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InhaltAUFSÄTZEEuropäisches StrafrechtDie Beeinflussung des deutschen Strafrechts durch EU-Recht und der Gedanke des RechtsmissbrauchsVon Prof. Dr. Martin He<strong>ger</strong>, Berlin 289VölkerstrafrechtWiedergutmachung im Völkerstrafverfahren vor demInternationalen Straf<strong>ger</strong>ichtshof nach LubangaVon Akad. Rätin a.Z. Dr. Stefanie Bock, Göttingen 297Plea Bargaining in International Criminal TribunalsThe end of truth-seeking in International Courts?By Laura Burens, Den Haag 322Internationales StrafrechtEl Salvadors staatlich vermittelter Bandenfriede: Auswegoder Irrweg?Von Prof. Dr. Sven Peterke, João Pessoa (Brasilien) 334The Effectiveness of the Global Combat against theFinancing of Terrorism for Preventing Terrorist ActivityBy Assessor Niclas-Frederic Weisser, LL.M. (Osnabrück),LL.M. (Kingston upon Hull), Bremen 343Europäisches StrafrechtDer Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen Straftäternin EuropaVon Wiss. Mitarbeiterin Georgia Stefanopoulou, LL.M., Passau 350StrafrechtZur Einführung in das Problem der SicherungsverwahrungVon Prof. Dr. Jochen Bung, Passau 359ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGENEuropäisches StrafrechtOLG Linz, Beschl. v. 11.4.2013 – 9 Bs 82/13t;OLG Linz, Beschl. v. 13.5.2013 – 9 Bs 153/13h(Zur Anerkennung und Vollstreckung von EU-Geldsanktionen in Österreich)(Abteilungspräsident im Bundesamt für Justiz Dr. ChristianJohnson, Bonn) 361


Die Beeinflussung des deutschen Strafrechts durch EU-Recht und der Gedanke desRechtsmissbrauchs*Von Prof. Dr. Martin He<strong>ger</strong>, Berlin**Franz von Liszt bezeichnete das Strafgesetzbuch bekanntlichals „Magna Charta des Verbrechers“, weil dieser bei einersorgfältigen Durchsicht aller Straftatbestände daraus exaktabzulesen vermochte, was ihm bei Strafe verboten ist und wasnicht. 1 Bei den klassischen Straftatbeständen im ausgehenden19. Jahrhundert war dem Rechtsunterworfenen – so der BGH– zumindest bei kritischer Lektüre die Trennungslinie zwischenRecht und Unrecht klar. 2 Im Verlauf des 20. Jahrhundertssind dagegen zahlreiche Straftatbestände geschaffenworden, bei denen das Unrecht der Tatbegehung nicht schonaus der Formulierung des Tatbestandes ablesbar ist; vielmehrergibt sich eine Strafbarkeit erst daraus, dass das im Tatbestandumschriebene Verhalten im konkreten Einzelfall nichtdurch eine verwaltungsbehördliche Gestattung erlaubt ist.Damit entscheidet im Anwendungsbereich einer Strafnormein Verwaltungsakt über das Vorliegen von strafbarem Unrecht.Man spricht daher von verwaltungsakzessorischen Straftatbeständen.Seit Inkrafttreten des 1. UKG im Jahre 1980 gilt das Umweltstrafrechtim StGB als Hauptanwendungsgebiet der Verwaltungsakzessorietät,3 doch gibt es auch weit ältere Beispiele:So stellt etwa seit 1919 § 284 StGB das öffentliche Veranstalteneines Glücksspiels ohne behördliche Erlaubnis unterStrafe, 4 so dass – wie auch in der Mehrzahl der Umweltstraftatbestände(z.B. §§ 325, 327 StGB) – das Vorliegen einesbehördlichen Gestattungsaktes den Tatbestand und damit dieStrafbarkeit entfallen lässt. 5 Da aber das Glücksspielstrafrecht(§§ 284 ff. StGB) bis vor kurzem durch ein staatlichesMonopol geprägt war, gab es außerhalb des Toto/Lotto-Blockskeine Genehmigungen, 6 so dass die Frage, ob auch rechtsmissbräuchlicherlangte Genehmigungen tatbestandsausschließendeoder rechtfertigende Wirkung haben können, erst fürdas in den §§ 324 ff. StGB kodifizierte Umweltstrafrecht virulentwurde. Bedeutung hat sie nicht nur für das Kernstraf-* Um Nachweise erweiterter Vortrag, der im Mai 2013 an derUniversität Konstanz gehalten worden ist.** Der Verf. lehrt Strafrecht, Strafprozessrecht, europäischesStrafrecht und neuere Rechtsgeschichte an der Humboldt-Universitätzu Berlin.1 V. Liszt, Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 1, 1905,S. 80.2 BGHSt 2, 194 (202 f.).3 Vgl. nur Winkelbauer, Zur Verwaltungsakzessorietät desUmweltstrafrechts, 1985, passim; Kühl, in: Küper/Puppe/Tenckhoff (Hrsg.), Festschrift für Karl Lackner zum 70.Geburtstag am 18. Februar 1987, 1987, S. 815; Kloepfer/Vierhaus, Umweltstrafrecht, 2. Aufl. 2002, Rn. 26 ff.4 Zur Geschichte der §§ 284 ff. StGB vgl. Krehl, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipzi<strong>ger</strong>Kommentar, Bd. 10, 12. Aufl. 2008, Vor § 284 Rn. 2.5Vgl. nur Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar,27. Aufl. 2011, § 284 Rn. 12 m.w.N.6 Vgl. nur He<strong>ger</strong>, <strong>ZIS</strong> 2012, 384.recht, sondern auch für das Nebenstrafrecht, wenngleich aufdiesem Gebiet keine vergleichbar intensive Diskussion stattgefundenhat.I. Der Rechtsmissbrauchsgedanke im deutschen StrafrechtWeil es zwischen 1980 und dem Inkrafttreten des 2. UKG imJahre 1994 keinerlei Regelung zum Umgang mit verwaltungsrechtswidrigenGestattungsakten der Behörden gegeben hat,wurden zunächst in der Literatur und danach auch in derRechtsprechung Eckpunkte erarbeitet, unter welchen Umständenverwaltungsrechtliche Gestattungsakte einer Strafbarkeitwegen eines Umweltdelikts entgegenstehen können. Dabeibestand und besteht zunächst Einigkeit darüber, dass nurverwaltungsrechtlich beachtliche Rechtsakte auch strafrechtlichdas Unrecht ausschließen können, so dass weder sog.Nichtakte noch im Sinne von § 43 VwVfG nichtige Verwaltungsaktestrafrechtliche Wirkungen entfalten können. 7 Umgekehrtgalt und gilt aber, dass allein ein Verstoß gegen daszugrunde liegende materielle Verwaltungsrecht, das denGestattungsakt zwar seinerseits materiell rechtswidrig, abereben nicht unwirksam macht, ihm für den Bereich des Strafrechtsnoch nicht per se eine tatbestandsausschließende oderrechtfertigende Wirkung entzieht. Wer also aufgrund einesentgegen dem Umweltverwaltungsrecht ergangenen, aberverwaltungsrechtlich zunächst wirksamen Erlaubnisaktes z.B.eine Gewässerverunreinigung (§ 324 StGB) vorgenommenhat, war grundsätzlich allein aufgrund des formellen Vorliegensdes begünstigenden Verwaltungsaktes <strong>ger</strong>echtfertigt, 8 sodass – trotz Verstoßes gegen das materielle Umweltrecht –zumindest aus Sicht des Strafrechts kein Unrecht anzunehmenist. 9 Weil es auf das Vorliegen einer noch wirksamenGenehmigung zur Zeit der Tatbegehung ankommt, ändertsich an der dadurch bewirkten Straflosigkeit auch nichtsdadurch, dass möglicherweise später der Verwaltungsaktaufgrund von § 48 VwVfG sogar mit Wirkung ex tunc zurückgenommenwerden kann.Vor diesem Hintergrund wurde allerdings alsbald darüberdiskutiert, ob dann eine Ausnahme von der strafrechtlichenBeachtlichkeit eines wirksamen Verwaltungsaktes gemachtwerden kann, wenn der diesen Ausnutzende rechtsmissbräuchlichgehandelt hat. 10 Ein solcher Rechtsmissbrauch wurde etwaangenommen, wenn der Täter den ihn begünstigenden Verwaltungsaktdurch Täuschung, Drohung, Bestechung oder kollusivesZusammenwirken mit dem Amtsträ<strong>ger</strong> erlangt hatte; darüberhinaus wurde aber auch diskutiert, ob als missbräuch-7 Kloepfer/Vierhaus (Fn. 3), Rn. 32.8 Lackner/Kühl (Fn. 5), § 324 Rn. 10a.9 Vgl. Kloepfer/Vierhaus (Fn. 3), Rn. 31 ff.10 Vgl. nur Mumberg, Der Gedanke des Rechtsmissbrauchsim Umweltstrafrecht, 1989, passim; Jünemann, Rechtsmissbrauchim Umweltstrafrecht, 1998, S. 42 ff.; Schall, in: Dannecker(Hrsg.), Festschrift für Harro Otto zum 70. Geburtstagam 1. April 2007, 2007, S. 743 f._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com289


Martin He<strong>ger</strong>_____________________________________________________________________________________lich und damit strafrechtlich unbeachtlich auch das bloße Ausnutzeneiner erkanntermaßen fehlerhaften oder inhaltlich überholtenGenehmigung anzusehen sein sollte. 11Im Zuge des 2. UKG wurde in § 330d Nr. 5 StGB dieserMissbrauchsgedanke gesetzlich <strong>ger</strong>egelt. Seither steht einerStrafbarkeit gemäß §§ 324 ff. StGB nicht entgegen eine durchDrohung, Bestechung oder Kollusion erwirkte oder durch unrichtigeoder unvollständige Angaben erschlichene Genehmigungetc. Der Rechtsmissbrauchsgedanke ist damit in seinemKern kodifiziert worden; die un<strong>ger</strong>egelt gebliebenen Diskussionsfälleeiner fehlerhaften oder überholten Genehmigungsind mit diesem Federstrich aus dem Bereich des relevantenRechtsmissbrauchs ausgeklammert worden. 12II. Die Europarechtsakzessorietät des deutschen StrafrechtsWaren akzessorische Strafnormen des Wirtschafts- und Umweltstrafrechtsbis vor wenigen Jahrzehnten ausschließlichabhängig von den zugrunde liegenden nationalen zivil- oderverwaltungsrechtlichen Regelungen, hat sich dies in letzterZeit dadurch massiv verändert, dass viele Bereiche des Wirtschafts-,Sozial- und Umweltrechts, aber auch des AusländerundAsylrechts in Deutschland nicht mehr ausschließlich durchnationale Rechtsnormen <strong>ger</strong>egelt sind; vielmehr gibt es aufdiesen Gebieten teilweise unmittelbar geltende EU-Verordnungen.Und viele neuere Normen des deutschen Rechts dienender Umsetzung von Vorgaben in EU-Richtlinien. Besondersaugenfällig ist dies wiederum auf dem Gebiet des Umweltrechts,beruhen hier doch nicht weni<strong>ger</strong> als 80 % der anzuwendendenRechtsvorschriften auf EU-Rechtsakten. Dashat Folgen auch für das Strafrecht. Hatte der BGH noch 1991unter Geltung des Abfallgesetzes von 1976 entschieden, derstrafrechtliche Abfallbegriff in § 326 Abs. 1 StGB sei „inAnlehnung an § 1 Abs. 1 S. 1 AbfG selbständig, ohne dieverwaltungsrechtlichen Anwendungsbeschränkungen des § 1Abs. 3 AbfG, zu bestimmen“, 13 so dass der strafrechtlicheAbfallbegriff inhaltlich an den des deutschen Abfallverwaltungsrechtsangelehnt ist, so mag heute Entsprechendes fürdie Nachfolgenorm des § 3 KrWG anzunehmen sein. 14 Weilaber dieses Gesetz in weiten Teilen auf EU-Vorgaben beruht,ist auch der strafrechtliche Abfallbegriff inhaltlich an das EU-Abfallrecht angelehnt. Die ursprünglich allein zum deutschenRecht angenommene Verwaltungsakzessorietät wandelt sichdamit in Richtung auf eine Europarechtsakzessorietät. 15Diese betrifft aber nicht nur die begriffliche Ebene; wiebei der Verwaltungsaktakzessorietät des deutschen Strafrechtsgibt es auch Konstellationen, in denen die Tatbestandsmäßigkeitoder Rechtmäßigkeit eines Verhaltens nach deutschemRecht vom Vorliegen einer ausländischen Genehmigung ab-11 Lackner/Kühl (Fn. 5), § 324 Rn. 10.12 Weber, in: Weigend u.a. (Hrsg.), Festschrift für Hans JoachimHirsch zum 70. Geburtstag am 11. April 1999, 1999,S. 795; Wohlers, JZ 2001, 850.13 BGHSt 37, 21.14 Sali<strong>ger</strong>, Umweltstrafrecht, 2012, Rn. 274 ff.15 Dazu und im Folgenden He<strong>ger</strong>, Die Europäisierung desdeutschen Umweltstrafrechts, 2009, S. 38 ff.hängig sein kann. Dies soll an zwei Beispielen – wiederumaus dem Umweltstrafrecht – verdeutlicht werden: Leitet ein österreichisches Unternehmen aufgrund einerösterreichischen Genehmigung in Bregenz Abwässer inden Bodensee, welche diesen auch auf deutschem Staatsgebiet– schlimmstenfalls bis Konstanz – verunreinigen, istder Tatbestand einer Gewässerverunreinigung nach § 324Abs. 1 StGB gegeben; darauf ist wegen des inländischenErfolgseintritts gemäß §§ 3, 9 Abs. 1 StGB auch deutschesStrafrecht anwendbar. Weil aber eine Gewässerverunreinigungnur strafbar ist, wenn sie „unbefugt“ erfolgt seinsollte, stellt sich die Frage, ob das Vorliegen einer österreichischenGenehmigung in Deutschland als Rechtfertigungsgrundwirken kann. Das zweite Beispiel betrifft mit dem „Mülltourismus“-Tatbestand des § 326 Abs. 2 StGB eine Norm, bei welcherdas Vorliegen der erforderlichen Genehmigung für dieAbfallverbringung bereits den Tatbestand entfallen lässt.Da es sich hier um ein typischerweise transnationales Delikthandelt, stellt sich die Frage, ob eine erforderlicheGenehmigung auch allein in einem Nachbarstaat erteiltwerden könnte; soweit z.B. Österreich aufgrund der EG-Abfallverbringungsverordnung eine erforderliche Genehmigun<strong>ger</strong>teilt hat, kann diese in Deutschland tatbestandsausschließendwirken.Für diesen zweiten Beispielsfall stellt dies seit Ende 2011 diemit dem 45. StrRÄndG eingefügte Regelung des § 330d Abs. 2StGB klar, in welchem festgehalten ist, dass bei einer Tatbegehungim EU-Ausland einer Genehmigung in § 326 StGBentsprechende Genehmigungen auf Grund einer Rechtsvorschriftdes anderen EU-Mitgliedstaats gleichstehen, soweit dadurchein EU-Umweltrechtsakt umgesetzt wird. Der im erstenBeispiel genannte § 324 StGB ist zwar von dieser Neuregelungnicht erfasst, doch begründet dies der Gesetzgeber damit,dass die Anerkennung von Gestattungsakten anderer EU-Mitgliedstaatenschon seit län<strong>ger</strong>em der in Deutschland herrschendenAnsicht entspricht. 16 Auch wenn dies bislang vielleichtnicht so einhellig angenommen worden ist, hat diese Ansichtjedenfalls mit dieser Gesetzesbegründung den legislativen„Ritterschlag“ erhalten und entspricht daher zukünftig demeindeutigen Willen des aktuellen Gesetzgebers. 17III. Der Rechtsmissbrauchsgedanke im europäischen StrafrechtDer Gedanke eines Rechtsmissbrauchs findet sich im europäischenStrafrecht immer wieder. Dabei ging es aber bislangweni<strong>ger</strong> um die Frage der Strafbarkeit und damit um dasmaterielle Strafrecht, als vielmehr um das Strafverfahrensrecht.So wird befürchtet, dass die in EU wie im Schengen-Raumrelativ großzügige Zulassung eines Doppelbestrafungsverbotszu einem forum shopping der Verteidigung einladen könnte,16 BT-Drs. 17/5391, S. 10 f.17 Vgl. Ransiek, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.),Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 3, 4. Aufl. 2013,§ 330d Rn. 7._____________________________________________________________________________________290<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Die Beeinflussung des deutschen Strafrechts durch EU-Recht und der Gedanke des Rechtsmissbrauchs_____________________________________________________________________________________indem man im Erstverfol<strong>ger</strong>staat ein mildes Urteil erlangt,das jeder Verfolgung in anderen EU- oder Schengenstaatenentgegen gehalten werden kann. Nachdem mit Art. 50 GRChdie Voraussetzungen für ein ne bis in idem innerhalb der EUnoch weiter abgesenkt worden sind – eine Vollstreckung derverhängten Strafe ist danach nicht mehr Voraussetzung 18 –wird daher von manchen erwartet, dass der EuGH mit einer„Missbrauchs-Rechtsprechung“ reagiert. 19Umgekehrt fürchten viele Strafverteidi<strong>ger</strong> vor allem,wenn es in Zukunft zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaftkommen sollte, eine <strong>ger</strong>adezu willkürliche Auswahldes Gerichtsstandes mit einer Tendenz zum „punitivstenStaat“. 20Auf der Strafrechtslehrertagung in Zürich im Mai 2013wurde in einem Diskussionsbeitrag von Eser schließlich aufdie Gefahr sog. „fake trials“ hingewiesen, 21 bei denen in einemStaat zwar pro forma eine Strafverfolgung durchgeführt wird,tatsächlich aber ein Freispruch oder nur eine minimale Strafeergehen soll, um zu verhindern, dass in einem anderen Staateine effektive Strafverfolgung durchgeführt wird. Unter Hinweisauf das ergangene Urteil könnte man z.B. die Vollstreckungeines in einem anderen EU-Mitgliedstaat ausgestelltenEuropäischen Haftbefehls ablehnen. Dieser Missbrauchsgedankeist bereits im IStGH-Statut normiert; nach dem dafürgeltenden Grundsatz der Komplementarität ist der IStGH nurzur Verfolgung berufen, wenn der Tatortstaat zu einer effektivenStrafverfolgung des Völkerverbrechens nicht willens oderin der Lage ist. 22 Allerdings lässt sich diese Figur m.E. nichtauf den EU-Raum übertragen. 23 Das Völkerstrafrecht beruhtja <strong>ger</strong>ade auf dem Gedanken, dass durch Unfähigkeit oderUnwilligkeit der zuständigen Staaten zur Strafverfolgung faktischein Zustand von Straflosigkeit geschaffen wird; Grundlageder Zuständigkeit des IStGH wegen Unwilligkeit desTatortstaates ist daher ein nachvollziehbares Misstrauen indessen Justiz. Demgegenüber beruht die Europäische Union<strong>ger</strong>ade auf dem Gedanken wechselseitigen Vertrauens vonstrikt an die Menschenrechte von EMRK und GRCh sowie18 Eine solche wird in der deutschen Rspr. aber noch verlangt(vgl. BGHSt 56, 11; LG Aachen StV 2010, 237; Merkel/Scheinfeld, <strong>ZIS</strong> 2012, 206).19 So Zöller, in: Amelung/Günther/Kühne (Hrsg.), Festschriftfür Volker Krey zum 70. Geburtstag am 9.7.2010, 2010,S. 501 (S. 520).20 Eine solche Tendenz betont insbesondere Schünemann,StV 2003, 531.21 Ein Tagungsbericht von Abo Youssef/Godenzi mit deneinzelnen Diskussionsbeiträgen erscheint in Heft 4 der ZStW125 (2013).22 Dazu Werle, Völkerstrafrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 262 ff.;Satz<strong>ger</strong>, Internationales und Europäisches Strafrecht, 6. Aufl.2013, § 14 Rn. 17 ff.; ausf. Lafleur, Der Grundsatz der Komplementarität,Der Internationale Straf<strong>ger</strong>ichtshof im Spannungsfeldzwischen Effektivität und Staatensouveränität, 2011,passim.23 Vogel (in: Heß [Hrsg.], Wandel der Rechtsordnung, 2003,S. 45 [S. 61 ff.]) plädiert für den Aufbau eines komplementäreneuropäischen Strafjustizsystems.die Grundfreiheiten des AEUV gebundenen Rechtsstaaten. 24Die Annahme, ein EU-Mitgliedstaat könnte sich seinen europarechtlichenVerpflichtungen durch „fake trials“ o.ä. entziehen,stellt damit die normative Grundlage der Union in Frage,weshalb eine solche Kontrollmöglichkeit – wie sie dem ISt-GH zukommt – hier fehl am Platze wäre. Deshalb ist es auchvöllig überzeugend, dass die englischen Gerichte im Verfahrenüber den Europäischen Haftbefehl gegen Julian Assangeden von dessen Seite erhobenen Vorwurf, Schweden täuscheeinen Verfolgungswillen nur vor und wolle Assange eigentlichunverzüglich an die USA ausliefern, nicht als mögliches Auslieferungshindernisangesehen haben. 25IV. Rechtsmissbrauch bei Europarechtsakzessorietät1. Ausgangspunkt: § 330d Abs. 2 StGB n.F.Bedenkt man, dass der deutsche Strafgesetzgeber 1994 mit§ 330d Nr. 5 StGB den Rechtsmissbrauchsgedanken zumindestfür seinen Hauptanwendungsfall – das Umweltstrafrecht– kodifiziert hat und betrachtet man vor diesem Hintergrunddie bereits angesprochene neue Regelung des § 330d Abs. 2StGB etwas näher, 26 so sieht man, dass es darin an einem Verweisauf die nunmehr in Abs. 1 Nr. 5 lozierte Rechtsmissbrauchsregelungfehlt. Die Gleichstellungsklausel des § 330dAbs. 2 StGB lautet wie folgt:„Für die Anwendung der §§ 311, 324a, 325, 326, 327 und328 stehen in Fällen, in denen die Tat in einem anderenMitgliedstaat der Europäischen Union begangen worden ist1. einer verwaltungsrechtlichen Pflicht,2. einem vorgeschriebenen oder zugelassenen Verfahren,3. einer Untersagung,4. einem Verbot,5. einer zugelassenen Anlage,6. einer Genehmigung und7. einer Planfeststellungentsprechende Pflichten, Verfahren, Untersagungen, Verbote,zugelassene Anlagen, Genehmigungen und Planfeststellungenauf Grund einer Rechtsvorschrift des anderenMitgliedstaats der Europäischen Union oder auf Grundeines Hoheitsakts des anderen Mitgliedstaats der EuropäischenUnion gleich. Dies gilt nur, soweit damit ein Rechtsaktder Europäischen Union oder ein Rechtsakt der EuropäischenAtomgemeinschaft umgesetzt oder angewendetwird, der dem Schutz vor Gefahren oder schädlichen Ein-24 Vgl. Satz<strong>ger</strong> (Fn. 22), § 10 Rn. 24.25 Dazu He<strong>ger</strong>, Hambur<strong>ger</strong> Rechtsnotizen 2011, 105.26 Dazu Hecker, in: Ruffert (Hrsg.), Dynamik und Nachhaltigkeitdes Öffentlichen Rechts, Festschrift für Professor Dr.Meinhard Schröder zum 70. Geburtstag, 2012, S. 531; He<strong>ger</strong>,HRRS 2012, 211, Meyer, wistra 2012, 371; Schall, in: Wolter(Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 132.Lfg., Stand: April 2012, § 330d Rn. 61 ff.; Ransiek (Fn. 17),§ 330d Rn. 6 f.; Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze,Kommentar, 60. Aufl. 2013, § 330d Rn. 13; Noriuzi/Rettenmaier,in: Matt/Renzikowski (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar,2013, § 330d Rn. 14._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com291


Martin He<strong>ger</strong>_____________________________________________________________________________________wirkungen auf die Umwelt, insbesondere auf Menschen,Tiere oder Pflanzen, Gewässer, die Luft oder den Boden,dient.“Eben weil in § 330d Abs. 2 StGB kein ausdrücklicher Verweisauf die Rechtsmissbrauchsklausel des § 330d Abs. 1 Nr. 5StGB enthalten ist, ist fraglich, ob eine im EU-Ausland durchDrohung, Täuschung, Bestechung oder Kollusion erlangteGenehmigung etc. wie eine mit gleichen Mängeln behafteteinländische Genehmigung gleichfalls strafrechtlich unbeachtlichsein soll. Dabei ist vorab allerdings zu bedenken, dass eszunächst eine Frage des jeweils anwendbaren ausländischenUmweltverwaltungsrechts ist, ob eine derart bemakelte Genehmigungetc. überhaupt – wie in Deutschland – verwaltungsrechtlichwirksam sein kann. Ein nach ausländischemVerwaltungsrecht unbeachtlicher Nichtakt oder nichti<strong>ger</strong> Verwaltungsaktkann auch nicht gemäß § 330d Abs. 2 StGB imInland wie eine deutsche Genehmigung etc. wirken, schonweil eine solche bei Nichtigkeit im Sinne von § 43 VwVfGebenfalls strafrechtlich unbeachtlich ist. Ist die im EU-Auslanderlangte Genehmigung etc. freilich nach örtlichem Verwaltungsrechtzur Tatzeit im Sinne von § 8 StGB 27 beachtlich(wenngleich vielleicht rechtswidrig und ex tunc zurücknehmbar),muss dies gleichermaßen mit Blick auf das deutscheStrafrecht gelten, so dass etwa auch das Vorliegen einer umweltrechtswidrigenGenehmigung in einem anderen EU-Mitgliedstaatzur Folge hat, dass der diese dort Ausnutzende sichnicht nach deutschem Umweltstrafrecht strafbar macht.Nimmt man daher allein den Wortlaut von § 330d Abs. 2StGB, gelten im Rahmen der darin genannten Tatbeständealle zur Tatzeit (noch) wirksamen ausländischen Genehmigungenetc., so dass im EU-Ausland auch durch Drohung,Bestechung oder Kollusion erwirkte Genehmigungen etc.einer Strafbarkeit wegen §§ 324 ff. StGB in Deutschland denBoden entziehen könnten, solange sie nur nach dem am Tatortanwendbaren ausländischen Verwaltungsrecht zur Tatzeitnoch wirksam sind. 28 Da allerdings unter Geltung des 1. UKGbis 1994 der Rechtsmissbrauchsgedanke noch nicht kodifiziertwar, nichtsdestotrotz aber bereits als immanenteSchranke im Rahmen der Verwaltungsaktakzessorietät desUmweltstrafrechts angesehen wurde, könnte man erwägen,nunmehr ausländische Zulassungsakte an dem gleichen gewohnheitsrechtlichenMaßstab zu messen; in diese Richtungzielten Bemerkungen vor Erlass des 45. StrRÄndG, wonach§ 330d Nr. 5 StGB (a.F.) auch für im Rahmen der §§ 324 ff.StGB anzuwendende Genehmigungen gelten solle. 29 DieGesetzesbegründung schweigt sich dazu aus; wahrscheinlich27 Vgl. dazu Werle/Jeßber<strong>ger</strong>, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipzi<strong>ger</strong> Kommentar,Bd. 1, 12. Aufl. 2007, § 8 Rn. 1.28 Pfohl, ZWH 2013, 95 (100).29 Lackner/Kühl (Fn. 5), § 330d Rn. 5; Heine, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar 28. Aufl. 2010, § 330dRn. 40; Schmitz, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentarzum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 2006, § 330d Rn. 26;Breuer, Der Im- und Export von Abfällen innerhalb der EuropäischenUnion aus umweltstrafrechtlicher Sicht, 1998, S. 139.ist das Problem gar nicht genau gesehen worden. Im deutschenSchrifttum wird einerseits mit Blick auf den Wortlautvon § 330d Abs. 2 StGB eine strafrechtliche innerstaatlicheBeachtlichkeit auch rechtsmissbräuchlich erlangter ausländischerGenehmigungen verfochten, 30 während andere insbesonderemit Blick auf die Judikatur des EuGH in anderenFällen im Interesse eines EU-weit scharfen Umweltstrafrechtsrechtsmissbräuchlich erlangten Genehmigungen einestrafrechtliche Wirksamkeit absprechen wollen. 31 Für beidePositionen sprechen gute Gründe, die jeweils in Grundprinzipiendes Europarechts bzw. des Europäischen Strafrechtsverwurzelt sind; auch lassen sich für beide Präjudizien ausder Rechtsprechung – freilich noch nicht zum Umweltstrafrecht– heranziehen. Darauf soll im Einzelnen nunmehr eingegangenwerden.Dabei sollen drei in der deutschen und partiell auch bereitsder europäischen Rechtsprechung behandelte Fallkonstellationenvorgestellt werden: Die Rechtsprechung des BGH zum Vorenthalten vonSozialversicherungsbeiträgen bei im EU-Ausland rechtsmissbräuchlicherlangten E 101-Bescheinigungen. Die Rechtsprechung von BGH und EuGH zur Strafbarkeitwegen Einschleusens von Ausländern gemäß § 96 AufenthG,wenn der Ausländer in einem anderen EU-Staatsein Visum durch eine arglistige Täuschung erschlichenhat. Die Rechtsprechung deutscher Ober<strong>ger</strong>ichte und des EuGHzur Strafbarkeit wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis gemäߧ 21 StVG, wenn der Fahrer während einer Sperrfristim Inland im EU-Ausland einen Führerschein erworbenhat.2. Europarechtliche GrundprinzipienDie darin gefundenen Lösungen divergieren – wie noch zuzeigen sein wird – in einer vorliegend entscheidenden Frage.Bevor darauf aber näher eingegangen werden soll, möchte ichkurz die konkurrierenden Grundprinzipien vorstellen, die beideim Europarecht wurzeln:a) Gegenseitige AnerkennungFür eine Anerkennung ausländischer Genehmigungen etc., sowie sie sind (und das heißt ohne eine inhaltliche Rechtsmissbrauchskontrolle),spricht vor allem der Grundsatz der gegenseitigenAnerkennung, wie er seit 1999 als „Eckstein der30 He<strong>ger</strong>, HRRS 2012, 211 (218 f.); Pfohl, ZWH 2013, 95(100).31 So Schall ([Fn. 26], § 330d Rn. 47) und Hecker, der zwarin Sieber u.a. (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2011, § 28Rn. 17, noch für eine Ergänzung der Richtlinie um eine Missbrauchs-Klauselplädiert hatte, mich aber – bezugnehmendauf meine kurz zuvor (in HRRS 2012, 211 [218 f.]) geäußerteAnsicht – auf einer Veranstaltung der Richterakademie in Trierim Mai 2012 vor allem mit dem nachfolgend näher darzustellendenJudikat des EuGH (Urt. v. 10.4.2012 – C-83/12 =NJW 2012, 1641) „konfrontiert“ hatte._____________________________________________________________________________________292<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Die Beeinflussung des deutschen Strafrechts durch EU-Recht und der Gedanke des Rechtsmissbrauchs_____________________________________________________________________________________europäischen Strafrechtspolitik“ gilt 32 und seit 2009 mit demVertrag von Lissabon in Art. 67 und 82 Abs. 1 AEUV deutlichenAusdruck gefunden hat. 33 Die Reihung legt mit Rücksichtauf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zumindesteinen Vorrang des Prinzips gegenseiti<strong>ger</strong> Anerkennung imStrafrecht vor einer EU-weiten Harmonisierung dieses Rechtsgebietesnahe. Überdies ist dieser Grundsatz auch auf anderenGebieten des Europarechts etabliert, soweit es an einer EUweiteinheitlichen Regelung eines Rechtsgebietes fehlt. Sohat der EuGH bekanntlich bereits 1979 im Fall „Cassis deDijon“ seiner Entscheidung das Herkunftslandprinzip zugrundegelegt. 34b) Effet utile des UnionsrechtsFür eine Versagung der strafrechtlichen Wirksamkeit woauch immer – im In- oder Ausland – rechtsmissbräuchlicherlangter Genehmigungen streitet demgegenüber zumindestauf den ersten Blick das Gebot eines effet utile, 35 denn größtmöglicheWirkung als Sanktionsnorm für europarechtswidrigesVerhalten wird zumindest vordergründig dadurch vermittelt,dass jeder inhaltliche Verstoß gegen aus EU-Sicht strafwürdigesVerhalten auch in allen Mitgliedstaaten verfolgtwerden kann, selbst wenn eine missbräuchlich erlangte Gestattunghierzu vorgewiesen werden kann.3. Nationalrechtliche AspekteDagegen spielen andere pro- und contra-Erwägungen weiterhinvor allem auf nationaler Ebene und scheinen damit primafacie wenig geeignet, die eine oder andere Ansicht im Lichtedes Europarechts zu stützen; dass dem allerdings nicht so ist,wird noch zu zeigen sein.a) PraktikabilitätserwägungenSo werden vor allem gegen eine umfassende RechtsmissbrauchskontrollePraktikabilitätserwägungen geltend gemacht;für den deutschen Strafrichter wäre es im Einzelfall sicherlichschwierig bis unmöglich, rechtsmissbräuchliches Verhaltenausländischer Behörden nachweisen zu können.b) Gleichbehandlung nationaler und ausländischer TatenFür eine umfassende Rechtsmissbrauchskontrolle mag mandagegen einwenden, dass es anderenfalls zu einer Ungleichbehandlungvon inländischen und ausländischen Tatortenkommen würde. Zwar ist das Gebot der Nichtdiskriminierungnach Art. 18 AEUV ein Kerngrundrecht der EuropäischenUnion, doch würde die Strafverfolgung nur im Inland tätiggewordener Täter ja die ausländischen Tätergruppen nichtbenachteiligen. Auch EU-Ausländer können im Inland wegenhier begangener Straftaten gemäß §§ 324 ff. StGB verfolgtwerden, sofern sie bei deutschen (Umwelt-)Behörden eineGenehmigung etc. im Sinne von § 330d Abs. 1 Nr. 5 StGBrechtsmissbräuchlich erlangt haben.c) Wortlautgrenze und BestimmtheitsgrundsatzSchließlich ist mit Blick auf den konkreten Fall des § 330dAbs. 2 StGB zu fragen, ob nicht der klare Wortlaut dieserNorm in Verbindung mit dem Bestimmtheitsgebot aus Art. 103Abs. 2 GG einer Erweiterung des Rechtsmissbrauchsgedankensim europäisierten Umweltstrafrecht entgegensteht. Auchdieser Einwand hat freilich inzwischen eine europarechtlicheKonnotation, ist doch der Bestimmtheitsgrundsatz auch inArt. 49 Abs. 1 S. 1 der mit dem Vertrag von Lissabon rechtswirksamgewordenen Grundrechte-Charta (Art. 6 Abs. 1 EUV)enthalten 36 und hat der EuGH in seinem viel beachteten Urteilin der Rechtssache „Fransson“ vom 26.2.2013 37 den inArt. 51 GRCh festgelegten Anwendungsbereich dieser Vorschriftrelativ weit gezogen, so dass jedenfalls Strafnormen,die aufgrund von Richtlinienvorgaben ergangen sind – wieeben auch die Neuregelungen des Umweltstrafrechts unddamit von § 330d StGB im Zuge des 45. StrRÄndG – grundsätzlichan den Verbürgungen der Grundrechte-Charta zumessen sind.32 Vgl. Böse, in: Momsen/Bloy/Rackow (Hrsg.), FragmentarischesStrafrecht, Beiträge zum Strafrecht, Strafprozeßrechtund zur Strafrechtsvergleichung, für Manfred Maiwald ausAnlaß seiner Emeritierung, verfaßt von seinen Schülern, Mitarbeiternund Freunden, 2003, S. 233; Gleß, ZStW 115 (2003),146; Satz<strong>ger</strong> (Fn. 22), § 10 Rn. 24 ff.; Hecker, EuropäischesStrafrecht, 4. Aufl. 2012, § 12 Rn. 51 ff.; Safferling, InternationalesStrafrecht, 2011, § 12 Rn. 38 ff.; Ambos, InternationalesStrafrecht, 3. Aufl. 2011, § 9 Rn. 11 ff.; Harms/Knauss,in: Heinrich u.a. (Hrsg.), Strafrecht als Scientia Universalis,Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag am 15. Mai2011, Bd. 2, 2011, S. 1479; Andreou, Gegenseitige Anerkennungvon Entscheidungen in Strafsachen in der EuropäischenUnion, 2009, passim.33 He<strong>ger</strong>, <strong>ZIS</strong> 2009, 406 (410 f.).34 EuGH, Urt. v. 20.2.1979 – 120/78 (Cassis de Dijon) = Slg.1979, 649 (664).35 Zu dieser Figur im europäischen Strafrecht Vogel, in: Sieberu.a. (Fn. 31), § 5 Rn. 37.4. Zu den Präzedenzfällena) BGHSt 51, 124 (zu § 266a StGB)Der BGH hat zur Strafbarkeit wegen Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgengem. § 266a StGB anerkannt, dasssozialversicherungsrechtliche Bescheinigungen anderer EU-Staaten (damals sog. E 101-Bescheinigungen) selbst bei eindeuti<strong>ger</strong>Fehlerhaftigkeit von deutschen Gerichten nicht überprüftwerden können, 38 während dies für ausländische Bescheinigungenaußerhalb des EU-Raums <strong>ger</strong>ade nicht geltensoll. 39 Jedenfalls für das Vorenthalten von Sozialversicherungsabgabengilt damit aus Sicht der deutschen Rechtspre-36 Eser, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EuropäischenUnion, 3. Aufl. 2011, Art. 49 Rn. 20 f.; ausf. Schaut,Europäische Strafrechtsprinzipien, 2012, S. 136 ff.37 EuGH JZ 2013, 613 (dazu Dannecker, JZ 2013, 616; Wegner,HRRS 2013, 126; Eckstein, <strong>ZIS</strong> 2013, 220).38 BGHSt 51, 124.39 BGHSt 52, 67, zu den sog. D/H 101-Bescheinigungen vorUngarns EU-Beitritt (dazu He<strong>ger</strong>, JZ 2008, 366 f.)._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com293


