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5101520253035Fach: Pädagogik Oerter - <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> LK 13Rolf Oerter<strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> - das zentrale Thema im Jugendalterin: Oerter/Montada (Hrsg.): Entwicklungspsychologie (Weinheim/Basel4/1998))DEFINITIONMenschliche Entwicklung be<strong>de</strong>utet die Aneignung <strong>de</strong>r Handlungskompetenzen,die für das Leben im menschlichen Ökosystemnötig sind. Diesen Prozess nennt man Enkulturation.Enkulturation und biologische Entwicklung sieht man nicht als Wi<strong>de</strong>rspruch,son<strong>de</strong>rn als zusammengehörig. Kulturfähigkeit, also dieFähigkeit, die Inhalte einer Kultur zu lernen, ist selbst wie<strong>de</strong>r einbiologisches Merkmal <strong>de</strong>s Menschen, das sich im Laufe <strong>de</strong>r Evolutionherausgebil<strong>de</strong>t hat (Lock. 2000). Kulturelle Vielfalt und genetischeVielfalt existieren gemeinsam in <strong>de</strong>r menschlichen Art(species homo sapiens), aber die Kulturen <strong>de</strong>finieren, was gelerntund was geglaubt wer<strong>de</strong>n soll und wie man sich <strong>de</strong>mentsprechendzu verhalten hat.2.2 Enkulturation und AkkulturationWie wird nun kulturelles Wissen auf die nachfolgen<strong>de</strong> Generationübertragen? Für die genetische Information gibt es nur einen Weg:<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r Elterngeneration auf die Kin<strong>de</strong>rgeneration. Abbildung3.3 zeigt, dass es bei <strong>de</strong>r kulturellen Transmission (Übertragung)drei Formen <strong>de</strong>r Weitergabe gibt (Berry et al., 1992).Vertikale Transmission. Die vertikale Transmission von <strong>de</strong>n Elternauf die Kin<strong>de</strong>r (in diesem Fall müssen es nicht die biologischenEltern sein) bewerkstelligt die generelle Enkulturation, aberauch die spezifische Sozialisation. Letztere wird von <strong>de</strong>n Autorenals intentionale und planvolle Einwirkung verstan<strong>de</strong>n, währendEnkulturation immer und überall stattfin<strong>de</strong>t.Diagonale Transmission. Die diagonale Transmission erfolgtdurch an<strong>de</strong>re Erwachsene, z.B. durch die Lehrer. Sofern diese an<strong>de</strong>renErwachsenen <strong>de</strong>r eigenen Kultur angehören, han<strong>de</strong>lt es sichweiterhin um Enkulturation und Sozialisationsprozesse. Wennaber diese Erwachsenen aus einer an<strong>de</strong>ren Kultur stammen und<strong>de</strong>ren Inhalte bzw. Verhaltensnormen vermitteln, spricht man vonAkkulturation.Unter Akkulturation versteht man eine Art sekundäreEnkulturation, die erst dann einsetzt, wenn Kin<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r Jugendlichesich bereits eine kulturelle <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> erworben haben. Dies ist<strong>de</strong>r Fall bei Migrantenkin<strong>de</strong>rn, Asylbewerbern, Flüchtlingen etc.Sind solche Beeinflussungs- bzw. Lehrprozesse planvoll und zielgerichtet,so wer<strong>de</strong>n sie zu Resozialisierungsvorgängen.Abbildung 3.3 Vertikale, horizontale und diagonale kulturelle40 Transmissionen (leicht abgewan<strong>de</strong>lt nach Berry & Cavalli-Sforza,1986)45Horizontale Transmission. Schließlich gibt es auch eine horizontaleTransmission bei <strong>de</strong>r kulturellen Übertragung, nämlich die Enkulturationdurch die Gleichaltrigen (Peers). Sie spielt spätestensab Schuleintritt eine ganz zentrale Rolle, da eine Reihe von kulturellenInhalten nur durch Gleichaltrige vermittelt wird (s. hierzu v.aOerter-<strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>.doc Oerter - <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> Seite 1 von 750556065707580859095100105110115Kap. 7). Heute haben wir es in größerem Umfange auch mit Akkulturationsprozessenbei Gleichaltrigen zu tun, nämlich dann, wennMigrantenkin<strong>de</strong>r bzw. -jugendliche die neue Kultur von Gleichaltrigenerwerben.Kollektive und individualistische Kulturen. Kollektive Kulturenbetonen Bindung stärker als Unabhängigkeit, während in individualistischenKulturen Unabhängigkeit als Ziel im Vor<strong>de</strong>rgrundsteht. Verbun<strong>de</strong>n mit diesen unterschiedlichen Ten<strong>de</strong>nzen legenkollektive Kulturen Wert auf Gehorsam und Respekt, individualistischeKulturen för<strong>de</strong>rn Unabhängigkeit und Durchsetzungsfähigkeit<strong>de</strong>r eigenen Meinung. Selbst <strong>de</strong>r Intelligenzbegriff ist betroffen:Kollektive Kulturen bevorzugen und för<strong>de</strong>rn soziale Intelligenz (geschickte,einfühlsame Interaktion), individualistische Kulturentechnische Intelligenz (Umgang mit Gegenstän<strong>de</strong>n, Begreifenfunktioneller Zusammenhänge). Damit zusammenhängend hat inkollektiven Kulturen <strong>de</strong>r Sozialbezug, in individualistischen Kulturen<strong>de</strong>r Objektbezug Vorrang.Die Gesamtentwicklung verläuft in individualistischen Kulturen vonAbhängigkeit zu Unabhängigkeit, in kollektiven Kulturen bleibt dieAbhängigkeit erhalten. Spätere Autonomie dient <strong>de</strong>r Familie o<strong>de</strong>rGesellschaft, und die alten Menschen, von <strong>de</strong>nen vormals dienachfolgen<strong>de</strong> Generation abhängig war, wer<strong>de</strong>n ihrerseits vondieser abhängig.Unter <strong>de</strong>r Lupe - Unterschie<strong>de</strong> zwischen kollektiver und individuellerOrientierungSelbst in ein und <strong>de</strong>rselben Gesellschaft zeigen sich noch Unterschie<strong>de</strong>zwischen kollektiver und individueller Orientierung,wenn in <strong>de</strong>n Familien die ursprüngliche kulturelle Tradition weiterwirkt.Dies ist in breitem Umfang in <strong>de</strong>n USA, in wachsen<strong>de</strong>mAusmaß aber auch in Deutschland und Europa <strong>de</strong>r Fall. Folgen<strong>de</strong>sSzenario mag diesen Sachverhalt illustrieren (Suzuki &Greenfield, 1997, zit. nach Greenfield & Suzuki, 1998). Proban<strong>de</strong>nim späten Jugendalter (Un<strong>de</strong>rgraduates) wur<strong>de</strong>n gefragt,wie sie sich in folgen<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Situation verhalten wür<strong>de</strong>n: Voreiner Woche warst du mit <strong>de</strong>iner Mutter beim Einkaufen. An<strong>de</strong>r Kasse bemerkte sie, dass ihr 10 USD zum Bezahlen fehlten.Du liehst ihr das Geld, und nach einer Woche zeigt dieMutter kein Anzeichen, dass sie sich an <strong>de</strong>n Vorfall erinnert.Was wür<strong>de</strong>st du tun? Stu<strong>de</strong>nten aus Familien mit europäischerHerkunft äußerten, dass sie die Mutter in netter Weise an dasgeliehene Geld erinnern wür<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn sie habe es sicherlichvergessen. Stu<strong>de</strong>nten aus Familien japanischer Herkunft sagten,dass sie nicht nach <strong>de</strong>m Geld fragen wür<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn dieMutter habe so viel für sie getan, das sei mehr, als sie je zurückzahlenkönnten. Sie seien glücklich, <strong>de</strong>r Mutter Geld leihenzu können.Solange Erziehung und Entwicklung einem <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Muster ineiner relativ homogenen Kultur folgen, ist dies funktional. Wennaber Enkulturation und Akkulturation unterschiedliche kulturelleOrientierungen aufweisen, führt dies zu Konflikten. Wi<strong>de</strong>rsprüchlichekulturelle Wertrepräsentationen prallen aufeinan<strong>de</strong>r. In Europaist das vor allem <strong>de</strong>r Fall bei ausländischen Kin<strong>de</strong>rn und Jugendlichen.Bekannt sind die Probleme türkischer Jugendlicher, vor allemdie konfliktträchtige Akkulturation <strong>de</strong>r Mädchen (siehe auchKap. 32).Drei Selbst-Komponenten. Der Aufbau kultureller <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> wur<strong>de</strong>von Triandis (1989) untersucht. Er unterschei<strong>de</strong>t im Anschluss anBaumeister (1986) zwischen privatem, öffentlichem und kollektivemSelbst.• Das private Selbst umfasst Kognitionen von Eigenschaften,Zustän<strong>de</strong>n und Verhaltensweisen <strong>de</strong>r eigenen Person (z.B. ichbin ehrlich).• Das öffentliche Selbst beinhaltet generalisierte Sichtweisen<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren von einem selbst (die Leute meinen, ich sei ehrlich).• Das kollektive Selbst bezieht sich auf Kognitionen über dieÜberzeugungen einer Gruppe, eines Kollektivs über die eigenePerson (meine Familie hält mich für ehrlich).Während das private Selbst eine Einschätzung durch das Selbstist und das öffentliche Selbst die Einschätzung <strong>de</strong>r Person durch<strong>de</strong>n generalisierten An<strong>de</strong>ren darstellt, korrespondiert das kollektive


