schade“, murmelte Meike.<br />
„Ihr werdet noch froh sein, uns mit im Boot zu haben“,<br />
stellte Papa fest.<br />
Ich war erleichtert, dass Jaap Mama und Papa eingeweiht<br />
hatte. Aber ich verstand nicht, wofür er die Erwachsenen<br />
brauchte.<br />
<strong>Die</strong> Zeit bis vier Uhr verging reichlich langsam, wir gingen<br />
noch nach draußen und besuchten ‚Gelbes P’.<br />
Endlich war es aber soweit. Olli und Pit spielten auf dem<br />
Rasen Fußball, als wir bei den Münstermännern eintrafen.<br />
„Seid bloß vorsichtig“, rief Uli leicht irritiert, als Pit den Ball<br />
kerzengerade in die Luft schoss, „ich will nicht schon wieder<br />
eine zerbrochene Fensterscheibe bezahlen!“<br />
125
„Meine Güte, Papa, ich hab’ jetzt schon tausend Mal erklärt,<br />
warum das zu unserem Plan gehörte. Hör endlich<br />
auf zu nerven!“<br />
„Ja, ja, ist schon gut!“<br />
Uli zuckte mit den Schultern und lächelte uns entschuldigend<br />
an.<br />
„Der Bursche macht es mir nicht einfach“, murmelte er<br />
mehr zu sich selbst.<br />
„Wem sagst du das“, stöhnte Papa mit einem Seitenblick<br />
auf Meike und mich.<br />
„Jetzt lasst uns nicht mehr über die Nachtwanderung reden“,<br />
schlug Rainer vor. Er wandte sich an Jaap und Gerrit:<br />
„Ich bin sicher, alle sind neugierig, wie euer Plan aussieht.<br />
Also, mein Lieber, lass hören, worum geht es genau?“<br />
Jaap unterbrach sein Gespräch mit unseren Müttern und<br />
räusperte sich.<br />
„Den Kindern habe ich es ja schon gesagt, ich bin sehr<br />
froh über ihre Hilfe. Ich glaube, ohne sie wären wir nicht so<br />
weit, wie wir jetzt sind. Und...“, er schaute jetzt Rainer an,<br />
„ich bin auch froh, euch Eltern endlich eingeweiht zu haben,<br />
denn ab und zu hatte ich doch ein schlechtes Gewissen.“<br />
„Ich finde es doof, dass sie jetzt mitmachen!“, rief Olli, „wir<br />
hätten den Rest auch allein geschafft.“<br />
„Genau“, stimmte Lara zu, „ich würde den Fall lieber ohne<br />
euch zu Ende bringen. Bis jetzt sind wir doch auch gut klar<br />
gekommen!“<br />
Olli schien es kaum zu glauben. Kein ‚Halts Maul, Olli!’ ,<br />
kein Meckern.<br />
„Was ist los mit dir?“, murmelte er, „bist du krank?“<br />
Jaap sagte lächelnd: „Ich glaube, Lara war einfach nur<br />
deiner Meinung. Du wirst dich daran gewöhnen müssen.“<br />
Rainer und Marlies schauten sich verwundert an. Wahrscheinlich<br />
hatten Lara, Olli und Paula <strong>von</strong> dem Streit nach<br />
der Nacht im Oerd noch gar nichts erzählt.<br />
126
„Aber jetzt will ich erklären, warum wir die Eltern brauchen“,<br />
kam Jaap zurück zum Thema.<br />
„Gerrit und ich haben nach einem Weg gesucht, Wim<br />
Dijkstra da<strong>von</strong> zu überzeugen, aus der Sache auszusteigen.<br />
Er muss begreifen, dass es so nicht weitergeht. Wie<br />
ihr wisst, sind die meisten Ameländer ein bisschen abergläubisch.<br />
Sie haben großen Respekt vor Sagengestalten<br />
und Märchenfiguren.“<br />
„Eben!“, sagte jetzt Gerrit, „deshalb soll es heute Nacht zur<br />
‚Rache des Kapitäns’ kommen.<br />
„Ach so“, sagte Hanjo jetzt etwas enttäuscht, „und weil den<br />
niemand <strong>von</strong> uns spielen kann, braucht ihr unsere Eltern.“<br />
Er schaute seinen Vater an.<br />
„Wie wär’s mit dir, Papa?“ Uli schüttelte den Kopf.<br />
„Nicht so schnell, erst will ich wissen, worum es geht!“<br />
„Also gut“, Jaap machte es sich auf einem Stuhl bequem.<br />
„Dann hört zu! <strong>Die</strong> meisten Ameländer kennen die Geschichte<br />
übrigens.“<br />
„Vor vielen Jahrhunderten befuhr ein Handelsschiff die<br />
Nordsee und versorgte die Bewohner der westfriesischen<br />
Inseln mit Gütern. So transportierte es Waren <strong>von</strong> <strong>Ameland</strong><br />
nach Terschelling, fuhr nach Texel oder auf die kleine<br />
Insel Schiermonnigkoog. Jedenfalls machte der Kapitän all<br />
die Jahre immer gute Geschäfte und bezahlte seine Besatzung<br />
angemessen.<br />
Eines Tages, das Schiff fuhr gerade vor der Küste <strong>Ameland</strong>s<br />
entlang, beobachteten die beiden Matrosen, die gerade<br />
Wache hatten, wie der Kapitän in seiner Kajüte eine<br />
kleine Truhe öffnete. Zufrieden betrachtete er ihren Inhalt.<br />
Neugierig geworden verließen sie ihren Posten und schlichen<br />
zum Fenster seiner Kajüte. Was sie sahen, erfüllte<br />
sie mit Begierde. <strong>Die</strong> Truhe war nämlich bis zum Rand mit<br />
Münzen gefüllt und der Kapitän ließ sie genießerisch<br />
durch seine Hände gleiten. <strong>Die</strong> beiden Matrosen schauten<br />
sich an, sie wollten diese Münzen unbedingt haben. Zwar<br />
fuhren sie jetzt schon seit drei Jahren mit dem Kapitän zur<br />
127
See und hatten in dieser Zeit immer eine sehr gute Heuer<br />
bekommen, doch jetzt sahen sie die Gelegenheit, endgültig<br />
auszusorgen.<br />
Leise schlichen sie vom Fenster zur Tür der Kajüte. Der<br />
eine Matrose hatte sein Messer gezogen und es sich zwischen<br />
die Zähne geklemmt. Der andere nahm ein Netz,<br />
das neben dem Steuerrad lag. Vorsichtig lauschten sie an<br />
der Tür, sie hörten die Münzen klimpern und den Kapitän<br />
leise kichern.<br />
Das war die Gelegenheit. Sie rissen die Kajütentür auf und<br />
stürzten sich auf ihn. Er war zu überrascht, um sich zu<br />
wehren. Der erste Matrose warf ihm das Netz über den<br />
Kopf, jetzt konnte er sich nicht mehr frei bewegen. Zappelnd<br />
und brüllend versuchte der Kapitän sich zu befreien.<br />
<strong>Die</strong> beiden Matrosen bekamen Angst. Was würde passieren,<br />
wenn es ihm gelänge das Netz wieder abzustreifen?<br />
Meuterei und Raub gehörten schließlich zu den schlimmsten<br />
Verbrechen, die man auf See begehen konnte. Sie<br />
wussten, dass sie zu weit gegangen waren. Aber es gab<br />
keinen Weg zurück, sie mussten ihn für immer zum<br />
Schweigen bringen.<br />
Der zweite Matrose erhob sein Messer und stach so lange<br />
zu, bis der Kapitän sich nicht mehr rührte. Sie ließen <strong>von</strong><br />
ihm ab und gruben wie <strong>von</strong> Sinnen mit ihren Händen in<br />
der Münztruhe.<br />
Aber was sollten sie mit der Leiche machen? Ihnen blieb<br />
nur ein Ausweg, sie über Bord zu werfen. Der erste Matrose<br />
fasste sie an den Füßen, der zweite unter den Armen<br />
und so trugen sie den toten Kapitän mühsam auf Deck.<br />
Sie schleppten ihn an die Reling und wuchteten seinen<br />
schweren Körper ins Wasser. Mit einem lauten Klatschen<br />
fiel er in die eiskalte Nordsee.<br />
„Möge es der Teufel geben, dass derjenige, der ihn auffischt<br />
oder am Strand findet, ihn für immer und ewig mit<br />
sich herumschleppen muss!“, schimpften sie.<br />
128
Sie hatten ihren bösen Fluch noch nicht ganz ausgesprochen,<br />
da erhob sich ein schrecklicher Sturm. Seine Gewalt<br />