Martin He<strong>ger</strong>_____________________________________________________________________________________chung zwischen den EU-Mitgliedstaaten uneingeschränkt derGrundsatz gegenseiti<strong>ger</strong> Anerkennung.b) EuGH, Urt. v. 10.4.2012 – C-83/12 (zu § 96 AufenthG)Demgegenüber hat der EuGH vor rund einem Jahr darüber zuentscheiden gehabt, ob das in einem anderen EU-Staat durcharglistige Täuschung und damit rechtsmissbräuchlich erworbeneVisum eines Nicht-EU-Ausländers trotz seiner materiellenUnrichtigkeit einer Strafbarkeit wegen Einschleusens vonAusländern entgegensteht oder nicht.Nach § 95 Abs. 6 AufenthG steht – wortgleich zu § 330dAbs. 1 Nr. 5 StGB – „einem Handeln ohne erforderlichenAufenthaltstitel ein Handeln auf Grund eines durch Drohung,Bestechung oder Kollusion erwirkten oder durch unrichtigeoder unvollständige Angaben erschlichenen Aufenthaltstitelsgleich“. Aufgrund einer Vorlage des BGH gemäß Art. 267AEUV 40 hatte der EuGH zu entscheiden, ob Art. 21 und 34des Visakodexes der EU dahin auszulegen sind, dass sie einerStrafbarkeit nach deutschem Recht wegen Einschleusens vonAusländern entgegenstehen, wenn diese von anderen EU-Staaten Visa durch arglistige Täuschung erschlichen hatten,die Visa aber noch nicht annulliert worden sind. Der EuGHverneint diese Frage mit Nachdruck; aus dem Unionsrechtergebe sich nicht nur eine Berechtigung der Mitgliedstaaten,solche Handlungen unter Strafe zu stellen, sondern <strong>ger</strong>adezueine Pflicht, weil nur so den Bestimmungen des Visakodexesvolle praktische Wirksamkeit vermittelt werde. 41 Hier hebtder EuGH mithin entscheidend auf den effet utile-Grundsatzab. Der Grundsatz gegenseiti<strong>ger</strong> Anerkennung in Bezug aufdas von einer Behörde eines anderen Mitgliedstaats erteilteVisum tritt dahinter vollkommen zurück; allerdings mag diesauch mit einer Besonderheit des EU-Visakodexes zusammenhängen,auf die der EuGH verweist, dass nämlich zwar dieausstellende Behörde zur Annullierung des missbräuchlicherlangten Visums verpflichtet, die Behörden eines anderenEU-Staates dazu aber immerhin berechtigt sind.c) EuGH, Urt. v. 26.4.2012 – C 419/10 (zu § 21 StVG)Einen „Mittelweg“ beschreitet der EuGH – und mit ihm inzwischenauch die deutsche Rechtsprechung – beim sog.„Führerscheintourismus“. In einem Strafverfahren wegen Fahrensohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG) nach Entziehung derFahrerlaubnis im Inland ist ein im EU-Ausland erworbenerFührerschein von der deutschen Strafjustiz nur zu beachten,wenn er nicht während einer im Inland verhängten Sperrfristerworben wurde und der Inhaber zu diesem Zeitpunkt seinenordentlichen Wohnsitz im ausstellenden Mitgliedstaat hatte. 42Unter diesen Voraussetzungen ist die ausländische Behördenentscheidunganzuerkennen; mit der Orientierung an der inländischenSperrfrist wird letztlich eine Umgehung der nationalenEntscheidung sanktioniert, was in Richtung auf einVerbot des Rechtsmissbrauchs gedeutet werden mag. Wirddie Fahrerlaubnis zwar von einer deutschen Verwaltungsbe-hörde entzogen, aber keine Sperre für die Neuerteilung verhängt,kommt es mit Blick auf die innerstaatliche Wirksamkeiteiner ausländischen Fahrerlaubnis allein darauf an, obder Berechtigte seinen ordentlichen Wohnsitz am Ausstellungsorthatte. 43 Überträgt man diese Situation sinngemäß aufausländische umweltrechtliche Genehmigungen, wird mandiese – losgelöst von ihrem Inhalt – wohl im Inland akzeptierenmüssen, soweit sie ein Handeln im Ausland (z.B. denAnlagenbetrieb gemäß § 327 Abs. 2 S. 2 StGB) betreffen.Genehmigt eine ausländische Umweltbehörde dagegen einHandeln im Inland, wäre dies eine Umgehung des hiesigenVerwaltungsrechts; dieser Fall wird aber von § 330d Abs. 2StGB überhaupt nicht erfasst, weil danach die Tat im EU-Ausland erfolgt sein muss. Das spricht letztlich bei einer Tatbegehungim Ausland für eine Präferenz für den Grundsatzgegenseiti<strong>ger</strong> Anerkennung auch rechtsmissbräuchlich erlangter,wenngleich wirksamer Genehmigungen.5. Fol<strong>ger</strong>ungenAus diesen drei Präzedenzfällen lässt sich kein ganz einheitlichesBild ablesen, wie die deutsche Rechtsprechung und insbesondereauch der EuGH mit im EU-Ausland rechtsmissbräuchlicherworbenen Genehmigungen zu verfahren gedenken.Maßgebend sind einerseits die der Genehmigung zugrundeliegende EU-Rechtsakte; das zeigt sich deutlich in denbeiden Urteilen des EuGH zur Schleußerkriminalität und zumFührerscheintourismus. Besteht etwa von Europarechts wegeneine unbegrenzte Möglichkeit für Behörden im Verfol<strong>ger</strong>staat,in einem anderen EU-Staat ausgestellte Genehmigungenzu annullieren, ist es nur konsequent, wenn der Gedankegegenseiti<strong>ger</strong> Anerkennung behördlicher Entscheidungen imStrafrecht an Gewicht verliert.Auf der anderen Seite ist zu bedenken, dass der Grundsatzdes effet utile bzw. voller Wirksamkeit nicht in jedem Falldafür streiten muss, dass im EU-Ausland rechtsmissbräuchlicherlangten Genehmigungen in inländischen Strafverfahreneine tatbestandsausschließende oder rechtfertigende Wirkungversagt wird. Bezieht man den vordergründig im nationalenRecht wurzelnden Gedanken der Praktikabilität mit ein, wirdman im Regelfall realisieren müssen, dass die Feststellungeines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens vor Erlangung derGenehmigung im Ausland vor einem inländischen Straf<strong>ger</strong>ichtim Regelfall nicht unerhebliche Schwierigkeiten mitsich bringen dürfte. Hält es aber eine deutsche Staatsanwaltschaftfür wahrscheinlich, dass eine Genehmigung im EU-Ausland rechtsmissbräuchlich erlangt worden ist, muss siegrundsätzlich nach dem Legalitätsprinzip Anklage erheben(die erleichterte Einstellungsmöglichkeit gemäß § 153c StPObesteht nur, wenn kein Erfolg im Inland eingetreten ist, 44 während§ 330d Abs. 2 StGB lediglich auf eine Tathandlung imEU-Ausland rekurriert, 45 so dass <strong>ger</strong>ade das erste Beispielnicht erfasst wäre); kann das Straf<strong>ger</strong>icht in der Hauptverhandlungnicht abschließend klären, ob tatsächlich eine Rechts-40 BGH HRRS 2012, Nr. 409.41 EuGH NJW 2012, 1641.42 EuGH NJW 2012, 1935.43 OLG Hamm NStZ-RR 2013, 113.44 Schoreit, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zurStrafprozessordnung, 7. Aufl. 2013, § 153c Rn. 4.45 Schall (Fn. 26), § 330d Rn. 65._____________________________________________________________________________________294<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Die Beeinflussung des deutschen Strafrechts durch EU-Recht und der Gedanke des Rechtsmissbrauchs_____________________________________________________________________________________missbrauchskonstellation vorgelegen hat, muss es letztlich indubio pro reo freisprechen. Dieser Freispruch hätte aber EUundSchengen-weit ein ne bis in idem gemäß Art. 54 SDÜbzw. Art. 50 GRCh zur Folge, so dass auch in dem Staat,dessen (Umwelt-)Behörde möglicherweise missbräuchlichdie Genehmigung erteilt hatte und in dem eine Aufklärungder Umstände und damit eine Klärung der Rechtsmissbräuchlichkeitam leichtesten möglich wäre, wegen des Doppelbestrafungsverbotskein Strafverfahren mehr durchgeführt würde.Erkennt man hingegen in Deutschland in Strafverfahren –wie der BGH im E 101-Verfahren 46 – jede Genehmigung ausdem EU-Ausland als solche an, dürfte die Staatsanwaltschaftdie Ausnutzung einer rechtsmissbräuchlich erlangten ausländischenGenehmigung in Deutschland gar nicht erst gemäߧ 170 Abs. 1 StPO zur Anklage bringen; damit bleibt derWeg offen, dass die Straf<strong>ger</strong>ichte am Genehmigungsort dasGeschehen aufklären und gegebenenfalls den Täter bestrafen.47 Dass Strafsanktionen zur Gewährleistung einer Beachtungvon Unionsrecht diesem bei einer nicht angemessenenAusgestaltung des Strafverfahrensrechts <strong>ger</strong>ade keinen effektivenSchutz vermitteln können, hat der EuGH im Fall „Berlusconi“48 vor Augen geführt bekommen; die zur Durchsetzungeiner EG-Bilanzrichtlinie vorgesehenen italienischenStrafnormen führten bekanntlich wegen einer nachträglich zuknapp bemessenen Verjährungsfrist faktisch zur Straflosigkeit,das scharfe Schwert des Strafrechts war im wahrstenSinne des Wortes zu kurz <strong>ger</strong>aten und vermittelte damit <strong>ger</strong>adekeinen (straf)rechtlichen Schutz.Mit Blick auf das Umweltstrafrecht gilt dies umso mehr,streitet angesichts des Wortlauts von § 330d StGB doch hierfürauch noch das Bestimmtheitsgebot, welches – wie ausgeführt– seit 2009 explizit Eingang in die Justizgrundrechte derEU gefunden hat. Dass § 95 Abs. 6 AufenthG fast identischmit § 330d Abs. 1 Nr. 5 StGB formuliert ist und hier derEuGH wie der BGH den darin niedergelegten Rechtsmissbrauchsgedankenauf ausländische Genehmigungen erstreckenwollen, ist nur vordergründig ein Gegenargument, dennin § 95 AufenthG fehlt eine explizite Erstreckung bestimmterRegelungen auf Auslandssachverhalte, so dass die Rechtsmissbrauchsklauseldarin gar nicht – wie in § 330d Abs. 2StGB – ausgeklammert sein kann. Gerade diese lückenhafteVerweisung in § 330d Abs. 2 StGB für ausländische Genehmigungenlegt aber dem unbefangenen Leser nahe, dass fürsolche Gestattungsakte nur diejenigen Regelungen des deutschenStrafrechts Geltung beanspruchen können, auf die ausdrücklichverwiesen worden ist.Deshalb und im Lichte der genannten Praktikabilitätserwägungenspricht viel dafür, § 330d Abs. 2 StGB „beim Wortzu nehmen“ und bei Auslandssachverhalten vor deutschenGerichten nur Verstöße gegen formell wirksame Umweltverwaltungsrechtsaktezu verfolgen. 49 Das bedeutet ja nochnicht, dass solche Verhaltensweisen EU-weit straflos bleibenmüssen; vielmehr ist es zulässig, dass der jeweilige Tatortstaat– wie Deutschland mit § 330d Abs. 1 Nr. 5 StGB – andie strafrechtliche Beachtlichkeit „seiner“ Genehmigungenbesondere Anforderungen stellt und damit auch Rechtsmissbrauchsfälleeffektiv verfolgt.6. Exkurs: Mögliche Auswirkungen der Niederlassungsfreiheit?Bekanntlich hat der EuGH in ständi<strong>ger</strong> Rechtsprechung seitseiner Entscheidung „Inspire Arts“ angenommen, dass in einemEU-Staat ansässige Wirtschaftsunternehmen nicht notwendigin einer dort rechtlich normierten Gesellschaftsformtätig sein müssen. 50 Daher kann ein allein in Deutschland aktivesUnternehmen seine Geschäftstätigkeit auch in Formeiner englischen „Ltd.“ ausüben. Damit verbunden ist, dass –z.B. bei einer Insolvenz einer solchen in Deutschland tätigenLtd. – die Straf<strong>ger</strong>ichte mit Blick auf eine Anwendbarkeit derInsolvenzdelikte (§§ 283 ff. StGB) 51 oder des Untreue-Tatbestandes(§ 266 StGB) 52 auch ausländisches (hier: englisches)Sachrecht (Insolvenz- bzw. Gesellschaftsrecht) überprüfenmüssen. Vor diesem Hintergrund könnte man argumentieren,dass es nichts anderes bedeuten würde, wären sieverpflichtet, auch die Rechtsmissbräuchlichkeit eines Verhaltensvor Erteilung der Genehmigung im Ausland zu überprüfen.Allerdings besteht m.E. ein grundlegender Unterschiedzwischen beiden Konstellationen. Geht es in den Ltd.-Fällendarum, dass das deutsche (Straf-)Gericht schon angesichtsdes typischerweise inländischen Tatorts das Geschehen problemlosaufklären kann und diese ermittelte Tat danach mitdem ihm vielleicht noch nicht so vertrauten englischen Gesellschafts-oder Insolvenzrecht abgleichen muss (dabei musses sich gegebenenfalls sachverständig beraten lassen, denndeutsche Gerichte müssen nicht das ausländische Sachrechtkennen), stünde in den Rechtsmissbrauchsfällen mit Auslandsbezug– hält man insoweit § 330d Abs. 1 Nr. 5 StGB füranwendbar – das anzuwendende Recht zwar fest; dagegenmüsste das Gericht in die komplizierte Aufklärung des Sachverhaltsvor Ort (d.h. im Ausland) einsteigen, um festzustellen,ob ein dem Anschein nach rechtskonformes Dokument inWirklichkeit z.B. auf einer unzulässigen Absprache oder Einflussnahmeberuht. Deshalb lässt sich aus den Ltd.-Fällennicht ableiten, dass deutsche Straf<strong>ger</strong>ichte verpflichtet seinmüssen, nicht nach außen erkennbares, behördeninternes Fehlverhaltenim Ausland aufzuklären.V. FazitWie die deutsche Strafjustiz im Falle einer rechtsmissbräuchlichim EU-Ausland erworbenen umweltrechtlichen Genehmigungentscheiden wird, erscheint derzeit offen. Der Wortlautvon § 330d StGB legt es aber nahe, aufbauend auf dem46 BGHSt 51, 124.47 Zu aktuellen Fragen der Kompetenzkonflikte innerhalb derEU vgl. nur Eisele, ZStW 125 (2013), 1; Sinn, <strong>ZIS</strong> 2013, 1.48 EuGH Slg. 2005, I-3565.49 Pfohl, ZWH 2013, 95 (100).50 EuGH Slg. 2003, I-10155.51 Dazu ausf. Hinderer, Insolvenzstrafrecht und EU-Niederlassungsfreiheitam Beispiel der englischen private companylimited by shares, 2010, passim.52 Vgl. dazu nur Schramm/Hinderer, <strong>ZIS</strong> 2010, 494._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com295


Martin He<strong>ger</strong>_____________________________________________________________________________________Grundsatz gegenseiti<strong>ger</strong> Anerkennung auch eine derart rechtsmissbräuchlicherworbene Genehmigung als Grundlage einesTatbestandsausschlusses oder einer Rechtfertigung anzunehmen.Die dagegen angeführten effet utile-Erwägungen könnenbei näherem Hinsehen nicht wirklich überzeugen; siepassen wohl nur in Sonderfällen wie bei der Schleuserkriminalität._____________________________________________________________________________________296<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Wiedergutmachung im Völkerstrafverfahren vor dem Internationalen Straf<strong>ger</strong>ichtshofnach LubangaVon Akad. Rätin a.Z. Dr. Stefanie Bock, Göttingen*Im August letzten Jahres hat die Lubanga-Hauptverfahrenskammerdes Internationalen Straf<strong>ger</strong>ichtshofs erstmals Grundsätzefür die Wiedergutmachung im Völkerstrafverfahren aufgestellt.Auch wenn diese nur für den konkreten Fall gelten,dürften sie die weitere Gerichtspraxis entscheidend beeinflussen.Dies gilt insbesondere für die Ausführungen zum notwendigenZusammenhang zwischen Verurteilung und Wiedergutmachungsanordnung.Nach Auffassung der Kammer kannsie nur solchen Opfern Wiedergutmachung zusprechen, beidenen ein kausaler Zusammenhang zwischen erlittenem Schadenund den Taten, deretwegen Lubanga verurteilt wurde,besteht. Dieses Kausalitätserfordernis ist aus rechtlichenGründen unabdingbar, führt aber infolge der ausgeprägtenSelektivität der Anklage zu einer erheblichen Begrenzung desKreises der Antragsberechtigten. Insbesondere die Opfer dernicht angeklagten Sexualdelikte sind damit grundsätzlich vonden <strong>ger</strong>ichtlich angeordneten Wiedergutmachungsmaßnahmenausgeschlossen. Die hieraus resultierende Ungleichbehandlungder Geschädigten ist nicht nur unter Gleichheitsgesichtspunktenfragwürdig. Sie kann sich auch hemmend aufden gesamtgesellschaftlichen Versöhnungsprozess auswirken.Die Kammer versucht diese negativen Konsequenzen zumindestteilweise durch eine nicht unbedenkliche weite Auslegungdes Kausalitätserfordernisses sowie eine Kombinationvon individuellen und kollektiven Wiedergutmachungsleistungenzu kompensieren. Abgesehen von diesen und anderenDetailfragen überrascht aber vor allem die Entscheidung derKammer, das weitere Wiedergutmachungsverfahren nahezuvollständig in die Hand des Treuhandfonds zu legen. DiesesVorgehen ist zu begrüßen, da der Treuhandfonds, der nichtden Zwängen und Beschränkungen eines <strong>ger</strong>ichtlichen (Straf-)Verfahrens unterliegt, besser in der Lage ist, für eine <strong>ger</strong>echteVerteilung der begrenzten Ressourcen zu sorgen.I. EinleitungDie starke Opferorientierung des Statuts des InternationalenStraf<strong>ger</strong>ichtshofs (IStGH-Statut) 1 hat die Praxis – auch und<strong>ger</strong>ade im Prozess gegen Thomas Lubanga Dyilo – vor erheblicheHerausforderungen gestellt. Das Verfahren war streckenweisevon intensiven Debatten um die Reichweite der denOpfern nach Art. 68 Abs. 3 IStGH-Statut zustehenden prozessualenAktivrechten geprägt. Im August letzten Jahres hatder internationale Opferdiskurs mit der Entwicklung vonGrundsätzen für die Wiedergutmachung durch die Lubanga-Hauptverfahrenskammer 2 eine neue Stufe erreicht. Es geht* Die Verf. ist Akad. Rätin a.Z. und Habilitandin am Lehrstuhlvon RiLG Prof. Dr. Kai Ambos, Institut für Kriminalwissenschaftender Georg-August Universität Göttingen.1 Rome Statute of the International Criminal Court = UNDoc. A/CONF.183/9, in Kraft getreten am 1.7.2002.2 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations).um die grundsätzliche Frage, ob und inwieweit das Völkerstrafverfahrenauch einen Beitrag zum Ausgleich der durchinternationale Verbrechen verursachten Schäden leisten kannbzw. sollte. Im Folgenden möchte ich das Wiedergutmachungskonzeptder Lubanga-Kammer vorstellen und dahingehenduntersuchen, ob es den tatsächlichen Bedürfnissen der Geschädigten,den legitimen Interessen des Angeklagten sowie denBegrenzungen, denen ein Strafprozess unterliegt, <strong>ger</strong>echt wird.II. Die Eckpunkte des zweispurigen Wiedergutmachungssystemsdes IStGH-StatutsErstmalig in der Geschichte des Völkerstrafrechts ermächtigtArt. 75 Abs. 2 IStGH-Statut ein internationales Straf<strong>ger</strong>icht,den Opfern völkerrechtlicher Verbrechen eine angemesseneWiedergutmachung zuzusprechen. Hintergrund ist die zunehmendeinternationale Anerkennung eines Rechts der Opferschwerster Menschenrechtsverletzungen auf Wiedergutmachung,3 wie sie sich insbesondere in den UN Basic Principles,4 aber auch (speziell für weibliche Opfer) in der NairobiDeclaration 5 oder in der ständigen Rechtsprechung des InteramerikanischenGerichtshofs für Menschenrechte (IAGMR)findet. 6 Das IStGH-Statut nimmt diesen aus dem Bereich der3 Siehe hierzu ausführlich Fischer, Emory International LawReview 17 (2003), 187 (192 ff., 197 ff.); Zegveld, Journal ofInternational Criminal Justice 8 (2010), 79 (81 ff.); Rombouts/Sardaro/Vandeginste, in: de Feyter/Parmentier/Bossuyt u.a.(Hrsg.), Out of the Ashes, Reparation for Victims of Grossand Systematic Human Rights Violations, 2005, S. 345(S. 355 ff. Rn. 23 ff.); Tomuschat, Die Friedens-Warte 80(2005), 160 (161 ff.); auch Donat-Cattin, in: Lattanzi/Schabas (Hrsg.), Essays on the Rome Statute of the InternationalCriminal Court, 1999, S. 251 (S. 257-259); Ferstman,Leiden Journal of International Law 15 (2002), 667 (668).4 Basic Principles and Guidelines on the Right to a Remedyand Reparation for Victims of Gross Violations of InternationalHuman Rights Law and Serious Violations of InternationalHumanitarian Law = GA-Res. 60/147 v. 16.12.2005.5 Nairobi Declaration on women’s and girls’ right to a remedyand reparation, verabschiedet auf dem International Meetingon Women’s and Girls’ Right to a Remedy and Reparation inNairobi v. 19.-21.3.2007.6 Siehe nur aus der jüngsten Rechtsprechung IAGMR, Urt. v.4.9.2012 – Series C No. 250 (Case of the Río Negro Massacresv. Guatemala, Preliminary Objection, Merits, Reparations,and Costs), Rn. 245; IAGMR, Urt. v. 24.10.2012 – SeriesC No. 251 (Nadege Dorzema et al. v. Dominican Republic,Merits, Reparations and Costs), Rn. 239; IAGMR,Urt. v. 28.11.2012 – Series C No. 257 (Case of ArtaviaMurillo et al. [“In vitro fertilization”] v. Costa Rica, PreliminaryObjections, Merits, Reparations and Costs), Rn. 318; umfangreicheRechtsprechungsnachweise bei Ambos, in: Ambos/Large/Wierda(Hrsg.), Building a Future on Peace andJustice, 2009, S. 19 (S. 37 f.)._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com297


Stefanie Bock_____________________________________________________________________________________Staatenverantwortlichkeit stammenden Gedanken 7 auf undkombiniert ihn mit dem strafrechtlichen Grundsatz der individuellenVerantwortlichkeit: 8 Verpflichteter der Wiedergutmachungsanordnungist zunächst der Verurteilte. Dessen finanzielleMittel werden allerdings regelmäßig für angemesseneReparationszahlungen nicht ausreichen. Daher haben dieStaaten auf Grundlage von Art. 79 Abs. 1 IStGH-Statut einenTreuhandfonds zugunsten der Opfer völkerrechtlicher Verbrechenein<strong>ger</strong>ichtet. 9 Dessen Aufgaben lassen sich in drei Kategorieneinteilen: Im Zuge seiner Verwaltungsfunktion unterstütztder Treuhandfonds den Gerichtshof bei der Umsetzungvon gegen den Verurteilten erlassenen Wiedergutmachungsanordnungen(siehe Regel 98 Abs. 2 der Verfahrens- und Beweisordnung10 [RPE], Nr. 59 ff. der Geschäftsordnung desTreuhandfonds 11 [GeschO THF]). 12 Übersteigt die <strong>ger</strong>ichtlichangeordnete Wiedergutmachung die finanziellen Möglichkeitendes Verurteilten, so kann der Treuhandfonds dieses Defizitdurch eigene Mittel ausgleichen (Kompensationsfunktion,7 Zegveld, Journal of International Criminal Justice 8 (2010),79 (85); Bassiouni, in: Bassiouni (Hrsg.), International CriminalLaw, Bd. 3, 2008, S. 635 (S. 640 ff.); Fischer, EmoryInternational Law Review 17 (2003), 187 (197 ff.); SierraLeone Truth & Reconciliation Commission, Report of theSierra Leone Truth & Reonciliation Commission, Bd. 2,2004, Chapter 4 Rn. 15 ff., online verfügbar unterhttp://www.sierra-leone.org/Other-Conflict/TRCVolume2.pdf(1.7.2013); de Brouwer/Heikkilä, in: Sluiter/Friman/Lintonu.a. (Hrsg.), International Criminal Procedure, Principles andRules, 2013, S. 1299 (S. 1366); ausführlich Rombouts/Sardaro/Vandeginste(Fn. 3), S. 362 ff. Rn. 27 ff.; Bottigliero,Redress for victims of crimes under international law, 2004,S. 79 ff.; Evans, The Right to Reparation in International Lawfor Victims of Armed Conflict, 2012, S. 17 ff.8 Di Giovanni, Journal of International Law and InternationalRelations 2 (2005-2006), 25 (39, 41); siehe auch Heintschelv. Heinegg, in: Heintschel v. Heinegg/Kadelbach/Heß u.a.(Hrsg.), Entschädigung nach bewaffneten Konflikten, DieKonstitutionalisierung der Welthandelsordnung, Referate undThesen, 2003, S. 1 (S. 43).9 Establishment of a fund for the benefit of victims of crimeswithin the jurisdiction of the Court, and of the families ofsuch victims = ICC-ASP/1/Res.6 v. 9.9.2002; Establishmentof the Secretariat of the Trust Fund for Victims = ICC-ASP/3/Res.7 v. 10.9.2004.10 Rules of Procedure and Evidence = ICC-ASP/1/3 (Part.II-A), in Kraft getreten am 9.9.2002.11 Regulations of the Trust Fund for Victims = ICC-ASP/4/Res.3 v. 3.12.2005, zuletzt geändert durch ICC-ASP/6/Res.3v. 14.12.2007 (Amendment to the Regulations of the TrustFund for Victims).12 Fischer, Emory International Law Review 17 (2003), 187(205); Dwertmann, The Reparation System of the InternationalCriminal Court, Its Implementation, Possibilities and Limitations,2010, S. 287-289; Bock, Das Opfer vor dem InternationalenStraf<strong>ger</strong>ichtshof, 2010, S. 575 f.Nr. 56 GeschO THF). 13 Diese beiden Aufgabenbereiche werdenvom Treuhandfonds unter dem Begriff „reparations“ zusammengefasst.14 Darüber hinaus hat der Treuhandfonds einhumanitäres Mandat („general assistance“ 15 ). Er kann seineMittel allgemein und unabhängig von einer etwaigen strafrechtlichenVerfolgung der Taten durch den IStGH zum Nutzender Opfer völkerrechtlicher Verbrechen einsetzen (Nr. 27GeschO THF). 16 Finanziert wird der Treuhandfonds zum einendurch die durch Geldstrafen oder Einziehung erlangten Gelderund sonstigen Vermögenswerte, die ihm auf Anordnungdes Gerichtshofs überwiesen werden (Art. 79 Abs. 2 IStGH-Statut), zum anderen durch sonstige Mittel (siehe Nr. 47GeschO THF), insbesondere durch Spenden. 17Die Aufgaben und Kompetenzen des IStGH in diesemzweispurigen Wiedergutmachungssystem sind in Art. 75 Abs. 2IStGH-Statut <strong>ger</strong>egelt. Der Gerichtshof wird zunächst ermäch-13 IStGH (Trust Fund for Victims), Report v. 1.9.2011 – ICC-01/04-01/06-2803-Red (Prosecutor v. Lubanga, PublicRedacted Version of ICC-01/04-01/06-2803-Conf-Exp, TrustFund for Victims’ First Report on Reparations), Rn. 121 ff.;Bock (Fn. 12), S. 576 ff.; Redress, Justice for Victims, TheICC’s Reparations Mandate, 2011, S. 72, 74, online unterhttp://www.redress.org/downloads/publications/REDRESS_ICC_Reparations_May2011.pdf (1.7.2013); siehe auch Ferstman,Leiden Journal of International Law 15 (2002), 667(685); Donat-Cattin, in: Carlizzi/Della Morte/Laurenti u.a.(Hrsg.), La corte penale internazionale, 2003, S. 347 (S. 363).14 Siehe unter http://www.trustfundforvictims.org/two-roles-tfv(1.7.2013).15 Siehe unter http://www.trustfundforvictims.org/two-roles-tfv(1.7.2013).16 De Greiff/Wierda, in: de Feyter/Parmentier/Bossuyt u.a.(Fn. 3), S. 225 (S. 239 ff.); de Brouwer, Leiden Journal ofInternational Law 20 (2007), 207 (229); Abo Youssef, DieStellung des Opfers im Völkerstrafrecht unter besonderer Berücksichtigungdes ICC-Statuts und der Rechte der Opfer vonVölkerstrafrechtsverbrechen in der Schweiz, 2008, S. 192;Bock (Fn. 12), S. 578 ff.; Redress (Fn. 13), S. 19; McCarthy,Journal of International Criminal Justice 10 (2012), 351 (360);de Brouwer/Heikkilä (Fn. 7), S. 1361; siehe auch Fischer,Emory International Law Review 17 (2003), 187 (206 ff.);Zegveld, Journal of International Criminal Justice 8 (2010),79 (89, 98).17 IStGH (Trust Fund for Victims), Report v. 1.9.2011 – ICC-01/04-01/06-2803-Red (Prosecutor v. Lubanga, PublicRedacted Version of ICC-01/04-01/06-2803-Conf-Exp, TrustFund for Victims’ First Report on Reparations), Rn. 117;Ingadottir, in: Shelton/Ingadottir (Hrsg.), The InternationalCriminal Court Reparations to Victims of Crimes (Article 75of the Rome Statute) and the Trust Fund (Article 79), Recommendationsfor the Court Rules of Procedure and Evidence,1999, S. 9 (S. 12 ff.), online unter http://www.pictpcti.org/publications/PICT_articles/REPARATIONS.PDF(1.7.2013); Fischer, Emory International Law Review 17(2003), 187 (215 ff.); Dwertmann (Fn. 12), S. 287; de Brouwer/Heikkilä(Fn. 7), S. 1361. Siehe auch den Überblick aufhttp://www.trustfundforvictims.org/financial-info (1.7.2013)._____________________________________________________________________________________298<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Wiedergutmachung im Völkerstrafverfahren vor dem Internationalen Straf<strong>ger</strong>ichtshof nach Lubanga_____________________________________________________________________________________tigt, Wiedergutmachungsanordnungen gegen den Verurteiltenzu erlassen. Zudem kann er auch anordnen, dass die zuerkannteWiedergutmachung über den Treuhandfonds erfolgt.In beiden Fällen liegt es aber im Ermessen des Gerichtshofs,ob er von diesen Kompetenzen Gebrauch macht. Er ist nichtverpflichtet, Wiedergutmachungsanordnungen zu erlassen. 18III. Begriff und Funktion der Wiedergutmachung imVölkerstrafverfahrenDas IStGH-Statut verzichtet darauf, den Begriff der Wiedergutmachungzu definieren. Art. 75 Abs. 2 IStGH-Statut nenntlediglich beispielhaft Rückerstattung, Entschädigung und Rehabilitierung(dazu detaillierter unten VII. 2.) als spezielleFormen der Wiedergutmachung, ohne das Gericht aber aufdiese zu beschränken. 19 Dies legt es nahe, unter Wiedergutmachungin einem umfassenden Sinne alle Maßnahmen ideelleroder materieller Art, die dem Ausgleich der dem Opferdurch die Tat zugefügten physischen, psychischen, emotionalenund materiellen Schäden 20 dienen, zu verstehen. 21 Letztendlichgeht es darum, die Opfer so zu stellen, als wäre dasschädigende Ereignis nicht eingetreten (restitutio in integrum). 2218 IStGH (Trust Fund for Victims), Observations v. 8.4.2013– ICC-01/04-01/06-3009 (Prosecutor v. Lubanga, Observationsof the Trust Fund for Victims on the appeals against TrialChamber I’s ‘‘Decision establishing the principles and proceduresto be applied to reparations”), Rn. 49; Ingadottir(Fn. 17), S. 11; Jorda/de Hemptinne, in: Cassese/Gaeta/Jones(Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court,Commentary, Bd. 2, 2002, S. 1387 (S. 1407); Bottigliero(Fn. 7), S. 225; de Brouwer, Leiden Journal of InternationalLaw 20 (2007), 207 (220); Donat-Cattin, in: Triffterer(Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the InternationalCriminal Court, 2008, Art. 75 Rn. 16; Dwertmann (Fn. 12),S. 45; Bock (Fn. 12), S. 590; Evans (Fn. 7), S. 99; de Brouwer/Heikkilä(Fn. 7), S. 1358.19 IStGH (Registry), Report v. 2.9.2011 – ICC-01/04-01/06-2806 (Prosecutor v. Lubanga, Second Report of the Registryon Reparations), Rn. 74; IStGH (Prosecution), Submissionsv. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2867 (Prosecutor v.Lubanga, Prosecution’s Submissions on the principles andprocedures to be applied in reparations), Rn. 12; IStGH (TrialChamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904(Prosecutor v. Lubanga, Decision establishing principles andprocedures to be applied to reparations), Rn. 222; Bottigliero(Fn. 7), S. 223; Dwertmann (Fn. 12), S. 149; Bock (Fn. 12),S. 599; Redress (Fn. 13), S. 28.20 Ausführlich zu den verschiedenen Schadensarten Bock(Fn. 12), S. 52 ff.21 Ähnlich auch IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012– ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decisionestablishing principles and procedures to be applied to reparations)Rn. 179; Sierra Leone Truth & Reconciliation Commission(Fn. 7), Chapter 4 Rn. 22; Ferstman, Leiden Journalof International Law 15 (2002), 667 (668).22 IAGMR, Urt. v. 28.11.2012 – Series C No. 257 (Case ofArtavia Murillo et al. [“In vitro fertilization”] v. Costa Rica,Preliminary Objections, Merits, Reparations and Costs),Gerade bei völkerstrafrechtlichen Verbrechen scheint diesaber unmöglich zu sein. 23 Die Taten können nicht ungeschehengemacht werden; ihre physischen und psychischen Folgensind häufig irreversibel. Wie will man mehrfache Vergewaltigung,monatelange Folter oder den Verlust naher Angehöri<strong>ger</strong>ausgleichen? 24 Hinzu kommt, dass völkerrechtliche Verbrechennicht nur die Individualopfer betreffen, sondern vielmehrauch soziale Gruppen oder die vom Konflikt betroffeneGesellschaft als Ganze in Mitleidenschaft ziehen. Diese kollektiveDimension der Viktimisierung erschwert die Kompensationder Taten zusätzlich. 25 Ist der Ausgleich der Tatschädenbei völkerrechtlichen Verbrechen damit notwendi<strong>ger</strong>weiseunvollkommen und unvollständig, so drängt sich dieFrage auf, welche weiteren übergeordneten Ziele mit der Integrationeines Rechts auf Wiedergutmachung in das Völkerstrafverfahrenverfolgt werden. Ihre Beantwortung ist nichtnur von akademischem Interesse, sondern von entscheidenderBedeutung für die angemessene und sinnvolle Ausgestaltungvon konkreten Wiedergutmachungsmaßnahmen. 26Rn. 319; IAGMR, Urt. v. 27.11.1998 – Series C No. 42(Loayza-Tamayo v. Peru, Reparations and Costs), Rn. 85;Roht-Arriaza, Hastings International and Comparative LawReview 27 (2003-2004), 157 (158); Rombouts/Sardaro/ Vandeginste(Fn. 3), S. 395 Rn. 62; de Greiff, in: de Greiff(Hrsg.), The Handbook of Reparations, 2008, S. 451 (S. 455);Dwertmann (Fn. 12), S. 37; Bock (Fn. 12), S. 568; siehe auchMani, in: de Feyter/Parmentier/Bossuyt u.a. (Fn. 3), S. 53(S. 77); Di Giovanni, Journal of International Law and InternationalRelations 2 (2005-2006), 25 (41).23 Siehe auch IStGH (Trust Fund for Victims), Observationsv. 25.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2872 (Prosecutor v. Lubanga,Observations on Reparations in Response to the SchedulingOrder of 14 March 2012), Rn. 83.24 Roht-Arriaza, Hastings International and Comparative LawReview 27 (2003-2004), 157 (158); Hamber, in: de Feyter/Parmentier/Bossuyt u.a. (Fn. 3), S. 135 (S. 135); Mani(Fn. 22), S. 77; Schotsmans, in: de Feyter/Parmentier/Bossuytu.a. (Fn. 3), S. 105 (S. 129); de Greiff (Fn. 22), S. 456; Dwertmann(Fn. 12), S. 37; Redress, Comments to the Trust Fundfor Victims in light of the Court’s first reparations decision,2013, S. 3, online verfügbar unterhttp://www.redress.org/downloads/publications/CommentsTrustFundFirstReparationDecision.pdf (1.7.2013).25 Mani (Fn. 22), S. 77; siehe auch Dwertmann (Fn. 12),S. 37; Di Giovanni, Journal of International Law and InternationalRelations 2 (2005-2006), 25 (42); Falk, in: de Greiff(Fn. 22), S. 478 (S. 494 f.); Hamber, in: de Greiff (Fn. 22),S. 560 (S. 561 f.). Die Bedeutung der kollektiven Dimensionder Viktimisierung für die Wiedergutmachung wird auch vonder Lubanga-Verfahrenskammer anerkannt, IStGH (TrialChamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904(Prosecutor v. Lubanga, Decision establishing principles andprocedures to be applied to reparations), Rn. 179.26 Siehe Mani (Fn. 22), S. 77, sowie die Aufforderung desTreuhandfonds an die Hauptverfahrenskammer, die „underlyingphilosophical questions“ der Wiedergutmachung zuklären; IStGH (Trust Fund for Victims), Observations v._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com299