120125Fach: Pädagogik Oerter - <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> LK 13130 • lose - dichte Kulturen und135140145150155160165170175180185190Selbst mit <strong>de</strong>r Einschätzung durch die Bezugsgruppe (Triandis,1989).Eine Metho<strong>de</strong> zur Erfassung <strong>de</strong>r unterschiedlichen Selbst-Komponenten besteht in <strong>de</strong>m Satzergänzungsverfahren, bei <strong>de</strong>mdie Proban<strong>de</strong>n 20-mal <strong>de</strong>n Satz „Ich bin ..." vervollständigen sollen(Kuhn & McPartland, 1954). Mit diesem Verfahren ergaben sich 20bis 52 Prozent Aussagen über das kollektive Selbst bei Asiaten,während Europäer und Nordamerikaner nur 15-19 Prozent solcherAussagen machten, dafür aber 81-85 Prozent Beschreibungen<strong>de</strong>s privaten Selbst lieferten (Higgins & King, 1981).Triandis unterschei<strong>de</strong>t Kulturen hinsichtlich dreier Dimensionen:• Individualismus - Kollektivismus,• kulturelle Komplexität.Diese Dimensionen stehen seiner Ansicht nach in systematischerBeziehung zu <strong>de</strong>n Formen <strong>de</strong>s Selbst.In individualistischen Kulturen legt die Erziehung Wert auf Selbstvertrauen,Unabhängigkeit, Selbstfindung und Selbstverwirklichung.Diese Zielrichtung begünstigt die Ausdifferenzierung <strong>de</strong>sprivaten Selbst. Individualistische Kulturen för<strong>de</strong>rn Aspekte <strong>de</strong>r<strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>, die mit Besitz zu tun haben, sei es materieller Besitz, erfahreneErlebnisse o<strong>de</strong>r erreichte Leistungen.In kollektivistischen Kulturen favorisiert die Erziehung Konformität,Gehorsam, Wohlverhalten und begünstigt das Verständnis <strong>de</strong>sSelbst als Mitglied einer Gruppe. Kollektivistische Kulturen för<strong>de</strong>rneine <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>sform, die sich mehr durch Beziehungen <strong>de</strong>finiert, wieMutter o<strong>de</strong>r Großmutter, Mitglied <strong>de</strong>r Familie X sein.Unabhängiges Selbst. Markus und Kitayama (1991) unterschei<strong>de</strong>nim Gegensatz zu Triandis nur zwei Hauptformen <strong>de</strong>s Selbstkonzeptes.Das unabhängige Selbst (in<strong>de</strong>pen<strong>de</strong>nt self) resultiertaus <strong>de</strong>n westlichen kulturellen Normen, von an<strong>de</strong>ren unabhängigzu wer<strong>de</strong>n und seine Einzigartigkeit auszuformen. Das Verhaltenwird durch <strong>de</strong>n Bezug zu <strong>de</strong>n eigenen Gedanken und Gefühlenorganisiert und erhält seinen Sinn durch sie. Dahinter steht <strong>de</strong>rGlaube an die Ganzheit und Einzigartigkeit <strong>de</strong>r Person, die sowohlan<strong>de</strong>ren Personen als auch <strong>de</strong>r Welt als Ganzem gegenübersteht(Geertz, 1975; Sampson, 1989). Das unabhängige Selbst ist alsomehr als das private Selbst, es ist eine erkenntnistheoretischeKonstruktion, die isomorph zu <strong>de</strong>m Weltbild westlicher Kulturenaufgebaut wird.Bezogenes Selbst. Das bezogene Selbst (inter<strong>de</strong>pen<strong>de</strong>nt self)fußt auf <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n meisten nichtwestlichen Kulturen gelten<strong>de</strong>nEinsicht in die grundsätzliche Verbun<strong>de</strong>nheit menschlicher Wesenund ihre wechselseitige Abhängigkeit. Die Person wird nicht alsgetrennt vom sozialen Kontext, son<strong>de</strong>rn als verknüpft mit an<strong>de</strong>renPersonen, und damit weniger abgehoben, konzipiert. Die persönlichenMeinungen, Fähigkeiten und Eigenarten sind sekundär, siemüssen kontrolliert und <strong>de</strong>r Hauptaufgabe wechselseitiger Bezogenheitangepasst wer<strong>de</strong>n. Daher ist die willentliche Kontrolle innererZustän<strong>de</strong> und Merkmale ein Kennzeichen <strong>de</strong>r Reife (z.B. aufJava, Geertz, 1963; in China, Wu, 1985; Yang, 1986). Das bezogeneSelbst verän<strong>de</strong>rt im Gegensatz zum unabhängigen Selbstseine Struktur mit <strong>de</strong>m sich wan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n sozialen Kontext (empirischerBeleg s. Kitayama & Markus, 1990). Es entspringt aus <strong>de</strong>rmonistischen philosophischen Tradition nicht-westlicher Kulturen,nach <strong>de</strong>r die Person dieselbe Substanz wie die restliche Welt besitzt.Daher ist die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, zwischenSelbst und An<strong>de</strong>ren viel enger als beim unabhängigenSelbst. Man erkennt wie<strong>de</strong>rum, dass das bezogene Selbst mehrist als das kollektive o<strong>de</strong>r öffentliche Selbst: Es stellt eine erkenntnistheoretischeKonstruktion dar, die von Angehörigen solcher Kulturenaufgebaut wird, in <strong>de</strong>nen philosophisch-weltanschaulicheSicht und Lebenspraxis die Bezogenheit <strong>de</strong>r Person und ihre Einbettungin die soziale und physikalische Welt beinhaltet.Abbildung 3.6 veranschaulicht die bei<strong>de</strong>n Konstruktionen <strong>de</strong>sSelbst. Das bezogene Selbst sammelt mehr Wissen über an<strong>de</strong>re,das unabhängige Selbst umgekehrt mehr Wissen über sich selbst(Kitayama et al., 1990). Die Unterschie<strong>de</strong> bei<strong>de</strong>r <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>sformenzeigen sich bezüglich Emotionen und Motivation. Sie belegen beispielsweisedie be<strong>de</strong>utsame Rolle <strong>de</strong>r auf an<strong>de</strong>re bezogenen Gefühle.Auf Java bil<strong>de</strong>t das Gefühl <strong>de</strong>r Scham ein wichtiges erzieherischesKontrollmittel für die Sozialisation (Oerter, 1993), weil dasbezogene Selbst Fehlhandlungen im Lichte <strong>de</strong>r Reaktionen <strong>de</strong>rsozialen Umgebung bewertet (...).3.4 Entwicklungsför<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> und -gefähr<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Faktoren in unsererKultur195 Die bisherigen Ausführungen machen <strong>de</strong>utlich, dass Entwicklungsehr stark verschränkt ist mit <strong>de</strong>n jeweiligen kulturellen Bedingungenund <strong>de</strong>m Ökosystem, in <strong>de</strong>m sich das Kind befin<strong>de</strong>t. Für unserewestliche Kultur haben sich Bedingungen herausgeschält, dierelativ ein<strong>de</strong>utig entwicklungsför<strong>de</strong>rnd und günstig für das Kind200 sind, sowie Bedingungen, die für die Entwicklung ein Risiko darstellenund entwicklungshemmend wirken. Wenn im Folgen<strong>de</strong>nvon solchen Bedingungen die Re<strong>de</strong> ist, so gilt dies im Großen undGanzen nur für unseren Kulturkreis und vorwiegend für die Mittelschichtals <strong>de</strong>m wichtigsten kulturellen Repräsentanten.205 3.4.1 Entwicklungsför<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>r KontextOerter-<strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>.doc Oerter - <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> Seite 2 von 7210215220225230235240245In <strong>de</strong>r frühen Kindheit bil<strong>de</strong>t die Mutter(Pflegeperson)-Kind-Interaktion <strong>de</strong>n wichtigsten und fast ausschließlich be<strong>de</strong>utsamenTeil <strong>de</strong>s Ökosystems. Mit Belsky et al. (1984) lassen sich für diekognitive Entwicklung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s folgen<strong>de</strong> unterstutzen<strong>de</strong> Bedingungennennen:Aufmerksame Zuwendung (Attentiveness). Allein die Zeit, diedie Mutter verbringt, um das Kind anzuschauen, ist bereits einPrädiktor für intellektuelle Leistungen ein Jahr später. Die Zeit <strong>de</strong>rBeschäftigung mit <strong>de</strong>m Kind im Alter von fünf Monaten sagt dasspätere Erkundungsverhalten voraus. Aufmerksamkeit und Zuwendungim ersten Lebensjahr ist generell positiv verbun<strong>de</strong>n mit<strong>de</strong>r späteren Sprachentwicklung und <strong>de</strong>r intellektuellen Entwicklung.Hinter dieser aufmerksamen Zuwendung steckt eben mehr,vor allen Dingen das Verständnis für und Eingehen auf die kindlichenÄußerungen.Körperkontakt. Er hat insofern eine positive Auswirkung auf diekognitive Entwicklung, als durch Körperkontakt Aktivität und Bewegungbeim Kind ausgelöst wer<strong>de</strong>n. Das Kind wird durch dieBewegungen oft in einen optimalen Erregungszustand versetzt,<strong>de</strong>r die notwendige Voraussetzung für eine Auseinan<strong>de</strong>rsetzungmit <strong>de</strong>r Umwelt bil<strong>de</strong>t.Verbale Stimulierung. Lange bevor das Kind sprechen kann, re<strong>de</strong>tdie Mutter (Pflegeperson) mit <strong>de</strong>m Kind, achtet auf <strong>de</strong>ssen Vokalisationund antwortet darauf. Diese inzwischen recht genaueUntersuchung <strong>de</strong>r Zwiesprache zwischen Erwachsenem und Kindbe<strong>de</strong>utet eine weitere Anreicherung <strong>de</strong>r Interaktion (s. z.B. Clarke-Stewart, 1977).Materialanregung. Wenn das Kind Gelegenheit erhalt, sich frühzeitigin Exploration und Spiel mit Materialien, vor allem mit Spielzeugauseinan<strong>de</strong>r zu setzen, so wirkt sich dies auf <strong>de</strong>n späterenSchulerfolg aus. Eine Ursache für diesen positiven Zusammenhangkann man darin sehen, dass Kin<strong>de</strong>r, die in <strong>de</strong>n Gegenstän<strong>de</strong>nstecken<strong>de</strong>n Informationen (Fahren, Läuten, Klappern, Bauen)selbst erforschen können, auch in Abwesenheit bzw. ohne aktivesEingreifen <strong>de</strong>r Mutter Neues von <strong>de</strong>r Welt kennen lernen. Materialiensind gewissermaßen ebenfalls Lehrmeister <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s.Responsivität. Eltern antworten <strong>de</strong>m Säugling in unterschiedlichausgeprägter Form auf sein Verhalten. Ein solches „Antworten"kann ein Lächeln, ein Vokalisieren, ein Aufnehmen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>so<strong>de</strong>r das Reichen eines Gegenstan<strong>de</strong>s sein. Die Responsivität ist