war so groß, dass schon nach wenigen Minuten der große<br />
Segelmast und das Ruder brachen und das Schiff hilflos<br />
auf den Wellen des Meeres trieb.<br />
Entsetzt sprangen sie ins Wasser. <strong>Die</strong> einzige Chance, die<br />
sie hatten, bestand darin, sich schwimmend an den Strand<br />
<strong>von</strong> <strong>Ameland</strong> zu retten. <strong>Die</strong> Wellen schlugen so hoch wie<br />
Häuser. Nach und nach näherten die Matrosen sich aber<br />
der Insel <strong>Ameland</strong>. Irgendwo am Strand <strong>von</strong> Ballum wurden<br />
sie an Land gespült. Froh und glücklich den schrecklichen<br />
Sturm lebend überstanden zu haben, erhoben sie<br />
sich. Beim Zucken der Blitze sahen sie, dass große Teile<br />
der Ladung des Schiffes am Strand lagen.<br />
„Lass uns nach wertvollen Sachen suchen, die wir vielleicht<br />
in Nes verkaufen können“, sagte der erste Matrose.<br />
Sie hofften, vielleicht sogar die Truhe mit einigen der Münzen<br />
wieder zu finden. Also liefen sie am Strand entlang<br />
und hielten nach Dingen Ausschau, die sie noch gebrauchen<br />
konnten. In einiger Entfernung lag ein größerer,<br />
dunkler Gegenstand. In großer Eile liefen sie zu der Stelle<br />
und hofften, etwas Wertvolles zu finden. Gierig streckten<br />
sie ihre Hände aus, um ihn umzudrehen. Und dann passierte<br />
etwas Schreckliches. Als sie sich vorbeugten, fühlten<br />
sie zwei eiskalte Arme an ihren Schultern, Hände, die<br />
sich in ihren Jacken festkrallten und nicht mehr loslassen<br />
wollten. Schmerzhaft spürten sie die Fingernägel in der<br />
Haut. Sie zerrten, zogen und schüttelten sich, aber sie<br />
konnten das Wesen, das sich an ihnen festgekrallt hatte,<br />
nicht mehr loswerden. Als ein weiterer Blitz den Strand erhellte,<br />
sahen sie zu ihrem Entsetzen in das verzerrte Gesicht<br />
des Kapitäns, den sie gefunden hatten, und der sie<br />
jetzt fest im Griff hatte. Er schaute sie mit gebrochenen,<br />
toten Augen an. So oft sie auch versuchten ihn abzuschütteln,<br />
er schien sich immer fester an sie zu krallen.<br />
129
Schließlich wankten die beiden laut klagend, den leblosen<br />
Körper zwischen sich, in die Ballumer Dünen. Der Fluch,<br />
den sie ausgestoßen hatten, als sie den Ermordeten über<br />
Bord geworfen hatten, erfüllte sich nun an ihnen selbst.<br />
Angeblich sollen sie bis heute noch irgendwo in den Dünen<br />
herumgeistern und den Kapitän <strong>von</strong> einem Ende der<br />
Insel zum anderen schleppen.“<br />
Wir starrten Jaap an.<br />
„Was ist los mit euch, warum sagt ihr nichts?“, fragte er<br />
verwundert.<br />
„Oh Mann, ich hab’ mir beim Zuhören schon fast in die<br />
Hose gemacht!“, sagte Pit ziemlich beeindruckt.<br />
„<strong>Die</strong> Geschichte war super“, meinte Lara, „aber was machen<br />
wir damit? Denkst du an eine ähnliche Show wie am<br />
Ententeich?“<br />
„Genau“, antwortete Jaap, „und dafür brauche ich die Erwachsenen,<br />
denn nur sie können den Kapitän und die<br />
Matrosen spielen.“<br />
Papa und Uli winkten sofort ab.<br />
„Mit mir musst du da nicht rechnen, ich habe keine schauspielerischen<br />
Fähigkeiten“, meinte Papa.<br />
„Ich finde diese Aufgabe reizvoll.“<br />
Rainer grinste in die Runde.<br />
„Schließlich bin ich als Lehrer auch so eine Art Schauspieler,<br />
und als untoter Kapitän könnte ich mal ganz neue Seiten<br />
<strong>von</strong> mir zeigen.“<br />
„Aber es geht nicht nur um den Kapitän, wir brauchen<br />
auch die beiden Matrosen. Also, meine Herren, die Kinder<br />
sind Kinder, sie können keine erwachsenen Matrosen<br />
spielen. Wenn wir die beiden Dijkstras zum Reden bringen<br />
wollen, brauchen wir euch!“, betonte Gerrit. Papa hob abwehrend<br />
die Hände, er war nicht sehr angetan <strong>von</strong> der<br />
Idee.<br />
„Nein, nein, ich kann das nicht. Außerdem ist doch die<br />
Frage, ob das ganze nicht auch gefährlich werden kann!“<br />
130
„Es kann nichts passieren“, antwortete Gerrit, „wir wissen,<br />
dass sie keine Waffen haben und sollten sie euch angreifen,<br />
sind wir sofort da. Mein Kollege und ich sind im<br />
Leuchtturm und Jaap versteckt sich mit euch im Gebüsch.“<br />
Erwartungsvoll schauten wir unsere Väter an. Auch Mama<br />
und Heike schienen inzwischen überzeugt zu sein.<br />
„Es kann doch wirklich nichts passieren“, beruhigte sie<br />
Heike.<br />
„Wenn ich das richtig sehe, werdet ihr Rainer tragen müssen,<br />
keine leichte Aufgabe“, lächelte Mama.<br />
„Aber ich verstehe immer noch nicht genau, wieso du<br />
glaubst, dass die beiden Dijkstras dadurch freiwillig gestehen?“<br />
„Ich baue auf ihren Aberglauben“, antwortete Jaap, „wenn<br />
der Kapitän ihnen richtig droht, glauben sie die nächsten<br />
zu sein, die ihn durch die Ameländer Dünen schleppen<br />
müssen.“<br />
„Und dann kommt der Auftritt der Polizei“, fuhr Gerrit fort,<br />
„ihr drei Darsteller verschwindet und wir nehmen die<br />
Dijkstras fest. Aus Dankbarkeit werden sie singen wie die<br />
Vögelchen!“<br />
„Aber dann haben wir ja überhaupt nichts mehr zu tun!“,<br />
mischte sich jetzt Hanjo ein.<br />
„Doch, doch“, sagte Gerrit, „da ihr bisher schon so viel für<br />
die Aufklärung der Geschichte getan habt, brauchen wir<br />
euch als Zeugen. Ihr versteckt euch mit uns im Leuchtturm,<br />
über die Außenmikrofone könnt ihr alles mithören.<br />
Ihr habt die Sache angefangen, mit euch soll sie auch zu<br />
Ende gehen!“<br />
„Vorausgesetzt die beiden Dijkstras lassen sich wirklich<br />
ins Bockshorn jagen“, murmelte Papa, der immer noch zu<br />
zweifeln schien.<br />
„Ich bin sicher, es wird klappen!“, antwortete Jaap.<br />
„Ihr braucht nichts zu sagen. Wir haben die Stimme des<br />
Kapitäns auf CD aufgenommen. Außerdem meint es das<br />
131
Wetter heute Nacht gut mit uns, es soll stürmisch sein und<br />
regnen. Genau richtig für unseren Plan!“<br />
„Also, was ist jetzt?“<br />
Hanjo schaute Papa und Uli auffordernd an.<br />
„Ihr müsst einfach mitmachen!“<br />
<strong>Die</strong> beiden nickten.<br />
„Na gut, aber seid bloß rechtzeitig da, falls es gefährlich<br />
werden sollte!“<br />
Ich freute mich. Papa würde den Matrosen sicher gut spielen.<br />
Er brauchte den Kapitän ja nur zu tragen und ein verzweifeltes<br />
Gesicht machen. Bei Rainers Körpergewicht<br />
dürfte ihm das sowieso nicht schwer fallen.<br />
„Wie gesagt, Gerrit und ich haben schon ein bisschen vorgearbeitet“,<br />
erzählte Jaap jetzt weiter.<br />
„Wir kennen einen Schauspieler, der auf <strong>Ameland</strong> geboren<br />
wurde. Er besucht hier gerade seine Eltern, deshalb haben<br />
wir ihn gebeten für uns den Kapitän zu sprechen.<br />
„Wie heißt der denn?“, fragte Meike neugierig.<br />
„Bart de Gee, aber du hast bestimmt noch nichts <strong>von</strong> ihm<br />