Stefanie Bock_____________________________________________________________________________________Die Lubanga-Kammer sieht in ihrer Anordnungskompetenznach Art. 75 Abs. 2 IStGH-Statut zunächst eine zusätzlicheMöglichkeit, den Täter für seine Taten zur Verantwortungzu ziehen. 27 Die Pflicht zur Wiedergutmachung ist in diesemSinne Ausdruck und Bestätigung der individuellen Verantwortlichkeitdes Verurteilten. 28 Bemüht sich der Täter umeinen Schadensausgleich oder wird er hierzu verpflichtet, soimpliziert dies, dass er kein Recht zur Vornahme der schädigendenHandlung hatte. Dadurch wird unterstrichen, dass denBetroffenen kein schicksalhaftes oder selbst zu verantwortendesUnglück, sondern ein von Menschen zu verantwortendesUnrecht widerfahren ist. 29 Der Opferstatus der Geschädigtenwird anerkannt. 30 Die Kammer geht allerdings nicht daraufein, dass das Verantwortlichkeitsprinzip wohl nur bei Anordnungengegenüber dem Verurteilten greift, nicht aber dann,wenn die Wiedergutmachung durch den Treuhandfonds erfolgt.31 Allerdings beinhalten auch dessen Leistungen eine Anerkennungdes erlittenen Unrechts und können damit als eineArt Solidaritätserklärung mit den Opfern verstanden werden. 3225.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2872 (Prosecutor v. Lubanga,Observations on Reparations in Response to the SchedulingOrder of 14 March 2012), Rn. 7.27 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 179.28 Siehe auch Hamber (Fn. 24), S. 137; Di Giovanni, Journalof International Law and International Relations 2 (2005-2006), 25 (41).29 Hamber (Fn. 24), S. 136; siehe auch IStGH (InternationalCenter for Transitional Justice), Submission v. 10.5.2012 –ICC-01/04-01/06-2879 (Prosecutor v. Lubanga, Submissionon reparations issues), Rn. 63; McCarthy, Journal of InternationalCriminal Justice 10 (2012), 351 (367). In diesem Sinnedürfte die Wiedergutmachungsanordnung auch die generalpräventiveWirkung der Strafe unterstützen; zu positiver Generalpräventionund Opferinteressen allgemein Bock (Fn. 12),S. 198-202.30 IStGH (International Center for Transitional Justice), Submissionv. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2879 (Prosecutor v.Lubanga, Submission on reparations issues), Rn. 63; SierraLeone Truth & Reconciliation Commission (Fn. 7), Chapter 4Rn. 22; Ferstman, Leiden Journal of International Law 15(2002), 667 (668); de Greiff/Wierda (Fn. 16), S. 235; de Greiff(Fn. 22), S. 460; Rombouts/Sardaro/Vandeginste (Fn. 3),S. 465 Rn. 160 f.; siehe auch Hamber (Fn. 24), S. 141 f.;Hamber (Fn. 25), S. 566; McCarthy, Journal of InternationalCriminal Justice 10 (2012), 351 (366 f.).31 Siehe auch de Greiff/Wierda (Fn. 16), S. 236.32 Bock (Fn. 12), S. 578; siehe auch Sierra Leone Truth &Reconciliation Commission (Fn. 7), Chapter 4 Rn. 50; Rombouts/Sardaro/Vandeginste(Fn. 3), S. 466 Rn. 162; Redress(Fn. 24), S. 4 sowie Hamber (Fn. 25), S. 566; allgemein zumVerhältnis zwischen Wiedergutmachung und Solidarität deGreiff (Fn. 22), S. 464 ff.Diese symbolische Komponente der Wiedergutmachung 33dürfte erklären, warum für die Opfer – auch und <strong>ger</strong>ade beivölkerrechtlichen Verbrechen – Kompensationsleistungen vonso großer Bedeutung sind. 34 Sie bildet zudem den Dreh- undAngelpunkt zwischen der individuellen und der kollektivenEbene des Tatausgleichs. Durch die implizite Anerkennungdes begangenen Unrechts und den Ausgleich der Tatschädenkann Wiedergutmachung zu einer Versöhnung zwischen Tätern,Opfern und der Gesellschaft beitragen. 35 Angesprochenist damit das komplexe Verhältnis zwischen Wiedergutmachung(reparation) und kollektiver Aussöhnung (reconciliation).Die Lubanga-Hauptverfahrenskammer ist sich bewusst,dass hier möglicherweise Wechselwirkungen bestehen, 36 und33 Siehe auch IStGH (Trust Fund for Victims), Report v.1.9.2011 – ICC-01/04-01/06-2803-Red (Prosecutor v.Lubanga, Public Redacted Version of ICC-01/04-01/06-2803-Conf-Exp, Trust Fund for Victims’ First Report onReparations), Rn. 213; ECCC (Trial Chamber), Urt. v.26.7.2010 – 001/18-07-2007/ECCC/TC (Co-Prosecutors v.KAING Guek Eav, Judgement), Rn. 661 mit Fn. 1144; SierraLeone Truth & Reconciliation Commission (Fn. 7), Chapter 4Rn. 22; McCarthy, Journal of International Criminal Justice10 (2012), 351 (366).34 Siehe Sierra Leone Truth & Reconciliation Commission(Fn. 7), Chapter 4 Rn. 29 ff.; McGonigle Leyh, InternationalCriminal Law Review 12 (2012), 375 (381 mit Fn. 15). Dieszeigt sich auch anschaulich daran, dass auch mehr als 50Jahre nach den Verbrechen immer noch Opfer des NS-RegimesWiedergutmachungsansprüche geltend machen, siehenur van der Auweraert, Nordic Journal of International Law71 (2002), 557; Authers, in: de Greiff (Fn. 22), S. 420.35 Sierra Leone Truth & Reconciliation Commission (Fn. 7),Chapter 4 Rn. 34 ff.; Dwertmann (Fn. 12), S. 42; de Greiff/Wierda (Fn. 16), S. 235; siehe auch IStGH (Trust Fund forVictims), Observations v. 25.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2872(Prosecutor v. Lubanga, Observations on Reparations inResponse to the Scheduling Order of 14.3.2012), Rn. 71;IStGH (Prosecution), Submissions v. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2867 (Prosecutor v. Lubanga, Prosecution’s Submissionson the principles and procedures to be applied in reparations),Rn. 14; IStGH (International Center for TransitionalJustice), Submission v. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2879(Prosecutor v. Lubanga, Submission on reparations issues),Rn. 65; IStGH (United Nations Children’s Fund), Submissionv. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2878 (Prosecutor v. Lubanga,Submission on the principles to be applied, and the procedureto be followed by the Chamber with regard to reparations),Rn. 35; speziell für Kindersoldaten IStGH (Justiceplusu.a.), Observations v. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2877 (Prosecutor v. Lubanga, Observations relatives aurégime de réparation), Rn. 34.36 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations),Rn. 179 (“Reparations can assist in promoting reconciliationbetween the convicted person, the victims of the crimes andthe affected communities [...]”)._____________________________________________________________________________________300<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Wiedergutmachung im Völkerstrafverfahren vor dem Internationalen Straf<strong>ger</strong>ichtshof nach Lubanga_____________________________________________________________________________________fordert, dass Wiedergutmachung, wenn möglich, den gesamtgesellschaftlichenVersöhnungsprozess fördern soll. 37 Einegrundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischenreparation und reconciliation erfolgt jedoch nicht. Diesist misslich, da hiervon abhängt, ob für die Bestimmung derjeweils angemessenen Wiedergutmachungsmodalitäten ausschließlichdie Belange der individuell Geschädigten oderauch (vielleicht sogar primär) ihre gesamtgesellschaftlichenAuswirkungen maßgeblich sind. 38Über diesen facettenreichen und vielschichtigen Aspektder individuellen Verantwortlichkeit hinaus geht die Lubanga-Kammer zudem davon aus, dass die Verpflichtung des Täterszum Schadensausgleich abschreckend wirkt. 39 Mag dieser Gedankeim Bereich der Staatenverantwortlichkeit noch durchausnaheliegend sein, 40 so ist seine pauschale Übertragungauf das (Völker-)Strafrecht wenig überzeugend. Schon dieAbschreckungswirkung der Internationalen Straf<strong>ger</strong>ichtsbarkeitan sich ist nicht unumstritten. 41 Dass aber eine tatgeneigtePerson von der Begehung eines völkerrechtlichen VerbrechensAbstand nimmt, nur weil sie später möglicherweise Reparationenzahlen muss, ist schwer vorstellbar. 42 Jedenfalls kanneine abschreckende Wirkung von Wiedergutmachungsanordnungennicht – wie die Lubanga-Kammer es tut – ohne weiteresunterstellt werden.IV. Die Selektivität der Wiedergutmachung und ihreGefahrenAufgrund der hohen Opferzahlen und der begrenzten für dieWiedergutmachung zur Verfügung stehenden Ressourcen istes ausgeschlossen, alle Opfer völkerrechtlicher Verbrechen in37 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 193.38 Siehe auch IStGH (Trust Fund for Victims), Observationsv. 25.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2872 (Prosecutor v. Lubanga,Observations on Reparations in Response to the SchedulingOrder of 14 March 2012), Rn. 7, 71, sowie die Entwicklungeines „community-based approach to collective reparations“in Rn. 153 ff.39 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations),Rn. 179; ähnlich auch IStGH (Women’s Initiatives for GenderJustice), Observations v. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2876 (Prosecutor v. Lubanga, Observations of the Women’sInitiatives for Gender Justice on Reparations), Rn. 18, sowiedie Überlegungen der Delegierten auf der Rom KonferenzMuttukumaru, in: Lee (Hrsg.), The International CriminalCourt, The Making of the Rome Statute, Issues, Negotiations,Results, 1999, S. 262 (S. 264): Wiedergutmachung als „effectiveguarantee of non-repetition“.40 Dwertmann (Fn. 12), S. 40; in diesem Zusammenhangauch Mani (Fn. 22), S. 76.41 Ausführlich zu Diskussion mit weiteren Nachweisen Ambos,Treatise on International Criminal Law, Bd. 1, 2013, S. 69 ff.42 Heintschel v. Heinegg (Fn. 8), S. 43; Dwertmann (Fn. 12),S. 41.angemessenem Umfang zu entschädigen. 43 Wird einer bestimmtenOpfergruppe, beispielsweise den Opfern sexuellerGewalt, Wiedergutmachung zugesprochen, so bedeutet dieszwangsläufig, dass weni<strong>ger</strong> oder keine Mittel für Maßnahmenzugunsten anderer Geschädigter zur Verfügung stehen. 44 Selektions-und Priorisierungsprozesse sind daher unvermeidlich.45 Sie bergen allerdings die Gefahr, dass es zu einemKampf der Opfer um die begrenzten Ressourcen kommt. 46Diejenigen Geschädigten, die nicht in den Genuss von Wiedergutmachungsleistungenkommen, können dies als Negierungoder Bagatellisierung des von ihnen erlittenen Unrechts missverstehenund sich daher als „Opfer zweiter Klasse“ fühlen. 47Ist aus ihrer Sicht zudem die Privilegierung der entschädigtenOpfer nicht nachvollziehbar, so begründet dies ein nicht unerheblichesKonfliktpotenzial. 48 Es droht eine Konterkarierung43 IStGH (Trust Fund for Victims), Report v. 1.9.2011 – ICC-01/04-01/06-2803-Red (Prosecutor v. Lubanga, PublicRedacted Version of ICC-01/04-01/06-2803-Conf-Exp, TrustFund for Victims’ First Report on Reparations), Rn. 8; IStGH(Office of Public Counsel for Victims), Observations v.18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2863 (Prosecutor v. Lubanga,Observations on issues concerning reparations), Rn. 12; SierraLeone Truth & Reconciliation Commission (Fn. 7), Chapter4 Rn. 56; Rombouts/Sardaro/Vandeginste (Fn. 3),S. 468 f. Rn. 168; Boyle, Journal of International CriminalJustice 4 (2006), 307 (312).44 IStGH (Registry), Report v. 2.9.2011 – ICC-01/04-01/06-2806 (Prosecutor v. Lubanga, Second Report of the Registryon Reparations), Rn. 50; Rombouts/Sardaro/Vandeginste (Fn.3), S. 469 f. Rn. 170, 172.45 Siehe auch IStGH (Registry), Report v. 2.9.2011 – ICC-01/04-01/06-2806 (Prosecutor v. Lubanga, Second Report ofthe Registry on Reparations), Rn. 25 ff.; Sierra Leone Truth& Reconciliation Commission (Fn. 7), Chapter 4 Rn. 56;Rombouts/Sardaro/Vandeginste (Fn. 3), S. 469 Rn. 169.46 Siehe auch IStGH (Legal Representatives of Victims),Observations v. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2864 (Prosecutorv. Lubanga, Observations sur la fixation de la peine etles réparations de la part des victimes a/0001/06 […]), Rn. 28f.; Rombouts/Sardaro/Vandeginste (Fn. 3), S. 469 (Rn. 170);Schotsmans (Fn. 24), S. 130; Bock (Fn. 12), S. 589.47 Siehe auch IStGH (Trust Fund for Victims), Report v.1.9.2011 – ICC-01/04-01/06-2803-Red (Prosecutor v. Lubanga,Public Redacted Version of ICC-01/04-01/06-2803-Conf-Exp, Trust Fund for Victims’ First Report on Reparations),Rn. 45; Abo Youssef (Fn. 16), S. 165; de Brouwer/Heikkilä(Fn. 7), S. 1370; Falk (Fn. 25), S. 496 („equalscannot be treated as equals”).48 IStGH (United Nations Children’s Fund) Submission v.10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2878 (Prosecutor v. Lubanga,Submission on the principles to be applied, and the procedureto be followed by the Chamber with regard to reparations),Rn. 35; IStGH (Trust Fund for Victims), Observations v.25.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2872 (Prosecutor v. Lubanga,Observations on Reparations in Response to the SchedulingOrder of 14 March 2012), Rn. 65 ff.; IStGH (Legal Representativesof Victims), Observations v. 18.4.2012 – ICC-01/04-_____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com301


Stefanie Bock_____________________________________________________________________________________des gesellschaftlichen Versöhnungsprozesses. Vor diesem Hintergrundhat der Treuhandfonds in seiner vorbereitenden Stellungnahmeüberzeugend dargelegt, dass jedes Wiedergutmachungssystemvom do no harm-Grundsatz getragen sein müsse.49 Die Bedürfnisse des gesellschaftlichen Versöhnungsprozesseswerden auf diese Weise zur Grenze einer an den Individualinteressender Geschädigten orientierten Wiedergutmachung(reconciliation als Grenze der reparation).Obwohl die Lubanga-Kammer das no harm-Prinzip nichtausdrücklich als einen eigenständigen Wiedergutmachungsgrundsatzaufgenommen hat, betont sie jedoch an verschiedenenStellen, dass der Gerichtshof auch die gesellschaftlichenAuswirkungen einer Wiedergutmachungsanordnung berücksichtigenmüsse. 50 Zudem hat sie die Bedeutung des outreach-Programms für die Stei<strong>ger</strong>ung der Wirksamkeit von Wiedergutmachungsmaßnahmenhervorgehoben. 51 Nur durch einestete Kommunikation zwischen dem Gerichtshof, den Opfernund ihrer Gesellschaft kann sichergestellt werden, dass dieGründe für die notwendigen Selektionsentscheidungen transparent,nachvollziehbar und damit letztendlich akzeptabel sind.Wird zudem von vornherein die Begrenztheit der für die Wiedergutmachungzur Verfügung stehenden Ressourcen offengelegt,so hilft dies zu verhindern, dass auf Seiten der Geschädigtenunrealistische und unerfüllbare Erwartungen entstehen.Ein ziel<strong>ger</strong>ichtetes expectation management ist daherentscheidend für die Prävention sozialschädlicher Nebeneffektevon Wiedergutmachungsprogrammen. 5201/06-2864 (Prosecutor v. Lubanga, Observations sur lafixation de la peine et les réparations de la part des victimesa/0001/06 […]), Rn. 16; siehe auch McCarthy, Journal ofInternational Criminal Justice 10 (2012), 351 (364).49 IStGH (Trust Fund for Victims), Observations v. 25.4.2012– ICC-01/04-01/06-2872 (Prosecutor v. Lubanga, Observationson Reparations in Response to the Scheduling Order of14 March 2012), Rn. 65 ff.50 Siehe nur IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 –ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decisionestablishing principles and procedures to be applied to reparations),Rn. 218, 227.51 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 205;siehe auch Di Giovanni, Journal of International Law andInternational Relations 2 (2005-2006), 25 (50).52 IStGH (Trust Fund for Victims), Report v. 1.9.2011 – ICC-01/04-01/06-2803-Red (Prosecutor v. Lubanga, PublicRedacted Version of ICC-01/04-01/06-2803-Conf-Exp, TrustFund for Victims’ First Report on Reparations), Rn. 203;siehe auch IStGH (Prosecution), Submissions v. 18.4.2012 –ICC-01/04-01/06-2867 (Prosecutor v. Lubanga, Prosecution’sSubmissions on the principles and procedures to be applied inreparations), Rn. 10; Boyle, Journal of International CriminalJustice 4 (2006), 307 (312); Di Giovanni, Journal of InternationalLaw and International Relations 2 (2005-2006), 25(50); de Brouwer/Heikkilä (Fn. 7), S. 1370.V. Spezifische Herausforderungen des Lubanga-VerfahrensEinen angemessenen Ausgleich zwischen den Bedürfnissender Opfer und ihrer Gesellschaft zu finden, erweist sich imLubanga-Verfahren als besonders schwierig. Dies liegt zunächstan der das gesamte Verfahren prägenden Selektionsentscheidungdes Anklä<strong>ger</strong>s. Obwohl es Anhaltspunkte dafürgibt, dass Lubanga für zahlreiche Verbrechen – darunter Mord,Vergewaltigung, Folter und Plünderung – verantwortlichist, 53 konzentrierte sich der Anklä<strong>ger</strong> bereits in einem frühenVerfahrensstadium auf den Vorwurf der Rekrutierung und desEinsatzes von Kindersoldaten. 54 Bekanntermaßen sind dementsprechenddie Anklage 55 und die erstinstanzliche Verurteilung56 auf dieses Verbrechen beschränkt. Der Anklä<strong>ger</strong> hatzwar nicht ausgeschlossen, die Ermittlungen zu einem späterenZeitpunkt zu erweitern. 57 Angesichts der begrenzten Ressourcendes IStGH und der großen Anzahl von Tatverdächtigenerscheint es allerdings unwahrscheinlich, dass es – sollte dieVerurteilung vor der Berufungskammer Bestand haben – nochzu einem weiteren internationalen Strafverfahren gegen Lubangakommen wird. Die Selektionsentscheidung des Anklä<strong>ger</strong>sführt dabei nicht nur zu (aus Opfersicht möglicherweisenur schwer erträglichen) Strafbarkeitslücken. 58 Sie wirkt sich53 Siehe hierzu Aptel/Ladisch, Through a New Lens, A Child-Sensitive Approach to Transitional Justice, 2011, S. 23, onlineverfügbar unterhttp://ictj.org/sites/default/files/ICTJ-Children-Through-New-Lens-Aptel-Ladisch-2011-English.pdf (1.7.2013);IStGH (International Center for Transitional Justice), Submissionv. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2879 (Prosecutor v.Lubanga, Submission on reparations issues), Rn. 23; anerkanntauch in IStGH (Trial Chamber I), Urt. v. 14.3.2012 –ICC-01/04-01/06-2842 (Prosecutor v. Lubanga, Judgmentpursuant to Article 74 of the Statute), Rn. 36, 630.54 IStGH (Prosecution), Information v. 28.5.2006 – ICC-01/04-01/06-170 (Prosecutor v. Lubanga, Prosecutor’s Informationon Further Investigation), Rn. 7.55 IStGH (Pre-Trial Chamber I), Entsch. v. 19.1.2007 – ICC-01/04-01/06-803 (Prosecutor v. Lubanga, Decision on theconfirmation of charges).56 IStGH (Trial Chamber I), Urt. v. 14.3.2012 – ICC-01/04-01/06-2842 (Prosecutor v. Lubanga, Judgment pursuant toArticle 74 of the Statute), insbesondere Rn. 630.57 IStGH (Prosecution), Information v. 28.5.2006 – ICC-01/04-01/06-170 (Prosecutor v. Lubanga, Prosecutor’s Informationon Further Investigation), Rn. 10.58 Vertiefend Aptel, Journal of International Criminal Justice10 (2012), 1357; siehe auch Ambos/Bock, in: Reydams/Wouters/Ryngaert(Hrsg.), International Prosecutors, 2012, S. 488(538); zur <strong>ger</strong>ichtlichen Überprüfbarkeit der Entscheidungdes Anklä<strong>ger</strong>s, weitere Ermittlungen vorläufig aufzuschiebenBock (Fn. 12), S. 322 f. Vor diesem Hintergrund wird manauch den – rechtlich freilich nicht haltbaren – Versuch vonRichterin Odio Benito, unter die Tatbestandsvariante derVerwendung von Kindern zur aktiven Teilnahme an denFeindseligkeiten auch Sexualdelikte zu subsumieren, sehenmüssen, IStGH (Trial Chamber I), Urt. v. 13.3.2012 – ICC-01/04-01/06-2842 (Prosecutor v. Lubanga, Judgment pursu-_____________________________________________________________________________________302<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Wiedergutmachung im Völkerstrafverfahren vor dem Internationalen Straf<strong>ger</strong>ichtshof nach Lubanga_____________________________________________________________________________________vielmehr auch auf die prozessuale Rechtsstellung der Geschädigtenaus. Da die Hauptverfahrenskammer – zu Recht 59 –nur diejenigen Opfer als Verfahrensbeteiligte (vgl. Art. 68Abs. 3 IStGH-Statut) zugelassen hat, die mutmaßlich durchdie angeklagten Taten geschädigt worden sind, d.h., bei deneneine kausale Verbindung zwischen angeklagter Tat und erlittenemSchaden bestand, 60 war es insbesondere den Opfernder nicht angeklagten Sexualdelikte verwehrt, sich aktiv amVerfahren zu beteiligen. 61 Diese prozessuale Abhängigkeit derOpfer von den Selektionsentscheidungen des Anklä<strong>ger</strong>s 62 betrifftauch die Ebene der Wiedergutmachung. Hält man insoweitan dem Kausalitätserfordernis fest, so kann die Hauptverfahrenskammernur denjenigen Opfern Wiedergutmachungzusprechen, die durch die Taten, für die Lubanga verurteiltworden ist, geschädigt wurden. Der Kreis potenzieller Begünstigterwürde hierdurch stark begrenzt, 63 was wiederumzu einer bedenklichen Ungleichbehandlung der Opfer Lubangasführen würde. 64 Hieraus resultiert ein nicht unerheblichesKonfliktpotenzial, da die privilegierte Behandlung von Kindersoldatennicht von einem Konsens der betroffenen Gesellantto Article 74 of the Statute, Separate and Dissenting O-pinion of Judge Odio Benito), Rn. 15-21; zur Kritik Ambos,<strong>ZIS</strong> 2012, 313 (327 mit Fn. 159).59 Ursprünglich wollte die Lubanga-Hauptverfahrenskammerden Beteiligtenstatus allen Opfern, deren persönliche Interessenin einem tatsächlichen Sinne durch das Verfahren berührtwerden, eröffnen, IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 16.1.2008 – ICC-01/04-01/06-1119 (Prosecutor v. Lubanga, Decisionon victims’ participation), Rn. 95 („Is the victim affectedby an issue arising during Mr Thomas Lubanga Dyilo’s trialbecause his or her personal interests are in a real sense engagedby it?“). Dieser Ansatz wurde zu Recht von der Berufungskammerverworfen, IStGH (Appeals Chamber), Urt. v.11.7.2008 – ICC-01/04-01/06-1432 (Prosecutor v. Lubanga,Judgment on the appeals of The Prosecutor and The Defenceagainst Trial Chamber I’s Decision on Victims’ Participationof 18.1.2008), Rn. 62-66; hierzu Bock, in: Klip/Freeland(Hrsg.), Annotated Leading Cases of International CriminalTribunals, Bd. 40: The International Criminal Court (2008-2009), 2013, S. 283 (S. 285 f. m.w.N.).60 IStGH (Trial Chamber I), Urt. v. 14.3.2012 – ICC-01/04-01/06-2842 (Prosecutor v. Lubanga, Judgment pursuant toArticle 74 of the Statute), Rn. 15.61 Ambos, <strong>ZIS</strong> 2012, 313; Bock (Fn. 59), S. 285.62 Abo Youssef (Fn. 16), S. 165.63 Abo Youssef (Fn. 16), S. 165; Bock (Fn. 12), S. 591; sieheauch IStGH (Prosecution), Submissions v. 18.4.2012, ICC-01/04-01/06-2867 (Prosecutor v. Lubanga, Prosecution’sSubmissions on the principles and procedures to be applied inreparations), Rn. 19; Aptel, Journal of International CriminalJustice 10 (2012), 1357 (1367 f.); Redress (Fn. 13), S. 32.64 Siehe auch IStGH (Justice-plus u.a.), Observations v.10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2877 (Prosecutor v. Lubanga,Observations relatives au régime de réparation), Rn. 14; allgemeinhierzu Roht-Arriaza, Hastings International andComparative Law Review 27 (2003-2004), 157 (169).schaft gedeckt ist. 65 Ziel der einschlägigen Straftatbestände –Art. 8 Abs. 2 lit. b sublit. xxvi für den internationalen und lit. esublit. vii IStGH-Statut für den nicht-internationalen bewaffnetenKonflikt – ist es, Kinder bestmöglich vor den massivenAuswirkungen bewaffneter Konflikte zu bewahren. Dabei gehtes nicht nur um den Schutz ihrer körperlichen, 66 sondern auchihrer psychischen Unversehrtheit. Da bei Kindern die Persönlichkeitsentwicklungnoch nicht abgeschlossen ist, könnentraumatische Erfahrungen, 67 die in Kriegssituationen nahezuunvermeidlich sind, 68 besonders massive psychische Konsequenzenhaben. Hinzukommt, dass durch die Rekrutierungdie gesamte Entwicklung des Kindes unterbrochen wird. Eswird aus seinem sozialen Umfeld <strong>ger</strong>issen; eine schulischeAusbildung findet regelmäßig nicht statt. 69 Die weitere Sozialisierun<strong>ger</strong>folgt in einem gewaltgeprägten Umfeld. 70 DieAuswirkungen der Tat beschränken sich daher nicht auf denRekrutierungszeitraum. Sie kann vielmehr das gesamte weitereLeben des Kindes nachhaltig beeinträchtigen. 71 Dessen ungeachtetwird der Unrechtsgehalt eines militärischen Einsatzesvon Kindern kulturbedingt durchaus unterschiedlich bewertet.Umfragen in Ituri zeigen, dass die dortige Bevölkerung –Erwachsene wie Kinder – durchaus Verständnis für die RekrutierungsmaßnahmenLubangas haben. Diese werden weni-65 Zur Notwendigkeit, das Wiedergutmachungssystem an dielokalen Gegebenheiten anzupassen, siehe Mani (Fn. 22), S. 76;Bock (Fn. 12), S. 574 m.w.N., sowie den Ansatz der SierraLeone Truth & Reconciliation Commission (Fn. 7), Chapter 4Rn. 57 ff.66 Siehe insbesondere zu den teilweise äußerst brutalen Rekrutierungs-und Ausbildungsmethoden Davison, WillametteJournal of International Law and Dispute Resolution 12(2004), 124 (137 ff.); Cohn/Goodwin-Gill, Child soldiers,The Role of Children in Armed Conflict, The role of childrenin armed conflict, 1994, S. 93 ff.; Happold, Child soldiers ininternational law, 2005, S. 4 ff.67 Zum Begriff Bock (Fn. 12), S. 59.68 Prägnant Dahl/Mutapcic/Schei, Journal of Traumatic Stress11 (1998), 137 (142): „multi-traumatisation of war situation“.Siehe auch Rauschenbach/Scalia, International Review of theRed Cross 90 (2008), 441 (450), sowie die Studie von Rosner/Powell/Butollo, Journal of Clinical Psychology 59 (2003), 41.69 IStGH (United Nations Children’s Fund), Submission v.10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2878 (Prosecutor v. Lubanga,Submission on the principles to be applied, and the procedureto be followed by the Chamber with regard to reparations),Rn. 2; Cottier, in: Triffterer (Fn. 18), Art. 8 Rn. 227.70 Palomo Suárez, Kindersoldaten und Völkerstrafrecht, DieStrafbarkeit der Rekrutierung und Verwendung von Kindersoldatennach Völkerrecht, 2008, S. 121.71 IStGH (United Nations Children’s Fund), Submission v.10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2878 (Prosecutor v. Lubanga,Submission on the principles to be applied, and the procedureto be followed by the Chamber with regard to reparations),Rn. 2; IStGH (Office of Public Counsel for Victims), Observationsv. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2863 (Prosecutor v.Lubanga, Observations on issues concerning reparations),Rn. 53 ff.; Cottier (Fn. 69), Art. 8 Rn. 227._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com303


Stefanie Bock_____________________________________________________________________________________<strong>ger</strong> als strafwürdiges Unrecht, sondern vielmehr als militärischeNotwendigkeit eingestuft. 72 Mord, Vergewaltigung, Folterund Plünderung seien demgegenüber Lubangas wahreVerbrechen. 73 Die Fokussierung des Anklä<strong>ger</strong>s auf die Rekrutierungvon Kindersoldaten steht damit in einem deutlichenSpannungsverhältnis zur gesellschaftlichen Bewertungder Taten Lubangas. Verstärkt wird dieser Konflikt durch dieambivalente Rolle der Kindersoldaten. Diese sind zwar zunächstzweifelsohne Opfer der Rekrutierungsmaßnahmen.Werden sie aber in den Kampfeinsatz geschickt, begehen zumindesteinige von ihnen selbst schwere (völkerrechtliche)Verbrechen. 74 Diese jedenfalls partielle Doppelrolle als Täterund Opfer erschwert die gesellschaftliche Akzeptanz von Kindersoldatenals eine Gruppe, die bevorzugt in den Genuss vonWiedergutmachungsleistungen kommen sollte. 75 Es bestehtdaher die Gefahr, dass ihre Privilegierung durch den IStGHbestehende gesellschaftliche Spannungen verschärft und damitder sozialen Reintegration der Kindersoldaten entgegensteht. 76Dies gilt im Verfahren gegen Lubanga umso mehr, als die bisherdurch den IStGH als Opfer anerkannten Kindersoldatender gleichen ethnischen Gruppe angehören wie Lubanga selbst,nämlich der Hema. Die Verbrechen, die mutmaßlich unterseiner Führung von der Union of Congolese Patriots gegenüberden Lendu verübt worden sind, waren demgegenübernicht Bestandteil des Verfahrens. 77 Wenn nun auch die Wie-72 Aptel/Ladisch (Fn. 53), S. 23; siehe auch IStGH (TrustFund for Victims), Observations v. 25.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2872 (Prosecutor v. Lubanga, Observations on Reparationsin Response to the Scheduling Order of 14.3.2012), Rn.143-147.73 Aptel/Ladisch (Fn. 53), S. 23; siehe auch Aptel, Journal ofInternational Criminal Justice 10 (2012), 1357 (1367).74 Aptel/Ladisch (Fn. 53), S. 24; siehe auch IStGH (Justiceplusu.a.), 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2877 (Prosecutor v.Lubanga, Observations relatives au régime de réparation),Rn. 25.75 IStGH (Justice-plus u.a. ), Observations v. 10.5.2012 –ICC-01/04-01/06-2877 (Prosecutor v. Lubanga, Observationsrelatives au régime de réparation), Rn. 25; allgemein sieheauch IStGH (Trust Fund for Victims), Observations v.25.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2872 (Prosecutor v. Lubanga,Observations on Reparations in Response to the SchedulingOrder of 14.3.2012), Rn. 148-150; siehe auch Di Giovanni,Journal of International Law and International Relations 2(2005-2006), 25 (52 f.).76 IStGH (United Nations Children’s Fund), Submission v.10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2878 (Prosecutor v. Lubanga,Submission on the principles to be applied, and the procedureto be followed by the Chamber with regard to reparations),Rn. 16.77 Aptel/Ladisch (Fn. 53), S. 23; IStGH (Justice-plus u.a.),Observations v. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2877 (Prosecutorv. Lubanga, Observations relatives au régime de réparation),Rn. 37; siehe auch IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v.7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga,Decision establishing principles and procedures to be appliedto reparations), Rn. 193 mit Fn. 383; IStGH (Prosecution),dergutmachungsmaßnahmen ausschließlich Angehörigen derHema zugutekommen, könnte dies die Spannungen zwischenden beiden Ethnien 78 weiter schüren. 79 Der obersten Regelder Wiedergutmachung – dem do no harm-Prinzip – nachzukommen,erweist sich damit im Verfahren gegen Lubanga alsbesonders schwierig.VI. Die Wiedergutmachungsgrundsätze nach Art. 75 Abs. 1IStGH-StatutDie Vorgaben des IStGH-Statuts zur Wiedergutmachung sindsehr fragmentarisch. 80 Die Ausgestaltung der Details wurdedem Gerichtshof überlassen. Dieser ist nach Art. 75 Abs. 1S. 1 IStGH-Statut verpflichtet, 81 Grundsätze für die Wiedergutmachungaufzustellen, die dann die Grundlage für eventuellekonkrete Wiedergutmachungsanordnungen bilden (Art. 75Abs. 1 S. 2, Abs. 2 IStGH-Statut). Die Wiedergutmachungsgrundsätzesind damit zunächst und primär <strong>ger</strong>ichtsinterneRichtlinien. 82Das IStGH-Statut gibt allerdings nicht vor, welchem Organdes IStGH die Entwicklung der Wiedergutmachungsgrundsätzeobliegt. Zunächst wurde ein extra hierfür geschaffenesSubmissions v. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2867 (Prosecutorv. Lubanga, Prosecution’s Submissions on the principlesand procedures to be applied in reparations), Rn. 18.78 Siehe zu den Hintergründen IStGH (Trial Chamber I), Urt.v. 14.3.2012 – ICC-01/04-01/06-2842 (Prosecutor v. Lubanga,Judgment pursuant to Article 74 of the Statute), Rn. 71-80.79 IStGH (Justice-plus u.a. ), Observations v. 10.5.2012 –ICC-01/04-01/06-2877 (Prosecutor v. Lubanga, Observationsrelatives au régime de réparation), Rn. 37 f.; Siehe auchIStGH (Trust Fund for Victims), Observations v. 25.4.2012 –ICC-01/04-01/06-2872 (Prosecutor v. Lubanga, Observationson Reparations in Response to the Scheduling Order of14.3.2012), Rn. 42, 166; siehe auch IStGH (United NationsChildren’s Fund), Submission v. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2878 (Prosecutor v. Lubanga, Submission on the principlesto be applied, and the procedure to be followed by theChamber with regard to reparations), Rn. 13; IStGH (Prosecution),Submissions v. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2867(Prosecutor v. Lubanga, Prosecution’s Submissions on theprinciples and procedures to be applied in reparations), Rn.15; Redress (Fn. 13), S. 32 f.; anerkannt auch in IStGH (TrialChamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904(Prosecutor v. Lubanga, Decision establishing principles andprocedures to be applied to reparations), Rn. 193 mit Fn. 383.80 Dwertmann (Fn. 12), S. 46; siehe auch IStGH (Trust Fundfor Victims), Observations v. 8.4.2013 – ICC-01/04-01/06-3009 (Prosecutor v. Lubanga, Observations of the Trust Fundfor Victims on the appeals against Trial Chamber I‘s „Decisionestablishing the principles and procedures to be applied toreparations“), Rn. 50 f.; Ferstman, Leiden Journal of InternationalLaw 15 (2002), 667 (669).81 Bottigliero (Fn. 7), S. 224; Donat-Cattin (Fn. 18), Art. 75Rn. 10; Dwertmann (Fn. 12), S. 45.82 Dwertmann (Fn. 12), S. 46._____________________________________________________________________________________304<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Wiedergutmachung im Völkerstrafverfahren vor dem Internationalen Straf<strong>ger</strong>ichtshof nach Lubanga_____________________________________________________________________________________„Committee of Judges“ mit dieser Aufgabe betraut. 83 DessenZiel war wohl die Entwicklung allgemeingülti<strong>ger</strong>, für alleVerfahren vor dem IStGH geltender Grundsätze. Eine solcheLösung hätte entscheidend zu einer fallübergreifenden Gleichbehandlungder Opfer beitragen 84 und die Rechtssicherheit 85im Interesse aller Beteiligten maßgeblich erhöhen können.Allgemeingültige Leitlinien würden die Opfer in die Lageversetzen, vor Antragsstellung realistisch einschätzen zu können,welche Leistungen sie vom IStGH erwarten können –und welche nicht. Auf diese Weise würde ein fundiertes expectationmanagement ermöglicht. 86 Dabei geht es nicht nurdarum, Frustrationen auf Seiten der Geschädigten zu verhindern.Werden Inhalt und Grenzen des <strong>ger</strong>ichtlichen Wiedergutmachungssystemsin klarer und verbindlicher Form aufgezeigt,dürfte langfristig die Anzahl offensichtlich unbegründeterAnträge auf Wiedergutmachung zurückgehen. 87 Die Transparenzund Vorhersehbarkeit von Entscheidungen zu erhöhen,ist daher auch in prozessökonomischer Hinsicht sinnvoll.Ungeachtet dieser Erwägungen hat das Committee ofJudges seine Arbeiten nicht beendet. 88 Die Pflicht zur Entwicklungvon Wiedergutmachungsgrundsätzen wurde damit– zumindest stillschweigend – auf die jeweiligen Hauptverfahrenskammernübertragen. 89 Deren Zuständigkeit erstrecktsich allerdings nur auf den jeweils zu entscheidenden Fall.Ihnen fehlt damit die Kompetenz, den gesamten Gerichtshofbindende Regeln aufzustellen. Dementsprechend hat auch dieLubanga-Hauptverfahrenskammer ausdrücklich erklärt, dassdie von ihr aufgestellten Grundsätze nur für den vorliegendenFall gelten und damit keine präjudizierende Wirkung für Folgeverfahrenoder IStGH-externe Wiedergutmachungssystemeentfalten (sollen). 90 Ein solcher einzelfallbezogener Ansatzmag der Verwirklichung von Einzelfall<strong>ger</strong>echtigkeit dienen,geht aber zulasten der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit.Wenn nun in Zukunft jede Kammer ihr eigenes Wiedergutmachungskonzeptentwickelt bzw. entwickeln muss, obliegtes der Berufungskammer unter Berücksichtigung des Gleich-83 Siehe hierzu Schabas, The International Criminal Court, ACommentary on the Rome Statute, 2010, S. 881.84 Für eine „generalized application“ der WiedergutmachungsgrundsätzeHenzelin/Heiskanen/Mettraux, Criminal Law Forum17 (2007), 317 (330 f.); siehe auch Dwertmann (Fn. 12),S. 48; Redress (Fn. 13), S. 24.85 Dwertmann (Fn. 12), S. 46; Redress (Fn. 13), S. 24.86 Siehe auch Dwertmann (Fn. 12), S. 61; allgemein zur Notwendigkeit,Wiedergutmachungsentscheidungen vorhersehbarzu machen de Brouwer/Heikkilä (Fn. 7), S. 1374.87 Siehe auch Henzelin/Heiskanen/Mettraux, Criminal LawForum 17 (2007), 317 (326 f.); Dwertmann (Fn. 12), S. 61.88 Siehe hierzu Schabas (Fn. 83), S. 881.89 Im Ergebnis ebenso Pikis, The Rome Statute for the InternationalCriminal Court, Analysis of the Statute, the Rules ofProcedure and Evidence, the Regulations of the Court and SupplementaryInstruments, 2010, S. 184; de Brouwer/Heikkilä(Fn. 7), S. 1358.90 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 181.heitsgrundsatzes und des Willkürverbotes für die notwendigeMindestharmonisierung zu sorgen. 91Dass die Lubanga-Kammer auch eine mögliche externeWirkung ihrer Wiedergutmachungsgrundsätze ausschließt, erscheintauf den ersten Blick fol<strong>ger</strong>ichtig und angemessen. DerIStGH hat nicht die Kompetenz, Staaten 92 oder anderen Organisationenbindende Vorgaben zur Ausgestaltung ihrer Wiedergutmachungsprogrammezu machen. 93 Allerdings darf diesnicht den Blick dafür trüben, dass der IStGH bei der Anordnungvon Wiedergutmachungsleistungen nicht in einem Vakuumoperiert. Vielmehr gilt es, die <strong>ger</strong>ichtlichen Anordnungenmit den anderen vor Ort wirkenden Maßnahmen – seien esstaatliche Entschädigungsprogramme, seien es humanitäreHilfsprojekte – zu einem stimmigen, konsistenten Gesamtpaketzu verbinden. 94 Insoweit wäre zumindest auf tatsächlicherEbene eine wechselseitige Berücksichtigung der jeweils leitendenGrundsätze wünschenswert. 95VII. Die Grundsätze für die Wiedergutmachung nachLubangaDie von der Lubanga-Hauptverfahrenskammer entwickeltenKerngrundsätze lassen sich in drei Gruppen einteilen: Anspruchsberechtigung,Art der Wiedergutmachung sowie Anordnungengegenüber dem Treuhandfonds.1. AnspruchsberechtigungGrundsatz: Alle Opfer sind gleich zu behandeln. DasRecht auf Wiedergutmachung hängt nicht von der vorherigenBeteiligung am Verfahren im Sinne des Art. 68Abs. 3 IStGH-Statut ab. 9691 Dwertmann (Fn. 12), S. 46.92 Zur fehlenden Kompetenz des IStGH, den Täter- oder Tatortstaatzur Leistung von Wiedergutmachung zu verpflichtenMuttukumaru (Fn. 39), S. 267 ff.; Donat-Cattin (Fn. 18),Art. 75 Rn. 5; Roht-Arriaza, Hastings International and ComparativeLaw Review 27 (2003-2004), 157 (168); Bassiouni(Fn. 7), S. 666; Bock (Fn. 12), S. 587 f. m.w.N.93 In diesem Sinne auch ECCC (Trial Chamber), Urt. v. 26.7.2010 – 001/18-07-2007/ECCC/TC (Co-Prosecutors v. KAINGGuek Eav, Judgement), Rn. 663.94 Zur Notwendigkeit, die verschiedenen Hilfsmaßnahmen abzustimmenDi Giovanni, Journal of International Law andInternational Relations 2 (2005-2006), 25 (43); Bock (Fn. 12),S. 600; aus Sicht des Treuhandfonds vgl. IStGH (Trust Fundfor Victims), Notification v. 30.10.2009 – ICC-01/05-29(Situation in the Central African Repbulic, Notification fromthe Board of Directors of the Trust Fund for Victims in accordancewith Regulation 50 of the Regulations of the TrustFund for Victims), Rn. 26.95 Ausführlich zur möglichen externen Wirkung der WiedergutmachungsgrundsätzeDwertmann (Fn. 12), S. 51-61.96 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations),Rn. 189; ebenso siehe auch IStGH (Trust Fund for Victims),_____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com305