250255260265270275280285290Fach: Pädagogik Oerter - <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> LK 13das Gegenstück zur Aufmerksamkeitszuwendung, <strong>de</strong>nn diese istdie Voraussetzung für das Gewahrwer<strong>de</strong>n kindlicher Signale,Wünsche und Handlungen. Sensible Bezugspersonen modifizierenihr Antwortverhalten mit fortschreiten<strong>de</strong>r Entwicklung, so dasses immer differenzierter wird und höhere Ansprüche stellt. Wärme.Als genereller Faktor, <strong>de</strong>r die sozial-emotionale Entwicklung in unsererKultur för<strong>de</strong>rt, gilt.Wärme. Die Dimension Wärme umfasst nicht nur die frühe Form<strong>de</strong>r Interaktion zwischen Pflegeperson und Kind, son<strong>de</strong>rn auch diespätere positive Beziehung zwischen Eltern und Jugendlichen. Siewird von MacDonald (1992) als positives soziales Belohnungssystemverstan<strong>de</strong>n. Die Anwesenheit von Wärme in <strong>de</strong>n Beziehungenwirkt regelrecht als Puffer gegenüber ungünstigen Einflüssen undscheint bis ins Jugendalter hinein kontrollieren<strong>de</strong> und disziplinieren<strong>de</strong>Maßnahmen <strong>de</strong>r Eltern akzeptabel zu machen. Die Dimension<strong>de</strong>r Wärme ist nicht i<strong>de</strong>ntisch mit <strong>de</strong>m Bindungsverhaltenselbst, da Bindung als Sicherheitssystem zwar günstig beeinflusstwird, aber biologisch als eigenständiges System angesehen wer<strong>de</strong>nmuss. Der Aufbau <strong>de</strong>s Bindungsverhaltens im Laufe <strong>de</strong>s erstenLebensjahres und seine Ausprägung im zweiten Lebensjahr (s.Kap. 5) scheint einen entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Einfluss auf die spätereEntwicklung zu haben. Immer wie<strong>de</strong>r konnte gefun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n,dass sich ein sicheres Bindungsverhalten in <strong>de</strong>r frühen Kindheit imspäteren Leben günstig auswirkt, so z.B. auf die soziale Kompetenzim Vorschulalter (Waters & Sroufe, 1983) und auf die psychischeGesundheit im Schulalter (Sroufe et al., 1990).Zwei Entwicklungen <strong>de</strong>s Selbstbil<strong>de</strong>sWie sehr die Art <strong>de</strong>r Rückmeldung <strong>de</strong>s Lehrers das Selbstbild<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r beeinflusst, zeigt die Untersuchung, die Jerusalem(1984) als Ergebnisse eines Längsschnittprojektes unter Leitungvon Schwarzer berichtet. Die Abbildungen 6.2 und 6.3zeigen <strong>de</strong>n Verlauf <strong>de</strong>s mit Hilfe von Skalen erfassten Begabungsselbstkonzeptesund <strong>de</strong>s generalisierten Selbstkonzeptesüber einen Zeitraum von zwei Schuljahren (5. und 6. Klasse). InKlassen, in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Lehrer eine individuelle Bezugsnorm unddamit individuelle Leistungsrückmeldung (zumin<strong>de</strong>st in <strong>de</strong>rWahrnehmung <strong>de</strong>r betroffenen Schüler) bevorzugte, bleibt dieBewertung <strong>de</strong>s generalisierten Selbstkonzeptes (...) im Durchschnittauf <strong>de</strong>r gleichen Höhe, die <strong>de</strong>s Begabungskonzeptes(Abb. 6.2) wächst sogar an. Schüler, die ihre Lehrer als an sozialenBezugsnormen orientiert, d.h. auf <strong>de</strong>n Vergleich innerhalb<strong>de</strong>r Klasse ausgerichtet, wahrnehmen, schätzen ihre Begabungund ihren Wert zunehmend niedriger ein. Lei<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong>die Orientierung <strong>de</strong>r Lehrer nicht zusätzlich unabhängig erfasst,so dass von <strong>de</strong>n Angaben <strong>de</strong>r Schüler nur sehr bedingtein Schluss auf die tatsächliche Rückmeldung <strong>de</strong>s Lehrers undsomit auf das Selbstkonzept <strong>de</strong>s Schülers gezogen wer<strong>de</strong>nkann.295 (4. ..... Stufen <strong>de</strong>r <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>sbildung)3003053103153203253303353403453503553603653701. Autonome <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>. Untersuchungen zum Menschenbild, d.h.zur naiven Konzeption <strong>de</strong>s Menschen durch Jugendliche und Erwachsene,belegen, dass man zwei Stufen <strong>de</strong>r <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>sbildungund damit auch generell <strong>de</strong>r Konzeption <strong>de</strong>s Menschen unterschei<strong>de</strong>nkann (Oerter & Oerter, 1993). Auf <strong>de</strong>r Stufe <strong>de</strong>r autonomen<strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> wird <strong>de</strong>r Mensch als Wesen bestimmt, das sichselbst und seine Möglichkeiten richtig erkennt, feste Lebenszieleund Wertvorstellungen hat, <strong>de</strong>nen es sich verpflichtet fühlt, undKontrolle über sich besitzt. <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> wird hier als Einheit verstan<strong>de</strong>n,in <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rsprüche durch konsequentes Han<strong>de</strong>ln, das sichan festgelegten Wertmaßstäben orientiert, ein für allemal aufgehobenwer<strong>de</strong>n. Dilemmata und Konflikte lassen sich durch dieseGeradlinigkeit vermei<strong>de</strong>n.2. Mutuelle <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>. Auf einer nächsten Stufe <strong>de</strong>r <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>skonzeption,die gewöhnlich erst im frühen Erwachsenenalter auftritt,kommt es zu einer qualitativen Strukturverän<strong>de</strong>rung. Nun gehört<strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruch wesentlich zum Menschsein. Der Mensch istständig Wi<strong>de</strong>rsprüchen ausgesetzt, wobei unvereinbare <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>sundLebensentwürfe im Mittelpunkt <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung stehen.Gera<strong>de</strong> weil man nicht nur das Eine, son<strong>de</strong>rn auch das Gegenteilo<strong>de</strong>r das mit <strong>de</strong>m ersten Entwurf Unvereinbare anstrebt,gerät man permanent in Konflikt. Solche Gegensätze sind beispielsweisedas Berufs-Familien-Dilemma o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruchzwischen verschie<strong>de</strong>nen Karrieremöglichkeiten, die man anstrebenmöchte, sowie <strong>de</strong>r Gegensatz von Gegenwarts- und Zukunftsorientierung.Diese Sichtweisen führen zur Erkenntnis, dass<strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruch wesensmäßig zum Menschen gehört. Für diesesneue Verständnis gibt es einen tieferen Grund: Das Menschenbildwan<strong>de</strong>lt sich von <strong>de</strong>r autonomen <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> zur mutuellen (wechselseitigen)<strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>. Nicht mehr das für sich selbst existieren<strong>de</strong>,selbstbestimmte und kontrollieren<strong>de</strong> Selbst ist das Ziel <strong>de</strong>r Entwicklung,son<strong>de</strong>rn eine durch die an<strong>de</strong>ren mit<strong>de</strong>finierte <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>.Nur durch aktive wechselseitige Beziehungen, durch die Hereinnahme<strong>de</strong>s Denkens, Fühlens und Strebens an<strong>de</strong>rer kann sich<strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> entwickeln, wobei die <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren ebenfalls <strong>de</strong>sAustausches bedarf. Dadurch aber, dass man Züge von wichtigenBezugspersonen, ja <strong>de</strong>ren Persönlichkeit in sich aufnehmen will,kommt es zum inneren Wi<strong>de</strong>rspruch.Sozialtheorie <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Stufen. Mit <strong>de</strong>r Kennzeichnung bei<strong>de</strong>rStufen <strong>de</strong>s <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>sverständnisses ergeben sich auch