gehört“, antwortete Jaap, „er ist eigentlich nur in Holland<br />
bekannt.“<br />
„Und was sagt er? Das müssen wir ja wissen, wenn wir<br />
uns auf unsere Rolle vorbereiten sollen!“, meinte Uli jetzt.<br />
„Wenn die beiden Matrosen mit dem Kapitän jammernd<br />
und klagend aus dem Gebüsch kommen, ruft er nach Wim<br />
und Ruud. Er droht und verlangt <strong>von</strong> ihnen, seine Matrosen<br />
abzulösen. Sie sollen ihn ab sofort selbst durch die<br />
Dünen schleppen. Als Strafe für den Raub der Galionsfigur.<br />
Wenn sie dann richtig Angst haben, kommen wir,<br />
nehmen sie fest, und sie können sich alles <strong>von</strong> der Seele<br />
reden. Aber ich schlage vor, ihr drei hört euch die CD an<br />
und bereitet euch gemeinsam mit Jaap auf euren Auftritt<br />
vor. Ich fahre mit meinem Kollegen zum Leuchtturm und<br />
installiere die Technik. Wir treffen uns um elf, damit wir auf<br />
jeden Fall vor den Dijkstras da sind. Sie werden heute beobachtet.<br />
Wir sind also über jeden Schritt, den sie<br />
132
machen, informiert. Wenn sie früher kommen, können wir<br />
uns rechtzeitig zurückziehen.“<br />
Ich schaute auf die Kirchturmuhr, die ich <strong>von</strong> der Terrasse<br />
aus gut sehen konnte. Sie zeigte halb sechs. Wind war<br />
aufgekommen und die Sonne versteckte sich hinter Wolkenfetzen,<br />
die am Himmel entlang jagten. Das Wetter<br />
schlug also tatsächlich um. Rainer, Uli, Papa und Jaap<br />
fuhren zum Museum nach Buren und wir beschlossen, zu<br />
Hause zu warten und später zusammen zum Leuchtturm<br />
zu fahren.<br />
„Was glaubst du, wird es klappen?“, fragte ich Katja, während<br />
wir zurückgingen.<br />
„Warum nicht“, antwortete sie, „schließlich hat es im Oerd<br />
auch funktioniert. Und wenn es stimmt, was Jaap sagt,<br />
und die Ameländer wirklich so abergläubisch sind, dann<br />
müssten sie vor der Rache des Kapitäns noch größere<br />
Angst haben als Nackenlocke und Walross vor der Rixt.“<br />
„Kann schon sein“, seufzte ich, „aber Papa und Uli wirkten<br />
ja nicht sonderlich begeistert.“<br />
„<strong>Die</strong> kriegen das schon hin!“, meinte Meike.<br />
„Ich glaube sogar, sie werden genauso viel Spaß an der<br />
Sache haben wie du.“<br />
Katja grinste.<br />
„Mal sehen“, antwortete sie. Vor dem Haus der Franzens<br />
trennten wir uns.<br />
„Wenn wir vorher <strong>von</strong> Gerrit oder Jaap nichts hören, holen<br />
wir euch gegen viertel vor elf wieder ab und fahren zusammen<br />
zum Leuchtturm. <strong>Die</strong> Münstermänner treffen wir<br />
am Ortsausgang“, sagte Mama zu Heike.<br />
Es wehte inzwischen immer stärker. <strong>Die</strong> Sonne war fast<br />
verschwunden und die ersten Regentropfen fielen. Als wir<br />
zu unserer Hofeinfahrt kamen, drängten sich die Schafe<br />
bereits Schutz suchend auf ihrer Wiese zusammen. Nur<br />
‚Gelbes P’ stand allein in der Nähe des Zauns und schien<br />
auf uns zu warten. Wir streichelten es und gaben ihm ein<br />
saftiges Grasbüschel zu fressen.<br />
133
„Guck mal“, sagte Meike, „der Regen fällt gar nicht mehr<br />
vom Himmel, sondern kommt <strong>von</strong> der Seite.“<br />
„Weißt du was? Wir holen unsere Regenjacken und probieren<br />
aus, ob wir sie als Segel benutzen können!“, schlug<br />
ich vor. Meike war begeistert, denn der Wind blies jetzt so<br />
stark, er würde uns bestimmt halten, wenn wir uns gegen<br />
ihn lehnten. Zurück auf der Wiese ergriffen wir die beiden<br />
flatternden Enden der offenen Jacke und streckten die<br />
Arme nach hinten, bis sie sich aufblähte.<br />
„Es geht, es geht!“, schrie Meike, „ich bin eine Möwe, ich<br />
kann fliegen!“<br />
Auch bei mir funktionierte es. Das machte zwar Spaß,<br />
aber der Regen lief mir in Strömen durchs Gesicht und<br />
nach kurzer Zeit war ich nass bis auf die Haut. Ich klappte<br />
meine triefende Jacke zusammen und rannte zurück ins<br />
Haus. Mama saß im Wohnzimmer.<br />
„Ich wollte euch gerade rufen“, sagte sie, „ist Meike immer<br />
noch draußen?“<br />
„Ja, sie steht noch auf der Schafswiese und lehnt sich mit<br />
der Regenjacke…“<br />
Ich konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, weil ein greller<br />
Blitzschlag unser Wohnzimmer erleuchtete, gefolgt <strong>von</strong><br />
einem lauten Donnern. Mama sprang sofort auf.<br />
„Jetzt wird es aber Zeit, dass Meike auch kommt!“<br />
Sie riss die Haustür auf, um sie zu rufen. Da zuckte der<br />
nächste Blitz über den dunklen Himmel, wieder donnerte<br />
es. Gleichzeitig fuhr eine heftige Windböe in den Flur und<br />
erwischte eine Vase, die auf einem Regal stand. Mit lautem<br />
Klirren zerbrach sie in tausend Scherben.<br />
„Meike, Meike, das ist zu gefährlich, komm sofort ins<br />
Haus!“<br />
Mama schrie aus Leibeskräften, aber meine Schwester<br />
reagierte nicht. Wir hörten sie juchzen, Angst schien sie<br />
nicht zu spüren. Typisch Meike. Wenn sie ein cooles Spiel<br />
gefunden hat, lässt sie sich durch nichts und niemanden<br />
stören.<br />
134
„Es ist immer dasselbe!“, schimpfte Mama, „dieses Kind<br />
macht, was es will. Zieh dir was Trockenes an, ich hole<br />
Meike <strong>von</strong> der Wiese!“<br />
Meike bemerkte Mama erst, als sie direkt hinter ihr stand.<br />
Ich sah, wie die beiden stritten. Meine Schwester wollte<br />
bleiben, aber Mama setzte sich durch und dann rannten<br />
sie zusammen zurück zum Haus. Es blitzte schon wieder,<br />
ich hielt mir die Ohren zu, um den Donner nicht zu hören.<br />
Als beide pudelnass im Flur standen, schrie Mama sie an:<br />
„Das machst du nicht noch einmal! Du kannst doch nicht<br />
mitten in einem gefährlichen Gewittersturm draußen bleiben!“<br />
„Wieso? Das war doch gar nicht schlimm, das hat voll<br />
Spaß gemacht!“, brüllte Meike genauso laut zurück.<br />
Ein komisches Bild. Da standen meine Mutter und meine<br />
kleine Schwester bei Sturm, Gewitter und Regen im Flur<br />
und diskutierten, ob es gefährlich ist, mit der Regenjacke<br />
auf einer Schafsweide eine fliegende Möwe zu spielen. Ich<br />
konnte mir das Lachen nicht verkneifen. Ärgerlich drehte<br />
sich Mama zu mir um.<br />
„Was gibt es denn da zu lachen? Das ist wirklich gefährlich,<br />
du hättest deine Schwester auf der Wiese gar nicht<br />
allein lassen dürfen!“<br />
Ich prustete noch heftiger los.<br />
„Stimmt ja, aber ihr müsst euch mal angucken, ihr seht<br />
aus wie zwei begossene Pudel!“<br />
Sie standen in einer mittleren Wasserpfütze, die sich inzwischen<br />
unter ihren Füßen ausgebreitet hatte. Jetzt<br />
mussten sie auch lachen.<br />
„Wisst ihr was?“, sagte Mama, „wir ziehen uns um und<br />
dann gibt’s zum Abendessen Tee mit viel Kandiszucker.“<br />
Kurze Zeit später saßen wir drei friedlich am Tisch, aßen<br />
Tomatenbrote und tranken dazu den heißen Tee. Draußen<br />