Stefanie Bock_____________________________________________________________________________________Aus Sicht der Kammer ist die Trennung zwischen Verfahrensbeteiligungund Anspruchsberechtigung Ausdruck des Fairness-und des Gleichheitsgrundsatzes. 97 Demgegenüber hatteneinige Opferrechtsvertreter sowie die Verteidigung im Vorfeldder Entscheidung an<strong>ger</strong>egt, diejenigen Opfer bevorzugt 98bzw. ausschließlich 99 zu entschädigen, die im Verfahren alsBeteiligte zugelassen sind. Auch wenn solche Forderungenvor dem Hintergrund der (finanziellen) Interessen der jeweiligenMandanten nachvollziehbar sind, gehen sie doch inhaltlichfehl. Wiedergutmachung ist keine Belohnung für die Zusammenarbeitmit dem IStGH 100 und auch keine Entschädigungfür die besonderen Gefahren, denen Opfer, die sichaktiv in das internationale Strafverfahren einbringen, ausgesetztsind. 101 Es geht allein um den Ausgleich der erlittenenTatfolgen. Opfer, die nicht zum Verfahren zugelassen sind,von Wiedergutmachungsleistungen auszuschließen, wäre zu-Observations v. 25.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2872 (Prosecutorv. Lubanga, Observations on Reparations in Responseto the Scheduling Order of 14 March 2012), Rn. 22; IStGH(Justice-plus u.a.), Observations v. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2877 (Prosecutor v. Lubanga, Observations relativesau régime de réparation), Rn. 9; IStGH (United NationsChildren’s Fund), Submission v. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2878 (Prosecutor v. Lubanga, Submission on the principlesto be applied, and the procedure to be followed by theChamber with regard to reparations), Rn. 9; de Brouwer,Leiden Journal of International Law 20 (2007), 207 (222);implizit bestätigt in IStGH (Appeals Chamber), Decision v.14.12.2012 – ICC-01/04-01/06-2953 (Prosecutor v. Luanga,Decision on the admissibility of the appeals against TrialChamber I’s „Decision establishing the principles and proceduresto be applied to reparations“ and directions on thefurther conduct of proceedings), Rn. 69.97 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishing principlesand procedures to be applied to reparations), Rn. 189.98 IStGH (Legal Representatives of Victims), Observations v.18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2864 (Prosecutor v. Lubanga,Observations sur la fixation de la peine et les réparations dela part des victimes a/0001/06 […]), Rn. 24.99 So im Zusammenhang mit Wiedergutmachungsleistungenauf individueller Basis IStGH (Legal Representatives ofVictims), Observations v. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2869(Prosecutor v. Lubanga, Observations du groupe de victimesVO2 concernant la fixation de la peine et des réparations),Rn. 22; zur Position der Verteidigung siehe IStGH (TrialChamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904(Prosecutor v. Lubanga, Decision establishing principles andprocedures to be applied to reparations), Rn. 187.100 Bock (Fn. 12), S. 557.101 So aber die Argumentation in IStGH (Legal Representativesof Victims), Observations v. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2864 (Prosecutor v. Lubanga, Observations sur la fixation dela peine et les réparations de la part des victimes a/0001/06[…]), Rn. 24.dem un<strong>ger</strong>echt, da nicht alle Betroffenen gleichermaßen Zugangzum IStGH haben. 102Die Kammer verbindet ihre Ausführungen zum Grundsatzder Opfergleichheit mit einem Verweis auf die Nr. 10 der UNBasic Principles, 103 die bei Wiedergutmachungsanordnungeneine Diskriminierung u.a. aufgrund des Geschlechts, des Alters,der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, desGlaubens, der (politischen) Überzeugung, der sexuellen Orientierungsowie der nationalen, ethischen oder sozialen Zugehörigkeitverbietet. Die Betonung des Diskriminierungsverbotesauch und <strong>ger</strong>ade im Zusammenhang mit der Wiedergutmachungist wichtig, um den Einfluss von Opferstereotypenzu begrenzen. Auch wenn „die bosnischen Muslime“ oder„die Tutsi“ (aus guten Gründen) in den jeweiligen Konfliktenals die Opfergruppe angesehen werden, darf dies nicht dazuführen, dass das Leid, das Angehörige der jeweils anderenKonfliktpartei – Serben bzw. Hutus – erfahren haben, negiertwird. 104 Ausschlaggebend für den Gerichtshof kann und darfallein sein, dass eine Person durch ein seiner Gerichtsbarkeitunterfallendes Verbrechen geschädigt wird. Dabei ist das –sicherlich konsensfähige 105 – Bekenntnis der Kammer zumDiskriminierungsverbot nur ein erster Schritt. Entscheidendist vielmehr, wie eine faktische Ungleichbehandlung – wiesie beispielsweise in Folge der Beschränkung der Anklageauf Taten, die zulasten von Angehörigen der Hema begangenwurden, eintreten kann – verhindert, kompensiert oder zumindestabgemildert werden kann. Die Kammer deutet diesesProblem an, 106 zeigt allerdings keine Lösungen auf.102 IStGH (Legal Representatives of Victims), Observationsv. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2869 (Prosecutor v. Lubanga,Observations du groupe de victimes VO2 concernant la fixationde la peine et des réparations), Rn. 16; ähnlich auch dieArgumentation in Sierra Leone Truth & ReconciliationCommission (Fn. 7), Chapter 4 Rn. 54. I.E. ebenso de Brouwer,Leiden Journal of International Law 20 (2007), 207(222); SáCouto/Cleary, Transnational Law & ContemporaryProblems 17 (2008), 73 (87); Pikis (Fn. 89), S. 186; Dwertmann(Fn. 12), S. 77; siehe auch allgemein de Greiff (Fn. 22),S. 458; aus Sicht des Treuhandfonds de Greiff/Wierda(Fn. 16), S. 240; Fischer, Emory International Law Review17 (2003), 187 (222).103 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 191.104 Vertiefend hierzu Barkan, in: de Feyter/Parmentier/Bossuytu.a. (Fn. 3), S. 83. Siehe zur notwendigen Sensibilität fürethnische Diskriminierungen bei Wiedergutmachungsprogrammenin Ruanda Schotsmans (Fn. 24), S. 128.105 Siehe auch IStGH (United Nations Children’s Fund),Submission v. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2878 (Prosecutorv. Lubanga, Submission on the principles to be applied,and the procedure to be followed by the Chamber with regardto reparations), Rn. 8.106 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 193mit Fn. 383._____________________________________________________________________________________306<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Wiedergutmachung im Völkerstrafverfahren vor dem Internationalen Straf<strong>ger</strong>ichtshof nach Lubanga_____________________________________________________________________________________Die Betonung des Grundsatzes der Opfergleichheit bedeutetim Übrigen nicht, dass die Kammer Priorisierungs- undSelektionsprozesse a limine ausschließen würde. 107 Sie scheintvielmehr eine bevorzugte Behandlung von besonders schutzundhilfsbedürftigen Opfern, namentlich Opfern von sexuellerGewalt, Opfern mit besonderen medizinischen Bedürfnissensowie schwer traumatisierten Kindern zu präferieren. 108 Auchwenn diese Auswahl plausibel klingt, fehlt es an einer hinreichendenBegründung der Selektionskriterien.Grundsatz: Anspruchsberechtigt sind sowohl direkte alsauch indirekte Opfer. 109 Wiedergutmachung kann auchjuristischen Personen zugesprochen werden. 110Hinsichtlich der Antragsberechtigung hält die Kammer anihrer bisherigen Rechtsprechung zum Opferbegriff fest. 111 DasRecht auf Wiedergutmachung wird allen Opfern im Sinne derRegel 85 RPE zugesprochen. 112 Dies sind zunächst alle natürlichenPersonen, die durch ein der Gerichtsbarkeit des IStGHunterfallendes Verbrechen geschädigt wurden. Auf die Art derSchädigung kommt es nicht an – materielle, physische, psychischeund emotionale Schäden stehen gleichberechtigt nebeneinander.113 Durch die großzügige Einbeziehung mittelbarGeschädigter 114 – dies sind im Lubanga-Verfahren in ersterLinie die Eltern der rekrutierten Kindersoldaten – trägt dieKammer zudem der Tatsache Rechnung, dass schwere Straftatenauch erhebliche Auswirkungen auf die dem direkten107 Zur faktischen Notwendigkeit von Selektionsprozessenschon oben IV.108 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 200,weitere Ausführungen zu Opfern sexueller Gewalt in Rn. 207-209, zu geschädigten Kindern in Rn. 210-216.109 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 194.110 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 197.111 Siehe hierzu den Rechtsprechungsüberblick bei Catani,Journal of International Criminal Justice 10 (2012), 905 (907ff.).112 Vertiefend Bock (Fn. 12), S. 210 ff.; Dwertmann (Fn. 12),S. 76 ff.113 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 16.1.2008 – ICC-01/04-01/06-1119 (Prosecutor v. Lubanga, Decision on victims’participation), Rn. 91 f.; zusammenfassend IStGH (Trial ChamberI), Urt. v. 14.3.2012 – ICC-01/04-01/06-2842 (Prosecutorv. Lubanga, Judgment pursuant to Article 74 of the Statute),Rn. 14.114 Zur damit verbundenen Gefahr, den Kreis der am VerfahrenBeteiligten in einem mit dem Fairnessgrundsatz unvereinbarenWeise auszudehnen, Ambos, <strong>ZIS</strong> 2012, 313 (314); siehehierzu auch Bock (Fn. 12), S. 446 f.Opfer nahestehenden Personen haben können. 115 Dass unterden Opferbegriff des IStGH-Statuts zudem auch juristischePersonen fallen, ergibt sich unmittelbar aus Regel 85 lit. bRPE.Grundsatz: Wiedergutmachung kann nur denjenigen Opfernzugesprochen werden, die durch die Taten, für dieLubanga verurteilt wurde, geschädigt wurden. Diese müssendie conditio sine qua non („a ‚but/for‘ relationship“)und die unmittelbare Ursache („proximate cause“) des eingetretenenSchadens sein. 116Mit diesem Grundsatz überträgt die Kammer ihre im Zusammenhangmit den Beteiligungsrechten entwickelte Rechtsprechungzum Kausalitätserfordernis (siehe oben V.) auf die Ebeneder Wiedergutmachung. Das Erfordernis eines kausalen Zusammenhangszwischen Schaden und von der Verurteilungumfasster Tat führt zwar infolge der ausgeprägten Selektivitätder Anklage zu einer unter Gleichheitsgesichtspunkten bedenklichenBegrenzung des Kreises antragsberechtigter Opfer(siehe oben V.). Sie ist aber aus Rechtsgründen unabdingbar. 117Der Verurteilte kann nur dann zur Leistung von Wiedergutmachungverpflichtet werden, wenn und soweit er für die eingetretenenSchäden verantwortlich ist, er diese also in vorwerfbarerund zurechenbarer Weise verursacht hat. 118 Zudem115 Bock (Fn. 12), S. 159 ff. m.w.N. Vertiefend zur Anspruchsberechtigungindirekter Opfer Dwertmann (Fn. 12),S. 85 ff.116 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 249-250.117 I.E. ebenso IStGH (Defence), Observations 18.4.2012 –ICC-01/04-01/ 06-2866 (Prosecutor v. Lubanga, Observationsde la Défense sur les principes et la procédure applicablesà la réparation), Rn. 4; IStGH (Women’s Initiatives for GenderJustice), Observations v. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2876 (Prosecutor v. Lubanga, Observations of the Women’sInitiatives for Gender Justice on Reparations), Rn. 36; IStGH(Trust Fund for Victims), Observations v. 8.4.2013 – ICC-01/04-01/06-3009 (Prosecutor v. Lubanga, Observations ofthe Trust Fund for Victims on the appeals against TrialChamber I‘s „Decision establishing the principles and proceduresto be applied to reparations“), Rn. 142; Abo Youssef(Fn. 16), S. 174 f.; Pikis (Fn. 89), S. 186; Dwertmann (Fn.12), S. 141 ff.; auch de Brouwer/Heikkilä (Fn. 7), S. 1369.118 Siehe auch IStGH (Trust Fund for Victims), Observationsv. 25.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2872 (Prosecutor v. Lubanga,Observations on Reparations in Response to the SchedulingOrder of 14 March 2012), Rn. 47; IStGH (Prosecution),Response v. 21.9.2012 – ICC-01/04-01/06-2924 (Prosecutorv. Lubanga, Prosecution’s Response to the Defence Appealagainst the „Decision establishing the principles and proceduresto be applied to reparations“), Rn. 36; siehe auch AboYoussef (Fn. 16), S. 165; sowie IStGH (Prosecution), Submissionsv. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2867 (Prosecutorv. Lubanga, Prosecution’s Submissions on the principles and_____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com307


Stefanie Bock_____________________________________________________________________________________darf die Kammer auch im Wiedergutmachungsverfahren nichtdie Grenzen ihrer Zuständigkeit überschreiten. Es ist nichtihre Aufgabe, darüber zu befinden, ob Lubanga noch weitere,nicht von der Anklage erfasste Taten begangen hat. 119 Es wäreauch unter prozessökonomischen Gesichtspunkten wenig sinnvoll,das Wiedergutmachungsverfahren durch umfangreicheBeweisaufnahmen zu sonstigen völkerrechtlichen VerbrechenLubangas zu belasten. 120 Der Strafausspruch ist damit Grundund Grenze der <strong>ger</strong>ichtlichen Wiedergutmachungsanordnung. 121Auch wenn die Kammer sich im Weiteren nicht vertieftmit dem Begriff der proximate cause auseinandersetzt, 122 erproceduresto be applied in reparations), Rn. 16. Im Folgendenspricht sich das OTP allerdings für eine Erweiterung desKreises der Betroffenen aus, sofern die Wiedergutmachungdurch den Treuhandfonds erfolgt; ebenso IStGH (Registry),Report v. 2.9.2011 – ICC-01/04-01/06-2806 (Prosecutor v.Lubanga, Second Report of the Registry on Reparations),Rn. 16.119 Vgl. hierzu im Zusammenhang mit der BeteiligungsberechtigungIStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 16.1.2008 –ICC-01/04-01/06-1119 (Prosecutor v. Lubanga, Decision onvictims’ participation, Separate and Dissenting Opinion Blattman),Rn. 11; Chung, Northwestern Journal of InternationalHuman Rights 6 (2008), 456 (516 f.); Friman, Leiden Journalof International Law 22 (2009), 485 (491); Bock (Fn. 59),S. 286 m.w.N.120 Bock (Fn. 12), S. 591.121 Siehe auch IStGH (Trust Fund for Victims), Observationsv. 25.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2872 (Prosecutor v. Lubanga,Observations on Reparations in Response to the SchedulingOrder of 14 March 2012), Rn. 47.122 Die Kammer hat den Begriff wahrscheinlich aus demanglo-amerikanischen Deliktsrecht übernommen. Siehe zu dessenVielschichtigkeit und Komplexität nur Haley, Tort andInsurance Law Journal 36 (2000-2001), 147; Grady, UCLALaw Review 50 (2002-2003), 293. Die Verteidigung rügt dasproximate cause Kriterium in ihrer Beschwerdeschrift als zuvage IStGH (Defence), Requête v. 13.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2905 (Prosecutor v. Lubanga, Requête de la Défensesollicitant l’autorisation d’interjeter appel de la „Decisionestablishing the principles and procedures to be applied toreparation“ rendue le 7.8.2012), Rn. 9 lit. d; IStGH (Defence),Document v. 10.9.2012 – ICC-01/04-01/06-2919(Prosecutor v. Lubanga, Defence document in support of theappeal against Trial Chamber I’s Decision establishing theprinciples and procedures to be applied to reparation, renderedon 7.8.2012), Rn. 23 ff.; IStGH (Defence), Mémoire v.5.2.2013 – ICC-01/04-01/06-2972 (Prosecutor v. Lubanga,Mémoire de la Défense de M. Thomas Lubanga relatif àl’appel à l’encontre de la „Decision establishing the principlesand procedures to be applied to reparations“, rendue par laChambre de première instance le 7.8.2012), Rn. 172 ff. mitkritischer Erwiderung in IStGH (Trust Fund for Victims),Observations v. 8.4.2013 – ICC-01/04-01/06-3009 (Prosecutorv. Lubanga, Observations of the Trust Fund for Victims onthe appeals against Trial Chamber I‘s „Decision establishinglauben ihre kursorischen Überlegungen dennoch einige interessanteRückschlüsse. So soll dieses Kriterium die Wiedergutmachungnicht auf den Ausgleich der direkten Schäden(„direct harm“) bzw. Tatfolgen („immediate effects“) begrenzen.123 Die Kammer behält sich damit die Möglichkeit vor,bei der Bestimmung des Wiedergutmachungsumfangs die Auswirkungender Tat auf das weitere Leben der Opfer zu berücksichtigen.Bei der Rekrutierung von Kindersoldaten istvor allem an den Ausgleich verpasster Bildungs-, Entwicklungs-und Sozialisierungschancen sowie tatbedingter Beeinträchtigungender (späteren) Erwerbsfähigkeit zu denken. 124Auch wenn eine solch umfassende Unterstützung und Förderungder ehemaligen Kindersoldaten sicherlich wünschenswertist, so drängt sich doch vor dem Hintergrund des Verantwortungsprinzipsdie Frage auf, ob und inwieweit Lubanga aufGrundlage antizipierter Lebenspläne 125 zur Wiedergutmachungverpflichtet werden kann. 126 So kommt nach der Rechtsprechungdes IAGMR selbst im Bereich der Staatenverantwortlichkeiteine Wiedergutmachung für beeinträchtigte Lebenserwartungennur in Betracht, wenn diese vernünftig und realisierbar(„reasonable and attainable in practice“) sind. 127 DerEGMR gewährt eine Entschädigung für entgangene Chancennur dann, wenn sich diese zum Zeitpunkt des schädigendenEreignisses bereits hinreichend konkretisiert hatten, also nichtrein spekulativer Natur sind („real loss of opportunity“). 128the principles and procedures to be applied to reparations“),Rn. 184 ff.123 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 249.124 IStGH (Office of Public Counsel for Victims), Observationsv. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2863 (Prosecutor v.Lubanga, Observations on issues concerning reparations),Rn. 53 ff.125 Ausführlich zum vom IAGMR entwickelten Konzept eines„project of life“, das den antizipierten Lebensplan des Opferszur Grundlage der Wiedergutmachung macht, IStGH (Officeof Public Counsel for Victims), Observations v. 18.4.2012 –ICC-01/04-01/06-2863 (Prosecutor v. Lubanga, Observationson issues concerning reparations), Rn. 47 ff.; grundlegendIAGMR, Urt. v. 27.11.1998 – Series C No. 42 (Loayza-Tamayo v. Peru, Reparations and Costs), Rn. 147 ff.126Zu Recht kritisch IStGH (Defence), Observations v.18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2866 (Prosecutor v. Lubanga,Observations de la Défense sur les principes et la procédureapplicables à la réparation), Rn. 64 ff.127 IAGMR, Urt. v. 27.11.1998 – Series C No. 42 (Loayza-Tamayo v. Peru, Reparations and Costs), Rn. 150.128 EGMR, Urt. v. 9.4.1984 – 8966/80 (Goddi v. Italy), Rn. 35;EGMR, Urt. v. 19.12.1990 – 11444/85 (Delta v. France),Rn. 43; EGMR, Urt. v. 9.10.2003 –39665/98, 40086/98 (Ezehand Connors v. the United Kingdom), Rn. 141 ff.; EGMR,Urt. v. 12.4.2005 – 46387/99 u.a. (Whitfield v. the UnitedKingdom), Rn. 54 ff.; ähnlich auch der Ansatz der Verteidigung,siehe IStGH (Defence), Observations v. 18.4.2012 –ICC-01/04-01/06-2866 (Prosecutor v. Lubanga, Observationsde la Défense sur les principes et la procédure applicables à la_____________________________________________________________________________________308<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Stefanie Bock_____________________________________________________________________________________Das Strafurteil beinhaltet zwar die Feststellung, dass der Verurteiltedem Grunde nach zum Ausgleich der von ihm verursachtenTatschäden verpflichtet ist. Im Wiedergutmachungsverfahrenmuss aber noch der Umfang der Schädigung sowiedas Vorliegen der haftungsausfüllenden Kausalität, also derKausalität zwischen Rechtsgutsverletzung und Schaden, 138 ermitteltwerden. 139 Müssten diese Voraussetzungen zur vollenÜberzeugung des Gerichts im Sinne des Art. 66 Abs. 3 IStGH-Statut bewiesen werden, so würden die Geschädigten in erheblicheBeweisnot <strong>ger</strong>aten. 140 Dies gilt namentlich für dieschwer erfassbaren psychischen Tatfolgen, die von vielenOpfern als zentrale Beeinträchtigung empfunden werden. 141Ein solcher Ansatz würde auch der Tatsache nicht <strong>ger</strong>echt,dass es – allgemein gesprochen – in Zivilverfahren nicht aufdie Überzeugung des Gerichts, sondern auf die Bewertung47 ff.; IStGH (Defence), Mémoire v. 5.2.2013 – ICC-01/04-01/06-2972 (Prosecutor v. Lubanga, Mémoire de la Défensede M. Thomas Lubanga relatif à l’appel à l’encontre de la„Decision establishing the principles and procedures to beapplied to reparations“, rendue par la Chambre de premièreinstance le 7.8.2012), Rn. 79 ff., wobei die Verteidigungallerdings nicht hinreichend berücksichtigt, dass die von ihrprimär <strong>ger</strong>ügte Formulierung des „wholly flexible approach“(IStGH [Trial Chamber I], Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 [Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations],Rn. 254) sich ausschließlich auf eine Wiedergutmachungdurch den Treuhandfonds bezieht.138 IStGH (Defence), Observations v. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2866 (Prosecutor v. Lubanga, Observations de la Défensesur les principes et la procédure applicables à la réparation),Rn. 40; IStGH (Women’s Initiatives for Gender Justice),Observations v. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2876(Prosecutor v. Lubanga, Observations of the Women’s Initiativesfor Gender Justice on Reparations), Rn. 46; aus deutscherSicht Oetker, in: Säcker/Rixecker (Hrsg.), MünchenerKommentar zum BGB, Bd. 2, 6. Aufl. 2012, § 249 Rn. 104ff. m.w.N.139 ECCC (Trial Chamber), Urt. v. 26.7.2010 – 001/18-07-2007/ECCC/TC (Co-Prosecutors v. KAING Guek Eav, Judgement),Rn. 639 ff.; siehe auch Dwertmann (Fn. 12), S. 229.140 IStGH (Trust Fund for Victims), Report v. 1.9.2011 –ICC-01/04-01/06-2803-Red (Prosecutor v. Lubanga, PublicRedacted Version of ICC-01/04-01/06-2803-Conf-Exp, TrustFund for Victims’ First Report on Reparations), Rn. 49; Sieheauch IStGH (Trust Fund for Victims), Observations v.25.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2872 (Prosecutor v. Lubanga,Observations on Reparations in Response to the SchedulingOrder of 14.3.2012), Rn. 51; IStGH (Prosecution), Submissionsv. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2867 (Prosecutor v.Lubanga, Prosecution’s Submissions on the principles andprocedures to be applied in reparations), Rn. 24; Dwertmann(Fn. 12), S. 239; siehe auch Zegveld, in: Stahn/van den Herik(Hrsg.), Future Perspectives on International Criminal Justice,2010, S. 611 (S. 620).141 Siehe hierzu Bock (Fn. 12), S. 54 ff., 120 ff., 157 m.w.N.von Wahrscheinlichkeiten ankommt. 142 Daher ist es im Ergebniszu begrüßen, dass die Verfahrenskammer im Wiedergutmachungsverfahreneinen von Art. 66 Abs. 3 IStGH-Statutabweichenden, niedri<strong>ger</strong>en Beweisgrad zugrunde legen will. 143Unklar bleibt allerdings, woraus die Kammer den von ihr vorgeschlagenenMaßstab der „balance of probabilities“ ableitenwill. Dieser Ansatz scheint zwar mit dem der ECCC deckungsgleichzu sein („more likely than not to be true“); 144 seineAnwendung im Verfahren vor dem IStGH hätte aber einerausführlicheren Begründung bedurft. Da das primär anwendbareRecht, das Statut und die Verfahrensregeln (Art. 21 Abs. 1lit. a IStGH-Statut) keine Vorgaben bezüglich des im Wiedergutmachungsverfahrengeltenden Beweisgrades enthalten, 145hätte die Kammer diese Lücke durch Rückgriff auf allgemeineRechtsgrundsätze im Sinne des Art. 21 Abs. 1 lit. c IStGH-Statut schließen müssen. 146 Erforderlich wäre damit einerechtsvergleichend fundierte Auseinandersetzung mit den einschlägigennationalen zivilrechtlichen Regelungen gewesen.Dies gilt umso mehr, als im Vorfeld der Entscheidung durch-142 Siehe auch ECCC (Supreme Court Chamber), Urt. v. 3.2.2012 – 001/18-07-2007-ECCC/SC (Co-Prosecutors v. KAINGGuek Eav, Appeal Judgement), Rn. 531; Shelton (Fn. 136),S. 11 sowie Dwertmann (Fn. 12), S. 228. Dies wird im Grundsatzauch von Zappalà, Journal of International Criminal Justice8 (2010), 137 (152), anerkannt.143 Kritisch hingegen Zappalà, Journal of International CriminalJustice 8 (2010), 137 (152), der befürchtet, dass ein solcherAnsatz mittelbar auch zu einer Abschwächung des strafrechtlichenBeweisgrades führen könnte. Aufgrund der klarenRegelung des Art. 66 Abs. 3 IStGH-Statut und der (inhaltlichenwie zeitlichen) Abtrennbarkeit der Wiedergutmachungsanordnungvom Strafausspruch dürfte dies allerdings nahezuausgeschlossen sein. Siehe aus deutscher Sicht auch die Anwendungder zivilrechtlichen Beweismaßstäbe im AdhäsionsverfahrenLG Berlin, Urt. v. 1.12.2005 – (515) 93 Js 3567/04Kls (13/05) = NZV 2006, 389; Weiner, in: Weiner/Ferber(Hrsg.), Handbuch des Adhäsionsverfahrens, 2008, S. 23(S.31 f. Rn. 26); rechtsvergleichend Dwertmann (Fn. 12),S. 235 f.144 ECCC (Supreme Court Chamber), Urt. v. 3.2.2012 – 001/18-07-2007-ECCC/SC (Co-Prosecutors v. KAING Guek Eav,Appeal Judgement), Rn. 531.145 Anders hingegen IStGH (Office of Public Counsel for Victims& Legal Representatives of Victims), Response v.8.4.2013 – ICC-01/04-01/06-3010 (Prosecutor v. Lubanga,Joint Response to the „Mémoire de la Défense de M. ThomasLubanga relatif à l’appel à l’encontre de la ‘Decision establishingthe principles and procedures to be applied to reparations’,rendue par la Chambre de première instance le 7 août2012“), Rn. 63, die den balance of probabilities Maßstab (inwenig überzeugender Weise) aus Regel 94 Abs. 1 RPE ableitenwollen.146 Bock (Fn. 12), S. 595; siehe auch Zegveld, Journal of InternationalCriminal Justice 8 (2010), 79 (102); für einenweiten Ermessensspielraum der Kammer hingegen Dwertmann(Fn. 12), S. 230._____________________________________________________________________________________310<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Wiedergutmachung im Völkerstrafverfahren vor dem Internationalen Straf<strong>ger</strong>ichtshof nach Lubanga_____________________________________________________________________________________aus die Anwendung anderer, vom „balance of probabilities“-Standard abweichender Beweisgrade diskutiert worden ist. 147Darüber hinaus wäre es wünschenswert gewesen, wenn dieKammer im Zusammenhang mit dem anwendbaren Beweisgradauch dargelegt hätte, inwieweit sie Beweiserleichterungen148 insbesondere in Form von Vermutungen 149 zugunstender Geschädigten für zulässig erachtet. 150 Entsprechende Vorbilderlassen sich vor allem in der Rechtsprechung des IAGMRfinden. 151 Dieser hält es für evident und damit für nicht weiterbeweisbedürftig, dass bestimmte gravierende Menschrechtsverletzungensowohl beim direkten Opfer als auch bei dessennächsten Angehörigen 152 kompensationsfähige immaterielleSchäden verursachen. 153 Die Anwendung solcher und ähnli-147 IStGH (Office of Public Counsel for Victims), Observationsv. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2863 (Prosecutor v.Lubanga, Observations on issues concerning reparations),Rn. 39 (prima facie standard of proof bei Wiedergutmachungenauf individueller Basis), Rn. 40 (plausible case/predominantlyproblale claim/credibly demonstrated claim bei Wiedergutmachungenauf kollektiver Basis); siehe auch IStGH(Prosecution), Submissions v. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2867 (Prosecutor v. Lubanga, Prosecution’s Submissions onthe principles and procedures to be applied in reparations),Rn. 24; IStGH (Defence), Observations v. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2866 (Prosecutor v. Lubanga, Observations de laDéfense sur les principes et la procédure applicables à laréparation), Rn. 40; siehe auch den Überblick über die Diskussionbei Redress (Fn. 13), S. 63 ff.148 Zu einer möglichen Umkehrung der Beweislast Zegveld(Fn. 140), S. 621.149 Völlig auszuschließen scheint die Kammer die Anwendungvon Vermutungsregeln nicht, vgl. den Verweis auf die Rechtsprechungvon IACHR und EGMR in IStGH (Trial ChamberI), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutorv. Lubanga, Decision establishing principles and proceduresto be applied to reparations), Rn. 248 mit Fn. 433.150Siehe auch IStGH (Prosecution), Submissions v.18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2867 (Prosecutor v. Lubanga,Prosecution’s Submissions on the principles and proceduresto be applied in reparations), Rn. 24: Forderung nach einem„presumption of harm standard“.151 Siehe aber auch die weiteren Beispiele bei Dwertmann(Fn. 12), S. 241 f.152 IAGMR, Urt. v. 24.10.2012 – Series C No. 251 (NadegeDorzema et al. v. Dominican Republic; Merits, Reparationsand Costs), Rn. 287; Nachweise zur älteren Rechtsprechungbei Bock (Fn. 12), S. 594 Fn. 2404 f.; siehe auch IStGH (Officeof Public Counsel for Victims & Legal Representativesof Victims), Response v. 8.4.2013 – ICC-01/04-01/06-3010(Prosecutor v. Lubanga, Joint Response to the „Mémoire dela Défense de M. Thomas Lubanga relatif à l’appel àl’encontre de la ‚Decision establishing the principles andprocedures to be applied to reparations‘, rendue par la Chambrede première instance le 7 août 2012“), Rn. 55 ff.; Redress(Fn. 13), S. 58.153 IAGMR, Urt. v. 3.4.2009 – Series C No. 196 (Kawas-Fernándezv. Honduras, Merits, Reparations and Costs), Rn. 185;cher Vermutungen könnte das Wiedergutmachungsverfahrenstark vereinfachen. Dies ist nicht nur unter prozessökonomischenGesichtspunkten sinnvoll. Vielmehr könnte den Opfernauf diese Weise die möglicherweise sehr belastende Darlegungund Diskussion der psychischen und emotionalen Tatfolgenerspart bleiben.Grundsatz: Wiedergutmachung bedarf der Zustimmungdurch die Begünstigten. 154Das Zustimmungserfordernis ist Ausdruck des Autonomieprinzips.155 Wenn der Geschädigte keine Wiedergutmachungwill – sei es, dass er das <strong>ger</strong>ichtliche Verfahren scheut, sei es,dass er kein „Blutgeld“ von dem Täter annehmen will 156 – soist dies zu akzeptieren. Dies gilt umso mehr, als mit eineraufgedrängten Wiedergutmachung typischerweise keinerleipositive Effekte verbunden sein werden, da die Opfer sielediglich als unangemessene Bevormundung oder als Versuch,ihr Schweigen zu erkaufen, empfinden werden. 157 Interessantist dieser Grundsatz auch weni<strong>ger</strong> wegen seiner uneingeschränktbegrüßenswerten Kernaussage, sondern vielmehrwegen seiner möglichen Implikationen. Gem. Art. 75 Abs. 1IStGH-Statut kann der Gerichtshof Wiedergutmachung entwederauf Antrag der Geschädigten oder unter außergewöhnlichenUmständen auch aus eigener Initiative zusprechen. Daim ersten Fall die Geschädigten bereits mit der Antragsstellungihr grundsätzliches Einverständnis mit den Wiedergutmachungsleistungenzum Ausdruck gebracht haben, könntedie Betonung des Autonomieprinzips ein Hinweis darauf sein,dass die Kammer der Ausübung ihrer proprio motu-Befugnissegrundsätzlich offen gegenübersteht. 158 Dies wäre zu begrü-IAGMR, Urt. v. 4.9.2012 – Series C No. 250 (Case of the RíoNegro Massacres v. Guatemala; Preliminary Objection, Merits,Reparations, and Costs), Rn. 312; IAGMR, Urt. v. 24.10.2012 – Series C No. 251 (Nadege Dorzema et al. v. DominicanRepublic, Merits, Reparations and Costs), Rn. 287; IAGMR,Urt. v. 25.10.2012 – Series C No. 252 (Case of the Massacresof El Mozote and nearby places v. El Salvador, Merits, Reparationsand Costs), Rn. 383 („[...] it is inherent in humannature that anyone who suffers a violation of his or her humanrights experiences suffering“); Nachweise zur älteren Rechtsprechungbei Bock (Fn. 12), S. 594 Fn. 2403.154 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 204.155 Bock (Fn. 12), S. 558.156 Roht-Arriaza, Hastings International and Comparative LawReview 27 (2003-2004), 157 (180); Hamber (Fn. 24), S. 139;ders. (Fn. 25), S. 568; Mani (Fn. 22), S. 77; Schotsmans(Fn. 24), S. 131.157 Bock (Fn. 12), S. 559; siehe auch Roht-Arriaza, HastingsInternational and Comparative Law Review 27 (2003-2004),157 (180); Hamber (Fn. 24), S. 139.158 Siehe auch IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 –ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations),Rn. 187; IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 29.8.2012_____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com311