Schlussfolgerungenfür die Sozialbeziehungen. In <strong>de</strong>r Tat verän<strong>de</strong>rt sichdie Sozialtheorie <strong>de</strong>r Proban<strong>de</strong>n. Auf <strong>de</strong>r Stufe <strong>de</strong>r autonomen<strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> wird <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re ebenfalls als unabhängig, einmalig undselbstverantwortlich konstruiert. Man respektiert dieses An<strong>de</strong>rsseinund diese Autonomie und vermei<strong>de</strong>t daher Einmischung,Verwischen von Grenzen sowie Beeinflussungsversuche. DieseEbene <strong>de</strong>r Sozialtheorie erlaubt <strong>de</strong>n Aufbau von Toleranz und bil<strong>de</strong>teine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Grundlage für das <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>sverständnis ineiner <strong>de</strong>mokratischen Gesellschaft. Dieser Haltung liegt die Fähigkeitzu relativistischem Denken zugrun<strong>de</strong>: Man erkennt, dass esverschie<strong>de</strong>ne Wahrheiten gibt und nicht eine Wahrheit Anspruchauf alleinige Gültigkeit haben kann (s. Oerter, 1990; Perry, 1970).Aber auf dieser Ebene können Konflikte nicht durch eine Synthesevon wi<strong>de</strong>rsprüchlichen Meinungen gelöst wer<strong>de</strong>n.Dies wird jedoch möglich auf <strong>de</strong>r Stufe <strong>de</strong>r mutuellen <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>. DieMenschen wer<strong>de</strong>n aufeinan<strong>de</strong>r bezogen konzipiert. Sie hängenvoneinan<strong>de</strong>r ab, in<strong>de</strong>m sie wechselseitig aneinan<strong>de</strong>r teilhaben.Bestehen<strong>de</strong> Wi<strong>de</strong>rsprüche und Unvereinbarkeiten wer<strong>de</strong>n nunaufgearbeitet, wobei das dialektische Denken benötigt wird. DerMensch erkennt solche Wi<strong>de</strong>rsprüche, elaboriert und präzisiert sieund versucht, sie zu Lösungen zu führen, in <strong>de</strong>nen solche Wi<strong>de</strong>rsprücheaufgehoben wer<strong>de</strong>n.3. Gesellschaftliche <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>. Meist <strong>de</strong>m Erwachsenenalter vorbehaltenbleibt eine dritte Stufe <strong>de</strong>r <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>skonzeption, die dasIndividuum als Träger <strong>de</strong>r Gesellschaft und als von <strong>de</strong>r Gesellschaftund Kultur bestimmtes Wesen ansieht. Das Individuum erkenntdie Austauschbarkeit von Mitglie<strong>de</strong>rn einer Gesellschaft unddie Funktionalität <strong>de</strong>s Individuums als Element eines großen Systems,<strong>de</strong>ssen Wirkungsweise nicht durchschaubar und nicht direktbeeinflussbar ist. Die selbsterlebte und bewusst konzipierte Einmaligkeit<strong>de</strong>r <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> steht in Wi<strong>de</strong>rspruch zu <strong>de</strong>r gesellschaftlichenAnonymität und Funktionalität <strong>de</strong>s Individuums, ein Wi<strong>de</strong>rspruch,<strong>de</strong>r oft schmerzhaft erfahren wird und zu Protest sowiezum Wunsch nach gesellschaftlicher Verän<strong>de</strong>rung führt. (...)Ausgangspunkt und Leitlinie soll im Folgen<strong>de</strong>n für uns aber <strong>de</strong>r<strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>sbegriff von Erikson bleiben, eine Konzeption, die vonBlasi (1988) wie folgt zusammengefasst wird (übernommen au{Fend, 1991, S. 21) ':Oerter-<strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>.doc Oerter - <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> Seite 3 von 7


375380385390395400405410415420425430435440Fach: Pädagogik Oerter - <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> LK 13„(1.) <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> ist eine Antwort auf die Frage „wer bin ich?"(2.) Im allgemeinen führt die Antwort auf diese Frage zur Herausbildungeiner neuen Ganzheit, in <strong>de</strong>r die Elemente <strong>de</strong>s „alten" mit<strong>de</strong>n Erwartungen an die Zukunft integriert sind.(3.) Diese Integration vermittelt die fundamentale Erfahrung vonKontinuität und Selbstsein.(4.) Die Antwort auf die „<strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>sfrage" wird durch eine realistischeEinschätzung <strong>de</strong>r eigenen Person und <strong>de</strong>r eigenen Vergangenheitsowie(5.) <strong>de</strong>r eigenen Kultur, insbeson<strong>de</strong>re ihrer I<strong>de</strong>ologien und <strong>de</strong>n Erwartungen<strong>de</strong>r Gesellschaft an die eigene Person, erreicht.(6.) Gleichzeitig wer<strong>de</strong>n die kulturellen Erwartungen „kritisch hinterfragt",und auch die Berechtigung <strong>de</strong>r sozialen Erwartungenwird überprüft.(7.) Der Prozess <strong>de</strong>s Hinterfragens und <strong>de</strong>r Integration kristallisiertsich um fundamentale Probleme, wie die berufliche Zukunft, diePartnerbeziehungen und um religiöse und politische Standpunkte.(8.) Er führt zur persönlichen Verpflichtung in diesen Bereichenund(9.) ermöglicht - von einem objektiven Standpunkt aus gesehen -die produktive Integration in die Gesellschaft.(10.) Subjektiv vermittelt diese Integration ein Gefühl von „Loyalitätund Treue" sowie(11.) ein tiefes Gefühl <strong>de</strong>r Verwurzelung und <strong>de</strong>s Wohlbefin<strong>de</strong>ns,<strong>de</strong>r Selbstachtung und Zielstrebigkeit.(12.) Die sensible Phase für die Entwicklung <strong>de</strong>r <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> ist dieAdoleszenz."Fazit:In <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>sbeschreibungen stecken zwei Grundbemühungen<strong>de</strong>s Individuums, nämlich die Bemühung, sich selbst zu erkennenund das Bestreben, sich selbst zu gestalten, an sich zu arbeiten,sich zu formen. Damit sind Selbsterkenntnisund Selbstgestaltung die zwei Prozesse,die <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>sentwicklung vorantreiben.Erfasst man die Selbstbeschreibungen von Jugendlichenüber längere Zeit hinweg, so zeigtsich, dass sie differenzierter- und zunehmendorganisierter wer<strong>de</strong>n. Pinquart und Silbereisen,(2000) kennzeichnen die zunehmen<strong>de</strong> Differenzierung<strong>de</strong>r Selbstbeschreibung aufgrun<strong>de</strong>inschlägiger Untersuchungen:• Konstruktion kontextspezifischer Selbsts. Ineiner Situation, z. B. gegenüber <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>reGeschlecht mag man sich als befangen,gegenüber gleichgeschlechtlichen Peersdagegen als selbstsicher beschreiben.• Realbild (wie man ist) und I<strong>de</strong>albild (wieman sein möchte) wer<strong>de</strong>n mit zunehmen<strong>de</strong>mAlter, <strong>de</strong>utlich stärker getrennt.• Trennung von authentischem und unauthentischemSelbst. Während Zwölf- bisDreizehnjährige noch wenig mit <strong>de</strong>r Unterscheidungvon wahrem o<strong>de</strong>r echtem Selbstund falschem o<strong>de</strong>r vorgetäuschtem Selbstanfangen könne differenzieren Ältere zwischen<strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Komponenten.• Jugendliche lernen allmählich, sich auch aus <strong>de</strong>r Sicht an<strong>de</strong>rerzu sehen.• Einbeziehung <strong>de</strong>r Zeitdimension. Kin<strong>de</strong>r beschreiben sich gewöhnlichgegenwartsbezogen, während Jugendliche Vergangenheit(wie sie waren) und Zukunft (wie sie sein möchten,was sie wer<strong>de</strong>n möchten) mit in die Selbstbeschreibung aufnehmen.4.3.2 Die vier Formen <strong>de</strong>s <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>sstatus nach MarciaOerter-<strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>.doc Oerter - <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> Seite 4 von 7445450455460465470475480485Ein Ansatz, <strong>de</strong>r diesem Anliegen Rechnung trägt stammt von Marcia(1966). Im Anschluss an Eriksons <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>skonzeption entwickelteer ein Verfahren zur Erfassung <strong>de</strong>s aktuellen <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>sstatus.Den Proban<strong>de</strong>n wird eine Reihe von Fragen vorgelegt, die daraufabzielen, das Ausmaß Verpflichtung (commitment) in verschie<strong>de</strong>nenBereichen, wie Beruf, Religion und Politik zu erfassen.Marcia fand auf diese Weise vier Formen <strong>de</strong>r <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>, die er alsjeweiligen <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>sstatus bezeichnet: diffuse <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>, Moratorium,übernommene <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> und erarbeitete <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>. ZahlreicheUntersuchungen haben die Brauchbarkeit dieser Konzeptionbestätigt. Sie kennzeichnet einzelne