donnerte und blitzte es weiter und der Regen schlug prasselnd<br />
gegen die Fenster. Und doch konnten wir es kaum<br />
erwarten endlich zum Leuchtturm zu fahren.<br />
135
Gegen zehn klingelte das Handy. Es war Papa.<br />
„Wie läuft es bei euch, habt ihr alles vorbereitet?“, fragte<br />
Mama. Meike und ich hörten gespannt zu. Endlich hatte<br />
Mama aufgelegt.<br />
„Na, was ist jetzt?“, fragte ich.<br />
„Also, sie wissen, was sie nachher am Leuchtturm zu tun<br />
haben. Papa ist gespannt, ob wir ihn überhaupt erkennen.<br />
<strong>Die</strong> Kostüme und die Schminke hätten sie völlig verändert,<br />
sagt er. Gerrit scheint mit seinen Vorbereitungen am<br />
Leuchtturm auch so weit zu sein, bis jetzt läuft also alles<br />
nach Plan.“<br />
„Und was ist mit den beiden Dijkstras? Gerrits Kollege hat<br />
sie doch beobachtet“, wollte Meike wissen.<br />
„Im Augenblick sitzen sie im Zwaan an der Theke. Wahrscheinlich<br />
fahren sie <strong>von</strong> dort direkt zum Leuchtturm.<br />
Wims Sohn trinkt ein Bier nach dem anderen.“<br />
„Nicht schlecht“, sagte ich. „wenn er alles doppelt sieht,<br />
hat er nachher auch doppelt so viel Angst.“<br />
Endlich konnten wir los. Von dem Gewitter hörten wir nur<br />
noch ein leises Grollen. Das Radfahren war aber ziemlich<br />
anstrengend, denn der Wind kam <strong>von</strong> vorne und wehte<br />
uns den Regen direkt ins Gesicht. Wer schon mal in Holland<br />
Fahrrad gefahren ist, weiß wahrscheinlich, wo<strong>von</strong> ich<br />
rede.<br />
„Da seid ihr ja“, rief Pit, „ich warte schon fast eine viertel<br />
Stunde!“<br />
„Na und!“, entgegnete ich, „es ist doch jetzt genau viertel<br />
vor elf, wenn du es nicht abwarten kannst, dann bist du<br />
selbst schuld!“<br />
„Hannah hat recht“, meinte Heike, „es hat dich keiner gezwungen<br />
die ganze Zeit draußen zu warten. <strong>Die</strong> Sommers<br />
sind jedenfalls pünktlich!“<br />
Pit brummelte irgendetwas. Katja und Hanjo grinsten, sie<br />
kannten ihren Bruder. Vor allem spät abends hatte er selten<br />
gute Laune, da er als Frühaufsteher um diese Zeit<br />
136
eigentlich schon im Bett lag. An der Dorfausfahrt Richtung<br />
Leuchtturm trafen wir die Münstermänner.<br />
„Der Kapitän und die beiden Matrosen sind schon da“, rief<br />
Olli uns entgegen, „es wird Zeit, dass das Ermittlerteam<br />
auch an den Ort des Verbrechens eilt, ich will die beiden<br />
Ganoven endlich überführen!“<br />
„Jetzt schrei doch nicht so rum, Olli, wenn die Dijkstras<br />
hier vorbei fahren, bekommen sie alles mit! Dann ist unser<br />
schöner Plan sofort im Eimer, nur weil du nicht die Klappe<br />
halten kannst!“<br />
<strong>Die</strong>smal wies nicht Lara Olli zurecht, sondern Paula. Er<br />
schien aber Verständnis dafür zu haben, denn er hielt sich<br />
die Hand vor den Mund und sah sich erschrocken um.<br />
Mama schaute auf ihre Armbanduhr.<br />
„Es ist gleich elf!“, rief sie, „es wird Zeit!“<br />
Langsam setzten wir uns in Bewegung. Als wir den Schutz<br />
der Häuser <strong>von</strong> Hollum verließen, fiel uns der Wind wieder<br />
genau <strong>von</strong> vorne an. Nur mit Mühe kamen wir voran. Ich<br />
hatte meine Kapuze aufgesetzt und sie unter dem Kinn<br />
fest gebunden. Trotzdem spürte ich, wie mir der Regen<br />
langsam unter die Jacke lief. Schwer tretend und keuchend<br />
radelte ich neben Meike, die fast die ganze Zeit im<br />
Stehen fuhr, um überhaupt voranzukommen. Plötzlich<br />
schepperte es hinter mir.<br />
„Hilfe, pass doch auf!“, hörte ich Paula schreien. Ich<br />
bremste, um mich umzuschauen und sah sie auf der Straße<br />
liegen. Direkt vor ihr, das Rad gerade noch zwischen<br />
den Beinen haltend, stand Hanjo. Er hatte der stürzenden<br />
Paula wohl nicht mehr ausweichen können.<br />
„Warum musst du so plötzlich bremsen?“, brüllte er sie an.<br />
Sie antwortete nicht und heulte. Mama und Marlies begannen<br />
das Knäuel aus Armen, Beinen und Fahrrädern zu<br />
entwirren und halfen ihr wieder auf die Beine.<br />
„Jetzt schrei sie nicht an. In der Dunkelheit und bei dem<br />
Wetter kann das schnell passieren!“, meinte Heike. Allzu<br />
137
schlimm schien der Unfall aber nicht gewesen zu sein,<br />
denn Paula beruhigte sich schnell.<br />
„Ich bin in Ordnung“, sagte sie, „nur ein kleiner Riss in<br />
meiner Hose. Wir können weiterfahren.“<br />
Nach kurzer Zeit bogen wir <strong>von</strong> der Straße ab und folgten<br />
einem schmalen Weg durch ein kleines Wäldchen. Dann<br />
standen wir vor dem Leuchtturm. Mir kam es hier ziemlich<br />
gespenstisch vor.<br />
„Kannst du was <strong>von</strong> Papa, Rainer und Uli sehen?“, wisperte<br />
mir Meike zu.<br />
„Bis jetzt noch nicht“, antwortete ich und schaute mich um.<br />
Es war stockfinster, wir konnten den Wind durch die Bäume<br />
und Büsche heulen hören, nur ab und zu blitzte das<br />
Leuchtfeuer auf, dessen Scheinwerfer sich oben am Turm<br />
gleichmäßig drehte. Hin und wieder zuckte auch<br />
noch ein Blitz über den Himmel und tauchte<br />
alles sekundenlang in grell-fahles Licht.<br />
138
„Papa, Gerrit, wir sind da, wo seid ihr denn?“, rief Hanjo<br />
jetzt mit leicht zittriger Stimme. Ich hatte vor lauter Aufregung<br />
einen trockenen Mund. Marlies stellte ihr Rad ab, lief<br />
zu der großen, eisernen Eingangstür des Leuchtturms und<br />
klopfte mit ihrer Faust dagegen.<br />
„Hallo, Gerrit, mach auf!“ Plötzlich hörten wir im Innern des<br />
Leuchtturms Schritte, es schien jemand schnell eine Treppe<br />
hinabzulaufen. Dann drehte sich ein Schlüssel und die<br />
Tür öffnete sich.<br />
„Guten Abend. Herzlich willkommen im Leuchtturm <strong>von</strong><br />
<strong>Ameland</strong>!“, sagte Gerrit, der eine große Taschenlampe in<br />
der Hand hielt und sich und danach uns damit anstrahlte.<br />
„Entschuldigt, wenn ich euch habe warten lassen, aber ich<br />
war oben im Zimmer des Leuchtturmwärters.“<br />
„Hauptsache du bist jetzt da“, meinte Marlies.<br />
„Wo sollen wir die Räder lassen?“<br />
„Am besten stellt ihr sie hier im Eingangsbereich ab. Dann<br />
können die beiden Dijkstras sie nicht sehen.“<br />
Der Reihe nach schoben wir sie hinein und lehnten sie an<br />
die stählerne Innenwand des Leuchtturms. Gerrit schloss<br />
die Tür. Das Heulen des Windes konnten wir hier drinnen<br />
nur ganz dumpf hören.<br />
„Ich hoffe, wir werden einen schönen Abend erleben.“<br />
Gerrit lächelte uns an und breitete einladend seine Arme<br />
aus.<br />
„Wo sind Papa, Rainer und Uli?“, fragte Meike ganz aufgeregt.<br />
„Keine Angst, Meisje, die sind draußen gut versteckt und<br />
werden gleich ihren großen Auftritt haben.“<br />
Gerrit kniff ihr ein Auge zu.<br />
„Wir gehen nach oben.“<br />
Er stieg eine schmale Wendeltreppe hinauf und einer nach<br />