Stefanie Bock_____________________________________________________________________________________ßen, da die Antragstellung bereits aufgrund der großen örtlichenDistanz zwischen den Opfern und dem IStGH eine nichtzu unterschätzende Hürde darstellt. 159 Das Beharren auf dasAntragserfordernis würde daher wohl faktisch zahlreicheOpfer von den Wiedergutmachungsleistungen ausschließenund liefe daher dem Gleichheitsgrundsatz zuwider.2. Art der WiedergutmachungGrundsatz: Die Wiedergutmachung soll verhältnismäßigund angemessen sein sowie zügig erfolgen. 160Dieser Grundsatz entspricht der Nr. 15 der UN Basic Principles.Hiernach muss die Wiedergutmachung der Intensität derTatschäden <strong>ger</strong>echt werden. Insbesondere darf im Falle einermonetären Entschädigung die den Opfern zugesprochene Summenicht so niedrig sein, dass sie als Bagatellisierung des erlittenenUnrechts empfunden wird. 161 Darüber hinaus soll derdurch die Tat verursachte unrechtmäßige Zustand schnellst-– ICC-01/04-01/06-2911 (Prosecutor v. Lubanga, Decisionon the defence request for leave to appeal the Decision establishingthe principles and procedures to be applied to reparations),Rn. 29; kritisch hierzu IStGH (Defence), Requête v.13.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2905 (Prosecutor v. Lubanga,Requête de la Défense sollicitant l’autorisation d’interjeterappel de la „Decision establishing the principles and proceduresto be applied to reparation“ rendue le 7.8.2012), Rn. 9lit. a; IStGH (Defence), Mémoire v. 5.2.2013 – ICC-01/04-01/06-2972 (Prosecutor v. Lubanga, Mémoire de la Défensede M. Thomas Lubanga relatif à l’appel à l’encontre de la“Decision establishing the principles and procedures to beapplied to reparations”, rendue par la Chambre de premièreinstance le 7.8.2012), Rn. 32 ff. mit Erwiderung in IStGH(Office of Public Counsel for Victims & Legal Representativesof Victims), Response v. 17.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2907 (Prosecutor v. Lubanga, Joint response to the „Defenceapplication for leave to appeal against the Decision establishingthe principles and procedures to be applied to reparationsrendered on 7 August 2012“), Rn. 35.159 IStGH (International Center for Transitional Justice),Submission v. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2879 (Prosecutorv. Lubanga, Submission on reparations issues), Rn. 11;IStGH (United Nations Children’s Fund), Submission v.10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2878 (Prosecutor v. Lubanga,Submission on the principles to be applied, and the procedureto be followed by the Chamber with regard to reparations),Rn. 33; Muttukumaru (Fn. 39), S. 269; Jorda/de Hemptinne(Fn. 18), S. 1407; de Brouwer, Leiden Journal of InternationalLaw 20 (2007), 207 (222); Dwertmann (Fn. 12), S. 208;Evans (Fn. 7), S. 106.160 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 242.161 Siehe hierzu auch IStGH (Prosecution), Submissions v.18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2867 (Prosecutor v. Lubanga,Prosecution’s Submissions on the principles and proceduresto be applied in reparations), Rn. 11, 30.möglich beseitigt werden. Die Forderung nach einer zügigen,zeitnahen Wiedergutmachung trägt zudem der Tatsache Rechnung,dass das Wiedergutmachungsverfahren für die Betroffeneneine erhebliche Belastung darstellen kann, da sie ggf.erneut um die Anerkennung ihres Opferstatus kämpfen müssen.162 Lässt sich dieser Grundsatz auf normativer Ebene daherohne weiteres als elementares Gebot der Gerechtigkeit legitimieren,so erweist sich seine Umsetzung zumindest alsschwierig. Das Recht auf angemessene und verhältnismäßigeEntschädigung kann nur im Rahmen der dem Verurteiltenund dem Treuhandfonds zur Verfügung stehenden (begrenzten)Ressourcen erfüllt werden. Wiedergutmachungsanordnungendurch den IStGH können zudem erst im Anschluss an daskomplexe, zeitaufwendige Strafverfahren ergehen. Allein zwischender Überstellung Lubangas an den IStGH (16.3.2006)und seiner erstinstanzlichen Verurteilung (14.3.2012) liegenknapp sechs Jahre; zwischen den angeklagten Taten (2.6.-13.8.2003) und der erstinstanzlichen Verurteilung sogar ungefährneun Jahre. Das Recht auf zügige Wiedergutmachung wirddaher durch seine strafprozessuale Einbindung relativiert.Grundsatz: Wiedergutmachung kann durch Rückerstattung,Entschädigung, Rehabilitierung und andere Maßnahmen,insbesondere solchen, mit einer symbolischen, verbeugendenoder den gesellschaftlichen Übergangs- und Stabilisierungsprozessfördernden („transformative“) Wirkung,gleistet werden. 163Hinsichtlich der möglichen Arten der Wiedergutmachung enthältdie Entscheidung nichts Überraschendes. Die Kammerdefiniert zunächst die in Art. 75 IStGH-Statut verwendetenBegriffe Rückerstattung, Entschädigung und Rehabilitierungunter Rückgriff auf die UN Basic Principles und die einschlägigeRechtsprechung des IAGMR: 164 Rückerstattung zielt aufdie Wiederherstellung des Zustandes, der vor der Tatbegehungbestand; Entschädigung bezieht sich auf den Ausgleich immaterielleroder materieller Tatschäden durch Geldzahlungen;Rehabilitierung umfasst alle Maßnahmen, die dem Opferbei der Überwindung der Tatfolgen helfen – seien diese nunmedizinischer, therapeutischer, sozialer oder sonsti<strong>ger</strong> Natur.165 Darüber hinaus geht die Kammer zutreffend (siehe162 Roht-Arriaza, Hastings International and Comparative LawReview 27 (2003-2004), 157 (179); Bock (Fn. 12), S. 589.163 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 222.164 Siehe hierzu auch IStGH (Registry), Report v. 2.9.2011 –ICC-01/04-01/06-2806 (Prosecutor v. Lubanga, Second Reportof the Registry on Reparations), Rn. 82 ff.; Redress,Implementing Victim’s Rights, A Handbook on the BasicPrinciples and Guidelines on the Right to a Remedy andReparation, 2006, o S. 33 ff., online verfügbar unterhttp://www.redress.org/downloads/publications/ReparationPrinciples.pdf (1.7.2013); Bock (Fn. 12), S. 559-567; AboYoussef (Fn. 16), S. 165-171; Dwertmann (Fn. 12), S. 129-149.165 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishing_____________________________________________________________________________________312<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Wiedergutmachung im Völkerstrafverfahren vor dem Internationalen Straf<strong>ger</strong>ichtshof nach Lubanga_____________________________________________________________________________________schon oben III.) davon aus, dass das IStGH-Statut auch sonstigeArten der Wiedergutmachung akzeptiert. In ihrer exemplarischenAuflistung 166 fokussiert sich die Kammer vor allemauf Maßnahmen, die dem Bedürfnis der Opfer nach gesellschaftlicherAnerkennung 167 Rechnung tragen: Veröffentlichung und Verbreitung des Strafurteils, das –im Einklang mit der Rechtsprechung des IAGMR 168 –selbst als eine Form der symbolischen Wiedergutmachungangesehen wird. 169 Kampagnen zur Verbesserung der Situation der Opfer undihrer gesellschaftlichen Anerkennung; 170 Anerkennung individueller Opfererfahrungen in gesondertenZertifikaten; 171principles and procedures to be applied to reparations), Rn. 223ff.166 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 237ff.167 Siehe hierzu IStGH (Legal Representatives of Victims),Observations v. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2864 (Prosecutorv. Lubanga, Observations sur la fixation de la peine et lesréparations de la part des victimes a/0001/06 […]), Rn. 17.168 IAGMR, Urt. v. 3.4.2009 – Series C No. 196 (Kawas-Fernándezv. Honduras, Merits, Reparations and Costs), Rn. 184;IAGMR, Urt. v. 24.10.2012 – Series C No. 251 (Nadege Dorzemaet al. v. Dominican Republic, Merits, Reparations andCosts), Rn. 254; IAGMR, Urt. v. 25.10.2012 – Series C No. 252(Case of the Massacres of El Mozote and nearby places v. ElSalvador, Merits, Reparations and Costs), Rn. 335; IAGMR,Urt. v. 28.11.2012 – Series C No. 257 (Case of Artavia Murilloet al. [„In vitro fertilization“] v. Costa Rica, PreliminaryObjections, Merits, Reparations and Costs), Rn. 323; sieheauch IAGMR, Urt. v. 4.9.2012 – Series C No. 250 (Case ofthe Río Negro Massacres v. Guatemala, Preliminary Objection,Merits, Reparations, and Costs), Rn. 273; Nachweisezur älteren Rechtsprechung bei Bock (Fn. 12), S. 199 Fn. 135;i.E. ebenso ECCC (Trial Chamber), Urt. v. 26.7.2010 – 001/18-07-2007/ECCC/TC (Co-Prosecutors v. KAING Guek Eav,Judgement), Rn. 669.169 Ebenso IStGH (Registry), Report v. 2.9.2011 – ICC-01/04-01/06-2806 (Prosecutor v. Lubanga, Second Report ofthe Registry on Reparations), Rn. 79 ff.; IStGH (Prosecution),Submissions v. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2867 (Prosecutorv. Lubanga, Prosecution’s Submissions on the principlesand procedures to be applied in reparations), Rn. 13;IStGH (Women’s Initiatives for Gender Justice), Observationsv. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2876 (Prosecutor v.Lubanga, Observations of the Women’s Initiatives for GenderJustice on Reparations), Rn. 55.170 Siehe auch die in IStGH (Justice-plus u.a. ), Observationsv. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2877 (Prosecutor v. Lubanga,Observations relatives au régime de réparation), Rn. 34entwickelten Vorschläge.171 An<strong>ger</strong>egt in IStGH (Legal Representatives of Victims),Observations v. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2864 (Prosecu- Entschuldigung durch den Täter, 172 wobei diese Wiedergutmachungsmaßnahmenicht gegen den Willen Lubangasangeordnet werden darf. 173Grundsatz: Die Wiedergutmachung kann sowohl auf kollektiverals auch auf individueller Basis erfolgen. 174Gemäß Regel 97 Abs. 1 RPE kann das Gericht die Wiedergutmachungauf individueller oder kollektiver Basis zusprechen.Im ersten Fall kommt die Leistung unmittelbar einembestimmten Opfer zugute. Ziel ist die Kompensation der individuellenTatfolgen. 175 Regel 97 Abs. 1 RPE scheint dieseForm der Wiedergutmachung als Regelfall anzusehen. 176 Aufgrundihrer starken Orientierung am Ideal der Einzelfall<strong>ger</strong>echtigkeit177 dürfte sie – theoretisch betrachtet – aus Sichttor v. Lubanga, Observations sur la fixation de la peine et lesréparations de la part des victimes a/0001/06 […]), Rn. 23.172 IStGH (Office of Public Counsel for Victims), Observationsv. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2863 (Prosecutor v.Lubanga, Observations on issues concerning reparations), Rn.111; IStGH (Registry), Report v. 2.9.2011 – ICC-01/04-01/06-2806 (Prosecutor v. Lubanga, Second Report of theRegistry on Reparations), Rn. 77.173 Ebenso IStGH (International Center for Transitional Justice),Submission v. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2879 (Prosecutorv. Lubanga, Submission on reparations issues), Rn.68 f.; Bock (Fn. 12), S. 565; a.A. wohl IStGH (Office ofPublic Counsel for Victims), Observations v. 18.4.2012 –ICC-01/04-01/06-2863 (Prosecutor v. Lubanga, Observationson issues concerning reparations), Rn. 128; offengelassen inIStGH (Prosecution), Submissions v. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2867 (Prosecutor v. Lubanga, Prosecution’s Submissionson the principles and procedures to be applied in reparations),Rn. 13 („to order or request Mr. Lubanga to issue apublic and/or private apology to the individual victims thatacknowledges his responsibility for their suffering.“)174 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 219-221.175 Dwertmann (Fn. 12), S. 120.176 Dies ergibt sich daraus, dass Wiedergutmachung auf kollektiverBasis nur dann angeordnet werden darf, wenn dies angemessenerscheint; siehe Dwertmann (Fn. 12), S. 121; Bock(Fn. 12), S. 571; ähnlich auch IStGH (Legal Representativesof Victims), Observations v. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2869 (Prosecutor v. Lubanga, Observations du groupe devictimes VO2 concernant la fixation de la peine et des réparations),Rn. 12.177 IStGH (Prosecution), Submissions v. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2867 (Prosecutor v. Lubanga, Prosecution’sSubmissions on the principles and procedures to be applied inreparations), Rn. 9; IStGH (United Nations Children’s Fund),Submission v. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2878 (Prosecutorv. Lubanga, Submission on the principles to be applied,and the procedure to be followed by the Chamber with regardto reparations), Rn. 7, 25; siehe auch IStGH (Women’s Initia-_____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com313


Stefanie Bock_____________________________________________________________________________________der Geschädigten zumeist vorzugswürdig sein. 178 Ihre praktischeUmsetzung bereitet allerdings erhebliche Probleme. InAnbetracht der hohen Anzahl an Opfern und der Intensitätder von ihnen erlittenen Tatschäden werden die begrenztenRessourcen des Verurteilten (soweit überhaupt vorhanden) unddes Treuhandfonds typischerweise nicht ausreichen, um ihnenallen eine angemessene Entschädigung zu zahlen. 179 Zudemkommt auf diese Weise nur eine sehr <strong>ger</strong>inge Anzahl an Opfern,nämlich diejenigen, die nach Kenntnis des Gerichtshofsdurch die Taten, deretwegen Lubanga verurteilt wurde, geschädigtwurden, in den Genuss von Wiedergutmachungsleistungen.Die Auswirkungen der oben geschilderten Selektionsprozesse(oben IV., V.) kommen in vollem Umfang zurGeltung. 180 Abmildern lassen sich diese Probleme, indem Wietivesfor Gender Justice), Observations v. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2876 (Prosecutor v. Lubanga, Observations ofthe Women’s Initiatives for Gender Justice on Reparations),Rn. 28.178 Siehe IStGH (Legal Representatives of Victims), Observationsv. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2864 (Prosecutor v.Lubanga, Observations sur la fixation de la peine et les réparationsde la part des victimes a/0001/06 […]), Rn. 15; IStGH(Prosecution), Submissions v. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2867 (Prosecutor v. Lubanga, Prosecution’s Submissions onthe principles and procedures to be applied in reparations),Rn. 9; IStGH (Legal Representatives of Victims), Observationsv. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2869 (Prosecutor v.Lubanga, Observations du groupe de victimes VO2 concernantla fixation de la peine et des réparations), Rn. 16;siehe zur mangelnden Akzeptanz der durch die ECCC angeordnetenkollektiven Wiedergutmachungsleistungen McGonigleLeyh, International Crimninal Law Review 12 (2012), 375(405); in eine andere Richtung deuten hingegen die von Sperfeldt,International Criminal Law Review 12 (2012), 457 (473),zitierten Umfrageergebnisse.179 IStGH (Office of Public Counsel for Victims), Observationsv. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2863 (Prosecutor v.Lubanga, Observations on issues concerning reparations),Rn. 12; siehe auch Roht-Arriaza, Hastings International andComparative Law Review 27 (2003-2004), 157 (185); Dwertmann(Fn. 12), S. 121; Siehe auch IStGH (Trust Fund forVictims), Observations v. 25.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2872(Prosecutor v. Lubanga, Observations on Reparations inResponse to the Scheduling Order of 14 March 2012),Rn. 151; IStGH (Prosecution), Submissions v. 18.4.2012 –ICC-01/04-01/06-2867 (Prosecutor v. Lubanga, Prosecution’sSubmissions on the principles and procedures to be applied inreparations), Rn. 10.180 Siehe auch IStGH (Trust Fund for Victims), Observationsv. 25.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2872 (Prosecutor v. Lubanga,Observations on Reparations in Response to the SchedulingOrder of 14.3.2012), Rn. 151; siehe auch IStGH (Justiceplusu.a. ), Observations v. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2877 (Prosecutor v. Lubanga, Observations relatives aurégime de réparation), Rn. 25; IStGH (Women’s Initiativesfor Gender Justice), Observations v. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2876 (Prosecutor v. Lubanga, Observations of thedergutmachung auf kollektiver Basis gewährt wird. 181 Dabeilassen IStGH-Statut und Verfahrensregeln offen, was hierunterzu verstehen ist. 182 Begünstigter solcher Maßnahmen könntezum einen eine Gruppe namentlich bekannter, individualisierterOpfer – beispielsweise die acht an einem bestimmten Tagin einem bestimmten Dorf rekrutierten Kinder – sein. Denkbarwäre es aber auch, als potenzielle Adressaten der Wiedergutmachungallgemein eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe(beispielsweise „die Kindersoldaten“) oder – unter Berücksichtigungder kollektiven Dimension völkerrechtlicher Verbrechen– sogar die von den Taten betroffene Gesellschaft 183als solche anzusehen. 184 Die Kammer scheint ein solch weitesVerständnis des Begriffs der kollektiven WiedergutmachungWomen’s Initiatives for Gender Justice on Reparations), Rn.30; IStGH (United Nations Children’s Fund), Submission v.10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2878 (Prosecutor v. Lubanga,Submission on the principles to be applied, and the procedureto be followed by the Chamber with regard to reparations),Rn. 28.181 IStGH (United Nations Children’s Fund), Submission v.10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2878 (Prosecutor v. Lubanga,Submission on the principles to be applied, and the procedureto be followed by the Chamber with regard to reparations),Rn. 35 f.; Roht-Arriaza, Hastings International and ComparativeLaw Review 27 (2003-2004), 157 (185); Rombouts/Sardaro/Van-deginste (Fn. 3), S. 460 ff. Rn. 153 ff.; Zegveld,Journal of International Criminal Justice 8 (2010), 79 (99).182 IStGH (Justice-plus u.a.), Observations v. 10.5.2012 –ICC-01/04-01/06-2877 (Prosecutor v. Lubanga, Observationsrelatives au régime de réparation), Rn. 35; IStGH (InternationalCenter for Transitional Justice), Submission v. 10.5.2012– ICC-01/04-01/06-2879 (Prosecutor v. Lubanga, Submissionon reparations issues), Rn. 50.183 I.d.S. siehe auch IStGH (Trust Fund for Victims), Observationsv. 25.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2872 (Prosecutor v.Lubanga, Observations on Reparations in Response to theScheduling Order of 14.3.2012), Rn. 154.184 Siehe die Differenzierung zwischen kollektiver Wiedergutmachungin einem engen und einem weiten Sinne IStGH(Office of Public Counsel for Victims), Observations v.18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2863 (Prosecutor v. Lubanga,Observations on issues concerning reparations), Rn. 83 ff.;vgl. auch IStGH (Defence), Observations v. 18.4.2012 –ICC-01/04-01/06-2866 (Prosecutor v. Lubanga, Observationsde la Défense sur les principes et la procédure applicables à laréparation), Rn. 52; IStGH (Justice-plus u.a.), Observationsv. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2877 (Prosecutor v. Lubanga,Observations relatives au régime de réparation), Rn. 41;IStGH (Women’s Initiatives for Gender Justice), Observationsv. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2876 (Prosecutor v.Lubanga, Observations of the Women’s Initiatives for GenderJustice on Reparations), Rn. 11; Di Giovanni, Journal ofInternational Law and International Relations 2 (2005-2006),25 (46); Dwertmann (Fn. 12), S. 121; Zegveld, Journal ofInternational Criminal Justice 8 (2010), 79 (98), sowie dieverschiedenen Definitionsansätze bei Sperfeldt, InternationalCriminal Law Review 12 (2012), 457 (471)._____________________________________________________________________________________314<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Wiedergutmachung im Völkerstrafverfahren vor dem Internationalen Straf<strong>ger</strong>ichtshof nach Lubanga_____________________________________________________________________________________zu favorisieren. 185 Dieses hat den Vorteil, den Kreis der Begünstigtenmöglichst weit zu ziehen und damit die negativenAuswirkungen von Selektionsprozessen möglichst <strong>ger</strong>ing zuhalten. 186 Gleichzeitig wird dadurch aber der Zusammenhangzwischen individueller Tat und Wiedergutmachung, die mehrund mehr zu einer Maßnahme des gesellschaftlichen Wiederaufbaus187 wird (reconciliation als reparation), gelockert. 188Dies ist insbesondere dann problematisch, wenn die kollektiveWiedergutmachung durch den Verurteilten geleistet werdensoll, da sich insoweit die Frage nach den Konsequenzen desvon der Kammer aufgestellten Kausalitätserfordernisses (obenVII. 1.) aufdrängt. Der Grundsatz, dass der Verurteilte nur185 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 221(„When collective reparations are awarded, these should addressthe harm the victims suffered on an individual and collectivebasis“).186 Siehe auch IStGH (Trust Fund for Victims), Observationsv. 25.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2872 (Prosecutor v. Lubanga,Observations on Reparations in Response to the SchedulingOrder of 14.3.2012), Rn. 167; IStGH (Prosecution),Submissions v. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2867 (Prosecutorv. Lubanga, Prosecution’s Submissions on the principlesand procedures to be applied in reparations), Rn. 15; IStGH(Justice-plus u.a.), Observations v. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2877 (Prosecutor v. Lubanga, Observations relativesau régime de réparation), Rn. 38 f.; IStGH (Women’s Initiativesfor Gender Justice), Observations v. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2876 (Prosecutor v. Lubanga, Observations ofthe Women’s Initiatives for Gender Justice on Reparations),Rn. 20; IStGH (Legal Representatives of Victims), Observationsv. v. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2869 (Prosecutor v.Lubanga, Observations du groupe de victimes VO2 concernantla fixation de la peine et des réparations), Rn. 16;siehe auch Rombouts/Sardaro/Vandeginste (Fn. 3), S. 463 ff.Rn. 157 ff.187 Di Giovanni, Journal of International Law and InternationalRelations 2 (2005-2006), 25 (42); siehe auch die Ausführungenin IStGH (Women’s Initiatives for Gender Justice), Observationsv. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2876 (Prosecutorv. Lubanga, Observations of the Women’s Initiatives forGender Justice on Reparations), Rn. 17 sowie Roht-Arriaza,Hastings International and Comparative Law Review 27(2003-2004), 157 (181); Zegveld, Journal of InternationalCriminal Justice 8 (2010), 79 (98); Evans (Fn. 7), S. 107;Redress (Fn. 24), S. 4.188 Bock (Fn. 12), S. 573; siehe auch IStGH (Prosecution),Submissions v. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2867 (Prosecutorv. Lubanga, Prosecution’s Submissions on the principlesand procedures to be applied in reparations), Rn. 14; IStGH(Defence), Mémoire v. 5.2.2013 – ICC-01/04-01/06-2972(Prosecutor v. Lubanga, Mémoire de la Défense de M.Thomas Lubanga relatif à l’appel à l’encontre de la „Decisionestablishing the principles and procedures to be applied toreparations“, rendue par la Chambre de première instance le7.8.2012), Rn. 138 ff.dann und soweit in der Pflicht steht, wenn und wie die zukompensierenden Schäden Folgen seiner strafbaren Handlungsind, gilt unabhängig von der konkreten Wiedergutmachungsform.189 Dies könnte aber bedeuten, dass, sollte Lubangabeispielsweise zur Zahlung einer Geldsumme an ein Programmzur Wiedereingliederung von Kindersoldaten verpflichtetwerden, sichergestellt sein muss, dass diese Spendenur zur Unterstützung derjenigen Kinder, deren RekrutierungGegenstand des Strafurteils ist, genutzt wird. Die Kammerhat leider die Gelegenheit, sich in grundsätzlicher Weise mitdem Verhältnis zwischen dem Grundsatz der individuellenVerantwortlichkeit und der Möglichkeit, Wiedergutmachungauf kollektiver Basis zuzusprechen, 190 auseinanderzusetzen,ungenutzt verstreichen lassen.Darüber hinaus hält die Kammer im Einklang mit Rule 97Abs. 1 RPE fest, dass kollektive und individuelle Wiedergutmachungsmaßnahmenkombinierbar sind, erklärt aber nicht,wie diese zu einem stimmigen Gesamtkonzept verbunden werdenkönnen. Unklar bleibt insbesondere, nach welchen Kriteriendiejenigen Opfer, die zusätzlich in den Genuss von individuellenWiedergutmachungsleistungen kommen, bestimmtwerden sollen. 191 Die Kammer belässt es insoweit bei demsehr allgemeinen Hinweis, dass verhindert werden müsse, dass189 Vgl. IStGH (Defence), Observations v. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2866 (Prosecutor v. Lubanga, Observations de laDéfense sur les principes et la procédure applicables à laréparation), Rn. 53 ff.; siehe auch IStGH (Trust Fund forVictims), Observations v. 8.4.2013 – ICC-01/04-01/06-3009(Prosecutor v. Lubanga, Observations of the Trust Fund forVictims on the appeals against Trial Chamber I‘s „Decisionestablishing the principles and procedures to be applied toreparations“), Rn. 144, 149.190 Siehe hierzu Bock (Fn. 12), S. 592. Solche Überlegungendürften auch der vom Treuhandfonds vorgeschlagenen Differenzierung(individuelle Wiedergutmachung durch den Verurteilten,kollektive Wiedergutmachung durch den Treuhandfonds)zugrunde liegen siehe auch IStGH (Trust Fund forVictims), Observations v. 25.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2872(Prosecutor v. Lubanga, Observations on Reparations inResponse to the Scheduling Order of 14.3.2012), Rn. 17-19;ähnlich auch IStGH (Prosecution), Submissions v. 18.4.2012– ICC-01/04-01/06-2867 (Prosecutor v. Lubanga, Prosecution’sSubmissions on the principles and procedures to beapplied in reparations), Rn. 14.191 Siehe zum Beispiel die Vorschläge bei IStGH (Justiceplusu.a.), Observations v. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2877 (Prosecutor v. Lubanga, Observations relatives aurégime de réparation), Rn. 27; IStGH (Legal Representativesof Victims), Observations v. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2869 (Prosecutor v. Lubanga, Observations du groupe devictimes VO2 concernant la fixation de la peine et des réparations),Rn. 24; IStGH (International Center for TransitionalJustice), Submission v. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2879(Prosecutor v. Lubanga, Submission on reparations issues),Rn. 15 (Privilegierung direkter Opfer)._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com315


Stefanie Bock_____________________________________________________________________________________die Wiedergutmachungsanordnung zu gesellschaftlichen Spannungenführt. 192Grundsatz: Die Wiedergutmachungsanordnungen des Gerichtshofsergehen unabhängig von den Entscheidungenanderer Gremien. Bei seiner Entscheidung kann der Gerichtshofaber berücksichtigen, ob und inwieweit die Opferbereits anderweitig Wiedergutmachung erhalten haben. 193Gemäß Art. 75 Abs. 6 lassen die Wiedergutmachungsregelndes IStGH-Statuts die Rechte der Opfer nach einzelstaatlichemRecht oder nach dem Völkerrecht unberührt. Hierdurch wirdinsbesondere klargestellt, dass der im IStGH-Statut vorgeseheneSchadensausgleich durch den Täter nicht die Staaten vonihren ggf. bestehenden völkerrechtlichen Wiedergutmachungsverpflichtungen(dazu oben I.) entbindet. Den Geschädigtensoll nicht die Möglichkeit genommen werden, anderweitigweitergehende Rechte geltend zu machen. 194 Die verschiedenennationalen und internationalen Wiedergutmachungsmechanismenstehen daher grundsätzlich unabhängig nebeneinander.Dessen ungeachtet sollen Wiedergutmachungsleistungen stetsnur den entstandenen Schaden kompensieren, nicht aber zueiner Bereicherung der Geschädigten führen. 195 Die von derKammer geforderte Berücksichtigung anderweiti<strong>ger</strong> Wiedergutmachungsmaßnahmenverhindert eine Überkompensationeinzelner Tatschäden und fördert eine <strong>ger</strong>echte Verteilung derbegrenzten Ressourcen. 1963. Anordnungen gegenüber dem TreuhandfondsGrundsatz: Die Hauptverfahrenskammer ist nach Art. 75Abs. 2 IStGH-Statut ermächtigt, Wiedergutmachungsanordnungenunmittelbar gegen den Treuhandfonds zu erlassenund dabei auf seine logistischen und finanziellenRessourcen zuzugreifen. 197Dieser Grundsatz betrifft das Verhältnis zwischen Gerichtshofund Treuhandfonds. Es geht darum, ob und inwieweit derGerichtshof unmittelbar auf die sonstigen Ressourcen des192 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 221.193 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 201.194 Donat-Cattin (Fn. 18), Art. 75 Rn. 24; siehe auch Schabas(Fn. 83), S. 883; Bock (Fn. 12), S. 588.195 Siehe auch IStGH (Defence), Observations v. 18.4.2012 –ICC-01/04-01/06-2866 (Prosecutor v. Lubanga, Observationsde la Défense sur les principes et la procédure applicables à laréparation), Rn. 60, 68 ff.196 Siehe auch IStGH (Registry), Report v. 2.9.2011 – ICC-01/04-01/06-2806 (Prosecutor v. Lubanga, Second Report ofthe Registry on Reparations), Rn. 50.197 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 270.Treuhandfonds zugreifen und ihn zur Ausübung seiner Kompensationsfunktionverpflichten darf. Diese Frage ist im Lubanga-Verfahrenwegen der Mittellosigkeit des Verurteilten 198von entscheidender Bedeutung. Nach dem IStGH-Statut ist eszwar nicht ausgeschlossen, auch in solchen Fällen Wiedergutmachungsanordnungenunmittelbar gegen den Verurteiltenzu erlassen. 199 Ungeachtet des damit möglicherweise verbundenensymbolischen Werts, 200 könnte ein solches Vorgehenaber bei den Begünstigten nicht erfüllbare Hoffnungen wecken.201 Ein Wiedergutmachungssystem, das Leistungen zuspricht,die nicht realisierbar sind, wird auf Dauer an Akzeptanzverlieren. Verzichtet die Kammer daher darauf, den Verurteiltenin die Pflicht zu nehmen, so hängt ihre weitere Rolleim Wiedergutmachungsverfahren maßgeblich davon ab, obsie vom Treuhandfonds verlangen kann, anstelle des VerurteiltenWiedergutmachung zu leisten.Art. 75 Abs. 2 IStGH-Statut gestattet es dem Gerichtshoflediglich anzuordnen, dass die zuerkannte Wiedergutmachungüber, nicht aber durch den Treuhandfonds erfolgt. 202 DieseFormulierung wird teilweise dahin gehend verstanden, dassder Gerichtshof sich des Treuhandfonds lediglich in administrativerHinsicht bei der Umsetzung seiner – gegen den Verurteilten<strong>ger</strong>ichteten – Wiedergutmachungsanordnungen bedienendürfe. Er sei aber nicht berechtigt, vom Treuhandfonds198 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 269.199 IStGH (Legal Representatives of Victims), Observationsv. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2864 (Prosecutor v. Lubanga,Observations sur la fixation de la peine et les réparationsde la part des victimes a/0001/06 […]), Rn. 34; IStGH (Prosecution),Submission v. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2867(Prosecutor v. Lubanga, Prosecution’s Submissions on theprinciples and procedures to be applied in reparations), Rn.28; IStGH (Trust Fund for Victims), Observations v.8.4.2013 – ICC-01/04-01/06-3009 (Prosecutor v. Lubanga,Observations of the Trust Fund for Victims on the appealsagainst Trial Chamber I‘s „Decision establishing the principlesand procedures to be applied to reparations“), Rn. 104.200 IStGH (Legal Representatives of Victims), Observationsv. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2864 (Prosecutor v. Lubanga,Observations sur la fixation de la peine et les réparationsde la part des victimes a/0001/06 […]), Rn. 34 f.; IStGH(Women’s Initiatives for Gender Justice), Observations v.10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2876 (Prosecutor v. Lubanga,Observations of the Women’s Initiatives for Gender Justiceon Reparations), Rn. 54; IStGH (International Center forTransitional Justice), Submission v. 10.5.2012 – ICC-01/04-01/06-2879 (Prosecutor v. Lubanga, Submission on reparationsissues), Rn. 63.201 IStGH (Prosecution), Submissions v. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2867 (Prosecutor v. Lubanga, Prosecution’sSubmissions on the principles and procedures to be applied inreparations), Rn. 10.202 Für die englische Sprachfassung lässt sich ähnlich argumentieren:„The Court may order that the award for reparationsbe made through (not by) the Trust Fund [...]“._____________________________________________________________________________________316<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Wiedergutmachung im Völkerstrafverfahren vor dem Internationalen Straf<strong>ger</strong>ichtshof nach Lubanga_____________________________________________________________________________________die Aufstockung der unzureichenden Mittel des Verurteiltenzu verlangen. 203 Ungeachtet der Tatsache, dass diese Auffassungunter dem Gesichtspunkt der organisatorischen Unabhängigkeitdes Treuhandfonds und seiner daraus resultierendenMittelhoheit vorzugswürdig erscheint, hat sich die Lubanga-Kammerihr nicht angeschlossen. Sie geht vielmehr davonaus, dass sie über Art. 75 Abs. 2 IStGH-Statut auch auf diesonstigen Mittel des Treuhandfonds zugreifen dürfe. 204 Zur Begründungverweist die Kammer im Wesentlichen auf Nr. 56GeschO THV, derzufolge der Fonds dafür Sorge zu tragenhat, dass stets in einem angemessen Umfang Gelder zur Kompensationder begrenzten Zahlungsfähigkeit der Verurteiltenzur Verfügung stehen. 205 Bezüglich der Ausübung dieser Kompetenzenlegt sich die Kammer allerdings Zurückhaltung auf:Sie will nur diejenigen sonstigen Mittel des Treuhandfondszur Wiedergutmachung einsetzen, die hierfür zur Seite gelegtwurden. 206 Soweit also der Treuhandfonds für seine Kompen-203 IStGH (Prosecution), Submissions v. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2867 (Prosecutor v. Lubanga, Prosecution’sSubmissions on the principles and procedures to be applied inreparations), Rn. 31 f.; Bock (Fn. 12), S. 577; siehe auchIStGH (Trust Fund for Victims), Report v. 1.9.2011 – ICC-01/04-01/06-2803-Red (Prosecutor v. Lubanga, PublicRedacted Version of ICC-01/04-01/06-2803-Conf-Exp, TrustFund for Victims’ First Report on Reparations), Rn. 127 mitFn. 40.204 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 271;im Ergebnis ebenso IStGH (Legal Representatives of Victims),Observations v. 18.4.2012 – ICC-01/04-01/06-2869 (Prosecutorv. Lubanga, Observations du groupe de victimes VO2concernant la fixation de la peine et des réparations), Rn. 41;IStGH (Registry), Report v. 2.9.2011 – ICC-01/04-01/06-2806 (Prosecutor v. Lubanga, Second Report of the Registryon Reparations), Rn. 125 f.205 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 271;ähnlich schon IStGH (Pre-Trial Chamber I), Entsch. v. 11.4.2008 – ICC-01/04-492 (Situation in the Congo, Decision onthe Notification of the Board of Directors of the Trust Fundfor Victims in accordance with Regulation 50 of the Regulationsof the Trust Fund), S. 7.206 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 271(„In circumstances when the Court orders reparations againstan indigent convicted person, the Court may draw upon‚other resources‘ that the TFV has made reasonable efforts toset aside.“). Hintergrund dürfte die Überlegung sein, dass dievon der Kammer herangezogene Nr. 56 GeschO THV ausdrücklichdas humanitäre Mandat des Treuhandfonds unberührtlässt: „Without prejudice to its activities under paragraph50, sub-paragraph (a), [...]“; siehe auch IStGH (Pre-TrialChamber I), Entsch. v. 11.4.2008 – ICC-01/04-492 (Situationin the Congo, Decision on the Notification of the Board ofsationsfunktion in angemessenem Umfang Gelder bereitstellt,scheint auch die Kammer ihm das Recht, autonom über dieVerteilung und den Einsatz seiner Mittel zu entscheiden, zuzubilligen.Dies wird dadurch bestätigt, dass die Kammer dieVorschläge des Treuhandfonds zur Art und Weise der Mittelverwendung(Beschränkung auf kollektive Wiedergutmachungsmaßnahmen,Entwicklung eines gesellschaftsorientierten Ansatzes)in vollem Umfang billigt. Eine derart behutsame Ausübungder (weit verstandenen) Kompetenzen aus Art. 75Abs. 2 IStGH-Statut dürfte auch aus Sicht des Treuhandfondsakzeptabel sein.VIII. Die Übertragung des weiteren Verfahrens an denTreuhandfondsUnabhängig von der Kritik im Detail bewegt sich die Kammermit den von ihr aufgestellten Wiedergutmachungsgrundsätzenim Rahmen des Erwartbaren. Die Überraschung hat siesich für den Schluss aufgehoben. Unter der Überschrift „Umsetzungdes Wiedergutmachungsplans“ billigt die Kammer zunächstdas vom Treuhandfonds vorgeschlagene weitere fünfstufigeVorgehen: 207 1. Bestimmung der an dem Wiedergutmachungsverfahrenzu beteiligenden örtlichen Gemeinschaften („localities“)durch Treuhandfonds, Kanzlei und OPCV, 2. Absprache und Beratung mit den örtlichen Gemeinschaftenüber potenzielle Wiedergutmachungsmaßnahmen, 3. Bewertung der Tatschäden durch eine Expertengruppe, 4. Öffentliche Debatten in den örtlichen Gemeinschaftenzur Offenlegung der Wiedergutmachungsgrundsätze unddes weiteren Vorgehens und 5. Sammlung von Vorschlägen zur Wiedergutmachung,die der Kammer zur Genehmigung vorgelegt werden.Anschließend lehnt es die Kammer ab, weitere Anordnungenzu treffen. Sie will weder dem Treuhandfonds genauere Vorgabenzum Einsatz seiner Mittel machen, 208 noch über die bishereingegangenen Anträge auf Wiedergutmachung entscheiden.209 Diese werden vielmehr an den Treuhandfonds weiter-Directors of the Trust Fund for Victims in accordance withRegulation 50 of the Regulations of the Trust Fund), S. 7.207 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 281f.208 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 287.209 Kritisch IStGH (Office of Public Counsel for Victims &Legal Representatives of Victims), Response v. 17.8.2012 –ICC-01/04-01/06-2907 (Prosecutor v. Lubanga, Joint responseto the „Defence application for leave to appeal against theDecision establishing the principles and procedures to beapplied to reparations rendered on 7 August 2012“), Rn. 15;IStGH (Office of Public Counsel for Victims & Legal Representativesof Victims), Appeal v. 24.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2909 (Prosecutor v. Lubanga, Appeal against Trial_____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com317


