ein unmoralisches Angebot? - Ã bo Akademi
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Rintalas Absicht ist also, eine Faust-Gestalt zu entwickeln, die nicht von den Gerüchten„beschmutzt“ ist. Dieser Faust hat den historischen, „echten“ Faustus als Vorbild, sieht sichaber gleichzeitig mit dem Problem der Sagenbildung konfrontiert:Kohtalokseni tulee jäädä elämään tarinan henkilönä, tohtori Johan Faustina. 570Aber letztendlich weiß er nicht einmal selbst genau, wer er eigentlich ist. Er resigniertgewissermaßen vor seinem Selbstzweifel:En itse edes tiedä, kumpi olen: historiallinen henkilö joka elää minussa vaiko setoinen, legenda. 571Die Überlegungen dieser Faust-Gestalt haben hier eine Verbindung zu Paul Valérys in derzeit zwischen 1940-1946 erschienenen „Mon Faust“. 572 Valérys Faust-Gestalt ist sich auchdessen bewusst, dass über ihn vieles geschrieben worden ist, was mit den historischenTatsachen nicht unbedingt etwas zu tun hat. 573 Sowohl Valéry als auch Rintala lassen derIronie freien Lauf, sie kritisieren die „Gerüchteküche“, die Sagenbildung in den vergangenenJahrhunderten, die eine solche Identitätskrise hat herbeiführen können. Zu Rintalas Kritiküber die Entstehung der Faustsage mehr später in diesem Kapitel.Wenn also der Erzähler sich selbst nicht zu definieren vermag, hat es der Leser mindestensebenso schwer. Das Lesen von Rintalas Faustus-Roman gestaltet sich insgesamt rechtkompliziert, denn der Erzähler befindet sich einmal in seinen finnischen HeimatstädtenViborg und Oulu 574 , im nächsten Moment bereits in Leningrad oder Frankfurt, oder besuchteine deutsche Kleinstadt oder ein Schloss im 16. Jahrhundert. Die Grenzen sind fließend, esist selten eindeutig, welche zeitliche und geographische Ebene und welche Persönlichkeit derErzähler gerade einnimmt.570 S. 15. Übers.: „Mein Schicksal wird es sein, als eine Person der Sage weiterzuleben, als Doktor Johan Faust.“571 S. 17. Übers. „Ich weiß nicht einmal selbst, welcher ich bin: die historische Person, die in mir lebt oder dieandere, die Sage.”572 Verschiedene Quellen geben unterschiedliche Erscheinungszeitpunkte für Valérys Mon Faust an.573 Paul Valéry: Mein Faust (Übers. Aus dem Französischen von Friedhelm Kemp), S. 15: „ Man hat so viel übermich geschrieben, daß ich nicht mehr weiß, wer ich bin. Natürlich habe ich diese zahllosen Werke nicht allegelesen, und es mag gewiß mehr als eines darunter sein, dessen bloßes Vorhandensein mir verborgen gebliebenist. Diejenigen aber, die zu meiner Kenntnis gelangt sind, genügen, um mir selber von meinem eigenen Schicksaleine üppige Vorstellung von wunderlicher Vielfalt zu vermitteln. So kann ich etwa, was mein Geburtsdatumangeht, zwischen mehreren Jahreszahlen nach Belieben wählen. Für jede liegen unverwerfliche Dokumente vor[…]. Desgleichen kann ich aufrichtigen Herzens im Zweifel sein, ob ich verheiratet war oder nicht, ob einmaloder mehrere Male […]“574 Viborg ist eine alte finnische Stadt an der Finnischen Bucht, die seit dem Zweiten Weltkrieg zu Russlandgehört. Aus dieser Stadt sind 1939 sehr viele Finnen vertrieben worden, unter anderem auch der Autor Rintalaals 9-jähriger Junge. Oulu liegt in Nordfinnland, etwas südlich vom Polarkreis am Bottnischen Meerbusen.172
Von allen finnischen Faust-Werken 575 ist dieser dritte Teil von Rintalas Trilogie jedochderjenige, der am engsten mit der deutschsprachigen, älteren Faust-Tradition verbunden ist.Rintalas detailgenaue Kenntnisse der Geschichte sowie der literarischen Bearbeitungen desFaust-Stoffes scheinen durch seinen eigenen Text hindurch, entweder als Zitate oder aber alsAndeutungen, die nur ein versierter Leser als solche verstehen kann. Der Roman – wie diegesamte Trilogie – baut auf verschiedene Formen der Intertextualität 576 auf: EineQuellenverzeichnis gibt es nicht, da es sich hier um einen Roman, um Fiktion also, handelt,aber die Co-Existenz der früheren Faust-Werke wird deutlich, weil Rintala seinen Faust mitdem anderer Autoren inhaltlich verknüpft, sich auf die früheren Bearbeitungen des Themasbezieht und diese gewissermaßen auch interpretiert und vergleicht. 