dem anderen folgten wir ihm. Jeder Schritt hallte, was im<br />
Dunkeln etwas unheimlich klang.<br />
„Haben die überhaupt kein Licht hier?“, flüsterte mir Katja<br />
zu, die hinter mir ging.<br />
139
„Doch, mein Kind, aber jetzt ist es zu gefährlich, das Licht<br />
im Turm einzuschalten. <strong>Die</strong> Dijkstras könnten etwas bemerken<br />
und misstrauisch werden!“, hörten wir Gerrit antworten.<br />
Erschrocken blieben wir stehen, denn Katja und<br />
ich liefen am Ende der Gruppe und er war vorausgegangen.<br />
„Wo bist du, Gerrit? Wieso hast du uns gehört?“, rief Katja<br />
in die Dunkelheit hinein.<br />
„Ich bin der Geist, der alles weiß! Quatsch, Katja. Hier ist<br />
doch alles aus Stahl, deshalb werden Geräusche gut übertragen.<br />
Im Leuchtturm kann nichts geheim bleiben. Man<br />
hört hier auch, wenn jemand flüstert!“<br />
Während er sprach, stiegen wir die Treppe weiter nach<br />
oben. Endlich hatten wir die dritte Plattform erreicht, auf<br />
der sich das Zimmer des Leuchtturmwärters befand. Bei<br />
Helligkeit hätten wir sicher eine tolle Sicht über das Meer<br />
und die Insel gehabt. Jetzt sahen wir nur die Dunkelheit<br />
und einzelne Lichter. Gerrit saß auf einem Stoß Taue, die<br />
wie große Lakritzschnecken aufgerollt auf dem Boden lagen<br />
und grinste uns an.<br />
„Du hast uns einen ziemlichen Schrecken eingejagt“,<br />
keuchte ich, noch außer Atem vom Treppen steigen.<br />
„Tut mir leid“, antwortete Gerrit, „aber es war zu schön<br />
diese Gelegenheit auszunutzen. Jetzt passt mal auf.“<br />
Er schaute auf seine Uhr.<br />
„Es ist kurz vor Mitternacht. Wenn alles nach Plan läuft,<br />
müssten die Dijkstras gleich eintreffen. Ihr müsst auf jeden<br />
Fall hier oben bleiben, dann könnt ihr jedes Wort verstehen,<br />
das unten gesprochen wird. Mein Kollege hat über<br />
dem Eingang ein sehr leistungsstarkes, kleines Mikro angebracht.“<br />
„Jetzt will ich aber genau wissen, wo unsere Schauspieler<br />
sind!“, wollte Mama wissen. Gerrit gab ihr ein Nachtfernglas.<br />
„Wenn du hier durch das Fenster nach unten siehst,<br />
kannst du den Leuchtturmplatz erkennen, er ist mit hellem<br />
140
Kies bedeckt. Am Rand wird es wieder dunkler, da beginnt<br />
das Gebüsch.“<br />
Mama schaute aus dem Fenster.<br />
„Stimmt, haben sie sich da versteckt?“<br />
„Genau“, antwortete er, „im Innern ist ein großer Hohlraum.<br />
Dort warten sie, bis die beiden Dijkstras auftauchen.<br />
Sobald sie da sind, werden sie so laut wie möglich durch<br />
die Zweige brechen, stehen bleiben und die beiden anstarren.“<br />
„Und Jaap bedient die Anlage mit der Stimme des Kapitäns“,<br />
ergänzte Hanjo und lächelte.<br />
„Genau, ich hoffe, er hat dort alles im Griff.“<br />
„Wann willst du mit deinem Kollegen eingreifen?“, fragte<br />
Heike.<br />
„Wir warten unten im Erdgeschoss hinter der angelehnten<br />
Eingangstür. Sobald wir <strong>von</strong> Jaap ein Zeichen bekommen,<br />
stürmen wir raus, Jaap schaltet die Scheinwerfer an und<br />
wir nehmen sie fest. Ich schätze, die beiden werden froh<br />
sein, wenn wir sie vor der Rache des Kapitäns schützen.“<br />
Hanjo klatschte begeistert in die Hände.<br />
„Eine wirklich starke Idee, die hätte <strong>von</strong> mir kommen können!“<br />
Plötzlich surrte Gerrits Handy.<br />
„Was ist los?“, fragte er. Dann wandte er sich an uns.<br />
„Es ist soweit, mein Kollege meldet, die beiden werden jeden<br />
Augenblick da sein. Also, verhaltet euch so, wie ich’s<br />
euch erklärt habe.“<br />
Er lief schnell nach unten, um ihm die Tür zu öffnen.<br />
Wir griffen nach den Nachtgläsern, die Gerrit für jeden <strong>von</strong><br />
uns besorgt hatte, und stürzten an die Fenster. Auch ich<br />
konnte den hellen Leuchtturmplatz gut erkennen. Der<br />
Wind heulte noch immer ziemlich kräftig und schüttelte<br />
das Gebüsch und die Bäume gehörig durcheinander, der<br />
Regen klatschte laut gegen die Fensterscheiben.<br />
„Ich sehe niemand“, sagte Pit, der direkt neben mir stand.<br />
141
„Wahrscheinlich sind sie noch nicht da oder sie stehen im<br />
Schutz des Gebüschs und warten ab“, antwortete ich.<br />
„Doch, da vorne, links am Weg, der auf die Straße führt,<br />
ich glaube, da stehen sie!“, wisperte Meike aufgeregt.<br />
„Papa, Rainer und Uli müssten doch eigentlich auftauchen.<br />
Verdammt, wo bleiben die denn?“<br />
„Bleib ruhig“, meinte Mama, Jaap und Gerrit machen das<br />
schon.“<br />
„Jetzt kann ich die Dijkstras deutlich sehen“, flüsterte Katja,<br />
„sie stehen unter dem großen Baum. Sie glotzen genau<br />
auf die Leuchtturmtür. Was ist, Papa? Du musst mit deinem<br />
Kapitän endlich auftauchen, sonst hauen sie wieder<br />
ab.“<br />
Den letzten Satz sagte sie zu sich selbst.<br />
Auf einmal drängten sich Papa, Uli und Rainer durch das<br />
Gebüsch. Am Rande des Platzes blieben sie im Halbdunkel<br />
stehen. Durch die immer noch zuckenden Blitze konnten<br />
wir sie gut erkennen.<br />
„Wie sehen die denn aus? Das gibt’s doch gar nicht!“,<br />
murmelte Hanjo fassungslos. Auch ich konnte es kaum<br />
glauben. Rainer, der Kapitän, hatte sich an Papa und Uli<br />
festgekrallt und stand oder hing zwischen ihnen. Er sah<br />
schrecklich aus. Soweit ich es <strong>von</strong> hier oben erkennen<br />
konnte, hatte er ein aschfahles Gesicht. Wieder zuckte ein<br />
Blitz am Himmel. Rainer starrte mit leerem Blick in die<br />
Richtung der beiden Dijkstras. Er trug alte, große Stiefel,<br />
die ihm über die Knie reichten. Seine Hose war zerrissen,<br />
offenbar auch sein Hemd oder Pullover, alles hing ihm in<br />
Fetzen vom Körper. In der Brust steckte ein Messer.<br />
„Das glaube ich nicht“, stammelte Olli, „ist das wirklich Papa?<br />
Der sieht ja aus wie eine lebende Leiche.“<br />
<strong>Die</strong> beiden Matrosen schienen schwer an ihrem Kapitän<br />
zu tragen. <strong>Die</strong> Haare hingen ihnen in wirren Strähnen ins<br />
Gesicht. Ihre Füße steckten in den typischen holländischen<br />
142
Holzklumpen, dazu trugen sie weite Hosen und dunkle<br />
Umhänge.<br />
„Könnt ihr erkennen, was die Dijkstras machen?“, fragte<br />
Lara atemlos.<br />
„<strong>Die</strong> bewegen sich gar nicht, die sind genauso fassungslos<br />
wie wir“, antwortete Mama. Wir hielten den Atem an, denn<br />
jetzt konnten wir die drohende Stimme des Kapitäns hören.<br />
Er sprach holländisch.<br />
„Wim, Ruud, was habt ihr getan? Du kennst mich, Wim,<br />
ich bin der Kapitän, seit Jahrhunderten tragen mich diese<br />
beiden Missetäter durch die Dünen. Sie sind alt und verbraucht<br />
und haben ihre Taten gebüßt. Sie sollen endlich<br />
ihre verdiente Ruhe bekommen. Du und Ruud, ihr kommt<br />
mir gerade recht. Ab heute müsst ihr mich tragen!“<br />
<strong>Die</strong> Dijkstras traten aus dem dunklen Schatten des Baumes<br />