Stefanie Bock_____________________________________________________________________________________geleitet, dem es freigestellt wird, die Antragsteller nach eigenemErmessen in seine Wiedergutmachungsmaßnahmen zuintegrieren. 210 Dem Gerichtshof – genauer gesagt, einer extrazu diesem Zweck zu konstituierenden Kammer 211 – kommtChamber I’s Decision establishing the principles and proceduresto be applied to reparations of 7.8.2012), Rn. 17 ff.;IStGH (Legal Representatives of Victims), Appeal v.3.9.2012 – ICC-01/04-01/06-2914 (Prosecutor v. Lubanga,Appeal against Trial Chamber I’s Decision establishing theprinciples and procedures to be applied to reparation of7.8.2012), Rn. 11 ff.210 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 284;siehe auch IStGH (Office of Public Counsel for Victims &Legal Representatives of Victims), Response v. 17.8.2012 –ICC-01/04-01/06-2907 (Prosecutor v. Lubanga, Joint responseto the „Defence application for leave to appeal against theDecision establishing the principles and procedures to beapplied to reparations rendered on 7 August 2012“), Rn. 14.211 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 260ff.; kritisch hierzu IStGH (Defence), Requête v. 13.8.2012 –ICC-01/04-01/06-2905 (Prosecutor v. Lubanga, Requête de laDéfense sollicitant l’autorisation d’interjeter appel de la „Decisionestablishing the principles and procedures to be appliedto reparation“ rendue le 7.8.2012), Rn. 14; IStGH (Defence),Document v. 10.9.2012 – ICC-01/04-01/06-2919(Prosecutor v. Lubanga, Defence document in support of theappeal against Trial Chamber I’s Decision establishing theprinciples and procedures to be applied to reparation, renderedon 7.8.2012), Rn. 15 ff.; IStGH (Office of PublicCounsel for Victims & Legal Representatives of Victims),Response v. 17.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2907 (Prosecutorv. Lubanga, Joint response to the „Defence application forleave to appeal against the Decision establishing the principlesand procedures to be applied to reparations rendered on 7August 2012“), Rn. 21 ff.; IStGH (Office of Public Counselfor Victims & Legal Representatives of Victims), Appeal v.24.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2909 (Prosecutor v. Lubanga,Appeal against Trial Chamber I’s Decision establishing theprinciples and procedures to be applied to reparations of 7August 2012), Rn. 21 ff.; IStGH (Defence), Mémoire v.5.2.2013 – ICC-01/04-01/06-2972 (Prosecutor v. Lubanga,Mémoire de la Défense de M. Thomas Lubanga relatif àl’appel à l’encontre de la „Decision establishing the principlesand procedures to be applied to reparations“, rendue par laChambre de première instance le 7.8.2012), Rn. 21 ff.; IStGH(Office of Public Counsel for Victims & Legal Representativesof Victims), Document v. 5.2.2013 – ICC-01/04-01/06-2970 (Prosecutor v. Lubanga, Document déposé à l’appui del’appel à l’encontre de la „Decision establishing the principlesand procedures to be applied to reparations“ délivrée parla Chambre de première instance I le 7.8.2012), Rn. 30 ff.;IStGH (Office of Public Counsel for Victims & Legal Representativesof Victims), Response v. 8.4.2013 – ICC-01/04-während des gesamten weiteren Wiedergutmachungsprozesseslediglich eine beobachtende und kontrollierende Funktionzu („monitoring und oversight function“). 212Verteidigung 213 und Opfervertreter 214 kritisieren in seltenerÜbereinstimmung, dass die Kammer hierdurch in unzulässi<strong>ger</strong>Weise richterliche Funktionen auf den Treuhandfonds, dieKanzlei und das Expertengremium übertragen habe. 21501/06-3010 (Prosecutor v. Lubanga, Joint Response to the„Mémoire de la Défense de M. Thomas Lubanga relatif àl’appel à l’encontre de la ‚Decision establishing the principlesand procedures to be applied to reparations‘, rendue par laChambre de première instance le 7.8.2012“), Rn. 34 ff.; zustimmendhingegen IStGH (Trust Fund for Victims), Observationsv. 8.4.2013 – ICC-01/04-01/06-3009 (Prosecutor v.Lubanga, Observations of the Trust Fund for Victims on theappeals against Trial Chamber I‘s „Decision establishing theprinciples and procedures to be applied to reparations“), Rn.98 f.; IStGH (Prosecution), Response v. 21.9.2012 – ICC-01/04-01/06-2924 (Prosecutor v. Lubanga, Prosecution’sResponse to the Defence Appeal against the „Decision establishingthe principles and procedures to be applied to reparations“),Rn. 26 ff.212 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 286.213 IStGH (Defence), Requête v. 13.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2905 (Prosecutor v. Lubanga, Requête de la Défensesollicitant l’autorisation d’interjeter appel de la „Decisionestablishing the principles and procedures to be applied toreparation“ rendue le 7.8.2012), Rn. 13; IStGH (Defence),Document v. 10.9.2012 – ICC-01/04-01/06-2919 (Prosecutorv. Lubanga, Defence document in support of the appealagainst Trial Chamber I’s Decision establishing the principlesand procedures to be applied to reparation, rendered on7.8.2012), Rn. 8 ff.; IStGH (Defence), Mémoire v. 5.2.2013 –ICC-01/04-01/06-2972 (Prosecutor v. Lubanga, Mémoire dela Défense de M. Thomas Lubanga relatif à l’appel àl’encontre de la „Decision establishing the principles andprocedures to be applied to reparation“, rendue par la Chambrede première instance le 7.8.2012), Rn. 9 ff.214 IStGH (Office of Public Counsel for Victims & Legal Representativesof Victims), Response v. 17.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2907 (Prosecutor v. Lubanga, Joint response tothe „Defence application for leave to appeal against the Decisionestablishing the principles and procedures to be appliedto reparations rendered on 7.8.2012“), Rn. 25 ff.; IStGH(Office of Public Counsel for Victims & Legal Representativesof Victims), Appeal v. 24.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2909 (Prosecutor v. Lubanga, Appeal against Trial ChamberI’s Decision establishing the principles and procedures to beapplied to reparations of 7.8.2012), Rn. 25 ff.215 Siehe hierzu auch IStGH (Trust Fund for Victims), Observationsv. 8.4.2013 – ICC-01/04-01/06-3009 (Prosecutor v.Lubanga, Observations of the Trust Fund for Victims on theappeals against Trial Chamber I‘s „Decision establishing theprinciples and procedures to be applied to reparations“),Rn. 75 ff._____________________________________________________________________________________318<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Wiedergutmachung im Völkerstrafverfahren vor dem Internationalen Straf<strong>ger</strong>ichtshof nach Lubanga_____________________________________________________________________________________Dieser Einwand verkennt die weitreichenden Gestaltungsmöglichkeiten,die Art. 75 IStGH-Statut der Kammer einräumt.Aus meiner Sicht spricht viel dafür, die Lubanga-Kammerdahin gehend zu verstehen, dass sie zwar im Sinne des Art. 75Abs. 1 IStGH-Statut Grundsätze für die Wiedergutmachungaufstellt, gleichzeitig aber erklärt, dass sie keine konkretenWiedergutmachungsanordnungen erlassen wird. 216 Da dieWahrnehmung der in Art. 75 Abs. 2 IStGH-Statut vorgesehenenKompetenzen vollständig im Ermessen der Kammer steht(siehe schon oben II.), wäre ein solches Vorgehen zulässig.Eine Verletzung des Rechts der Opfer auf Wiedergutmachungwird man hierin nicht sehen können. 217 Vollumfängliche völkerrechtlicheAnerkennung dürfte dieses Recht nur insoweitgenießen, als es gegenüber Staaten ausgeübt wird. Selbst wennman dies auch hinsichtlich der Ansprüche gegenüber demindividuellen Täter bejahen wollen würde, wäre damit nochnicht gesagt, dass ein solches Recht zwingend im Verfahrenvor dem IStGH realisiert werden können muss. Dass die Kammersich bzw. dem Gerichtshof Überwachungs- und Genehmigungsbefugnissevorbehält, steht diesem Verständnis der216 Dies entspricht auch dem Selbstverständnis der Kammer,IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 29.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2911 (Prosecutor v. Lubanga, Decision on the defencerequest for leave to appeal the Decision establishing the principlesand procedures to be applied to reparations), Rn. 20;siehe auch IStGH (Prosecution), Submissions v. 1.10.2012 –ICC-01/04-01/06-2930 (Prosecutor v. Lubanga, Prosecution’sSubmissions further to the Appeals Chamber’s „Directionson the conduct of the appeal proceedings“), Rn. 18 ff. DieBerufungskammer hat diese Frage bei ihrer Entscheidungüber die Zulässigkeit der Beschwerde offen gelassen IStGH(Appeals Chamber), Entsch. v. 14.12.2012 – ICC-01/04-01/06-2953 (Prosecutor v. Lubanga, Decision on the admissibilityof the appeals against Trial Chamber I’s „Decisionestablishing the principles and procedures to be applied toreparations“ and directions on the further conduct of proceedings),Rn. 51 („the Impugned Decision should be deemed tobe an order for reparations“); kritisch hierzu IStGH (TrustFund for Victims), Observations v. 8.4.2013 – ICC-01/04-01/06-3009 (Prosecutor v. Lubanga, Observations of theTrust Fund for Victims on the appeals against Trial ChamberI‘s „Decision establishing the principles and procedures to beapplied to reparations“), Rn. 46.217 In diese Richtung aber IStGH (Office of Public Counselfor Victims & Legal Representatives of Victims), Appeal v.24.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2909 (Prosecutor v. Lubanga,Appeal against Trial Chamber I’s Decision establishing theprinciples and procedures to be applied to reparations of7.8.2012), Rn. 19; IStGH (Office of Public Counsel for Victims& Legal Representatives of Victims), Document v.5.2.2013 – ICC-01/04-01/06-2970 (Prosecutor v. Lubanga,Document déposé à l’appui de l’appel à l’encontre de la „Decisionestablishing the principles and procedures to be appliedto reparations“ délivrée par la Chambre de premièreinstance I le 7.8.2012), Rn. 24.Entscheidung nicht entgegen. 218 Vielmehr unterliegt der Treuhandfondsstets – schon um zu verhindern, dass seine Aktivitätendas Strafverfahren präjudizieren bzw. die Rechte desAngeklagten beeinträchtigten 219 – in gewissem Umfang einemMonitoring durch den Gerichtshof. Daher lassen sich die Ausführungender Lubanga-Kammer auch als Konkretisierungihrer allgemeinen, in Nr. 50 lit. a sublit. ii GeschO THF niedergelegtenKontrollbefugnisse verstehen.Entgegen der hier vertretenen Auffassung wird im Beschwerdeverfahrenteilweise vorgebracht, dass die Kammerden Treuhandfonds angewiesen habe, Wiedergutmachung aufkollektiver Ebene zu leisten und damit eine konkrete Anordnungim Sinne des Art. 75 Abs. 2 IStGH-Statut erlassen habe.220 Auch in diesem Fall muss das Vorgehen der Kammer218 Kritisch allerdings IStGH (Legal Representatives of Victims),Appeal v. 3.9.2012 – ICC-01/04-01/06-2914 (Prosecutorv. Lubanga, Appeal against Trial Chamber I’s Decisionestabli-shing the principles and procedures to be applied toreparation of 7.8.2012), Rn. 14.219 Siehe hierzu Bock (Fn. 12), S. 581; de Brouwer/Heikkilä(Fn. 7), S. 1361 f.220 IStGH (Office of Public Counsel for Victims & Legal Representativesof Victims), Appeal v. 24.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2909 (Prosecutor v. Lubanga, Appeal against TrialChamber I’s Decision establishing the principles and proceduresto be applied to reparations of 7.8.2012), Rn. 14; IStGH(Trust Fund for Victims), Observations v. 8.4.2013 – ICC-01/04-01/06-3009 (Prosecutor v. Lubanga, Observations ofthe Trust Fund for Victims on the appeals against TrialChamber I‘s „Decision establishing the principles and proceduresto be applied to reparations“), Rn. 39 ff.; siehe auchIStGH (Defence), Appeal v. 6.9.2012 – ICC-01/04-01/06-2917 (Prosecutor v. Lubanga, Appeal of the Defence for MrThomas Lubanga against Trial Chamber I’s Decision establishingthe principles and procedures to be applied to reparationrendered on 7.8.2012), Rn. 11; IStGH (Legal Representativesof Victims), Observations v. 28.9.2012 – ICC-01/04-01/06-2926 (Prosecutor v. Lubanga, Observations on theappeals against the Decision establishing the principles andprocedures to be applied to reparations), Rn. 10 f.; IStGH(Office of Public Counsel for Victims), Observations v.1.10.2012 – ICC-01/04-01/06-2928 (Prosecutor v. Lubanga,Observations on issues concerning the admissibility ofappeals lodged by the Defence, the OPCV and the V01 andV02 teams against Trial Chamber I’s Decision establishingthe principles and procedures to be applied to reparations,rendered on 7.8.2012), Rn. 10 f. Streng genommen billigt dieKammer aber lediglich das vom Treuhandfonds vorgeschlageneVerfahren ohne eine eigene Anordnung zu treffen undohne Vorgaben bezüglich der weiteren Behandlung der individuellenWiedergutmachungsanträge zu machen; siehe hierzuauch IStGH (Appeals Chamber), Entsch. v. 14.12.2012 –ICC-01/04-01/06-2953 (Prosecutor v. Lubanga, Decision onthe admissibility of the appeals against Trial Chamber I’s„Decision establishing the principles and procedures to beapplied to reparations“ and directions on the further conductof proceedings), Rn. 57 ff._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com319


Stefanie Bock_____________________________________________________________________________________nicht zwingend als unzulässige Delegierung richterlicher Kompetenzenangesehen werden. Die Entscheidung der Kammer,vor allem unter Berücksichtigung der begrenzten Ressourcenim vorliegenden Fall keine Wiedergutmachung auf individuellerBasis zuzusprechen, 221 bewegt sich innerhalb des ihr vonArt. 75 Abs. 2 IStGH-Statut, Regel 97 Abs. 1 RPE ein<strong>ger</strong>äumtenErmessensspielraums. Bei der Bestimmung des Schadensumfangsund der Entwicklung angemessener Wiedergutmachungsmaßnahmenkann sich die Kammer zudem in weitemUmfang durch Experten (Regel 97 Abs. 2 RPE) und denTreuhandfonds 222 unterstützen lassen. 223 Durch die Weiterleitungder Anträge an den Treuhandfonds stellt die Kammersicher, dass dieser die bisher von den Opfern geäußerten Wünscheund Vorstellungen einbeziehen kann. Sie werden ihmdaher nicht zur Bescheidung, sondern lediglich zur Berücksichtigungübermittelt. Da die abschließende Genehmigung derentwickelten Vorschläge zur Wiedergutmachung zudem derKammer obliegt, kommt es nicht zu einer Ausübung richterlicherBefugnisse durch den Treuhandfonds oder die Expertengruppe.224Ungeachtet dieser eher rechtstechnischen Frage ist die Zurückhaltungder Kammer jedenfalls unter dem Aspekt derVerteilungs<strong>ger</strong>echtigkeit zu begrüßen. Wie bereits dargelegt,sind <strong>ger</strong>ichtliche Wiedergutmachungsanordnungen äußerst selektivund damit nahezu zwangsläufig diskriminierend. Willdas Gericht dies dadurch ausgleichen, dass es den Verurteiltenzur Wiedergutmachung auf kollektiver Basis verpflichtet, sodroht ein Konflikt mit dem Grundsatz der individuellen Verantwortlichkeit.Diese Probleme lassen sich zumindest abmildern,wenn die Wiedergutmachung durch den Treuhandfondsgeleistet wird. Sollten von seinen primär auf die Opfer Lubangasaus<strong>ger</strong>ichteten Maßnahmen auch Menschen profitieren,die durch die Verbrechen anderer Personen geschädigt wurden,so erscheint dies rechtlich weni<strong>ger</strong> bedenklich. Zudem dürfteder Treuhandfonds eher in der Lage sein, die verfahrenskonnexeWiedergutmachung so mit anderen – eigenen und fremden– (humanitären) Projekten zu verbinden, dass ein konsistentes,harmonisches Gesamtkonzept entsteht. Ein solches221 IStGH (Trial Chamber I), Entsch. v. 7.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2904 (Prosecutor v. Lubanga, Decision establishingprinciples and procedures to be applied to reparations), Rn. 288.222 Siehe hierzu ausführlich IStGH (Trust Fund for Victims),Observations v. 8.4.2013 – ICC-01/04-01/06-3009 (Prosecutorv. Lubanga, Observations of the Trust Fund for Victims onthe appeals against Trial Chamber I‘s „Decision establishingthe principles and procedures to be applied to reparations“),Rn. 83 ff.223 IStGH (Prosecution), Response v. 21.9.2012 – ICC-01/04-01/06-2924 (Prosecutor v. Lubanga, Prosecution’s Responseto the Defence Appeal against the „Decision establishing theprinciples and procedures to be applied to reparations“), Rn. 21ff.224Ähnlich auch IStGH (Prosecution), Submissions v.1.10.2012 – ICC-01/04-01/06-2930 (Prosecutor v. Lubanga,Prosecution’s Submissions further to the Appeals Chamber’s„Directions on the conduct of the appeal proceedings“),Rn. 21, 23.ganzheitliches Vorgehen erscheint unabdingbar, will manverhindern, dass selektive Wiedergutmachungsmaßnahmengesellschaftliche Konflikte schüren oder hervorrufen. DieLubanga-Kammer hat erkannt, dass das Strafverfahren mitseinen sachlichen Grenzen und rechtlichen Zwängen nichtdas beste Forum ist, um über die Wiedergutmachung völkerrechtlicherVerbrechen zu entscheiden. Damit mag sie dieHoffnungen und Erwartungen der Opfer Lubangas enttäuschthaben. Ihre Entscheidung trägt aber dem Interesse aller Opferan einer möglichst <strong>ger</strong>echten Verteilung der begrenzten RessourcenRechnung.IX. Fazit: Viel Lärm um Nichts?Auch wenn die von der Kammer entwickelten Wiedergutmachungsgrundsätzenicht in allen Einzelheiten zu überzeugenvermögen, verdient doch die Quintessenz der Entscheidung –die weitgehende Delegation des Wiedergutmachungsmandatsan den Treuhandfonds – Zustimmung. Im Ergebnis wirkt eszwar etwas unbefriedigend, dass die von der Kammer aufknapp 100 Seiten entwickelten Grundsätze, die ganz überwiegendauf <strong>ger</strong>ichtliche Wiedergutmachungsanordnungen zugeschnittensind, nicht zur Anwendung kommen sollen. Diesist aber die logische Folge dessen, dass der IStGH daraufverzichtet hat, allgemeine, fallübergreifend geltende Wiedergutmachungsgrundsätzeaufzustellen. Die Lubanga-Kammermusste daher der Verpflichtung aus Art. 75 Abs. 1 IStGH-Statut nachkommen. Sie durfte allerdings nach Art. 75 Abs. 2IStGH-Statut in einem zweiten Schritt davon Abstand nehmen,die von ihr entwickelten Grundsätze im konkreten Fall anzuwenden.Das letzte Wort zur Wiedergutmachung im Fall Lubangaist freilich noch nicht gesprochen. Die Berufungskammer hatdie von der Verteidigung 225 und den Opfervertretern 226 nachArt. 82 Abs. 4 IStGH-Statut ein<strong>ger</strong>eichte Beschwerde zugelassen.227 Zentrale Fragen des Beschwerdeverfahrens werdendie Reichweite und Legitimität des proximate cause-Kriteriumssowie der im Wiedergutmachungsverfahren geltende Be-225 IStGH (Defence), Appeal v. 6.9.2012 – ICC-01/04-01/06-2917 (Prosecutor v. Lubanga, Appeal of the Defence for MrThomas Lubanga against Trial Chamber I’s Decision establishingthe principles and procedures to be applied to reparationrendered on 7.8.2012).226 IStGH (Office of Public Counsel for Victims & Legal Representativesof Victims), Appeal v. 24.8.2012 – ICC-01/04-01/06-2909 (Prosecutor v. Lubanga, Appeal against TrialChamber I’s Decision establishing the principles and proceduresto be applied to reparations of 7.8.2012); IStGH (LegalRepresentatives of Victims), Appeal v. 3.9.2012 – ICC-01/04-01/06-2914 (Prosecutor v. Lubanga, Appeal againstTrial Chamber I’s Decision establishing the principles andprocedures to be applied to reparation of 7.8.2012).227 IStGH (Appeals Chamber), Entsch. v. 14.12.2012 – ICC-01/04-01/06-2953 (Prosecutor v. Lubanga, Decision on theadmissibility of the appeals against Trial Chamber I’s „Decisionestablishing the principles and procedures to be applied toreparations“ and directions on the further conduct of proceedings)._____________________________________________________________________________________320<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Wiedergutmachung im Völkerstrafverfahren vor dem Internationalen Straf<strong>ger</strong>ichtshof nach Lubanga_____________________________________________________________________________________weisgrad, vor allem aber die weitgehende Delegation desWiedergutmachungsmandats an den Treuhandfonds sein. Abzuwartenbleibt, ob die Berufungskammer die Lubanga-Kammerin ihrem zurückhaltenden Kurs unterstützen und diesemdamit eine über den konkreten Fall hinausgehende Bedeutungzukommen lassen wird._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com321


Plea Bargaining in International Criminal TribunalsThe end of truth-seeking in International Courts?By Laura Burens, Den HaagTruth-commissions became a frequently used institution inpast-conflict societies. However, this article will argue thatalso criminal proceedings after mass atrocities can serve asan important institution to seek truth. In both, common lawand civil law systems, it is often stated that the main purposeof the proceedings is to render justice. However, the value ofa court as a truth-seeking instrument should not be underestimated,especially in international proceedings. This articlewill emphasize that the truth reached by a court has a uniquevalue in the process of transitional justice. Nevertheless, thisgoal of a criminal proceeding contravenes to some extent withother values within a trial. Limitations on the truth-seekingobjective therefore have to be made to meet the requirementsof privacy rights of defendants and witnesses and the efficiencyof the court. In this context, also the ICC will have todecide whether or not it will use plea bargaining. Earlierpractices of plea bargaining by the ICTY and the ICTR haveshown that to a certain extent truth-seeking is sacrificed forefficiency when courts use this procedural mechanism. Thefollowing article will demonstrate the importance of the truthseekingobjective in criminal proceedings from a domesticand international perspective. Furthermore, it will elaboratethe different perspectives that can be drawn on plea bargainingin the context of the truth-seeking function of a courtand it will finally determine whether or not the use of pleabargaining in international law will deprive the courts of oneof their main objectives – truth.I. IntroductionAccording to Kant “truth and error […] are only to be foundin a judgement”, precisely in the “relation of an object to ourunderstanding”. 1 Truth is therefore based on a subjective understandingof the facts by each individual. The consequenceof this approach is that different forms of truth can occur. Inthe context of transitional justice, where truth-seeking plays amajor role for the purpose of reconciliation and peace-building,we have to ask: Who decides in this context what thetruth is? A diverse picture of the truth after a violent conflictcould undermine efforts to overcome the past. An official comprehensionof the truth is needed which combines the differentsubjective views.Truth-commissions became a frequently used institutionafter conflicts which are being installed to establish the truthof the past. However, this article will argue that also criminalproceedings after mass atrocities can serve as an importantinstitution to seek truth. In both, common law and civil lawsystems, it is often stated that the truth-seeking function of a1 Kant, The Critique of Pure Reason, 1781, TranscendentalDoctrine of Elements, Second Division. Transcendental Dialectic,Introduction, I. Of Transcendental Illusory Appearance,to be found onhttp://ebooks.adelaide.edu.au/k/kant/immanuel/k16p/part1.2.2.i.html#part1.2.2.i.1 (12.7.2013).criminal procedure is only of minor value and that the mainpurpose of the proceedings is to render justice. 2 However thevalue of a court as a truth-seeking instrument should not beunderestimated, especially in international proceedings. 3 Althoughit is claimed that only truth-commissions in comparisonto criminal trials can establish an exhaustive picture of thetruth, because a trial can only establish the individual guilt ofa defendant and cannot do justice in every case when therehave been massive and systematic violations, this article willargue that the truth reached by a court has a unique value inthe process of transitional justice. Law as an element of reviewingthe past could be even defined as the most importantelement of truth-seeking mechanisms, because it allows us todefine a crime as a crime. 4 Balkin says that “law has powerover people’s imaginations and how they think about what ishappening in social life”. 5 To the same extent we must understandcriminal proceedings as a measurement of transitionaljustice that helps to create a historical record and to establishwhat has happened in the past. This objective of a trial becomesespecially important in the context of international law.However, this goal of a criminal proceeding contravenesto some extent with other values within a trial. Limitations onthe truth-seeking objective therefore have to be made to meetthe requirements of privacy rights of defendants and witnessesand the efficiency of the court. In this context, regarding theincreasing number of cases in front of the ICC, the court willhave to decide whether or not it will use plea bargaining tosave time, capacity and money during the proceedings. Earlierpractices of plea bargaining by the ICTY and the ICTR haveshown that to a certain extent truth-seeking is sacrificed forefficiency when courts use this procedural mechanism.The following article will demonstrate the importance ofthe truth-seeking objective in criminal proceedings from a domesticand international perspective. Furthermore, it will elaborateon the different perspectives that can be drawn fromplea bargaining in the context of the truth-seeking function ofa court and it will finally determine whether or not the use ofplea bargaining in international law will deprive the courts ofone of their main objectives – truth.II. Truth-seeking in a criminal trial“Finding the truth is a difficult task under any set of circumstances,but finding the truth in the context of crime and punishmentis almost impossible.” 6 Nevertheless, one of the ob-2 Naqvi, International Review of the Red Cross 88 (2006),245 f.3 Naqvi, International Review of the Red Cross 88 (2006),245 (246).4 Hankel, ApuZ 42/2006, 3 (7).5 Balkin, Harvard Journal of Law and Public Policy 2003, 5(8).6 Weigend, Harvard Journal of Law and Public Policy 2003,_____________________________________________________________________________________157.322<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Plea Bargaining in International Criminal Tribunals_____________________________________________________________________________________jectives of every criminal procedure is to establish the truth.This objective is necessary on two accounts: it reflects the society’sinterest to know what happened in order to reestablishpeace in the community and it also is fundamental to theconcept of punishment as an ultima ratio of society’s “expressionof moral blame”, which requires that the defendant is infact guilty. 7The importance of truth-seeking in a criminal procedurediffers depending on the procedural system. In the adversarialsystem the opposing parties present their differing versions ofthe truth in front of the court and challenge each others pictureof the truth. In theory, the adversarial system emphasizedthe truth-seeking function of the court strongly by letting thewitnesses swear to say the truth and by offering the parties abroad possibility to prove their version of the truth throughcross-examination and presentation of evidence. 8 Howeverthe “adversarial nature of a court procedure makes it difficultfor new information or truth to be disclosed as there is anincentive to limit truth rather than disclose” it. 9 This procedurewill ultimately result in a mixed truth which has componentsof both parties’ propositions and is therefore “built onthe theory that two halves (of the truth) make one whole[…]”. 10 Consequently, the trial results merely in a “proceduraltruth”, one which is artificially established by the parties. Thissystem holds many risks for the actual truth-finding. Due tothe party-system at least one party has an interest in concealingthe truth and the defence might act to establish incorrectfacts. In addition the idea, that the evidence has to be presentedin the trial itself, that means to a specific time, the “proceduraltruth” will be based only on a relatively small amount of factsdue to the stricter law of evidence and some valuable informationwill be ignored if they have not been presented infront of the court. 11In contrast, the traditional inquisitorial system is based onan authoritative and neutral judge, who can investigate byhimself. Although this approach avoids the challenge of havingtwo parties that work against each other, this system bears thedifficulty that it is almost impossible to obtain the truth froma defendant who does not want to reveal what he knows. 12 Atraditional inquisitorial system will therefore also only revealan incomplete truth, based on witnesses who are willing tocooperate. In the 19 th century most inquisitorial systems thereforeadopted more and more mechanisms to overcome thedifficulties of establishing truth in a criminal proceeding.7 Weigend, Harvard Journal of Law and Public Policy 2003,157 f.8 Weigend, Harvard Journal of Law and Public Policy 2003,157 (159).9 Valji, Centre for the Study of Violence Reconciliation, 2009,p. 11, to be found on http://www.csvr.org.za/images/f_e_s.pdf(12.7.2013).10 Weigend, Harvard Journal of Law and Public Policy 2003,157 (159).11 Weigend, Harvard Journal of Law and Public Policy 2003,157 (160).12 Weigend, Harvard Journal of Law and Public Policy 2003,157 (160).Usually an additional institution such as a prosecutor wasadded to the proceedings who had the role of a neutral factfindingorgan. 13 At the same time the rights of the defendant,such as the principle of “nemo tenetur”, evolved and madethe traditional objective of a criminal proceeding, fact-finding,more difficult. However this mostly Continental approachoperates on the assumption that a “disinterested search for thetruth by a neutral judicial officer will lead to optimal results”. 14To conclude, none of the present criminal procedural systemsfavours an unconditional search for truth. The truthseekingobjective is always limited by contradicting rights ofthe individual, especially the defendant's right to privacy. 15Furthermore, there are restrictions due to the integrity of certainprofessional relationships, social interests in keeping statesecrets, the right of the witness not to incriminate himself,exclusionary rules concerning illegally obtained evidence and“the desire to keep the criminal process speedy, efficient andwithin the limits of reasonable expenditure”. 16The main difference in both fundamental procedural conceptsremains. From the perspective of an adversarial systema “substantive truth” cannot be found in a trial, the fairness ofa trial therefore becomes the main foundation of the judgement’slegitimacy. 17 The “substantive truth” is therefore replacedby the most convincing argumentation and the criminalprocedure becomes more or less a “game” between thetwo parties governed by the rules of “fair trial”. 18 Proceduraltruth is more or less a “by-product” of this system. A mainlyinquisitorial approach however relies on the presumption that“substantive truth” can be found in a criminal process. 19 Nevertheless,Weigend claims that “truth-finding is unlikely to bethe ultimate goal of (the) process” if you consider that alsothe inquisitorial system acknowledges practical and normativelimits to this objective. 20 In his view the main goal of acriminal proceeding is conflict-resolution. Truth-seeking is animportant mechanism to achieve this objective and is neces-13 Weigend, Harvard Journal of Law and Public Policy 2003,157 (160).14 Weigend, Harvard Journal of Law and Public Policy 2003,157 (162).15 See the judgment of the German Federal Court of Appeals,BGHSt 14, 358 (366): The court held that it is not a principleof criminal procedural law that truth should be sought at anyprize; Arzt, in: Arnold et. al. (Hrsg.), Menschen<strong>ger</strong>echtesStrafrecht, Festschrift für Albin Eser zum 70. Geburtstag,2005, p. 691 (p. 692); Stamp, Die Wahrheit im Strafverfahren,1998, p. 153.16 Weigend, Harvard Journal of Law and Public Policy 2003,157 (168).17 Weigend, Harvard Journal of Law and Public Policy 2003,157 (168); see also Arzt (fn. 15), p. 691 (p. 693).18 Arzt (fn. 15), p. 691 (p. 694).19 Weigend, Harvard Journal of Law and Public Policy 2003,157 (168).20 Weigend, Harvard Journal of Law and Public Policy 2003,157 (168)._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com323