Bereiche <strong>de</strong>s Lebens, mit <strong>de</strong>nensich die Jugendlichen auseinan<strong>de</strong>r zu setzen haben, hinsichtlichdreier Dimensionen:• Krise,• Verpflichtung und• Exploration.Krise beinhaltet das Ausmaß an Unsicherheit, Beunruhigung o<strong>de</strong>rauch Rebellion, das mit <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung verbun<strong>de</strong>n ist.Verpflichtung kennzeichnet <strong>de</strong>n Umfang <strong>de</strong>s Engagements und<strong>de</strong>r Bindung in <strong>de</strong>m betreffen<strong>de</strong>n Lebensbereich, und Explorationerfasst das Ausmaß an Erkundung <strong>de</strong>s in Frage stehen<strong>de</strong>n Lebensbereichesmit <strong>de</strong>m Ziel einer besseren Orientierung und Entscheidungsfindung(Marcia, 1980). Die Komponente <strong>de</strong>r Explorationals entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Strategie <strong>de</strong>r Bewältigung von <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>sproblemenwird neuerdings stärker betont (Bosma, 1985; Fend,1991). Sie ist aber in Marcias ursprünglichem Mo<strong>de</strong>ll bereits enthalten.Die Ergebnisse einer Vielzahl von Studien zu diesem <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>sansatzergeben, dass es unterschiedliche Verläufe bei <strong>de</strong>n Bemühungenum <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> gibt. Keineswegs ist damit zu rechnen, dassalle Jugendlichen auch alle vier <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>szustän<strong>de</strong> durchlaufenund dass die <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>sausprägung in <strong>de</strong>r Entwicklung zwangsläufigbei <strong>de</strong>r erarbeiteten <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> en<strong>de</strong>t. Waterman (1982) unterschei<strong>de</strong>tprogressive, regressive und stagnieren<strong>de</strong> Verläufe. ProgressiveVerläufe erreichen über das Moratorium die erarbeitete<strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>, regressive Verlaufe en<strong>de</strong>n bei einer diffusen <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>und stagnieren<strong>de</strong> Verläufe verweilen entwe<strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>r übernommeneno<strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>r diffusen <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>.4.3.4 Erweiterung <strong>de</strong>s <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>sspektrumsTrotz <strong>de</strong>r Befundlage, die Marcias Ansatz eindrucksvoll bestätigt,muss man sich vor Augen halten, dass die getroffene Einteilunghauptsächlich auf <strong>de</strong>m Ausprägungsgrad von Verpflichtung undKrise in verschie<strong>de</strong>nen Bereichen beruht. Legt man an<strong>de</strong>re Kriterienan, so gelangt man zu weiteren <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>sformen.Vier Formen diffuser <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>. Marcia (1989) stellte fest, dasssich <strong>de</strong>r Anteil von Proban<strong>de</strong>n mit diffuser <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> von früherdurchschnittlich 20 auf 40 Prozent erhöht habe. Damit ist die Zahl<strong>de</strong>r Jugendlichen ohne feste Wertorientierung, mit geringer Verpflichtungsneigungund geringer Stabilität stark angewachsen. Diegenauere Analyse <strong>de</strong>r diffusen <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> ergibt, dass man vier verschie<strong>de</strong>neFormen unterschei<strong>de</strong>n kann:490 • die Entwicklungsdiffusion,• die sorgenfreie Diffusion,


495500505510515520525530535540545Fach: Pädagogik Oerter - <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> LK 13• die Störungsdiffusion und• die kulturell adaptive Diffusion.Die erstgenannte Form entspricht am ehesten einem ursprünglichenDiffusionsstadium, sie ist eine Übergangsform zum Moratoriumo<strong>de</strong>r zur erarbeiteten <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>.Die sorgenfreie Diffusion ist unauffällig. Die Person erscheint angepasstund sozial kontaktfreudig. Die Kontakte sind jedoch oberflächlichund von kurzer Dauer. Es existieren keine verbindlichenWerte.Die Störungsdiffusion tritt als Folge eines Traumas o<strong>de</strong>r eines unbewältigtenkritischen Lebensereignisses auf, wobei zugleich einMangel an inneren und äußeren Ressourcen besteht. Die betroffenePerson ist häufig isoliert und hilft sich mit unrealistischenGrößenphantasien.Von beson<strong>de</strong>rer Be<strong>de</strong>utung dürfte die kulturell adaptive Diffusionsein, weil sie möglicherweise in <strong>de</strong>n multikulturellen Gesellschaften<strong>de</strong>r Zukunft zu einer regulären Form von <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> wird. Dieser<strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>sstatus bil<strong>de</strong>t sich vor allem dann, wenn Unverbindlichkeit,Offenheit und Flexibilität gefor<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n. Sowohl beruflich wieprivat erscheint es dann angemessen, sich nicht festzulegen, um<strong>de</strong>n soziokulturellen Anfor<strong>de</strong>rungen besser gerecht zu wer<strong>de</strong>n.Wer mit festen Wertordnungen und vorgefassten Lebenszielensolchen vielfältigen und rasch wechseln<strong>de</strong>n Bedingungen ausgesetztwird, ist in diesem Umfeld unangepasst.Traditionaler Typ. Kraus und Straus (1990) fan<strong>de</strong>n eine weitereAusdifferenzierung <strong>de</strong>r kulturell adaptiven Diffusion bei ost- undwest<strong>de</strong>utschen Jugendlichen. Der traditionale Typ trat dabei amhäufigsten auf, wobei vor allem Frauen mit kontinuierlicher Berufsbiographievertreten waren. Dieser Typ kann durch <strong>de</strong>n Wahlspruch„Alles normal, alles egal" gekennzeichnet wer<strong>de</strong>n. Manwie<strong>de</strong>rholt die elterlichen Muster, aber das „<strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>serbe" ist zueiner bloßen „<strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>shülse" gewor<strong>de</strong>n. Diese Normalität führt zukeiner tieferen Verpflichtung und unterschei<strong>de</strong>t sich so von <strong>de</strong>rübernommenen <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>. Sie hat auch eine Reduktion von Komplexitätzur Folge, da man beim Gewohnten bleibt und vor Neuemund Frem<strong>de</strong>m zurückschreckt.Surfer. Der Surfer erhielt seinen Namen von <strong>de</strong>n Autoren in Anlehnungan Maffesoli (1988). Die Unklarheit von gesellschaftlichenWerten und das Erfor<strong>de</strong>rnis einer raschen und geschickten Anpassungwird vom Individuum durch das „wache, spielerische Dahingleitenmit ständiger Positionskorrektur" (a.a.O., S. 13) beantwortet.Die Surfer haben nach Aussagen <strong>de</strong>r Autoren viele Kontakte,die kurzfristig und emotional oberflächlich sind. Ausgewähltwer<strong>de</strong>n Leute, die gefallen und Spaß erwarten lassen. Surfer sin<strong>de</strong>rfolgreich in einer gefälligen Selbstrepräsentation und in rascherKontaktherstellung. Ihnen fehlt das Merkmal tieferer Verpflichtung.Exploration wird nicht um <strong>de</strong>r Elaborierung einer eigenen gefestigten<strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> willen betrieben.Isolierte. Als weiteren <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>stypus fan<strong>de</strong>n die Autoren <strong>de</strong>n Isolierten.Er trat vor allem bei diskontinuierlicher Berufsbiographie inVerbindung mit <strong>de</strong>r Konfikthaftigkeit <strong>de</strong>r Herkunftsfamilie auf. Esfehlt an äußeren und inneren Ressourcen, so dass sich Rat- undHilflosigkeit ergibt. Aber auch bei <strong>de</strong>n Isolierten ist Normalität <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>sziel,es ist jedoch viel schwerer als für an<strong>de</strong>re Gruppen erreichbar.Patchworki<strong>de</strong>ntität. Das Phänomen <strong>de</strong>r diffusen <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> alsneuer Form einer adaptiven, wenn auch wenig wünschenswertenPersönlichkeitsorientierung wur<strong>de</strong> bereits von Elkind (1990) erkannt.Er spricht von einer Patchworki<strong>de</strong>ntity, die ohne integrative550Kraft zusammengesetzt ist und keinen einheitlichen <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>skernbesitzt. Personen mit Patchworki<strong>de</strong>ntität können sehr erfolgreichsein, erfüllen aber nicht mehr die klassischen Kriterien einer erarbeiteten<strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>. Das Patchworkselbst ist nach Elkind das En<strong>de</strong>rgebnis<strong>de</strong>s Wachstums durch Substitution: Werthaltungen und555Gewohnheiten stehen unverbun<strong>de</strong>n nebeneinan<strong>de</strong>r und