heraus und starrten die drei Gestalten an.<br />
„Glauben die das, glauben die das?“, stammelte Pit neben<br />
mir.<br />
„Sie müssen!“, murmelte ich inbrünstig.<br />
Aber plötzlich passierte etwas Unerwartetes. Papa begann<br />
zu schwanken. Er schien Rainer nicht mehr halten zu können.<br />
„Was ist da los?“, rief Mama, „da stimmt doch was nicht?“<br />
Obwohl die Stimme des Kapitäns immer noch sprach und<br />
den beiden Dijkstras weiter drohte, konnten wir deutlich<br />
erkennen, dass unsere Väter irgendwie Probleme hatten.<br />
Papa hielt sich schmerzverzerrt den Rücken. Außerdem<br />
stand er plötzlich in einer merkwürdig gekrümmten Haltung.<br />
„Oh nein, er hat wieder sein Rückenproblem!“, rief Mama,<br />
„die müssen aufhören, sonst kann er sich gar nicht mehr<br />
bewegen.“<br />
Sofort rannte sie aufgeregt die enge Wendeltreppe hinunter.<br />
Inzwischen hatte Jaap den Scheinwerfer eingeschaltet,<br />
der den Leuchtturmplatz in grelles Licht tauchte. Gerrit<br />
und sein Kollege stürzten nach draußen und liefen auf die<br />
143
eiden Dijkstras zu. Im ersten Moment dachte ich, sie<br />
würden sich vielleicht wehren, aber sie blieben stehen und<br />
rührten sich nicht. <strong>Die</strong> Polizisten zückten ihre Handschellen<br />
und nahmen sie ohne Widerstand fest. Jaap versuchte<br />
Papa zu helfen, der mit schmerzverzerrtem Gesicht <strong>von</strong><br />
Rainer und Uli gestützt wurde. Uns hielt es jetzt auch nicht<br />
mehr oben.<br />
Als ich unten ankam, wankten mir Rainer und Uli mit Papa<br />
in der Mitte entgegen. Mama lief besorgt neben ihnen her.<br />
„Ich hätte es eigentlich wissen müssen“, sagte sie, „die<br />
Feuchtigkeit und der kühle Wind, das konnte nicht gut gehen.“<br />
„Du hast deine Matrosenrolle ja sehr eigenwillig interpretiert“,<br />
grinste Rainer.<br />
„Tut mir leid, ich habe es wohl ziemlich versaut“, murmelte<br />
Papa, „aber ich habe gehofft, mein Rücken bleibt stabil.<br />
Ich hatte schon lange keinen Ärger mehr.“<br />
„Schon lange nicht mehr?“<br />
Mama schüttelte ungläubig den Kopf.<br />
„Noch kurz vor dem Urlaub, als du unbedingt den Gartenweg<br />
pflastern musstest, hast du doch schon gestöhnt.<br />
Abends konntest du dich vor Schmerzen kaum noch bewegen.“<br />
„Also, alter Mann, was machen wir jetzt mit dir?“, fragte Uli,<br />
„vielleicht setzen wir dich hier auf diesen Stuhl?“<br />
„Ja, aber ihr müsst mich vorsichtig runterlassen.“<br />
Laut stöhnend suchte Papa sich mit Ulis und Rainers Hilfe<br />
eine Sitzposition, in der er es einigermaßen aushalten<br />
konnte. Etwas ratlos standen wir um ihn herum, Mama<br />
schob ihm ein Kissen zwischen Stuhllehne und Rücken,<br />
damit er gerade sitzen konnte.<br />
„Jetzt glotzt mich nicht so an. Wenn man so ein Schwergewicht<br />
wie diesen Kapitän tragen muss, kann einem<br />
schon mal die Bandscheibe rausflutschen. Rainer, du<br />
musst dringend abnehmen.“<br />
144
„Er hat Recht“, nickte Uli zustimmend und schaute auf<br />
Rainers gewaltigen Bauch.<br />
„Das viele Wasser in deinen Klamotten hat dich sogar<br />
noch schwerer gemacht.“<br />
Papa konnte schon wieder grinsen.<br />
„<strong>Die</strong> Rache des dicken Kapitäns habe ich überstanden, mit<br />
dem <strong>Hexe</strong>nschuss werde ich jetzt auch noch fertig. Seht<br />
lieber nach, was passiert ist.“<br />
Er deutete mit dem Kopf zur Tür.<br />
Draußen standen die beiden Dijkstras mit gesenktem Kopf<br />
und Handschellen aneinander gefesselt unter dem großen<br />
Baum. Als Gerrit uns kommen sah, stieß er Wim an.<br />
„Ich vermute, du kennst diesen Mann und einige der<br />
Kinder.“<br />
Er zeigte dabei auf Rainer.<br />
„Das ist nicht der Kapitän, wie du inzwischen wohl gemerkt<br />
hast, sondern der, mit dem du in deinem Wohnzimmer<br />
über die zerschossene Scheibe gesprochen hast. Ihnen<br />
und den anderen hier hast du zu verdanken, dass wir euch<br />
auf die Schliche gekommen sind.“<br />
Wim Dijkstra schaute uns müde an, er schämte sich. Es<br />
schien ihm peinlich zu sein, vor uns in Handschellen stehen<br />
zu müssen. Sein Sohn grinste frech, ihm machte es<br />
offenbar weniger aus.<br />
„Wim ist froh endlich erwischt worden zu sein. Ihn und<br />
Ruud bringen wir gleich mit dem Polizeiwagen nach Nes.<br />
Es wird noch eine lange Nacht für mich und meinen Kollegen“,<br />
sagte Gerrit lächelnd zu uns.<br />
„Aber sollten wir nicht als Zeugen zur Verfügung stehen?“,<br />
fragte Hanjo erstaunt.<br />
„Eure Aussagen können später zu Protokoll genommen<br />
werden, Wim hat versprochen freiwillig zu gestehen. Ich<br />
glaube, wir können in Ruhe nach Hause fahren“, meinte<br />
Jaap schmunzelnd.<br />
145
In der Zwischenzeit war der Polizeiwagen gekommen.<br />
Gerrits Kollege führte die beiden zum Auto und ließ sie<br />
hinten einsteigen.<br />
„Wo ist der verletzte Matrose?“, fragte Jaap.<br />
„Im Leuchtturm, er lässt sich pflegen“, antwortete Uli. Papa<br />
saß noch immer auf seinem Stuhl, während Mama seinen<br />
Rücken massierte. Gerrit und Jaap brachten Papa<br />
nach Hause. Wir halfen noch, die Sachen in den Leuchtturm<br />
zu räumen, anschließend fuhren wir zurück nach Hollum.<br />
Papa saß auf der Couch und wartete auf uns, denn er<br />
konnte sich wegen der Schmerzen nicht alleine ausziehen.<br />
Mama half ihm und Meike und ich brachten ihm eine<br />
Wärmflasche. Dann konnten wir endlich in unsere warmen<br />
Betten kriechen und schlafen.<br />
146
Das Fest<br />
Am nächsten Morgen schien die Sonne durch unser<br />
Schlafzimmerfenster. Meikes Bett war – wie meist – schon<br />
leer. Ich schlug meine Bettdecke zurück, streckte mich<br />
und ging nach unten. Von draußen hörte ich Stimmen, also<br />
mussten Mama, Papa und Meike auf der Terrasse sitzen.<br />
„Guten Morgen, Langschläferin.“<br />
<strong>Die</strong> drei grinsten mich an.<br />
„Weißt du, wie spät es ist?“, fragte Papa, der etwas steif<br />
auf seinem Stuhl saß.<br />
„Keine Ahnung“, antwortete ich, „aber wenn ihr mich schon<br />
so fragt, ist es sicher nicht mehr früh am Morgen.“<br />
„Genau!“, rief Meike mit Triumph in der Stimme, „du<br />
kannst dich gleich wieder hinlegen, es ist schon fast wieder<br />
Abend!“<br />
„Du spinnst“, knurrte ich sie an, „jetzt sagt mir schon, wie<br />
spät ist es?“<br />
„Es ist gleich drei“, antwortete Mama, „nach der letzten<br />
Nacht ist es kein Wunder, dass du so lange geschlafen<br />
hast.“<br />
Erschrocken ließ ich mich auf den Stuhl fallen. Erst jetzt<br />
fiel mir auf, dass die drei nicht beim Frühstück saßen,<br />
sondern Kekse, Kaffee und Kakao vor sich stehen hatten.<br />
„Wie lange seid ihr denn schon auf?“, fragte ich mit Blick<br />
auf Papa.<br />
„Schon ein bisschen länger, ich hab’ mich gegen zehn<br />