Laura Burens_____________________________________________________________________________________sary for the legitimacy of punishment to overcome the presumptionof innocence and any reasonable doubt. 21The “whole truth”, according to Weigend, is not neededfor a domestic prosecution of a defendant. This “thoroughanalysis is necessarily reserved for the crime of the centuryvariety, and even then, a criminal trial is not the appropriatedevice to get into the depths and details of the actions andmotives of all individuals involved, actively or passively, in acrime”. 22If this is the case, should we then give up the truth-seekingpurpose of a criminal trial all together? Should we leaveit to truth-commissions and historians to find out what reallyhappened? Should we just render justice without truth?This cannot be the appropriate way of establishing justicebecause justice has to be based on truth. 23 This is the case in adomestic trial and in an international trial. The question istherefore: How much truth do we want to establish in a criminalproceeding? If we accept the fact that the “whole truth” isdifficult to be found in a trial, because of procedural and factualobstacles, are we then satisfied with a “procedural truth”or do we aim for a “substantial truth”? Apart from the generaldiscussion between the two fundamental concepts of criminalprocedure, the question remains: What does society demandfrom a criminal proceeding? It might be enough for a domesticcriminal trial, in which the crime is not based on a systematicand widespread violation of fundamental values, that a “proceduraltruth” is established. This kind of truth might justifypunishment. Most domestic systems show a trend towards amore and more adversarial system. However, it has to beanalysed in the next part whether a “procedural truth” is alsosufficient in the context of international trials which are establishedin the context of mass violations.III. Truth-seeking in International Criminal Law“The purpose of the trial is to render justice, and nothing else;even the noblest ulterior purposes – the making of a record ofthe Hitler regime […] can detract from the law’s main business:to weigh the charges brought against the accused, torender judgment and to mete out due punishment”. 24In Arendt’s view it is not the task of an international courtto establish the truth. The attempt to establish a historical recordshould rather be banned from the court room. But how isjustice without truth and the comprehension of the past possible?Does not a judgement presuppose that some form oftruth had to be found by the judges? Arendt is right in emphasizingthat a judgement should be independent from externalinfluences and the pressure from the society to overcome thepast. However, her absolute statement concerning the truthseekingfunction of a court does not seem coherent with thetasks international criminal courts have to face nowadays.21 Weigend, Harvard Journal of Law and Public Policy 2003,157 (169 f.).22 Weigend, Harvard Journal of Law and Public Policy 2003,157 (170).23 See also Tie<strong>ger</strong>/Milbert, JICL 3 (2005), 666 (670).24 Arendt, Eichmann in Jerusalem, A book on the banality ofevil, 1994, p. 253.Although truth-seeking is defined as being simply a “byproduct”of a criminal proceeding, its importance is lar<strong>ger</strong> inthe context of international criminal law. 25 Justice RobertJackson of the Nuremberg Trials acknowledged the importanceof such trials for the truth-seeking objective after massatrocities and emphasized that denial of such crimes would bedifficult after they had been proven in detail by the court. 26The significance of truth-seeking in these trials compared todomestic courts is based on the broader range of objectives ofinternational criminal law that go beyond the mere establishmentof guilt and innocence of individuals. 27 Internationalcriminal proceedings have a much broader spectrum of goals.Next to rendering justice for alleged wrongs it is also aboutnational reconciliation, restoration, reparation, peace-building,prevention and deterrence of future violence, re-establishingthe rule of law and also the creation of a historical record.The truth-seeking function of a proceeding goes hand in handwith the other objectives of a trial and constitutes to a certainextent their foundation. 28 If international criminal law goesbeyond the traditional objectives such as retribution, prevention,rehabilitation and deterrence and serves mainly the purposeof reconciliation and peace-building, then truth-seekingalso has to play a major role in the trial. 29 Reconciliation isbased on truth. Without the acknowledgement of what hashappened during a conflict and who was responsible, a lastingpeace cannot be established in a past-conflict society. Forgivenesscannot be given unless somebody is identified as a perpetratorand as a victim. Without truth there will not be anyjustice for the victims, but also not for the perpetrators. 30 Ahistorical record established by a court could help to educatesociety and prevent future atrocities. 31 Legal proceedings canhelp to give otherwise contestable facts the seal of truththrough the establishment of these facts by legitimately establishedevidence. 32 Courts “produce a vast amount of testimonies,eyewitness accounts, depositions, legal filings and other25 Naqvi, International Review of the Red Cross 88 (2006),245 (246); see also Tie<strong>ger</strong>/Milbert, JICL 3 (2005), 666 (670).26 Report to the President from Justice Jackson, Chief ofCounsel for the United States in the Prosecution of Axis WarCriminals of 7.6.1945, reprinted in American Journal of InternationalLaw Sup. 39 (1945), 178 (184).27 Rauxloh, Judicature 94 (2011), 178; Naqvi, InternationalReview of the Red Cross, 88 (2006), 245 (246); see also Damaska,Chicago-Kent Law Review 83 (2008), 329.28 Naqvi, International Review of the Red Cross 88 (2006),245 (247).29 Scharf, Journal of International Criminal Justice 2 (2004),1070 (1072).30 Hankel, ApuZ 42/2006, 3 (7).31 Scharf, Journal of International Criminal Justice 2 (2004),1070 (1073).32 Ignatieff, Index on Censorship 5 (1996), 110 (117); see alsoScharf, Journal of International Criminal Justice 2 (2004),1070 (1080)._____________________________________________________________________________________324<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Plea Bargaining in International Criminal Tribunals_____________________________________________________________________________________documents”. 33 These establish a broad picture of the truth,although they can probably not seek the “whole truth”. Ignatieffconcludes that after a judgement it is “difficult for societiesto take refuge in denial; the [war crimes] trials do assistthe process of uncovering the truth”. 34People in a post-conflict society have therefore differingdemands on a criminal trial compared to victims and societyin an ordinary domestic system. Their claims are stronglyfocused on the truth-seeking function. A criminal judgementthat establishes facts based on evidence according to the rulesof a “fair trial” has a high value in the conventional understandingof a society. If a society did not lose its faith in therule of law during the conflict, a judgement rendered from ahierarchically organized institution which is legitimized bythe citizen, has the value of an official truth. 35 Also judgementsof international tribunals, if their work is sufficiently promotedin the society and victims get the chance to participate in it,have significance. Especially due to the fact that most internationalcourts prosecute systematic crimes and thereforediscuss in depth in their judgements the institutional circumstancesof a crime and a conflict, they can have an importantimpact on the re-establishment of the rule of law. 36 If thepeople have the feeling that a judgement is just and the institutiondelivering it is legitimate, the truth which is establishedis of extraordinary value, because it is “legally“ established.IV. Complementarity to truth-seeking commissionsTruth-commissions and trials, two key transitional justice mechanisms,have some common objectives; securing accountability,truth and some form of justice; deterring future atrocitiesand combat impunity. 37 Truth commissions became a frequentlyused transitional justice instrument in the last decadesto fill the impunity gap which consequently occurs due to thefact that criminal courts after massive violations do not havethe capacity to prosecute every perpetrator. Courts in internationalcriminal law are usually focused on the prosecution ofthe most responsible perpetrators of a conflict. The truth foundin the report of a truth-commission is usually understood tobe better capable than a judgement to catch the social struc-tures and conditions of a conflict and the systematic characterof the crimes. 38 The main difference drawn between the twoinstitutions is often characterized by the differing focuses;mainly perpetrator-focused in a trial and mainly victimsfocusedin a truth-commission. 39 Victims might not be themost useful witnesses in a trial and therefore only a certainnumber of them can be heard. However, their subjectiveexperiences might be an important source for a peacebuilding-processin a society and the basis for recommendationsof a truth-commission. 40 International courts, so Simpson,are not comprehensive truth-telling institutions in theirown right. Working alone, they cannot achieve the broadergoals of dealing with the past in post-conflict society, whichrequires extensive and systematic documentation, memory andhonouring the victims, although their contribution to the widetruth-seeking endeavour is indispensable”. 41 Truth-tellingcommissions and courts therefore have to complement oneanother in order to reach the highest level of truth.The work of a tribunal, especially the prosecution’s officecan benefit from the truth found in a truth-commission. 42 Itcan be an important source of contextual information and evidence.However, also criminal proceedings can support truthseekinginstitutions by creating a better “overall environment”for such institutions and providing evidence for the hearings. 43The truth-finding efforts of courts will support later truthseekinginstitutions by providing documentation.Yet, both institutions face the same obstacles. How do youget a perpetrator to talk, who does not want to tell what heknows, in order not to incriminate himself? This problemleads to the fact that the truth found in a truth-commission ismostly based on victims’ testimony. The truth of the perpetratorrests unknown. To overcome this fact several truth-commissionhave offered amnesties from criminal prosecutions toperpetrators who disclose their version of the truth. 44 Thisfact shows how important it is for post-conflict societies toseek truth – even at the expense of justice. This bargaining oftruth for justice does not seem acceptable anymore in the internationalcommunity. Several international treaties, by establishinga duty to prosecute international crimes, and especial-33 Simpson/Hodžić/Bickford, Looking back – looking forward,Promoting dialogue through truth-seeking in Bosnia and Herzegovina,2012, p. 120.34 Ignatieff, Index on Censorship 5 (1996), 110 (117 f.).35 Kemp emphasizes that truth found in a domestic trial canalso have the ability to re-establish the faith in the rule oflaw; Interview with Susie Kemp, former investigator of theICC in Darfur, on 7.12.2012.36 Interview with Marieka Wierda, former associate legalofficer at the ICTY, on 5.12.2012.37 Valji (fn. 9), p. 1, for a broad evaluation on the relationshipbetween the TCL and SCSL in Sierra Leone, see Schabas,Human Rights Quartaly 25 (2003), 1035 (1064), where hestates that the TLC and the SCSL “have much in common interms of their overall objectives”. They both clarify the historicaltruth, both will address impunity, they provide a forumfor victims and undermine future efforts to distort or deformthe truth.38 Valji (fn. 9), p. 11; Simpson/Hodžić/Bickford (fn. 33),pp. 114 f.; However, Wierda argues that international courtscan also give an important insight into the systematic characterof a crime (fn. 36).39 Valji (fn. 9), p. 1.40 Interview with Marieka Wierda, former associate legalofficer at the ICTY, on 5.12.2012.41 Simpson/Hodžić/Bickford (fn. 33), p. 115.42 Simpson/Hodžić/Bickford (fn. 33), p. 119.43 Simpson/Hodžić/Bickford (fn. 33), p. 119.44 For example the South African Truth and ReconciliationCommission of 1995, to be found onhttp://www.justice.gov.za/trc/legal/index.htm (30.6.2013)and Uganda’s Amnesty Commission based on the AmnestyAct from 2000._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com325


Laura Burens_____________________________________________________________________________________ly the United Nations in their guidelines for peace-keepingrepresentatives support this view. 45In contrast the use of plea bargaining in international criminaltribunals became a frequently used instrument, althoughit faces similar concerns amnesty laws do. In how far pleabargaining leads to a bargaining of truth for justice has to beexamined in the next chapter.V. Plea bargaining in International trialsThe use of plea bargaining in international criminal law hasthe same foundation than in domestic law systems. With anever-growing crime rate and limited court resources, thecapacity of the international courts is exhausted at one pointor another. 46 A full criminal trial for every suspect seemstherefore impossible. However, due to the broader objectivesof international criminal law in the context of transitionaljustice and the gravity of the crimes that are being prosecutedby an international court, it has to be questioned if plea bargainingcan be used in these trials.It is important to primarily distinguish between two differentforms of plea bargaining: “sentence bargaining” and“charge bargaining”. The former refers to the case in whichthe defendant receives a sentence reduction for pleading guiltybased on an agreement between him and the prosecution. Oneof the major critiques on this practice is that the sentence lacksproportionality to the crime committed. 47 The latter includescases in which the prosecutor drops some charges in exchangefor a guilty plea of the defendant for one of the othercharges. This agreement can undermine the truth-seeking functionof a tribunal as will be later explained.Due to their international nature the courts are somewherein between an adversarial procedural system and an inquisitorialsystem and the use of plea bargains is therefore still contested.While plea bargaining is widespread in adversarialmostly common law systems, its use in more inquisitorialcivil law systems is still debated and not generally accepted. 48This is based on the different understanding of the purpose ofa criminal trial as shown earlier and goes hand in hand with adivers comprehension of truth in a proceeding.For example, in Germany the use of a “deal” in a criminalproceeding is still heavily debated, although codified in § 257cof the German code of criminal procedure (StPO) since 2009.On 19.3.2013 the German Federal Constitutional Court ruled45 Geneva Convention I 1949, Art. 49; Convention on thePrevention and Punishment of the Crime of Genocide 1951,Art. 1; Convention against Torture and Other Forms of Cruel,Inhuman or Degrading Treatment 1987, Art. 4 and 6; Officeof the United Nations High Commissioner for Human Rights,Rule-of-Law Tools for Post-Conflict States, Amnesties, 2009,to be found onhttp://www.ohchr.org/Documents/Publications/Amnesties_en.pdf (30.6.2013).46 Rauxloh, Judicature 94 (2011), 178; Stamp (fn. 15), p. 148.47 Rauxloh, Judicature 94 (2011), 178 (179).48 Clark, European Journal of International Law 20 (2009),415 (420); Scharf, Journal of International Criminal Justice 2(2004), 1070 f.on the constitutionality of the practice of plea-agreements infront of German courts. 49 The decision was based on threeappeals in which the defendants in criminal proceedingsclaimed to be put under pressure to agree in a plea bargaining.They claimed that their right to a fair trial, the principle ofnon-self-incrimination and the judge’s duty of disclosure wereviolated. 50 Although the Court ruled in favour of the constitutionalityof the provision, it warned that the courts have to becareful when applying the provision concerning a “deal” notto violate the truth-seeking function of the court and therights of the accused. The question remains also here: Howmuch truth does a court need to render a judgement and howmuch truth does a society demand from a trial?One could argue that with a trend in most domestic systemstowards an adversarial system, in which negotiated criminaljustice mechanisms are more common, also internationalcriminal law should be open to such mechanisms. 51 Incontrast “plea bargaining cannot be reconciled with the (traditional)inquisitorial version of truth-seeking”. 52 It is contraryto the main concept of this system that parties influence theoutcome of the trial by their actions, and that it is not an independentjudge who does so. 53While the procedural system of the ICC is more influencedby an inquisitorial system compared to the procedurein the ICTY, it remains unclear yet whether or not the use ofplea bargaining is consistent with its mandate. 54 Art. 65 of theICC Statute does not mention the possibility of a plea agreementexplicitly. Besides the procedural and de facto concernsagainst this mechanism it will have to be seen whether pleabargaining seems at all acceptable in international criminallaw due to the “gravity of the crimes being prosecuted”. 55 Alsoin domestic criminal systems plea bargaining is often not ap-49 BVerfG, Judgement of 19.3.2013 – 2 BvR 2628/10, to befound onhttp://www.bundesverfassungs<strong>ger</strong>icht.de/entscheidungen/rs20130319_2bvr262810.html (30.6.2013).50 Müller, Frankfurter Allgemeine Zeitung of 5.10.2012,p. 12; Bommarius, Frankfurter Rundschau of 6.11.2012, to befound onhttp://www.fr-online.de/meinung/leitartikel-die-wahrheit-alsverhandlungssache,1472602,20805526.html(30.6.2013);German Federal Constitutional Court, Press release of 4.10.2012, to be found onhttp://www.bundesverfassungs<strong>ger</strong>icht.de/pressemitteilungen/bvg12-071 (30.6.2013).51 Scharf, Journal of International Criminal Justice 2 (2004),1070 (1071).52 Weigend, Harvard Journal of Law and Public Policy 2003,157 (171).53 Weigend, Harvard Journal of Law and Public Policy 2003,157 (171).54 Henham/Drumbl, Criminal Law Forum 16 (2005), 49 (84).55 Clark, European Journal of International Law 20 (2009),415 (420); see also Rauxloh, Judicature 94 (2011), 178._____________________________________________________________________________________326<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Plea Bargaining in International Criminal Tribunals_____________________________________________________________________________________plied to the most severe crimes, because such an agreementseems morally unacceptable. 56VI. Earlier examples – plea bargaining used in the ICTYand ICTRIn proceedings in front of the ICTY plea agreements havefrequently been used under the assumption that “a guilty pleais always important for the purpose of establishing the truthin relation to a crime”. 57 To this date, 20 agreements have ledto judgements in front of the ICTY. 58 However, in the earlyyears of the ICTY its first President, Cassese, expressivelydisapproves the use of plea bargaining in the Court and hereminded that “we always have to keep in mind that thistribunal is not a municipal criminal court but one that ischarged with trying persons accused of the gravest possibleof all crimes. […]. After due reflection, we have decided thatno one should be immune from prosecution for crimes suchas these, no matter how useful their testimony may otherwisebe”. 59In 2001 the new Rule 62ter of the ICTY’s Rules of Procedureand Evidence was introduced which established the legalbasis for plea agreements in the Court. In the second case inwhich the defendant agreed on a plea bargain the Court suddenlydid not have any “doubt that plea agreements are permissibleunder the Statute and Rules of the Tribunal”. 60 Thischange in the attitude of the Court towards plea bargaining isdue to different facts. Firstly, Judge Cassese, a judge comingfrom a mostly inquisitorial civil law system was re-placed byJudge McDonald, who comes from the United States adversarialcommon law system and was generally more in favourof the use of plea bargaining. 61 Al-ready in the case of Erdemović,in which the first attempt of a plea agreement occurredit was striking that the judges of common law systemssaw a necessity for the introduction of the mechanism of pleabargaining in the Court. 62 Secondly, the need for the use of56 Henham/Drumbl, Criminal Law Forum 16 (2005), 49 (63);Damaska, Journal of International Criminal Justice 2 (2004),1018 (1032 f.); see also ICTY (Trial Chamber II), Judgementof 30.3.2004, – IT-02-61-S (Prosecutor v. Deronjić, DissentingOpinion of Judge Wolfgang Schomburg), para. 14 lit. a.57 ICTY, Sentencing Judgment of 31.7.2001 – IT-95-9/1-S(Prosecutor v. Stevan Todorovic), para. 81.58 UN ICTY, Guilty Pleas, to be found onhttp://www.icty.org/sid/26 (30.6.2013).59 Statement by the President (of 11.2.1994 – IT-29) made ata briefing to members of diplomatic missions, cited in Morris/Scharf, An Insider’s Guide to the International Criminal Tribunalfor Former Yugoslavia, Vol. 2, 1995, p. 649 (p. 652);see also Combs, Vanderbilt Law Review 59 (2006), 67 (84).60 ICTY, Judgement of 2.12.2003 – IT-02-60/1-S (Prosecutorv. Momir Nikolić), para. 57.61 Scharf, Journal of International Criminal Justice 2 (2004),1070 (1073 f.); Combs, Vanderbilt Law Review 59 (2006),67 (110 fn. 202).62 Judge McDonald from the United States and Judge Vohrahfrom Malaysia both demanded in their separate opinion forthe use of guilty pleas in the Court, see ICTY, Judgement ofguilty pleas seemed especially urgent after the adoption of theTribunals completion strategy by the United Nations and thegrowing number of cases that came before the Court. 63 TheTribunal was suddenly exposed to an immense pressure bythe UN to finish its work. 64Comparing the later plea bargains of the ICTY to its earlierones it is important to reflect that the sentences offered bythe prosecution became increasingly lenient. This was partlya result of the permanent pressure of the UN on the Court. 65This trend towards almost inappropriate sentences recommenddedby the prosecution came to an end in 2003, when theTrial Chamber in the Momir Nikolić case ignored the recommendationof the Prosecutor to sentence the defendant to 15to 20 years imprisonment. Instead Momir Nikolić received 27years in jail. 66Although formally accepting plea bargains in the lateryears, the court still remained to a certain extent scepticalwhether or not its use seems coherent with the mandate of theCourt. 67 It was argued that mere reasons of efficiency are notsufficient grounds for a plea agreement and that always otherreasons such as the protection of victims or the contributionof such an agreement to the truth-seeking function should bepresent. 68 The latter was frequently emphasized by the Courtin its judgements although it will have to be seen to whichextent plea bargaining can render a historical record. 69 EspeciallyJudge Schomburg, from the German inquisitorial civillaw system, argued strongly against plea bargains and criticizedthe inappropriate sentences recommended to the Court. 70According to him there is “no peace without justice; there isno justice without truth, meaning the entire truth and nothing7.10.1997 – IT-96-22-A (Prosecutor v. Drazen Erdemović,Joint Separate Opinion of Judge McDonald and Judge Vohrah),para. 29.63 See UN Security Council Resolution 1503 of 28.8.2003)and 1534 of. 24.3.2004; Scharf, Journal of International CriminalJustice 2 (2004), 1070 (1074); see also Combs, VanderbiltLaw Review 59 (2006), 67 (84 f.).64 Clark, European Journal of International Law 20 (2009),415 (419); Henham/Drumbl, Criminal Law Forum 16 (2005),49.65 Combs, Vanderbilt Law Review 59 (2006), 67 (92).66 Combs, Vanderbilt Law Review 59 (2006), 67 (87 and 96):see ICTY, Judgement of 2.12.2003 – IT-02-60/1-S (Prosecutorv. Momir Nikolić), para. 19, 181 and 183.67 See ICTY, Judgement of 2.12.2003 – IT-02-60/1-S (Prosecutorv. Momir Nikolić), para. 57 ff.68 ICTY (Trial Chamber II), Judgement of 30.3.2004, – IT-02-61-S (Prosecutor v. Deronjić), para. 236; ICTY, Judgementof 2.12.2003 – IT-02-60/1-S (Prosecutor v. Momir Nikolić),para. 67.69 See ICTY, Judgement of 5.3.1998 – IT-96-22-Tbis (Prosecutorv. Drazen Erdemović), para. 21; ICTY, Judgement of27.2.2003 – IT-00-39&40/1 (Prosecutor v. Biljana Plavšić),para. 73.70 ICTY (Trial Chamber II), Judgement of 30.3.2004 – IT-02-61-S (Prosecutor v. Deronjić, Dissenting Opinion of JudgeWolfgang Schomburg), para. 4 f._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com327


Laura Burens_____________________________________________________________________________________but the truth”. 71 However he also recognizes the chance thatplea bargaining can offer in some cases to establish at leastsome truth. 72Since 2004 the number of plea agreements has droppeddue to the departure of Chief Prosecutor Johnson from theUnited States and the increasing public critique concerningthese agreements in international trials. 73 After the departureof the Trial Chamber from the recommendations by the Prosecutorthe defendants also have no certainty anymore if theywill actually benefit from a guilty plea. 74At the same time the ICTR had different experiences withthe use of plea bargaining under Rule 62 of its Rules of Procedureand Evidence. In general, fewer defendants in front ofthe ICTR were willing to agree upon a guilty plea. The reasoncan be partly found in factors such as the cultural background,the understanding of punishment and guilt and the acknowledgementof the guilt in Rwanda. 75 Also factors such as theagreement upon the location of the imprisonment and thelocation of the trial were likely to play an important role whetheror not defendants would plead guilty. 76 The sentence reductionwas only of minor role. Further reasons such as privatemonetary interests of defence counsels in lon<strong>ger</strong> trialsand “health and life expectancy considerations” of the accusedmay also have led to a small number of guilty pleas. 77 Itseems therefore inherent that differing factors in internationalcriminal law, such as the context and circumstances of a conflict,are determining for the success of a plea bargaining. 78 Inaddition, the early case of Kambanda set a deterring exampleto defendants not to plead guilty. Kambanda, the former primeminister of Rwanda, was sentenced by the Court to life imprisonmentalthough he had previously pleaded guilty and cooperatedstrongly with the prosecutor. 79One main concern that the court was facing was that thewidespread belief prevailed in Rwandan society, that themassacres did not constitute genocide, but were part of theongoing war between the Rwandan government and the RPF. 80The defendants themselves therefore did not acknowledgetheir guilt and would not plead guilty to charges of genocide.A guilty plea for genocide would alter fundamentally thehistorical record of the conflict that had been established inRwandan society and would annihilate the legitimacy ofmany high-ranking officials in the government. 81 Only lowerlevel defendants that pleaded guilty also did so concerningthe indictment of genocide because they had no need to upholdthe historical record. 82 A guilty plea for genocide in front ofan international court would be of essential value for thetruth-seeking process in the country and would counter denial.However, especially indictments concerning sexual violenceduring the Rwandan genocide, have been dropped in returnfor a guilty plea of a defendant. 83 This led to the result thatsexual violence was completely eliminated from the final recordof some cases and therefore no historical truth concerningrape victims was established. 84 The experiences in front ofthe ICTR show that many defendants in international trialsare not willing to plea guilty because they feel justified fortheir “political crimes”. 85 The plea agreements in the ICTRtherefore did not contribute to an accurate historical record ofthe Court.VII. Pros and cons of plea bargaining for the truth-seekingfunctionPlea bargaining can contribute to the truth-seeking in a trialby revealing facts that otherwise could not have been establishedby the court. It offers the defendant a reason why heshould testify to a broader extent. This new information canhelp the prosecution to start investigations that they wouldotherwise not have been able to undertake due to the lack ofevidence or knowledge. 86 This benefit can be seen in the pleabargaining of Momir Nikolić 87 and Erdemović 88 before theICTY, which enabled the prosecution to gather new informationon the planning of the killings in Srebrenica. To a certainextent one could therefore argue that plea bargain helps toestablish a historical record. Especially in international criminallaw, where investigations are extremely difficult, a reduced71 ICTY (Trial Chamber II), Judgement of 30.3.2004 – IT-02-61-S (Prosecutor v. Deronjić, Dissenting Opinion of JudgeWolfgang Schomburg), para. 6.72 ICTY (Trial Chamber II), Judgement of 30.3.2004 – IT-02-61-S (Prosecutor v. Deronjić, Dissenting Opinion of JudgeWolfgang Schomburg), para. 11.73 Combs, Vanderbilt Law Review 59 (2006), 67 (98 f.).74 Combs, Vanderbilt Law Review 59 (2006), 67 (99).75 Combs, Vanderbilt Law Review 59 (2006), 67 (117 f.).76 Combs, Vanderbilt Law Review 59 (2006), 67 (115 f.).77 Combs, Vanderbilt Law Review 59 (2006), 67 (115 f.).78 Interview with Marieka Wierda, former associate legalofficer at the ICTY, on 5.12.2012.79 See ICTR press release onhttp://www.un.org/news/Press/docs/1998/19980911.afr98.html (30.6.2013);ICTR, Judgement of 4.9.1998 – ICTR-97-23-1 (Prosecutor v.Jean Kambanda), para. 61 f.; Combs, Vanderbilt Law Review59 (2006), 67 (104 f.).80 Combs, Vanderbilt Law Review 59 (2006), 67 (118).81 Combs, Vanderbilt Law Review 59 (2006), 67 (119).82 See for example ICTR, Judgement of 5.2.1999 – ICTR-98-39-S (Prosecutor v Serushago), para. 25.83 ICTR, Judgement of 5.2.1999 – ICTR-98-39-S (Prosecutorv Serushago), para. 4.84 Women’s initiative for gender justice, Election of the Prosecutorfor the International Criminal Court, to be found onhttp://www.coalitionfortheicc.org/documents/Prosecutor_Election_2011_WIGJ.pdf (30.6.2013).85 Interview with Marieka Wierda, former associate legalofficer at the ICTY, on 5.12.2012.86 Naqvi, International Review of the Red Cross 88 (2006),245 (271); Henham/Drumbl, Criminal Law Forum 16 (2005),49 (57); Tie<strong>ger</strong>/Milbert, JICL 3 (2005), 666 (670, 674); Damaska,Journal of International Criminal Justice 2 (2004),1018 (1032).87 ICTY, Judgement of 2.12.2003 – IT-02-60/1-S (Prosecutorv. Momir Nikolić), paras. 75 ff.88 ICTY, Judgement of 7.10.1997 – IT-96-22-A (Prosecutorv. Drazen Erdemović), para. 99._____________________________________________________________________________________328<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Plea Bargaining in International Criminal Tribunals_____________________________________________________________________________________sentence after a plea bargain might be preferable to a completeacquittal of the defendant due to a lack of evidence. 89Plea bargaining can therefore play an important role in “accessingthe only available evidence by inducing co-defendantsto testify against their former leader”. 90However, due to the very limited number of prosecutionsin front of an international court, especially the ICC, it is unlikelythat a lower ranked defendant will testify against ahigher ranked defendant, because the purpose of the court isonly to persecute the most responsible. There is usually nopyramid structure in an international process. 91Furthermore, one can argue that even in cases where ajudgement cannot be rendered, the proceedings “represent awealth of evidence that is on the records”. 92. It could thereforebe preferred, for the purpose of truth-finding, to have anacquittal instead of having only a “half-truth”. This can onlybe the case if we give the truth found in a procedural processthe same value that we give an official judgement that establishesthe facts. Each investigation by the court and the prosecutorbefore and during the trial in which evidence is securedis based on a high level of legitimacy resulting from legalnorms and legal safeguards established by the internationalcommunity or the treaty states. This legitimizing basis of theevidence found during the trial already has a high value itself.What is not established without a judgement is the guilt ofthe individual defendant. However, the separate facts of thepast are legally established by the court, when proven beyonda reasonable doubt. As a result, also without a final judgementthe truth found by a tribunal has therefore a high valuefor a post-conflict society.In addition, one has to acknowledge that plea bargainingcan enable a court to have a lar<strong>ger</strong> number of convictions inthe end, because each case would take less time and money. 93To some extent it might seem more satisfying to see morepeople in jail for a shorter time, than only a few for a lon<strong>ger</strong>sentence. 94 This could serve a broader truth relating to thenumber of cases and therefore establish a wider factual backgroundof the systematic crimes. Such a mechanism seemseven more necessary in an international criminal court than ina domestic proceeding, because most of the core crimes “comprisethe repetitive, cumulative conduct of many individualsand that (these so called) chapeau elements call for fact-fin-89 Henham/Drumbl, Criminal Law Forum 16 (2005), 49 (84);Rauxloh, Judicature 94 (2011), 178 (180).90 Rauxloh, Judicature 94 (2011), 178 (183).91 Interview with Marieka Wierda, former associate legalofficer at the ICTY, on 5.12.2012.92 Press Conference by the ICTY Prosecutor Carla Del Ponte(The Hague, 12.3.2006), cited in Naqvi, International Reviewof the Red Cross 88 (2006), 245 (247).93 Rauxloh, Judicature 94 (2011), 178 (180); Tie<strong>ger</strong>/Milbert,JICL 3 (2005), 666 (671).94 Interview with Marieka Wierda, former associate legalofficer at the ICTY, on 5.12.2012.ding that relates to aspects of the lar<strong>ger</strong> context in which thecrime was perpetrated”. 95One should however not ignore that plea bargaining isnevertheless capable to eliminate or change a historical record.96 “Charge bargaining”, in which more serious chargesare dropped in return for the defendant’s guilty plea only revealssome truth and represses truth to a big extent. 97 “Chargebargaining” has frequently been used in the ad hoc tribunalsto drop charges of genocide for a guilty plea concerning crimesagainst humanity. 98 This was the case in the plea bargainingof Plavšić at the ICTY, in which her charges for the crime ofgenocide were dropped in return for her guilty plea on oneoccasion of persecution as a crime against humanity. 99 Furthermore,in the case of Dragan Nikolić the Court held that“neither the public, nor the judges themselves come closer toknow the truth beyond what is accepted in the plea agreement.This might create an unfortunate gap in the public andhistorical record of the concrete case”. 100 As a result somevictims will be deprived of their right to truth and some caseswill not have the same symbolic judgement as they shouldhave, if the defendant is “only” charged with crimes againsthumanity instead of genocide. 101 This became clear in the caseof Deronjić which established the truth only concerning onespecific village on one day. 102 Other atrocities committed byDeronjić were never factually established by the Court.If truth is an essential foundation of justice a charge bargainingcan also prevent that justice for victims and societycan be reached in a criminal trial because the “inherent condemnationby the international community that makes anessential part of justice” is missing for certain charges thathave been dropped. 103 If the effected society does not acknowledgethe sentences of an international court, because it hasthe feeling that justice has not been done, the truth estab-95 Damaska, Journal of International Criminal Justice 2(2004), 1018 (1033).96 Combs, University of Pennsylvania Law review, 151 (2002),1 (145).97 Naqvi, International Review of the Red Cross 88 (2006),245 (271); Clark, European Journal of International Law 20(2009), 415 (416 and 426); see also ICTY, Judgement of2.12.2003 – IT-02-60/1-S (Prosecutor v. Momir Nikolić),para. 63.98 Rauxloh, Judicature 94 (2011), 178 (179).99 ICTY, Decision of 20.12.2002 – IT-00-39&40/1-S (Prosecutorv. Biljana Plavšić, Decision granting prosecution’s motionto dismiss counts 1, 2, 4, 5, 6, 7 and 8 of the amendedconsolidated indictment); Scharf, Journal of International CriminalJustice 2 (2004), 1070 (1071).100 ICTY, Judgement of 18.12.2003 – IT-94-2-S (Prosecutorv. Dragan Nikolić), para. 122; ICTY, Judgement of 2.12.2003– IT-02-60/1-S (Prosecutor v. Momir Nikolić), para. 65.101 Clark, European Journal of International Law 20 (2009),415 (428).102 ICTY (Trial Chamber II), Judgement of 30.3.2004 – IT-02-61-S (Prosecutor v. Deronjić), paras. 2 f.103 Rauxloh, Judicature 94 (2011), 178 (179); see also Henham/Drumbl, Criminal Law Forum 16 (2005), 49 (78 f.)._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com329


Laura Burens_____________________________________________________________________________________lished in a tribunal will also not be accepted by either side. Itis important for an international court that its judgements areacknowledged by society, because unlike a domestic court,an international court usually still has to prove its legitimacy.If a court therefore cannot establish a truth which is recognizedby society the court fails its objectives. Plea bargainingcould endan<strong>ger</strong> the legitimacy of a court because it actuallyavoids a full trial and thus could give the impression that thecourt does not want to reach its goal, to establish truth. 104Society might have the impression that efficiency and lowercosts of a trial are more important than its actual objectivesand therefore loses faith in the judgements. Truth without acknowledgementby the majority of a society will never be anaccepted truth. The fact that a plea agreement avoids a fullpublic trial derives the society of the chance to get a lar<strong>ger</strong>understanding of truth, because “a public trial, with thepresentation of testimonial and documentary evidence byboth parties, creates a more complete and detailed historicalrecord than a guilty plea, which may only establish the barefactual allegations in an indictment or may be supplementedby a statement of facts and acceptance of responsibility bythe accused”. 105Certainly one could argue that a plea bargain shows thatthe prosecutor had reasons to open a case and that the defendantaccepts the ruling of the court. 106 This argument musthowever face some critique because plea bargaining couldalso force an innocent to admit a crime due to the fear that hewould otherwise get even a higher sentence. It is thereforenot certain that each plea bargain does reflect the actual factsand therefore establishes the truth. Especially in domesticcases it is often argued that the defendant is put under pressureby the prosecutor and court to agree to a plea bargain toshorten the proceedings. 107 The defendant would therefore involuntarilybe deprived from a fair trial. It is not clear if suchcases are likely to appear in international courts, but with thegrowing number of cases in front of the tribunals and thepressure put on the trials to deliver results it is not unlikelythat this pressure is passed on to the defendants. A full trialcould furthermore establish a broader understanding of thecircumstances of a defendant’s behaviour and could thereforealso sufficiently establish his version of the truth.We have to consider as well how powerful a confessionof a defendant is with view of the truth-seeking function ofthe court. One could argue that the confession brings a formof reconciliation to society because of the acknowledgementof the own guilt by the defendant. If the defendant himselfaccepts the truth, society on both sides of a conflict has reasonto believe that the truth has been established. However, cases104 Rauxloh, Judicature 94 (2011), 178 (180 and 185); see alsoDamaska, Journal of International Criminal Justice 2 (2004),1018 (1030 f.).105 ICTY, Judgement of 2.12.2003 – IT-02-60/1-S (Prosecutorv. Momir Nikolić), para. 61.106 ICTY, Judgement of 27.2.2003 – IT-00-39&40/1 (Prosecutorv. Biljana Plavšić), para. 76.107 Stamp (fn. 15), p. 150; Rauxloh, Judicature 94 (2011), 178(181).like Plavšić show, that the acknowledgement of the truth bythe defendant is only a relative one. After pleading guilty infront of the ICTY and receiving a reduced sentence for onlyone charge, Plavšić recalled her guilty plea after she was releasedfrom prison. 108 The impact of the guilty plea on thetruth-seeking of a court can therefore only be seen in somecases as a limited contribution, because the credibility of thedefendant’s earnest remorse and acknowledgement is oftenquestionable. A recognition of the facts based on a pleaagreement between the defendant and the prosecution is “notwidely viewed as an act of truth-telling but rather […] an actof treachery and betrayal in return for generous benefits”. 109In addition, the argument that a plea agreement and the writtenstatements of a defendant can offer a unique perspective ofthe events from the view of the perpetrator and are of indispensablevalue for the historical record of a conflict cuts tooshort. 110 It leaves out the fact that the truth offered by a defendantis usually only an incomplete and biased truth. 111 Onehas to decide whether an incomplete truth of a defendant onlyconcerning some events and some victims is worthier thanthe truth established by a lar<strong>ger</strong> number of witnesses and victims,without the testimony of the defendant.A guilty plea of a defendant has also a different impact onthe truth that can be established through victims’ testimonies.It is argued that especially in international proceedings whichtake a long time, victims’ and witnesses’ testimonies becomeless reliable and therefore the defendant should be encouragedto testify himself. 112 Additionally, one could argue thata guilty plea saves the victim from getting re-traumatized inthe criminal proceeding because he would have to give testimonywhat has happened from his perspective. 113 However,the value of such a testimony as a healing factor and a platformfor truth-telling of victims should not be underestimated. 114 Itis especially important that a victim sees his own truth beingacknowledged in the judgement. If victims do not get a chanceto demonstrate their perspective an international criminal courtruns the risk of being too perpetrator focused. This would becontrary to the ICC’s mandate, which expressly states thatvictims, as part of the addressees of the courts restorative fun-108 Rauxloh, Judicature 94 (2011), 178 (180).109 Scharf, Journal of International Criminal Justice 2 (2004),1070 (1080).110 See Tie<strong>ger</strong>/Milbert, JICL 3 (2005), 666 (671).111 Clark, European Journal of International Law 20 (2009),415 (425); Damaska, Journal of International CriminalJustice 2 (2004), 1018 (1032).112 See Rauxloh, Judicature 94 (2011), 178 (183); Henham/Drumbl, Criminal Law Forum 16 (2005), 49.113 ICTY, Judgement of 31.7.2001 – IT-95-9/1-S (Prosecutorv. Stevan Todorovic), para. 80.114 Henham/Drumbl, Criminal Law Forum 16 (2005), 49 (59);Rauxloh, Judicature 94 (2011), 178 (181); see also ICTY,Judgement of 2.12.2003 – IT-02-60/1-S (Prosecutor v. MomirNikolić), para. 62._____________________________________________________________________________________330<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Plea Bargaining in International Criminal Tribunals_____________________________________________________________________________________ction, should play an important role in the tribunal. 115 In contrastsentences based on a plea bargain are often seen as betrayalstowards the affected society, because sentence reductionand the dropping of charges do not reflect the severity ofthe crimes and are likely to repress the truth.In the Deronjić case, the ICTY argued that guilty pleasavoid denials of former atrocities in the society. 116 However,denials cannot be avoided completely by a guilty plea of adefendant. Quite the contrary, guilty agreements can also fosterdenials because they are seen by society as a bargaining oftruth. Furthermore, the dropping of charges by the prosecutorcould be interpreted to imply that these crimes did not occur. 117The victims blame that not the “whole truth” has been revealed– the perpetrators see themselves as victims of victor’sjustice which forced them into a plea agreement. Truth cantherefore only be reached if it is acknowledged by perpetrators,victims and society. A truth that is not acknowledgeddoes not have an important value for the process of transitionaljustice. 118A few pages of documentation by the defendant attachedto a plea agreement cannot bring the same amount of truth afull judgement with several hundred pages of evidence andtestimonies can offer. 119 A broader understanding of the circumstancesof a conflict, a significant number of witnesses’testimonies, an exhaustive collection of evidence and documentationin a trial can offer a broader picture of the truth.VIII. The end of truth-seeking? – a conclusionDue to a growing number of cases in front of the internationaltribunals and the pressure put on them to render judgements,did plea bargaining become a necessary tool in internationalcriminal law? If so, is this the end of truth-seeking in an internationaltrial or is the truth found in it with the help of thistool enough to be called “truth”? What does an affected societydemand from a trial concerning the establishment of thetruth?Having displayed the benefits and disadvantages of pleabargaining concerning truth-seeking in a trial, they clearlyshow that plea bargaining is unlikely to establish a complete115 ICC, Report of 10.11.2009 – ICC-ASP/8/45 (Report of theCourt on the strategy in relation to victims), Introduction,para. 3 to be found onhttp://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/58901C8BE39F9B4749257673001BFFBB-ICC-ASP-8-45-ENG.pdf(30.6.2013).116 ICTY (Trial Chamber II), Judgement of 30.3.2004 – IT-02-61-S (Prosecutor v. Deronjić), para. 260; Clark, EuropeanJournal of International Law 20 (2009), 415 (425); Scharf,Journal of International Criminal Justice 2 (2004), 1070 (1079).117 Clark, European Journal of International Law 20 (2009),415 (428); Scharf, Journal of International Criminal Justice 2(2004), 1070 (1080); Henham/Drumbl, Criminal Law Forum16 (2005), 49 (83).118 Clark, European Journal of International Law 20 (2009),415 (426).119 Scharf, Journal of International Criminal Justice 2 (2004),1070 (1080).truth of a crime. But also criminal procedures themselvesusually do not establish the “whole truth”. Nevertheless, thedesire for truth after mass atrocities and violations of fundamentalrights is so strong that it justified in the past even a“non-prosecution of certain alleged offenders in ‘amnesty-fortruthʼor ‘use immunityʼ situations”. 120 In these cases justicehad been bargained for truth. The problem that plea bargainingfaces is however that it often gives the impression thattruth is bargained for mere reasons of efficiency of the proceedingand that the objectives, such as reconciliation, peacebuildingand establishment of an historian record, only play aminor role. Efficiency alone should never be a sufficientreason for a plea agreement.To answer the question whether or not plea bargainingshould be admissible in a court we have to decide what kindof truth we demand from an international criminal procedure.If we want to establish a “substantial truth” in comparison toa “procedural truth” the use of plea bargaining could endan<strong>ger</strong>this objective. Deals do not establish the truth. 121 Substantialtruth is not negotiable. If we have the demand to establish“procedural truth”, “a system openly promoting or even condoningsuch practices (plea bargaining), in the long run, losesall credibility with the public. This is so because truth andjustice are intimately intertwined. A system cannot claim toseek justice when at the same time abdicating its claim fortruth”. 122 If we have a lower demand on the truth-seekingfunction of a court, plea bargaining might seem acceptable.The objective of establishing a historical record would thereforebe left mainly to historians and truth-commissions.This “procedural” truth however does not seem enough inan international criminal court, which has, as mentioned atthe beginning, much broader objectives than domestic courts.The truth-seeking purpose of the court as a transitional justicemechanism plays an important role. If “truth is the cornerstoneof the rule of law, and it will point toward individuals,not peoples, as perpetrators of war crimes (a)nd it is only thetruth that can cleanse the ethnic and religious hatreds andbegin the healing process”, 123 then every institution has toestablish the maximum amount of truth possible. A court,which reflects legitimacy and independence, has an especiallyconvincing and lasting voice in a post-conflict society andhas therefore the chance to spread the truth.Although the ICTY held in the case of Deronjić that “thisTribunal is not the final arbiter of historical facts. That is forhistorians. For the judiciary focusing on core issues of a criminalcase before this International Tribunal, it is important thatjustice be done and be seen to be done, within the ambit of120 Naqvi, International Review of the Red Cross 88 (2006),245 (246).121 Stamp (fn. 15), p. 149.122 Weigend, Harvard Journal of Law and Public Policy 2003,157 (172).123 Albright, UN Ambassador to the UN, 1993, cited in Naqvi,International Review of the Red Cross 88 (2006), 245 (258fn. 64)._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com331