wi<strong>de</strong>rsprechensich teilweise. Patchworki<strong>de</strong>ntitäten sind im Arbeitsleben<strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Gesellschaft durchaus funktional, weil man bessermit <strong>de</strong>r Unvereinbarkeit verschie<strong>de</strong>ner Lebensbereiche zurecht560 kommt (Keupp, 1997).4.4.1 Selbstdiskrepanz-TheorieHiggins unterstellt zunächst, dass Diskrepanzen im Selbst mit unangenehmen,spannungsvollen Emotionen einhergehen. Dabeiunterschei<strong>de</strong>t er zwischen Aktual-Selbst, I<strong>de</strong>al-Selbst und Sollen-Selbst(ought self). Das I<strong>de</strong>al-Selbst wird wie üblich als <strong>de</strong>r565Zukunftsentwurf bzw. die Wunschvorstellung <strong>de</strong>r eigenen <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong><strong>de</strong>finiert, während das Sollen-Selbst die innere Repräsentation <strong>de</strong>rOerter-<strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>.doc Oerter - <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> Seite 5 von 7570575580585590595600605610615620625630635640Verpflichtungen und Aufgaben beinhaltet, die von Gesellschaft undBezugsgruppen herangetragen wer<strong>de</strong>n. Weiterhin trennt Higginszwischen <strong>de</strong>m Selbst und an<strong>de</strong>ren als Einflussquelle. Damitkommt er zu vier Formen von Selbstdiskrepanz:Aktual-Selbst versus I<strong>de</strong>al-Selbst. In diesem Fall stimmt aus <strong>de</strong>rSicht <strong>de</strong>s Individuums <strong>de</strong>r aktuelle Stand <strong>de</strong>r Selbstattribute nichtmit <strong>de</strong>n Attributen überein, die man sich wünscht und zu erreichenhofft. Emotional neigt eine solche Person zu Enttäuschung undUnzufrie<strong>de</strong>nheit.Aktual-Selbst versus Aktual-An<strong>de</strong>re. Hier stimmt <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Augen<strong>de</strong>r Person aktuelle Stand <strong>de</strong>r Selbstattribute nicht mit <strong>de</strong>mBild überein, das Bezugspersonen (signifikante An<strong>de</strong>re) sich vondieser Person machen. Das Subjekt, das diese Art von Diskrepanzerfährt, erlebt Gefühle <strong>de</strong>r Scham, Verlegenheit und Nie<strong>de</strong>rgeschlagenheit.Aktual-Selbst versus Sollen-An<strong>de</strong>re. Der aktuelle Stand <strong>de</strong>rSelbstattribute, so wie sie das Individuum wahrnimmt, stimmt nichtmit <strong>de</strong>m Sollen-Zustand überein, wie er von signifikanten An<strong>de</strong>rengewünscht wird. Personen, die sich dieser Diskrepanz bewusstwer<strong>de</strong>n, fühlen Furcht und Bedrohung, weil Gefahr o<strong>de</strong>r Schmerzerwartet wird.Aktual-Selbst versus Sollen-Selbst. Hier stimmt <strong>de</strong>r aktuelleStand <strong>de</strong>r Selbstattribute nicht mit <strong>de</strong>n eigenen Vorstellungen überdie Aufgaben und Verpflichtungen überein. Bei dieser Form <strong>de</strong>rDiskrepanz ist das Individuum anfällig für Gefühle <strong>de</strong>r Schuld, <strong>de</strong>sUnbehagens und <strong>de</strong>r Selbstverurteilung.Empirische Überprüfung. Higgins und Mitarbeiter prüften, obverschie<strong>de</strong>ne Arten von Selbstdiskrepanz tatsächlich unterschiedlicheEmotionen auslösen, in<strong>de</strong>m sie jeweils ein Instrumentariumzur Erfassung <strong>de</strong>r Art <strong>de</strong>r Selbstdiskrepanz und <strong>de</strong>r emotionalenBefindlichkeit bei Studienanfängern am College anwandten. ZumEinen zeigten sich die oben erwarteten Emotionen. Zum An<strong>de</strong>rentraten zwei Emotionscluster auf, die ebenfalls erwartungsgemäßmit zwei Hauptarten <strong>de</strong>r Selbstdiskrepanz korrelierten: Das ersteCluster Enttäuschung, Unzufrie<strong>de</strong>nheit zeigte sich vorwiegend bei<strong>de</strong>r Diskrepanz zwischen Aktual-Selbst und eigenem I<strong>de</strong>al-Selbst,während das Cluster Furcht, Ruhelosigkeit mit <strong>de</strong>r Diskrepanzzwischen aktuellem Selbst und <strong>de</strong>m von an<strong>de</strong>ren erwarteten Sollen-Selbstverknüpft war. Higgins prüfte die Zusammenhänge auchmit einem Kausalmo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s Zusammenhangs latenter Variablen(s. Kap. 38), das seine Diskrepanzannahmen ebenfalls bestätigte.Ein Moment, das die Theorie hervorhebt, ist die mit <strong>de</strong>r symbolischenSelbstergänzung verbun<strong>de</strong>ne Realitätsverzerrung. Wer sichfür seine <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>sziele entschie<strong>de</strong>n hat, trachtet danach, sie alssymbolische Selbstergänzung um je<strong>de</strong>n Preis zu realisieren, auchum <strong>de</strong>n Preis <strong>de</strong>r Realitätsverzerrung. Dies wür<strong>de</strong> erklären, warumwir bei Jugendlichen <strong>de</strong>n Jugen<strong>de</strong>gozentrismus beobachten. DieSelbstreflexion im Jugendalter mit erhöhter Selbstaufmerksamkeithat die Wahrnehmung <strong>de</strong>r Verletzung o<strong>de</strong>r Gefährdung <strong>de</strong>s Selbstsowie die Setzung eines i<strong>de</strong>alen Selbst zur Folge. Die Verhaltensweisengegenüber einem fiktiven Auditorium, in <strong>de</strong>ssen Mittelpunktman sich fühlt, bewirkt die Wie<strong>de</strong>rherstellung o<strong>de</strong>r Bestätigung<strong>de</strong>s Selbst („Ich bin doch ein toller Kerl").Als letzte wichtige Annahme <strong>de</strong>r Theorie sei auf die indikativeFunktion <strong>de</strong>r verwen<strong>de</strong>ten Symbole verwiesen. Sie wer<strong>de</strong>n so gewählt,dass sie <strong>de</strong>r sozialen Umwelt die Selbst<strong>de</strong>finition vermitteln.Für <strong>de</strong>n Jugendlichen heißt dies, dass er zweierlei Arten von Symbolenverwen<strong>de</strong>n muss, einerseits Symbole, die seine Selbst<strong>de</strong>finition<strong>de</strong>n Gleichaltrigen vermitteln (Symbole <strong>de</strong>r jugendlichenSubkultur), an<strong>de</strong>rerseits Symbole, die seine Selbst<strong>de</strong>finition <strong>de</strong>nErwachsenen gegenüber darstellen (Symbole <strong>de</strong>r Erwachsenenkultur).Letztere können neben erwünschten Symbolen wie guteSchulleistungen o<strong>de</strong>r beruflicher Erfolg auch Drogengebrauch(Rauchen, Trinken) und verfrühtes Sexualverhalten sein.Wenn schulische und berufliche Leistungen sowie Akzeptanz imsozialen Umfeld (Familie, Peergruppe) erreicht wer<strong>de</strong>n können, sodient die Selbstergänzung <strong>de</strong>r angemessenen <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>sentwicklung.Wenn an<strong>de</strong>rerseits solche Möglichkeiten ausfallen, so mün<strong>de</strong>tdie Bemühung um Selbstvervollständigung in Drogengebrauch,Kriminalität und Suche nach Anerkennung bei Extremgruppen.Versagen solche Bemühungen gänzlich, kommt es zurSelbstaufgabe, die bis zum Suizid führen kann.Marginalisierung. Entwicklungsnische bzw. Lebensraum <strong>de</strong>s jugendlichensind <strong>de</strong>utlich von <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s und <strong>de</strong>s Erwachsenenunterschie<strong>de</strong>n. Nach Kurt Lewin (1963) entsteht <strong>de</strong>r zentraleKonflikt <strong>de</strong>s Jugendalters aus <strong>de</strong>r Stellung <strong>de</strong>s Jugendlichenzwischen Kindheit und <strong>de</strong>m Erwachsenendasein. Diese Zwischen-


645650655660665670675680685690695700705710715Fach: Pädagogik Oerter - <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> LK 13stellung macht ihn - ähnlich <strong>de</strong>n Angehörigen von Min<strong>de</strong>rheitsgruppen- zur Marginalperson. Die Zwischenstellung, die zugleichGrenz- bzw. Randstellung ist, empfängt von zwei Seiten zusätzlicheBelastungen und Unsicherheit.• Der Wechsel vom Kin<strong>de</strong>s- zum Erwachsenenalter bringt <strong>de</strong>nÜbertritt in einen noch unbekannten Lebensbereich, <strong>de</strong>r für<strong>de</strong>n Jugendlichen wenig strukturiert und gegenüber <strong>de</strong>m bisherigenErfahrungsraum viel stärker ausgeweitet ist.