heute Morgen aus dem Bett gequält.“<br />
„Wie geht es deinem Rücken?“<br />
Mir kam die Szene <strong>von</strong> letzter Nacht wieder in den Sinn.<br />
„Ich hoffe, ich kann mich bald wieder normal bewegen,<br />
Mama hat mich zum Arzt gebracht. Er hat mir eine Spritze<br />
147
gegeben, die ganz gut anschlägt“, antwortete Papa. Ich<br />
war erleichtert. Mein Magen begann laut zu knurren.<br />
„Ich muss erst mal was essen“, sagte ich. Mit einer großen<br />
Schüssel Müsli kam ich zurück auf die Terrasse.<br />
„Oh“, meinte Papa erstaunt, „das müsste doch für den<br />
Rest des Tages reichen, oder?“<br />
„Lass noch Platz für heute Abend“, grinste Meike, „Jaap<br />
hat uns zu einem Fest eingeladen, er will die Rückkehr der<br />
Galionsfigur mit uns feiern.“<br />
Es ärgerte mich, wenn sie sich darüber lustig machten,<br />
wie viel ich im Augenblick essen konnte. Ich wunderte<br />
mich ja selbst manchmal.<br />
„Wie spät findet das Fest denn heute Abend statt?“, knurrte<br />
ich möglichst unfreundlich.<br />
„Um sieben sollen wir im Museum sein“, antwortete Papa<br />
lächelnd.<br />
„Und wie bekommen wir dich nach Buren? Du kannst doch<br />
kaum laufen.“<br />
Das saß. <strong>Die</strong> Frage war zwar gemein, aber Papa hatte es<br />
verdient. Er ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen.<br />
„Es wird schon“, antwortete er, „bis heute Abend werde ich<br />
wieder laufen wie ein junger Gott.“<br />
Ich vertiefte mich wieder in meine Müslischüssel.<br />
„Ich hätte Lust vorher noch einen kleinen Ausflug zu machen“,<br />
meinte Mama, „das Wetter ist ja wieder besser, wie<br />
wär’s mit einer Wattwanderung? <strong>Die</strong> Zeit reicht noch,<br />
wenn wir gleich losgehen.“<br />
„Nein, ich nicht!“ Meike winkte ab.<br />
„Außerdem kann Papa ja gar nicht mitgehen. Ich will lieber<br />
zum Strand und einfach schwimmen.“<br />
„Ich auch“, murmelte ich kauend, „das ist eindeutig die<br />
bessere Idee.“<br />
Mama zuckte mit den Schultern.<br />
„Na gut, aber Papa und ich bleiben hier. Ihr müsst alleine<br />
zum Strand fahren.“<br />
148
„Klar, wir schauen bei den anderen vorbei und fragen, ob<br />
sie mit wollen“, meinte Meike.<br />
„Komm Hannah, zieh dich an, ich suche schon mal die<br />
Sachen zusammen!“<br />
Schnell hatte Meike die Badetasche gepackt und wir konnten<br />
starten.<br />
„Seid bitte um sechs zurück“, rief Mama uns nach, „damit<br />
wir pünktlich nach Buren fahren können!“<br />
<strong>Die</strong> Franzens ließen sich schnell überreden, nur Hanjo war<br />
mit Uli auf einer Wanderung. <strong>Die</strong> Münstermänner hatten<br />
auch Lust. Zusammen verbrachten wir einen schönen<br />
Nachmittag am Strand. Ich freute mich, dass endlich alles<br />
vorbei war. <strong>Die</strong> Jagd nach der Galionsfigur fand ich zwar<br />
aufregend, aber ganz normale Ferien ohne Abenteuer gefielen<br />
mir auch.<br />
Als wir zurückkamen, ging es Papa schon wieder ganz<br />
gut. Wir trafen uns mit den anderen an der Haltestelle.<br />
Kurze Zeit später kam der Bus.<br />
„Hallo, da seid ihr ja wieder!“<br />
‚Unser’ Fahrer begrüßte uns mit einem freundlichen Lächeln.<br />
„Ihr wollt zum Museum, stimmt´s?“<br />
„Genau!“, schrie Olli, „wir feiern unseren Sieg. Das Böse<br />
ist endgültig erledigt.“<br />
Er reckte triumphierend die Faust.<br />
„Ja, ja, sagte der Busfahrer, Jaap hat es mir erzählt, aber<br />
vom Bösen kann man nicht unbedingt reden, glaube ich.<br />
<strong>Die</strong> zwei sind eher arme Schweine.“<br />
„Komm, Olli, setz dich hin!“, zischte ihn Lara an. Wir gingen<br />
nach hinten durch und noch während wir unsere Plätze<br />
suchten, fuhr der Bus mit einem Ruck los. Es ging wieder<br />
über die vertraute Strecke. Zuerst hinaus aus Hollum<br />
auf den Ballumer Weg, der direkt auf das kleine Dorf zulief.<br />
Auf dem Kopfsteinpflaster in Ballum rumpelten wir an<br />
dem alten Glockenturm vorbei, auf den ich unbedingt noch<br />
mal hoch klettern muss. Dann hielten wir fast direkt<br />
149
gegenüber unserer Lieblingspommesbude am Kreisverkehr.<br />
Über die Hauptstraße ging es weiter nach Nes. Nach<br />
kurzen Zwischenstopps im Dorf und am Fährhafen erreichten<br />
wir Buren. Am kleinen Museum ließ uns der Fahrer<br />
aussteigen.<br />
„Viel Spaß noch!“, rief er uns hinterher. Jaap stand wie<br />
immer schon an der Haltestelle.<br />
„Herzlich willkommen!“, begrüßte er uns fröhlich.<br />
„Da das Wetter ja wieder gut ist, werden wir draußen im<br />
Hof feiern. Hoffentlich habt ihr Hunger mitgebracht!“<br />
„Und wie“, brüllte Rainer, „ich könnte ganze Wildschweine<br />
verputzen, beim Teutates!“<br />
<strong>Die</strong> Erwachsenen lachten. „Wer ist eigentlich Teutates?“,<br />
wollte ich wissen.<br />
„Ein Kriegsgott der alten Gallier“, antwortete Rainer, „obwohl<br />
ich an den gar nicht glaube.“<br />
Als wir das Museum betraten, blieben wir erst mal wie angewurzelt<br />
stehen. Vor uns an der Wand hing die Galionsfigur.<br />
„Da staunt ihr, was?“, meinte Jaap, „aber dieser Platz ist<br />
für Marijke wie geschaffen.“<br />
„Ich hatte sie gar nicht so groß in Erinnerung“, sagte Pit,<br />
„im Dunklen in der Erde konnte man sie nicht so richtig erkennen.<br />
<strong>Die</strong> sieht voll stark aus.“<br />
Auch unsere Eltern schienen beeindruckt zu sein und sahen<br />
die Figur mit großen Augen an. Beleuchtet vom hellen<br />
Lichtkegel eines Scheinwerfers strahlte sie in ihrer ganzen<br />
Schönheit. <strong>Die</strong> Farbe ihres grünen Kleides kam jetzt richtig<br />
zur Geltung, genau wie ihre feuerroten Haare. Es sah aus,<br />
als wollte sie uns persönlich die Hand zum Siegeszeichen<br />
entgegenstrecken. Sicher freute sie sich, wieder hier im<br />
Museum zu sein.<br />
„Das ist ihr Platz!“, sagte Jaap stolz, „hier gehört sie hin<br />
und hier wird sie vorerst auch bleiben.“<br />
„Ich könnte zwar Wildschweine verputzen, aber die<br />
Schönheit dieses Weibes lässt mich meinen Hunger<br />
150
vergessen. Der Kapitän, der sie am Bug seines Schiffes<br />
führte, muss ein glücklicher Mann gewesen sein“, meinte<br />
Rainer bewundernd. Lara und Paula verdrehten die Augen.<br />
„Du musst noch erzählen, zu welchem Schiff sie jetzt<br />
wirklich gehörte“, bat Rainer.<br />
„Angeblich soll sie ja vom gestrandeten Schiff ihres Sohnes<br />
gewesen sein. Aber die Geschichte kennt ihr ja schon.<br />
Wahrscheinlicher ist allerdings, dass sie <strong>von</strong> einem der<br />
Walfangschiffe stammt. Deshalb war sie vermutlich auch<br />
im Besitz der Dijkstras. Aber jetzt lasst uns in den Hof gehen,<br />
die anderen warten schon auf uns.“<br />
Alle, die bei der Suche nach Marijke geholfen hatten, waren<br />
eingeladen. Gerrit und sein Kollege, außerdem ein<br />
großer bärtiger Mann mit einer warmen und freundlichen<br />