577 Vor allem ist der Bezugzu dem historischen Georgius Sabellicus Faustus, zum Volksbuch (Historia) und auch zuGoethes Faust deutlich zu spüren, u.a. in der Form von direkten Zitaten. 578 Diese Tatsacheerschwert wiederum die Analyse von Rintalas Roman, denn teilweise liest sich dieser nahezuwie eine kritische Untersuchung der gesamten bisherigen Faust-Literatur. Rintala analysiertund kritisiert die Entstehungsgeschichte der gesamten Sage, indem er die historische Gestalt575 Siehe Kap. IV.I. 4. sowie IV.II. B.2. und B.3.576 Ich definiere den Begriff Intertextualität enger als beispielsweise Bachtin und Kristeva. Die meinenUntersuchungen zugrunde liegende Definition formuliert Jörg Dieter in seinem Aufsatz „Schlagt dieGermanistik tot – färbt die blaue Blume rot. Gedanken zur Intertextualität“ wie folgt: „Intertextualität liegt dannvor, wenn sich Gründe anführen lassen, aus denen hervorgeht, warum ein Rezipient erkennen kann, daß einAutor eine Formulierung verwendet hat, in der sich ein Bezug auf einen anderen Text erkennen läßt.“ Dieterbetont also die Möglichkeit zur Erkennung weiterer Texte im aktuell zu lesenden Text, geht aber nichtautomatisch davon aus, dass ein jeder Leser die Intertexte erkennen kann oder gar muss. Dieter nennt 13Möglichkeiten der Markierung von Intertextualitäten, und in Rintalas Text gibt es Beispielfälle für die meistendieser Kategorien. (Die Liste der Markierungsmöglichkeiten wird im Anhang 4 zitiert. Die in Rintalas Romanenvorkommenden Intertextualität-Markierungen sind von mir durch Unterstreichung hervorgehoben.)Broich und Pfister (Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. S. 31.) definieren den BegriffIntertextualität ähnlich, nur etwas enger: „Intertextualität [liegt] dann vor, wenn ein Autor bei der Abfassungseines Textes sich nicht nur der Verwendung anderer Texte bewußt ist, sondern auch vom Rezipienten erwartet,daß er diese Beziehung zwischen seinem Text und anderen Texten als vom Autor intendiert und als wichtig fürdas Verständnis seines Textes erkennt. Intertextualität in diesem engeren Sinn setzt also das Gelingen einesKommunikationsprozesses voraus, bei dem nicht nur Autor und Leser sich der Intertextualität eines Textesbewußt sind, sondern bei der jeder Partner des Kommunikationsvorganges darüber hinaus auch dasIntertextualitätsbewußtsein seines Partners mit einkalkuliert.“ Broich und Pfister gehen also davon aus, dass derLeser die Intertextualität erkennen muss. In Rintalas Fall ist nicht davon auszugehen, dass er von seinenfinnischen Lesern erwartet, dass sie all die zahlreichen Intertexthinweise als solche erkennen und verstehen.577 Rintalas Faustroman hat in diesem Sinne viel mit dem Thomas Manns gemein. Auch dieser hat bereitsexistierendes Material über die Faust-Tradition (und in seinem Falle auch über die Zwölftontechnik und über denKrankheitsverlauf der Syphilis, vor allem bei Friedrich Nietzsche) frei und ohne Quellenangaben für seine Faust-Gestalt Adrian Leverkühn im Roman Doktor Faustus verwendet und diese Methode der „Materialienausleihe“auch schon in Buddenbrooks und in der Joseph-Tetralogie verwendet. Mann ist dafür sehr kritisiert worden, vorallem von dem „Erfinder“ der Zwölftontechnik, Arnold Schönberg.578 Es wird unter anderem der Anfang des Faust-Monologs von Goethe zitiert (S. 101, entspricht V. 354 –365 beiGoethe), eine Stelle aus der Walpurgisnacht (S. 266, entspricht V. 4128 - 4143), sowie einzelne Geschichten ausdem Volksbuch. Ebenso werden Aufenthaltsorte oder Personen aus dem Leben des historischen Faust ofterwähnt. So werden z. B. der Bischof Georg Schenk von Limpurg, Philip Begard und Daniel Stibar erwähnt,ebenso kann man lesen, dass Faust in Heidelberg studiert hat. Auch die oben genannte Anspielung auf denFamulus Wagner gehört zu diesen „Andeutungen“.173