• Die dramatischen Verän<strong>de</strong>rungen am eigenen Körper mit neuenkörperlichen Erfahrungen bringen Verwirrung, zumal dieUmwelt ebenfalls auf diese körperlichen Verän<strong>de</strong>rungen reagiert.Der Konflikt <strong>de</strong>s Jugendlichen als Marginalperson hängt in seinemAusmaß davon ab,• wie groß die Kluft zwischen Erwachsenenkultur und Kindheitist und• wie ausgeprägt sich <strong>de</strong>r Jugendliche selbst in dieser Zwischenstellungals Marginalperson wahrnimmt.Die Wahrnehmung <strong>de</strong>r Grenzposition ist bei Jugendlichen in unsererGesellschaft unterschiedlich. Die berufstätige Jugend nimmtdiese Kluft vermutlich weniger wahr als Schüler und Stu<strong>de</strong>nteno<strong>de</strong>r arbeitslose Jugendliche.In letzter Konsequenz führt die Marginalisierung zur Entfremdungvon <strong>de</strong>r umgeben<strong>de</strong>n Gesellschaft und zur Wahl alternativer Lebensformen.Unter ökologischer Perspektive ist die Position <strong>de</strong>sMenschen in seiner Umwelt durch ein vielfältiges Geflecht vonBindungen an die Umwelt gekennzeichnet. Im Normalfall fühlensich Jugendliche daher in ihrer Umwelt heimisch, weil sie positiveGefühlsbindungen zu ihrer Umgebung aufgebaut haben, so etwain Familie, Schule o<strong>de</strong>r Freizeit. Im Folgen<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n wir zwei„Umweltbereiche o<strong>de</strong>r Lebensregionen" wie sie Lewin bezeichnethat, näher beschreiben: Familie und Peergruppe. Zu zwei weiterenBereichen, nämlich Schule und Beruf siehe Kap. 16 und 24 indiesem Band.Die Familie übt zeitlebens einen Einfluss auf die Entwicklung aus,doch muss sie im Jugendalter diesen Einfluss mit <strong>de</strong>r Schule und<strong>de</strong>r Peergruppe teilen. Die Peergruppe löst die Familie in manchenSozialisationsaufgaben ab, und die Schule bereitet <strong>de</strong>nÜbergang zur verantwortlichen Teilhabe an <strong>de</strong>r Erwachsenengesellschaftvor. Schließlich kommt <strong>de</strong>r Zeitpunkt, da <strong>de</strong>r Jugendlicheins Berufsleben eintritt, vorausgesetzt es han<strong>de</strong>lt sich um einenormale angepasste Entwicklung. Einerseits gibt es also eine Akzentverschiebungvon Familie zu Peergruppe bis hin zum Beruf,an<strong>de</strong>rerseits lebt <strong>de</strong>r jugendliche in diesen Umweltbereichen auchgleichzeitig. -'Drei Familienbeziehungs-Typen. Fend (2000) hebt vor allem dreiGruppen von Familien hervor. Die erste Gruppe (ca. 25 Prozent)berichtet im Zeitraum von <strong>de</strong>r siebten zur neunten Klasse von zunehmen<strong>de</strong>nSchwierigkeiten. Die Eltern hatten zuvor viel gemeinsammit ihren Kin<strong>de</strong>rn unternommen und mehrheitlich einen hohenBildungsanspruch. Die Kin<strong>de</strong>r berichten über ein Anwachsen <strong>de</strong>rMeinungsverschie<strong>de</strong>nheiten und über eine Verschlechterung <strong>de</strong>rBeziehungsqualität. Sie zeigen allerdings auch eine Verringerung<strong>de</strong>r Leistungsbereitschaft. Die Eltern erwiesen sich als wenig flexibel,versuchten es mit Strenge und Druck und fürchteten, ihre Autoritätzu verlieren.Eine zweite Gruppe (ca. 30 Prozent) erlebte im frühen Jugendalter(siebte Klasse) die meisten Probleme und hatte sie im mittlerenJugendalter (neunte Klasse) bereits überwun<strong>de</strong>n. In solchen Familienfühlten sich die Jugendlichen zunehmend freier und akzeptierter.Die Eltern hatten sich an das wachsen<strong>de</strong> Selbständigkeitsbedürfnisihrer Kin<strong>de</strong>r angepasst, kümmerten sich aber auch wenigerum sie.Die dritte Gruppe <strong>de</strong>r Eltern berichten übereinstimmend mit <strong>de</strong>mUrteil ihrer Kin<strong>de</strong>r konstant positiv über ihre Kin<strong>de</strong>r. Sie haben einentolerieren<strong>de</strong>n, wenig punitiven (bestrafen<strong>de</strong>n) Erziehungsstilund verstehen sich mit ihrem Kind über <strong>de</strong>n gesamten Beobachtungszeitraumgut. Die jugendlichen in diesen Familien sindselbstbewusst, haben wenig Dissens mit ihren Eltern, sind leistungsbereitund fühlen sich akzeptiert.Man muss sich allerdings vor Augen halten, dass bei<strong>de</strong> Seiten zueinem geglückten Verhältnis beim Übergang ins Erwachsenenalterbeitragen. Wenn Leistungsversagen und Drogengebrauch vorliegen,wer<strong>de</strong>n Eltern verständlicherweise mit Sorge reagieren und<strong>de</strong>n Druck schon aus <strong>de</strong>m Gefühl <strong>de</strong>r Hilflosigkeit heraus verstär-Oerter-<strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>.doc Oerter - <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> Seite 6 von 7720725730735740745750755760765ken. Hier ist es wichtig, die Familie als sich wan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>s System zusehen, das mehr o<strong>de</strong>r weniger adaptiv ist (s. Kap. 4).Fend (1998) nennt wichtige Indikatoren gelingen<strong>de</strong>r Anpassung<strong>de</strong>r Eltern-Kind-Interaktion, die wir in folgen<strong>de</strong> Punkte zusammenfassen:• Bewahrung gegenseitiger Freu<strong>de</strong> aneinan<strong>de</strong>r durch Fehlenvon Dauerkonflikten und Aufrechterhaltung konfliktfreier Zonen,• Fairness und Gerechtigkeit durch Aushan<strong>de</strong>ln von Regelungen,Vermeidung von Willkür,• gemeinsame bildungsintensive Freizeitaktivität in <strong>de</strong>r Frühphase<strong>de</strong>r Adoleszenz,• wenig punitiver und stärker argumentationsorientierter Erziehungsstil,• Vermeidung von Überbehütung, aber Aufrechterhaltung unterstützen<strong>de</strong>rMaßnahmen,• Schaffung von Zwischenbereichen <strong>de</strong>r Unabhängigkeit,• Konstruktion eines realistischen Bil<strong>de</strong>s vom eigenen Kind, bei<strong>de</strong>m einerseits Wunsch und Wirklichkeit nicht zu sehr auseinan<strong>de</strong>rklaffen und an<strong>de</strong>rerseits Übereinstimmung zwischen<strong>de</strong>m elterlichen Bild vom Jugendlichen und seinem eigenenBild von sich selbst besteht.5.1.2 Emotionale Distanzierung und Belastungsdämpfungdurch BindungDie affektive Qualität <strong>de</strong>r Familienbeziehungen än<strong>de</strong>rt sich sobalddie Jugendlichen in die Pubertät eintreten. Steinberg (1989) benutztedie Hypothese <strong>de</strong>r emotionalen Distanzierung, um die Familiendynamikdieser affektiven Verän<strong>de</strong>rung zu beschreiben und zuerklären. Die Hypothese behauptet, dass <strong>de</strong>r Höhepunkt <strong>de</strong>s pubertärenWachstumsschubs mit einer Zunahme emotionaler Distanzzwischen Jugendlichen und ihren Eltern einhergeht.Das wür<strong>de</strong> heißen, dass Jugendliche während <strong>de</strong>r körperlichenReifung eine Verringerung <strong>de</strong>r Bindung (attachment) zu ihren Elternerfahren. Die Bindungen lockern sich und die emotionaleAusdrucksfähigkeit in <strong>de</strong>r Familie verringert sich gemäß dieserHypothese. Dies führt zu einer Erhöhung von Gefühlen sozialerAngst und von Depression. Bisherige Untersuchungen bestätigendiese Hypothese (Papini & Sebby, 1987; Steinberg, 1988, 1989).An<strong>de</strong>rerseits sagt die Attachmenttheorie voraus, dass das Bindungsverhaltenbeson<strong>de</strong>rs bei Stress und Angst aktiviert wird.Wenn Jugendliche unter Stressbedingungen also Zuflucht im Bindungsverhaltensuchen können, so wirkt dies dämpfend auf ihreÄngste. Diese Dämpfungshypothese (buffering hypothesis) wur<strong>de</strong>von Arms<strong>de</strong>n und Greenberg (1987) entwickelt. Sie besagt, dassdie Qualität <strong>de</strong>r Bindungsbeziehungen zu <strong>de</strong>n Eltern einen Pufferfür Stress und Angst bil<strong>de</strong>t, die in Übergangsperio<strong>de</strong>n auftritt. Vorallem während <strong>de</strong>r Zeit körperlicher Reifung kann die Qualität <strong>de</strong>rBindung die Jugendlichen vor Gefühlen <strong>de</strong>r Depression und sozialenAngst schützen.5.2 Die Gleichaltrigen770 5.2.1 Die Funktion <strong>de</strong>r PeergruppeDie Gruppe <strong>de</strong>r Gleichaltrigen und Gleichgesinnten, die so genanntePeergruppe, nimmt im Jugendalter eine wichtige Funktionein. Die Gleichaltrigen gewährleisten besser als Erwachsene dieVerwirklichung von Gleichheit und Souveränität. Gleichheit verlangtAkzeptanz von Unterschie<strong>de</strong>n zwischen <strong>de</strong>n Gruppenmit-775glie<strong>de</strong>rn und allgemeine Gerechtigkeit. Souveränität wird in <strong>de</strong>rPeergruppe als Möglichkeit zur Selbstdarstellung und als Verwirklichungvon Zielen, die zugleich Ziele <strong>de</strong>r Gruppe sind, erfahrbar.Durch diese bei<strong>de</strong>n Merkmale, die in <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung von Peers780 stecken, wird <strong>de</strong>r Schritt hin zur Autonomie erleichtert, ohne dassdabei die Sozialbeziehungen aufgegeben wer<strong>de</strong>n müssten. Sobewältigt die Peergruppe das Kunststück, Unabhängigkeit (in<strong>de</strong>pen<strong>de</strong>nce)und wechselseitige Abhängigkeit (inter<strong>de</strong>pen<strong>de</strong>nce) zuintegrieren. Es nimmt daher nicht wun<strong>de</strong>r, dass eine Reihe von785 Autoren <strong>de</strong>r Peergruppe wichtige Entwicklungsfunktionen imJugendalter zugesprochen haben (Ausubel, 1968; Coleman,1961; Eisenstadt, 1966; Erikson, 1968):• Sie kann zur Orientierung und Stabilisierung beitragen un<strong>de</strong>motionale Geborgenheit gewähren. Insbeson<strong>de</strong>re hilft sie das790 Gefühl <strong>de</strong>r Einsamkeit überwin<strong>de</strong>n, das viele Jugendliche aufgrund<strong>de</strong>r einsetzen<strong>de</strong>n Selbstreflexion und <strong>de</strong>r Erkenntnis <strong>de</strong>rEinmaligkeit entwickeln.