Stimme, der sich uns als Bart de Gee vorstellte, der holländische<br />
Schauspieler, der den Kapitän gesprochen hatte.<br />
Er unterhielt sich mit Ellen van Dijk, der Wirtin des<br />
Strandcafes <strong>von</strong> Buren, die der Rixt ihre Stimme gegeben<br />
hatte. Jaap strahlte richtig, als er sie uns vorstellte. Alle<br />
standen vor einem großen, langen Tisch mit weißer Decke<br />
und vielen Köstlichkeiten. In der Mitte des Hofes brannte<br />
ein Grillfeuer. Rainer würde also auch seinen Hunger auf<br />
Fleisch stillen können.<br />
„Oh, wie wunderbar!“, rief er, „ein halbes Wildschwein für<br />
den wahren Ameländer Obelix. Jaap, ich danke dir, du<br />
weißt, was dicke Männer brauchen!“<br />
„Rainer, ich muss deinen Redefluss mal kurz unterbrechen“,<br />
begann Jaap jetzt und rieb sich die Hände.<br />
„Ich möchte euch, meine Freunde, herzlich willkommen<br />
heißen. Ich habe euch zu diesem Festabend eingeladen,<br />
um mich zu bedanken. Insbesondere bei den Kindern,<br />
denn ohne eure Hilfe hätte ich die Galionsfigur niemals zurückbekommen.<br />
Ich bin froh und stolz eure Bekanntschaft<br />
gemacht zu haben. Das Museum hätte ohne euch sein<br />
wichtigstes Ausstellungsstück für immer verloren und<br />
151
großen Schaden genommen. Zwischen uns hat eine wunderbare<br />
Freundschaft begonnen, auf die ich auch in der<br />
Zukunft nicht mehr verzichten möchte. Unsere gemeinsamen<br />
Abenteuer haben uns, wie ich finde, zusammen geschweißt<br />
und ich hoffe, dies war nicht euer letzter Urlaub<br />
auf <strong>Ameland</strong>. Auch den Eltern gilt mein Dank, ihr habt<br />
Großartiges geleistet, genau wie meine holländischen<br />
Freunde. Ihr alle habt mich fantastisch unterstützt. Und<br />
jetzt wünsche ich euch einen guten Appetit. Nehmt bitte<br />
Platz!“<br />
Ich saß am Tisch zwischen Pit und Lara. „Ich weiß gar<br />
nicht, womit ich zuerst anfangen soll“, sagte Lara.<br />
„Versuchs mal mit dem Matjes, du stehst doch auf Fisch“,<br />
riet ich ihr, „oder mach’s wie Pit, der isst alles auf einmal.“<br />
Mit Erstaunen sahen wir auf seinem Teller Fisch, Käsewürfel,<br />
Pommes, einen großen Klecks holländischer Mayonnaise,<br />
kleine Frikadellen und noch vieles mehr. Es<br />
schien ihm zu schmecken. Rainer, Papa und Uli standen<br />
am Feuer und ließen sich <strong>von</strong> Jaap mit Grillfleisch versorgen.<br />
Auch alle anderen hatten sich am Tisch einen Platz<br />
gesucht. Rainer war wie immer kaum zu bremsen und unterhielt<br />
uns mit seinen Geschichten. Als er gerade mit einem<br />
großen Steak beschäftigt war, nutzte ich die Chance,<br />
Gerrit zu fragen, ob die Dijkstras gestanden hatten.<br />
„Eigentlich darf ich es ja nicht erzählen“, antwortete er, „aber<br />
ihr sollt es trotzdem wissen. Ich habe sie im Polizeigebäude<br />
in Nes noch lange verhört.“<br />
„Was haben sie zu dem Auftritt des Kapitäns und der Matrosen<br />
gesagt?“, wollte ich wissen.<br />
„Wim hat sich zunächst fürchterlich erschreckt und tatsächlich<br />
gedacht, er hätte eine Erscheinung. Aber als dein<br />
Vater wegen der Rückenschmerzen Rainer nicht mehr<br />
tragen konnte, wusste er sofort, was gespielt wurde.<br />
Trotzdem war er über die Verhaftung richtig erleichtert. Ich<br />
152
glaube, jetzt hat er verstanden, was mit seinem Sohn los<br />
ist.“<br />
„Was denn nun?“, murmelte Pit, der sich inzwischen seinen<br />
Teller zum zweiten Mal gefüllt hatte.<br />
„Ruud ist krank“, fuhr Gerrit fort, „er weiß eigentlich nicht,<br />
was er tut. Mit Geld kann man ihm nicht helfen. Er braucht<br />
Unterstützung <strong>von</strong> Fachleuten.“<br />
„Na hoffentlich kriegen die das hin“, murmelte Pit mit vollem<br />
Mund.<br />
„Das hoffe ich auch“, nickte Gerrit.<br />
„Und was passiert jetzt mit den beiden?“<br />
„Wir bringen sie morgen nach Leeuwarden, um sie dem<br />
Richter vorzuführen. Wahrscheinlich werden sie wegen<br />
Betruges und Erpressung angeklagt und Ruud wird eine<br />
Therapie machen müssen. Ich hoffe Wim kann später sein<br />
Geschäft hier auf <strong>Ameland</strong> wieder eröffnen.“<br />
Gerrit seufzte.<br />
„Eigentlich ist er nämlich ein guter Kerl.“<br />
Rainer hatte inzwischen sein Steak verputzt und wieder<br />
laut das Kommando am Tisch übernommen.<br />
„Man reiche mir mein Wildschwein!“, rief er, „ich muss<br />
euch noch eine besondere Geschichte erzählen, die ich<br />
extra für den heutigen Abend vorbereitet habe!“<br />
„Papa, weißt du, was auf den Festen am Ende der Asterix<br />
und Obelix Geschichten mit Troubadix, dem Sänger, immer<br />
passiert?“, grinste Lara.<br />
„Rainer schaute sie verständnislos an.<br />
„Nein, erzähl’ es mir Tochter, berichte mein Kind!“<br />
„Ganz einfach, er wird gefesselt, geknebelt und ruhig gestellt.<br />
Und jetzt schau mal, was ich hier habe?“<br />
Sie hielt ein Tuch und ein langes Seil hoch, stand vom<br />
Tisch auf und stürzte sich lachend zusammen mit Olli und<br />
Paula auf ihren Vater.<br />
153
„Ihr müsst mir helfen!“, rief er uns zu, „ich muss unbedingt<br />
noch diese wunderbare Geschichte erzählen, nur diese<br />
eine. Euch entgeht was. Lasst mich…!“<br />
Der letzte Satz wurde <strong>von</strong> dem Knebel erstickt, den sie<br />
ihm in den Mund schoben. Außerdem fesselten sie ihn mit<br />
dem langen Seil an seinem Stuhl, bis er nur noch seinen<br />
Kopf bewegen konnte. Wir lachten, auch Marlies schien<br />
ihren Spaß zu haben.<br />
„So, jetzt können wir weiter feiern!“, rief Paula triumphierend,<br />
„Vielerzählix ist ruhig gestellt!“<br />
Rainer musste aber nicht lange gefesselt und geknebelt<br />
auf dem Stuhl sitzen bleiben. Wir hatten bald Mitleid und<br />
befreiten ihn schnell wieder. Er versprach den Rest des<br />
Abends einfach mitzufeiern und seine Geschichte für sich<br />
zu behalten. Das Fest dauerte noch lange. <strong>Die</strong> Erwachsenen<br />
saßen am Tisch und unterhielten sich. Wir Kinder<br />
sind irgendwann zum Strand gegangen. Der schöne<br />
Abend hatte noch viele Menschen ans Meer gelockt. Eine<br />
Weile standen wir bei einer Gruppe <strong>von</strong> Jugendlichen, die<br />
ein Strandfeuer angezündet hatten. Dann lief ich allein ans<br />
Wasser.<br />
Es war eine wunderschöne Nacht. Über mir der klare<br />
Sternenhimmel, vor mir die rauschenden Wellen. Ich stand<br />
mit bloßen Füßen im Sand und schloss die Augen. <strong>Die</strong> Ferien<br />
waren noch lange nicht zu Ende.<br />
Plötzlich schob sich eine Hand in meine, Meike stand neben<br />
mir.<br />
„Morgen wird bestimmt wieder ein schöner Tag“, sagte sie.<br />
Ich nickte.<br />
Als wir uns umschauten, bemerkten wir, dass die anderen<br />
schon wieder auf dem Rückweg zum Museum waren.<br />
Schnell liefen wir ihnen nach.<br />
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