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Rintalas Absicht ist also, <strong>ein</strong>e Faust-Gestalt zu entwickeln, die nicht von den Gerüchten„beschmutzt“ ist. Dieser Faust hat den historischen, „echten“ Faustus als Vorbild, sieht sichaber gleichzeitig mit dem Problem der Sagenbildung konfrontiert:Kohtalokseni tulee jäädä elämään tarinan henkilönä, tohtori Johan Faustina. 570Aber letztendlich weiß er nicht <strong>ein</strong>mal selbst genau, wer er eigentlich ist. Er resigniertgewissermaßen vor s<strong>ein</strong>em Selbstzweifel:En itse edes tiedä, kumpi olen: historiallinen henkilö joka elää minussa vaiko setoinen, legenda. 571Die Überlegungen dieser Faust-Gestalt haben hier <strong>ein</strong>e Verbindung zu Paul Valérys in derzeit zwischen 1940-1946 erschienenen „Mon Faust“. 572 Valérys Faust-Gestalt ist sich auchdessen bewusst, dass über ihn vieles geschrieben worden ist, was mit den historischenTatsachen nicht unbedingt etwas zu tun hat. 573 Sowohl Valéry als auch Rintala lassen derIronie freien Lauf, sie kritisieren die „Gerüchteküche“, die Sagenbildung in den vergangenenJahrhunderten, die <strong>ein</strong>e solche Identitätskrise hat herbeiführen können. Zu Rintalas Kritiküber die Entstehung der Faustsage mehr später in diesem Kapitel.Wenn also der Erzähler sich selbst nicht zu definieren vermag, hat es der Leser mindestensebenso schwer. Das Lesen von Rintalas Faustus-Roman gestaltet sich insgesamt rechtkompliziert, denn der Erzähler befindet sich <strong>ein</strong>mal in s<strong>ein</strong>en finnischen HeimatstädtenViborg und Oulu 574 , im nächsten Moment bereits in Leningrad oder Frankfurt, oder besucht<strong>ein</strong>e deutsche Kl<strong>ein</strong>stadt oder <strong>ein</strong> Schloss im 16. Jahrhundert. Die Grenzen sind fließend, esist selten <strong>ein</strong>deutig, welche zeitliche und geographische Ebene und welche Persönlichkeit derErzähler gerade <strong>ein</strong>nimmt.570 S. 15. Übers.: „M<strong>ein</strong> Schicksal wird es s<strong>ein</strong>, als <strong>ein</strong>e Person der Sage weiterzuleben, als Doktor Johan Faust.“571 S. 17. Übers. „Ich weiß nicht <strong>ein</strong>mal selbst, welcher ich bin: die historische Person, die in mir lebt oder dieandere, die Sage.”572 Verschiedene Quellen geben unterschiedliche Ersch<strong>ein</strong>ungszeitpunkte für Valérys Mon Faust an.573 Paul Valéry: M<strong>ein</strong> Faust (Übers. Aus dem Französischen von Friedhelm Kemp), S. 15: „ Man hat so viel übermich geschrieben, daß ich nicht mehr weiß, wer ich bin. Natürlich habe ich diese zahllosen Werke nicht allegelesen, und es mag gewiß mehr als <strong>ein</strong>es darunter s<strong>ein</strong>, dessen bloßes Vorhandens<strong>ein</strong> mir verborgen gebliebenist. Diejenigen aber, die zu m<strong>ein</strong>er Kenntnis gelangt sind, genügen, um mir selber von m<strong>ein</strong>em eigenen Schicksal<strong>ein</strong>e üppige Vorstellung von wunderlicher Vielfalt zu vermitteln. So kann ich etwa, was m<strong>ein</strong> Geburtsdatumangeht, zwischen mehreren Jahreszahlen nach Belieben wählen. Für jede liegen unverwerfliche Dokumente vor[…]. Desgleichen kann ich aufrichtigen Herzens im Zweifel s<strong>ein</strong>, ob ich verheiratet war oder nicht, ob <strong>ein</strong>maloder mehrere Male […]“574 Viborg ist <strong>ein</strong>e alte finnische Stadt an der Finnischen Bucht, die seit dem Zweiten Weltkrieg zu Russlandgehört. Aus dieser Stadt sind 1939 sehr viele Finnen vertrieben worden, unter anderem auch der Autor Rintalaals 9-jähriger Junge. Oulu liegt in Nordfinnland, etwas südlich vom Polarkreis am Bottnischen Meerbusen.172