795800805810815820825830835840845850855860Fach: Pädagogik Oerter - <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> LK 13• Sie bietet sozialen Freiraum für die Erprobung neuer Möglichkeitenim Sozialverhalten und lässt Formen von sozialen Aktivitätenzu, die außerhalb <strong>de</strong>r Gruppe zu riskant wären.• Sie hat eine wichtige Funktion in <strong>de</strong>r Ablösung von <strong>de</strong>n Elternund bietet Unterstützung durch die normieren<strong>de</strong> Wirkung einerMehrheit (z.B. beim abendlichen Ausgang: „Die an<strong>de</strong>ren dürfenauch so lange wegbleiben.")• Sie kann zur <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>sfindung beitragen, in<strong>de</strong>m sie I<strong>de</strong>ntifikationsmöglichkeiten,Lebensstile und Bestätigung <strong>de</strong>r Selbstdarstellungenbietet.Der Jugen<strong>de</strong>gozentrismus kann sich in <strong>de</strong>r Peergruppe ebenfallsausleben: Je<strong>de</strong>r hat die Möglichkeit, die an<strong>de</strong>ren als Publikum anzusehenund sich selbst zum Mittelpunkt zu machen. So lassensich manche überzogenen Aktionen in <strong>de</strong>r Peergruppe, wie Großsprecherei,exaltierte Bewegungen, lautes Sprechen und Schreienbesser verstehen.5.2.2. Peergruppe und SubkulturEs ist verkürzt, die Funktion <strong>de</strong>r Peergruppe nur an <strong>de</strong>r individuellenEntwicklung <strong>de</strong>s einzelnen Jugendlichen festzumachen. VieleAutoren vermuten, dass sich die Peergruppe in <strong>de</strong>r Jugend herausbil<strong>de</strong>t,weil sie als Träger <strong>de</strong>r Sozialisation eine bestimmte gesellschaftlicheFunktion einnimmt. Eisenstadt (1966) meint, dassdie Peergruppe und die durch sie getragene Subkultur (Jugendkultur)die gesellschaftlichen Konflikte und Defizite zum Ausdruckbringt, also eine von <strong>de</strong>r Gesellschaft produzierte Einrichtung sei.Wenn etwa neue Musikgattungen, neue Sprachelemente (Jugendsprache),neue Kleidung, also insgesamt ein neuer Lebensstil kreiertwer<strong>de</strong>n, so sei dies zugleich als Reaktion auf die Einseitigkeiten<strong>de</strong>s Hauptstromes <strong>de</strong>r Kultur zu verstehen, <strong>de</strong>r man etwasNeues und an<strong>de</strong>res, das die unterdrückten Lebensbedürfnisse artikuliert,entgegensetzt.Eine weitere Erklärung für das Entstehen <strong>de</strong>r Subkultur und <strong>de</strong>rGruppierung von Jugendlichen lässt sich aus <strong>de</strong>r Marginalposition<strong>de</strong>s Jugendlichen herleiten. Infolge <strong>de</strong>r raschen technischen ökonomischenEntwicklung und <strong>de</strong>s damit verbun<strong>de</strong>nen Wissenszuwachsesvermag die ältere Generation <strong>de</strong>r nachwachsen<strong>de</strong>n nichtmehr hinreichend Rückhalt mit ihrem Wertesystem zu geben. DiePeergruppe etabliert sich als Stützsystem und übernimmt dieHauptfunktion <strong>de</strong>r Sozialisation (Coleman, 1961). Diese Auffassungist heute ein<strong>de</strong>utig wi<strong>de</strong>rlegt. Dennoch bleibt das Phänomen<strong>de</strong>r Existenz von Subkulturen bestehen (...).UNTER DER LUPE -Zusammenhang Dominanz - AltruismusSavin-Williams (1987) hat eine umfangreiche ethologische Studiedurchgeführt, in <strong>de</strong>r Jugendliche in Freizeitcamps fünf Wochenlang beobachtet und getestet wur<strong>de</strong>n. Insgesamt wur<strong>de</strong>n zehnJugendgruppen erfasst, darunter sechs männliche und vier weiblichemit einer Gruppengröße zwischen vier und sechs Personen. DieGruppen waren altershomogen zusammengesetzt und reichten von12 bis 17 Jahren, wobei acht Gruppen <strong>de</strong>r frühen Adoleszenz (12-14 Jahre) und nur zwei <strong>de</strong>r mittleren Adoleszenz (15-17 Jahre)zuzurechnensind. Der Tagesablauf war nach einem bestimmtenPlan eingeteilt, <strong>de</strong>r sich für Jungen und Mädchen etwas unterschied.Nach kurzer Zeit bil<strong>de</strong>te sich in <strong>de</strong>n Gruppen ein Interaktionsmusteraus, bei <strong>de</strong>m jeweils eine Person <strong>de</strong>utlich die Führungspositionübernahm. Daneben zeigten sich auch relativ stabileUnterschie<strong>de</strong> im prosozialen Verhalten (Altruismus).865870875880885890895Ergebnisse. Das wohl verblüffendste Ergebnis ist, dass die dominantestenGruppenmitglie<strong>de</strong>r auch am ausgeprägtesten prosozialesVerhalten zeigten. Die mitgeteilten Rangkorrelationen bestätigendiesen Eindruck und belegen einen signifikanten Zusammenhangvon Dominanz und Altruismus. Über alle zehn Gruppen hinwegbelegt <strong>de</strong>r Autor <strong>de</strong>n Befund, dass Altruismus keineswegs gegenläufig,ja nicht einmal unabhängig von Dominanz ist, son<strong>de</strong>rn dass <strong>de</strong>rGruppenführer (Alpha) zugleich auch verstärkt prosozial aktiv ist. DieseDaten sind beson<strong>de</strong>rs wertvoll, da sie nicht nur Meinungen und Urteileüber Dominanz und Altruismus wie<strong>de</strong>rgeben, son<strong>de</strong>rn auf das faktischeVerhalten in Gruppen zurückgreifen. Die Alphas bemühten sich nur in<strong>de</strong>r ersten Woche um ihren Status und auch in dieser Zeit nicht durchaggressives Verhalten, son<strong>de</strong>rn eher durch bestimmtes festes Auftreten.Danach waren sie allgemein anerkannt und bestimmten gewissermaßenganz selbstverständlich die Aktivitäten in <strong>de</strong>r Gruppe.Bemerkenswerterweise spielte sich dieser Prozess bei bei<strong>de</strong>n Geschlechterngleichermaßen ab.Die Merkmale <strong>de</strong>r Führungspersönlichkeit waren bei bei<strong>de</strong>n Geschlechterngleich: Sie waren körperlich weiter entwickelt, aber auch notwendigerweisefrühreif, größer und schwerer sowie etwas älter. Meistenswur<strong>de</strong>n sie von ihren Gruppenmitglie<strong>de</strong>rn als körperlich attraktiv, intelligentund sportlich-athletisch eingestuft. Auch die Gruppenbetreuerkennzeichneten die Alphas ähnlich und schätzten sie als konstruktive, integrieren<strong>de</strong>Personen in <strong>de</strong>r Gruppe.Interpretation. Diese Merkmale und <strong>de</strong>r Effekt, <strong>de</strong>n die Alphas in <strong>de</strong>rGruppe bewirkten, spricht nach Meinung von Savin-Williams für eine biologisch-evolutionäreBasis dieses gruppendynamischen Phänomens. Bei<strong>de</strong>n Primaten zeigt sich ein ähnlicher Prozess, wobei das dominante Tierebenfalls größer und stärker ist als die übrigen, ohne aber beson<strong>de</strong>rsaggressiv zu sein. Als Argument führt <strong>de</strong>r Autor auch die Dominanzhierarchienan, <strong>de</strong>nn diese wi<strong>de</strong>rsprechen <strong>de</strong>m kulturell bestimmten Rollenbild.Schließlich verweist <strong>de</strong>r Autor auf die stabilisieren<strong>de</strong> und stressmin<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>Funktion <strong>de</strong>r Dominanzhierarchie: Durch sie wird das Konfliktpotentialund die Aggressivität innerhalb <strong>de</strong>r Gruppe verringert unddamit <strong>de</strong>ren Stabilität und Funktionalität größer.Stufen <strong>de</strong>r Gruppenentwicklung. Dunphy (1963) hat in einer klassischenStudie in Sydney <strong>de</strong>n Übergang von <strong>de</strong>r gleichgeschlechtlichen Clique zuPartnerschaften beobachtet. Abbildung 7.9 stellt diesen Verlauf anschaulichdar. Es zeigt sich, dass anfänglich gleichgeschlechtliche Cliquenvor herrschen, die aber bald einer beginnen<strong>de</strong>n Vermischung weichen.Die Geschlechtermischung wur<strong>de</strong> dabei von Gruppenmitglie<strong>de</strong>rn mit hohemStatus eingeleitet. Auf <strong>de</strong>r Stufe vier existieren heterosexuelleCliquen, die untereinan<strong>de</strong>r in Beziehung stehen, bis schließlich auf <strong>de</strong>rStufe fünf die Desintegration <strong>de</strong>r Mischgruppe erfolgt und lose verbun<strong>de</strong>nenPaaren, die miteinan<strong>de</strong>r befreun<strong>de</strong>t sind, weicht. Im Großenund Ganzen kann dieser Verlauf auch bei Jugendlichen in Deutschlandbeobachtet wer<strong>de</strong>n.Oerter-<strong>I<strong>de</strong>ntität</strong>.doc Oerter - <strong>I<strong>de</strong>ntität</strong> Seite 7 von 7

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