Laura Burens_____________________________________________________________________________________the Indictment presented by the prosecution” 124 , one shouldnot forget that justice can only be achieved through the discoveryof the truth. Justice will only be acknowledged by society,the victims and perpetrators, if the court makes theimpression to undertake an “honest effort to find the truth”. 125It might be the case that the increasing number of casesbefore the ICC will also lead this Court to the use of plea bargaining.As shown on the example of civil law systems, whichadopt more and more mechanisms from adversarial systemsto overcome the case-load they have to face, an equilibriumbetween the truth-seeking function of the court, the de factoobstacles of the court and contravening rights of the defendantshas to be found. Nevertheless, the special importance oftruth-seeking in international tribunals should be taken intoaccount. Transplanting plea bargaining mechanisms from domesticsystems into the international context can be dan<strong>ger</strong>ousdue to the differing objectives. 126 In order not to bargain truthfor efficiency some major guidelines should be followed.Firstly, “charge bargaining” should be inadmissible beforethe court all together. Although “sentence bargaining” will alsorise concerns facing the proportionality of a sentence, the realproblem for truth-seeking lies within the “charge bargaining”.127 If the prosecutor drops charges, many crimes willnever be enlightened and several victims will never experiencereconciliation. This idea is for example reflected in the Germanprovision of § 257c para. 2 s. 2 StPO which expresslyprohibits “charge bargaining”. Also the Columbian Justiceand Peace Law from 2005 only includes a form of “sentencebargaining” which offers reduced prison sentences to paramilitariesfor their disclosure of the truth. 128 Despite the factthat it is claimed that “sentence bargaining” often does notoffer the defendant a valuable enough impulsion to pleadguilty 129 , that should not be reason enough to allow “chargebargaining” to undermine the process of truth-finding in atrial.Secondly, victims should play an important role in casesin which the defendant has already pleaded guilty. Otherwisethey would be derived from a necessary opportunity to facethe past and to be heard. They should have the chance to testifyin the sentencing hearing and play a role in “determiningwhether or not a plea should be accepted and on whichterm”. 130 The sentencing hearing would therefore become apublic forum. Art. 65 para. 4 lit. a of the Rome Statute togetherwith Rule 139 para. 1 Rules on Procedure and Evi-124 ICTY (Trial Chamber II), Judgement of 30.3.2004 – IT-02-61-S (Prosecutor v. Deronjić), para. 135.125 Weigend, Harvard Journal of Law and Public Policy 2003,157 (172 f.).126 Henham/Drumbl, Criminal Law Forum 16 (2005), 49 (66).127 Combs, University of Pennsylvania Law review 151 (2002),1 (146).128 Situation in Columbia, to be found on:http://ictj.org/our-work/regions-and-countries/colombia(30.6.2013).129 Combs, Vanderbilt Law Review 59 (2006), 67 (72 f.).130 Henham/Drumbl, Criminal Law Forum 16 (2005), 49 (59and 82).dence could serve as an important source for the collection ofevidence and the involvement of victims in the proceedingsalso after the defendant has pleaded guilty. However, it wouldhave to be seen in how far the needs for efficiency in the trial,still one of the unofficial main reasons for plea bargaining,and the needs of the victims can be balanced. 131Thirdly, the ICC should focus on its role as a complementinginstitution and should limit its indictments, becauseit is not its function to prosecute every perpetrator. 132 Bystrengthening the domestic prosecution of crimes in the affectedstates or in other states based on the universality principle,the Court would avoid an immense case-load before it.A domestic prosecution of crimes would even contribute to abroader extent to the truth-seeking objective of transitionaljustice, because the post-conflict society itself would rehabilitateits past.Fourthly, a detailed document should be added to the pleaagreement which names all the indictments and the factshaving been established by the court. We could compare thesituation of plea bargaining to the earlier mentioned amnestylaws, in which the defendant often had to provide a full disclosureof the facts in order to profit from an amnesty. 133 Theconcern that could arise in front of a court is that the judgesare not bound on the agreement between the defence and theprosecution. In the case in which the defendant discloses thefull truth, he would therefore run risk of not getting the benefitof the plea agreement. However, in these cases it wouldhave to be guaranteed that it is inadmissible for the court touse the guilty plea in its judgement. 134 The duty to disclosethe “whole truth” in order to profit from a plea agreementcould offer an important measurement for the truth-seekingobjective.Fifthly, the guilty plea of the defendant should be supportedby evidence of the prosecution and any additional materialcollected during the (pre-)trial. The fact that the ICC Statutespeaks in its Art. 65 about “admission of guilt” rather than“guilty plea” could implement that the proceeding applied insuch a case is more oriented on an in-court confession used incivil law systems, instead of the Anglo-American guilty plea. 135This practice could establish a broader record of facts forlater trials but also for a historical record of the country.131 Damaska, Journal of International Criminal Justice 2(2004), 1018 (1032).132 Scharf, Journal of International Criminal Justice 2 (2004),1070 (1080); Rauxloh, Judicature 94 (2011), 178 (185).133 Scharf, Journal of International Criminal Justice 2 (2004),1070 (1081); see South African Truth and ReconciliationCommission: Art. 20 para. 1 lit. c Promotion of National Unityand Reconciliation Act 1995, to be found onhttp://www.justice.gov.za/legislation/acts/1995-034.pdf(30.6.2013).134 See Art. 65 para. 4 lit. b Rome Statute, which providessuch a case.135 Damaska, Journal of International Criminal Justice 2(2004), 1018 (1038); Rauxloh, Judicature 94 (2011), 178(184)._____________________________________________________________________________________332<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Plea Bargaining in International Criminal Tribunals_____________________________________________________________________________________Finally, the pressure imposed on the courts, mainly becauseof monetary reasons, should be decreased. The member statesof the UN and the Rome Statute were aware that they wouldpay a high price for the establishment of the courts. But theywere also willing to do so, because they decided that peaceand justice would be sufficient reasons. And this is the case.Scharf argues that “the price of international justice is a fractionof the costs of operating a single UN peacekeeping mission”.136 As a result, if the international community managesto establish peace with the help of tribunals, this will be thebetter and economic solution in the long run. It is likely thatthe ICC will not face similar pressure of the international communitydue to its complementarity purpose and its unlimitedmandate. Less pressure on the court to render judgementswould avoid it getting into the conflict whether or not to useplea bargaining.The use of plea bargaining bears the risk of a truth bargaining.However, in cases in which the “whole truth” cannotbe established this instrument, if used in the right manner,could at least help to establish a partly truth. The correct useof plea bargaining might also depend to a big<strong>ger</strong> extent on thecultural background of the defendants and the acceptance ofsuch an instrument by the affected society. 137 It seems likelythat also the ICC will use plea bargaining in the near future.That makes it necessary for the Court to establish guidelinesfor its use. The ICC Statute and the Rules of Procedure andEvidence do not imply which impact an admission of guilthas on the sentence or the procedure in front of the Court. 138Therefore it is the task of the Court to define it. The mainquestion concerning plea bargains remains and must be addressedby the court: How much truth can and must a criminalcourt establish? In international criminal law “substantivetruth” should be the scale. The legitimacy of an internationalcriminal court should therefore not only be based on the procedurebut also on the truth of the judgement; “Otherwise wewould have to blame ourselves that we built the temple, paidthe priests, but lost our faith in truth.” 139136 Scharf, Journal of International Criminal Justice 2 (2004),1070 (1078).137 For more information on the different experiences in theICTY and ICTR see Combs, Vanderbilt Law Review 59(2006), Part V pp. 24 ff.138 Henham/Drumbl, Criminal Law Forum 16 (2005), 49 (74);see Art. 65 ICC Statute.139 Arzt (fn. 15), p. 691 (p. 704)._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com333


El Salvadors staatlich vermittelter Bandenfriede: Ausweg oder Irrweg?*Von Prof. Dr. Sven Peterke, M.A, João Pessoa (Brasilien)In El Salvador findet derzeit ein Experiment statt, das zunehmendauch über die zentralamerikanische Region hinaus Aufsehenerregt. Im März 2012 haben die inhaftierten Führungspersönlichkeitender berüchtigtsten Mara-Banden ein „Waffenstillhalteabkommen“abgeschlossen, das von Unterhändlernder Regierung eingefädelt wurde. Seither hat sich die Zahlder vorsätzlichen Tötungsdelikte mehr als halbiert. In einemweiteren Schritt sind im Januar 2013 „Friedenszonen“ vereinbartworden. Dabei handelt es sich um Stadtteile, die vonden Maras beansprucht werden und in denen sie nun auf dasTragen von Waffen und die Begehung illegaler Aktivitäten(wie z.B. Erpressung und Drogenhandel) verzichten.Einige Beobachter sehen den eingeschlagenen Weg mitwarnender Skepsis. Sie befürchten, dass die für ihre brutalenMethoden bekannten Gruppen gestärkt aus dem Verhandlungsprozesshervorgehen könnten. Sollten sich die bislang erzieltenErgebnisse jedoch als nachhaltig erweisen, käme El Salvadoreine Modellfunktion für weitere zentralamerikanischeStaaten zu, in denen die Maras als Bedrohung für die öffentlicheSicherheit und Ordnung gelten. Der vorliegende Beitraggibt einen Überblick über die jüngsten Geschehnisse undanalysiert die Chancen und Risiken dieses Experiments vordem Hintergrund der verfügbaren Informationen. 1I. HintergrundTrotz hohen politischen Risikos hat sich El Salvadors Regierungdazu entschlossen, einen Dialog zwischen den in Hochsicherheitsgefängnisseneinsitzenden Führungspersönlichkeitender bedeutendsten Maras zu vermitteln. Dabei geht es um denVerzicht auf Gewalt und Kriminalität auf der Grundlage konkreterAbmachungen unter den verfeindeten Gruppen. DieserFakt allein provoziert eine Reihe von Fragen: Darf der Staatverurteilte Straftäter zu Übereinkünften bewegen, in denendas Unterlassen krimineller Handlungen in Aussicht gestelltwird? Bedeutet dies nicht die Kapitulation vor der Macht undsozialen Kontrolle von Tätergemeinschaften, die zunehmendin Schwerstkriminalität involviert sind? Oder zeugt nicht vielmehrdie Hinwendung zu einem konstruktiven Dialog von einemLernprozess auf Seiten des Staates, da sich das bisherige,hauptsächlich repressive Vorgehen gegen die Banden als ineffektiverwiesen hat? Feststeht: Wer halbwegs schlüssigeAntworten auf diese und ähnliche Frage finden will, der musssich zunächst mit der Geschichte der Maras und ihrer Gewaltund Kriminalität befassen.* Es handelt sich um die schriftliche Fassung eines Vortrages,den der Verf. auf Einladung von Prof. Dr. Pierre Hauckam 29.4.2013 an der Universität Trier gehalten hat.1 Die Recherchen zu vorliegendem Beitrag wurden am 15.5.2013 abgeschlossen.1. Ursprünge in den USADie historischen Wurzeln der bekanntesten Maras lassen sichunstreitig in Los Angeles, Kalifornien, verorten. 2 Zu den zahlreichenStraßenbanden, die in dieser Metropole entstanden,gehört die 18th Street Gang, auf Spanisch als Mara Barrio 18oder Mara Dieciocho (kurz: M-18) bekannt. Hierbei handeltes sich wohl um eine Abkürzung für marabunta: eine Ameisenart,die in der Lage sein soll, Menschen zu töten. 3 Gegründetin den 1960er Jahren von mexikanischen Immigranten, nahmdie M-18 bald auch Jugendliche und junge Männer andererlateinamerikanischer Nationalitäten auf. Hierzu gehörten inden 80er Jahren zunehmend auch Salvadorianer, die mit ihrenFamilien dem dortigen Bür<strong>ger</strong>krieg entflohen waren. Aufgrundverwei<strong>ger</strong>ten Flüchtlingsstatus befanden sich viele von ihnenillegal in den Vereinigten Staaten. 4 Dies vertiefte ihre Marginalisierungund beraubte sie weitgehend der Aussicht aufArbeit und Wohlstand. Bald formten diese jungen Männerauch eigene Zusammenschlüsse. Die Mara Salvatrucha (kurz:MS-13) gilt als Hauptbeispiel hierfür. 5 „Salva“ steht als Kürzelfür El Salvador und „trucha“ heißt so viel wie „gewieft“oder „schnelldenkerisch“; die Zahl 13 wiederum verweist aufdie Position des Buchstaben M im Alphabet. 6Aus bislang nicht näher geklärten Gründen entstand Anfangder 90er Jahre eine tiefe Feindschaft zwischen den beidenGruppen. Bandenkriege waren die Folge. Die meiste Zeit aberverbrachten ihre Mitglieder mit kollektivem Herumhängenauf der Straße, gemeinsamen Partys und dem Konsum vonDrogen. Der Finanzierung dieser Bedürfnisse dienten vor allemDiebstähle und Überfalle sowie Kleindealerei. Zusammenhaltund Identität stifteten Aufnahmerituale, baggy clothing,eine bandentypische Haartracht sowie Tätowierungen, die zumeistreligiöse oder diabolische Symbole abbildeten. 7Ihre Delinquenz erweckte bald die Aufmerksamkeit dernordamerikanischen Sicherheitsbehörden. Dies gilt verstärktab dem Jahr 1992, als Los Angeles von jenen schweren Unruhenerschüttert wurde, die infolge der Ermordung von RodneyKing durch rassistische Polizisten ausgebrochen waren. 8Den Mareros wurde vorgeworfen, in nicht unbeträchtlichem2 Bruneau/Boraz, Military Review 2006, 36; Wolf, LatinAmerican Research Review 2010, 256.3 Vgl. Arana, Foreign Affairs 2005, 98 (99).4 Vgl. Johnson, National Policies and the Rise of TransnationalGangs, 2006, S. 1. Im Internet abrufbar unterhttp://www.migrationinformation.org/usfocus/display.cfm?ID=394 (23.6.2013).5 Geschätzt wird, dass sich zu Beginn der 1980er Jahre ca.300.000 Salvadorianer in Los Angeles niedergelassen haben,Johnson (Fn. 4), S. 1.6 Rod<strong>ger</strong>s/Muggah, Contemporary Security Policy 2009, 301(306).7 Wolf, in: Maihold/Brombacher (Hrsg.), Gewalt, OrganisierteKriminalität und Staat in Lateinamerika, 2013, S. 145 (150).8 Zilberg, in: Venkatesh/Kassimir (Hrsg.), Youth, Globalization,And the Law, 2007, S. 65._____________________________________________________________________________________334<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


El Salvadors staatlich vermittelter Bandenfriede: Ausweg oder Irrweg?_____________________________________________________________________________________Maße an der Gewalt und den Plünderungen teilgenommen zuhaben. Fakt ist jedenfalls, dass der Bundesstaat Kalifornienmit einer Verschärfung des Bandenstrafrechts reagierte unddieses rigoros durch die Justiz zur Anwendung gebracht wurde.Für zahlreiche Mara-Mitglieder bedeutete dies die Verurteilungzu Freiheitsstrafen. 9 Ihre Verbüßung hatte jedoch kaumAuswirkungen auf die Bandenstrukturen. Sie blieben in denHaftanstalten weitgehend intakt und wurden womöglich sogarverstärkt.Auf die zunehmende Überfüllung der Gefängnisse reagiertedie US-Regierung u.a. mit der Verschärfung des Einwanderungsrechts.Im Jahre 1996 verabschiedete der US-Kongressauf Betreiben der Clinton-Administration den Illegal ImmigrationReform and Immigrant Responsibility Act. Er gestattetefortan die Repatriierung von Ausländern, die zu mindestenseinem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt worden waren. 10 DieVerhängung eines solchen Strafmaßes rechtfertigte zudem dieRückgängigmachung der Einbür<strong>ger</strong>ung und die Abschiebungdes Betroffenen nach Verbüßung der Strafe. Die United StatesAgency for International Development (USAID) berichtet,dass zwischen den Jahren 1998 und 2005 rund 46.000 Strafgefangenein ihre Heimatländer transportiert wurden, davonetwa 90 % in die zentralamerikanischen Nachbarstaaten ElSalvador, Guatemala und Honduras. 11 Das Department forHomeland Security beziffert die Zahl der zwischen 2001 und2010 nach El Salvador überführten Straftäter mit 40.429. 12Obgleich keine gesicherten Daten verfügbar sind, wird weithinangenommen, dass es sich hierbei in vielen Fällen umMareros handelte. Dies alles geschah weitgehend unkoordiniertund ohne Absprache zwischen den betroffenen Regierungen.2. Gescheiterte Integration und Repression in der HeimatDiejenigen Mareros, die nach El Salvador gebracht wurden,fanden ein Land vor, das noch stark von den Folgen jeneszwölfjährigen Bür<strong>ger</strong>krieges gekennzeichnet war, der erst 1992durch das Friedensabkommen von Chapultepec (Mexiko) zueinem formalen Ende gekommen war. 13 Seine lange Dauerwird <strong>ger</strong>ade auch der Militär- und Wirtschaftshilfe der USAzugeschrieben. 14 Sie stützten einen unter demokratischer Fassadegewählten konservativen Präsidenten, welcher die Interessender herrschenden Oligarchien sicherte. Über Jahrzehntehinweg hatten diese Eliten mit Unterstützung des MilitärsReformen zugunsten einer <strong>ger</strong>echteren Umverteilung des na-9 Zilberg (Fn. 8), S. 65.10 Urias, Howard Scroll: The Social Justice Law Review2005-2006, 1 (3).11 USAID, Central America and Mexico Gang Assessment,2006, S. 18-19.12 US Department of Homeland Security, 2010 Yearbook ofImmigration Statistics, 2011, S. 97 und 100.13 Popkin, Peace Without Justice, Obstacles to Building theRule of Law in El Salvador, 2000, S. 4.14 Krämer, Lateinamerika Nachrichten 331 (Januar 2002).Sämtliche nachfolgend zitierte Ausgaben sind im Internetabrufbar (ohne Seitenzahlangabe) unter:http://www.lateinamerikanachrichten.de/ (23.6.2013).tionalen Reichtums zu verhindern und oppositionelle Kräftezu unterdrücken gewusst. Als im Jahr 1981 Todesschwadronenden politisch engagierten Erzbischof Arnulfo Oscar Romeroermordeten, spitzte sich die Lage dramatisch zu. 15 Die größtenGuerilla-Verbände schlossen sich zur Frente Farabundo Martípara la Liberación Nacional (FMLN) zusammen und erhobenihre Waffen. Es brach ein „schmutzi<strong>ger</strong> Krieg“ mit rund70.000 Toten aus, in deren Verlauf oft grausam gefoltert undillegal hin<strong>ger</strong>ichtet wurde. Hierbei taten sich insbesonderejene Einheiten hervor, die dem Militär Roberto D´Aubuissonunterstanden. Er war u.a. an der School of the Americas trainiertworden und gründete im Jahr des Kriegsausbruchs dienationalistische ARENA-Partei. 16 Sie sollte lange Zeit El Salvadorsdemokratisch gewählte Präsidenten stellen und die Geschickedes Landes lenken.Das von den Vereinten Nationen vermittelte Friedensabkommenführte in erster Linie zu einer Demobilisierung aufbeiden Seiten der Konfliktparteien. Die für zahlreiche schwereMenschenrechtsverletzungen verantwortlichen Elite-Bataillonedes Militärs wurden ebenso aufgelöst wie die berüchtigtstenPolizeieinheiten. Die Herstellung von Ordnung und Sicherheitwurde nunmehr der Polícia Nacional Civil (PNC) anvertraut. 17Endlich wurde auch das Militär ziviler Kontrolle unterstelltund sein Einsatz im Rahmen interner Konflikte bis auf Notstandssituationenuntersagt. Im Gegenzug legte die FMLNdie Waffen nieder, um als politische Partei weiterzuwirken.Die bis heute geltende Generalamnestie aus dem Jahre 1993begünstigte vor allem die Angehörigen des staatlichen Repressionsapparates.18Im Kern unangetastet blieben die dem Bür<strong>ger</strong>krieg zugrundeliegenden sozioökonomischen Ursachen und Machtstrukturen.19 Die hieraus resultierenden Konflikte manifestiertensich nunmehr schwerpunktmäßig in den Städten, woGewalt und Kriminalität dramatisch zunahmen. Viele der vonden USA repatriierten Mareros fanden weder intakte Familienstrukturennoch soziale Verhältnisse vor, die ihnen Integrationund Wohlstand ermöglicht hätten. Armut und Arbeitslosigkeitwaren die Regel. Es kam zu einer Reproduktion der identitätsstiftendenBandenerfahrung aus den USA unter Anpassung andie lokalen Verhältnisse. In zahlreichen Städten entstandenlokale Clikas, in denen die Zugehörigkeit zu den Maras primärsymbolisch zum Ausdruck gebracht wurde. Die Identität dieserGruppen ist mithin im Gegensatz zu anderen Straßenbandenweni<strong>ger</strong> territorial definiert, als vielmehr mobil. 20 Zehntausendevon Jugendlichen und jungen Männern schlossen sichden Maras an. Inwieweit dies einer Verdrängung und Absorp-15 Luther, in: Stüwe/Rinke (Hrsg.), Die politischen Systemein Nord- und Lateinamerika, 2010, S. 229.16 Villalona/Rupp, Lateinamerika Nachrichten 392 (Februar2007).17 Soto/Castillo, Global Governance 1995, 189 (193).18 Zinecker, El Salvador nach dem Bür<strong>ger</strong>krieg, Ambivalenzeneines schwierigen Friedens, 2005, S. 70-74.19 Sorto, Guerra Civil Contemporânea, A Onu e o Caso Salvadoriano,2001, S. 336.20 Winton, Boletín del Instituto de Geografia 2012, 136 (143)._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com335


Sven Peterke_____________________________________________________________________________________tion traditioneller Straßenbanden 21 geschuldet war, wie z.T.angenommen wird, 22 ist indes schwer zu belegen. Einige Autorenunterstellen den Maras sogar die massive Aufnahme vondemobilisierten Kämpfern und aggressive Rekrutierungskampagnen.23Unstreitig ist, dass die Delinquenz der meisten Mareroszunächst zur Absicherung ihrer Bedürfnisse diente und imWesentlichen auf Erpressung, Raub und den Handel mitkleineren Mengen von Drogen beschränkte. Besonders auffälligwurden sie aufgrund der massiven Gewaltanwendunguntereinander. In El Salvador, aber auch in anderen zentralamerikanischenStaaten, begannen die Bandenkriege zu eskalieren,indem zunehmend auf professionellere Waffen zurückgegriffenwurde. So erschütterten die Maras bald das subjektiveSicherheitsgefühl einer relativ gewaltgewohnten Allgemeinheit– allen voran die MS-13 und die M-18, die sich auchin anderer Hinsicht negativ abhoben: Diese beiden Gruppen„benutzten schwerere Waffen (insbesondere abgesägte Schrotflintenund Sprengstoffe), konsumierten teure Drogen (Crack,Heroin und Kokain), verkauften größere Mengen von illegalenSubstanzen und organisierten groß angelegte Raubüberfälle“. 24Äußerlich leicht identifizierbar, <strong>ger</strong>ieten ihre Mitglieder nichtselten ins Visier von Todesschwadronen oder der PNC, derbald Tausende von Menschenrechtsverletzungen vorgeworfenwerden. 25Tatsächlich reagierte der Staat hauptsächlich mit Repression,ohne langfristige Strategien zur nachhaltigen Lösungdes Problems vorzulegen. Einige Autoren machen vor allemWahlpopulismus der konservativen Kräfte dafür verantwortlich,dass das Jahr 2003 den Beginn der Politik der mano dura,der „harten Hand“, gegen die Banden markiert. 26 Der von der21 Heute wird der Begriff der Maras allgemein zur Bezeichnungzentralamerikanischer Banden verwendet und somit oftmalsauch als Synonym für bandas und pandillas. In der wissenschaftlichenLiteratur werden unter pandillas zumeist traditionelleStraßenbanden verstanden, die nicht über die beschriebenentransnationalen Wurzeln verfügen. Vgl. Rod<strong>ger</strong>s,Slum Wars of the 21st century, gangs, mano dura and thenew urban geography of conflict in Central America, S. 6, imInternet Abrufbar unter:http://eprints.lse.ac.uk/28433/1/Slum_wars_of_the_21st_century_(LSERO_version).doc.pdf (23.6.2013).22 Rod<strong>ger</strong>s u.a., Gangs in Central America, Causes, Costs,and Interventions, 2008, S. 19, im Internet abrufbar unter:http://www.smallarmssurvey.org/fileadmin/docs/B-Occasional-papers/SAS-OP23-Gangs-Central-America.pdf(23.6.2013).23 Farah, Organized Crime in El Salvador, The Homegrownand Transnational Dimensions, 2011, S. 13, abrufbar unter:http://www.wilsoncenter.org/sites/default/files/Farah.FIN1.pdf(23.6.2013).24 Wolf (Fn. 7), S. 151.25 Krämer/Liebel, Lateinamerika Nachrichten 331 (Januar 2002).26 Rupp, Lateinamerika Nachrichten 359 (Mai 2004). Sieheauch die differenzierte Analyse von Peetz, Giga Working Papers80 (2008), im Internet unter:ARENA-Partei gestellte Präsident Franciso Flores setzte einGesetz durch, das die Mitgliedschaft in Banden unter Strafestellte und kriminalisierte sogar den Gebrauch ihrer Symbole,insbesondere Tattoos. Es konnte bereits auf zwölfjährigeKinder angewendet werden. 27 Auf dieser Rechtsgrundlagewurden innerhalb eines Jahres etwa 20.000 Personen festgenommen.28 Im August 2004 wurde das Gesetz vom OberstenGerichtshof für verfassungswidrig erklärt; 95% der Häftlingemussten freigelassen werden. 29Einige Monate zuvor war es auch zu ersten regionalenInitiativen unter den Regierungen El Salvadors, Guatemalas,Honduras und Nicaraguas gekommen. Es wurde u.a. erklärt,dass die Banden eine „destabilizing menace, more immediatethan any conventional war or guerilla“ seien. 30 Als der honduranischeInnenminister im Juni 2004 behauptete, dass sichAl Kaida-Mitglieder in El Salvador befänden, um von derMS-13 Hilfe bei der Infiltration der USA zu erbitten, 31 errichtetendiese in ihren Sicherheitsbehörden Sonderarbeitsgruppenund schickten verstärkt Verbindungspersonal in die Region.Neben Informationsbeschaffung übernahmen diese Spezialistenauch die Ausbildung der einheimischen Polizei in derBekämpfung organisierter Kriminalität. 32Auf die Erklärung der Verfassungswidrigkeit der PlanMano Dura-Gesetzgebung reagierte Flores‘ Amtsnachfol<strong>ger</strong>Antonio Saca im Jahr 2005 mit dem Plan Super Mano Dura.Vor allem wurde das Strafmaß für Bandenmitgliedschaft deutlicherhöht. 33 Gleichwohl diese nun stichhalti<strong>ger</strong> nachgewiesenwerden musste und die Vorgaben der VN-Kinderrechtskonventionbeachtete, verdoppelte sich in den folgenden fünfJahren die Gefängnisbevölkerung El Salvadors von 6.000 auf12.000 Insassen, wovon ca. 40 % Bandenmitglieder gewesensein sollen. 34Parallel zu diesen rein innerstaatlichen Maßnahmen habensich auch die regionalen Initiativen der zentralamerikanischenStaaten zur Bekämpfung der Bandenkriminalität fortgesetzt. 35Hierbei ist ein immer stärker werdendes Engagement der USAzu verzeichnen – ein Umstand, der wohl vor allem innenpolihttp://www.giga-hamburg.de/dl/download.php?d=/content/publikationen/pdf/wp80_peetz.pdf (23.6.2013).27 Fogelbach, San Diego International Law Review 2005,223 (225); Arana, Foreign Affairs 2005, 98 (102).28 Holland, Latin American Research Review 2013, 44 (47).29 Rod<strong>ger</strong>s/Muggah, Contemporary Security Policy 2009, 301(308).30 Zitiert nach Muggah, in: Shaw u.a. (Hrsg.), The AshgateResearch Companion to Regionalisms, 2011, S. 348.31 Wolf, Latin American Research Review 2010, 258.32 Lineber<strong>ger</strong>, Vanderbuilt Journal of International Law 2011,187 (200).33 Seelke, Gangs in Central America, 2009, S. 10. Unter:http://fpc.state.gov/documents/organization/134989.pdf(23.6.2013).34 Hume, Development in Practice 2007, 739 (740).35 Franco, The MS-13 and 18th Street Gangs: EmergingTransnational Gang Threats?, 2007, S. 10-16. Abrufbar unter:http://fpc.state.gov/documents/organization/94863.pdf(23.6.2013)._____________________________________________________________________________________336<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


El Salvadors staatlich vermittelter Bandenfriede: Ausweg oder Irrweg?_____________________________________________________________________________________tische Gründe hat. Das FBI geht nämlich davon aus, dassallein die MS-13, deren Mitgliederzahl in den USA auf 6.000bis 10.000 veranschlagt wird, im gesamten Bundesgebiet agiertund dabei mit anderen Cliquen in Zentralamerika in einerWeise kollaboriert, die auf eine zunehmende Verwicklung intransnationale organisierte Kriminalität, insbesondere professionellenDrogen- und Menschenhandel schließen lässt. 36II. Auswirkungen der staatlichen Repression auf die MarasUnbestritten ist, dass die staatliche Repression die Marasdazu veranlasste, von einem sichtbaren Gebrauch ihrer Symbolebzw. Bandenkultur abzusehen. 37 Da ihre Mitglieder nunschwieri<strong>ger</strong> zu identifizieren sind, lassen sich kaum noch verlässlicheAngaben über ihre Zahl machen. Gleichzeitig habendiese Schutzmaßnahmen offensichtlich zu einer partiellen Verstärkunganderer Mechanismen der sozialen Kohäsion geführt.So versuchen sich die MS-13 und M-18 durch striktere Verhaltenskodizesvor Infiltration zu schützen. 38Verändert wurde zudem die Organisationsstruktur. Es bildetesich eine dreiteilige Hierarchie heraus, welche sich auseiner lokalen, regionalen und nationalen Ebene zusammensetzt:„Während sich die Mara Salvatrucha in „programas“und „clicas“ einteilte, bildete die Dieciocho „tribus“ und„canchas“. Die Führungsspitzen sind – nach Wichtigkeitgeordnet – in MS-13 bekannt als cabecillas, palabreros deprograma sowie jefes de clica und in der Diechiocho alscabecillas, ranfleros und cabecillas de canchas. Am unterenEnde der Pyramide befinden sich die soldados oder regulärenMitglieder.“ 39Zu bedeutsamen Kommandozentralen wurden die überfülltenGefängnisse mit ihren oftmals prekären Haftbedingungen.Hier wurden die Mareros regelmäßig gemäß ihrer Bandenmitgliedschaftzugeteilt. 40 Während mit dieser Politik dasZiel der Vermeidung von Gewalt verfolgt wurde, verstärktesie zugleich den Zusammenhalt der einzelnen Gruppen. Aufgrunddefizitärer Sicherheitsvorkehrungen sowie Korruptionund Erpressung des Gefängnispersonals konnten diese ihreKontakte nach außen aufrechterhalten und ihre kriminellenAktivitäten fortführen. Zunehmend <strong>ger</strong>ierten sie sich auch alsVerteidi<strong>ger</strong> sozialer und menschenrechtlicher Forderungengegenüber dem Staat. Einzelne Bandenmitglieder gründetensogar Vereine, um Hilfs- und Protestaktionen (wie z.B. Aufrufezum Wahlboykott) zu unterstützen. 41 Sie fungierten zugleichals Brücken zu Nichtregierungsorganisationen.Es folgte die Transformation der Maras in Hilfsvereinigungenfür Gefangene, welche den Familien inhaftierter Mit-36 Federal Bureau of Investigation, The MS-13 Threat, AnAssessment, 2009, im Internet abrufbar unter:http://www.fbi.gov/news/stories/2008/january/ms13_011408(23.6.2013).37 Jütersonke/Muggah/Rod<strong>ger</strong>s, Security Dialogue 2009, 1 (12).38 Wolf (Fn. 7), S. 153.39 Wolf (Fn. 7), S. 156 (Hervorhebungen im Original).40 Fariña/Miller/Cavallaro, No Place To Hide, Gang, State,and Clandestine Violence in El Salvador, 2010, S. 46.41 Wolf (Fn. 7), S. 159.glieder finanziell unter die Arme greifen. 42 Dies führte zu einerExpansion ihrer sozialen Netzwerke und schuf einen besonderenAnreiz, sich ihnen anzuschließen. Die hierzu erforderlichenMittel stammen wohl vor allem aus ErpressungsundEntführungskriminalität sowie dem Drogenhandel. 43 EineStudie aus dem Jahr 2012 beziffert den jährlichen Profit vonEl Salvadors Banden auf rund 60 Millionen US-Dollar. 44 DerBetrag wird angesichts der Tatsache, dass er Tausenden vonPersonen zugutekommt, als relativ <strong>ger</strong>ing angesehen, zumaler kaum vergleichbar ist mit den Einnahmen von kriminellenZusammenschlüssen, die gemeinhin der (transnationalen)organisierten Kriminalität zu<strong>ger</strong>echnet werden. 45Nicht nur vor diesem Hintergrund ist umstritten, ob dieMaras als so genannte transnationale Banden der 3. Generationoder sogar als kriminelle Vereinigungen im Sinne organisierterKriminalität qualifiziert werden können. Dies hängt freilichzuvörderst davon ab, welchen Inhalt diesen grundsätzlichkonturlosen (und schwer abgrenzbaren) Begriffen zugeschriebenwird. 461. Transformation in transnationale BandenManche Autoren benutzen die Bezeichnung „transnationaleBande“, weil die Maras in einer Vielzahl von Staaten überMitglieder und Cliquen verfügten und diese zum Teil miteinandervernetzt sind. 47 Andere Autoren beziehen sich aufJohn Sullivans Generationenmodell. 48 Dieses geht zunächstdavon aus, dass Banden exo- und endogenen Entwicklungsdynamikenunterliegen, die entweder Teilen ihrer Mitgliedschaftden Aufstieg in die „wahre Unterwelt“ bescheren oderdiese Gruppen selbst in kriminelle Unternehmen transformieren.49 Als Banden der 1. Generation werden von SullivanStraßen- und Gefängnisgangs beschrieben, die lokal verwurzeltsind und kriminellen Aktivitäten eher aus opportunistischenGründen nachgehen. Demgegenüber soll Banden der 2. Generationbereits eine klarere unternehmerische Marktorientierungzugrunde liegen, weil es zu einer Professionalisierung42 Zilberg, The Making of a Transnational Gang Crisis betweenLos Angeles and El Salvador, 2011, S. 191.43 Dudley, Drug Trafficking Organizations in Central America,Transportistas, Mexican Cartels and Maras, 2010, S. 21. ImInternet abrufbar unter:http://stevendudley.com/pdf/Wilson%20Center%20Central%20America%20Dudley%2005%2017%2010.pdf (23.6.2013).44 Vgl. Wells, InsightCrime News v. 7.12.2012. Sämtlichenachfolgend zitierte Beiträge sind (ohne Seitenzahlangabe)abrufbar unter: http://www.insightcrime.org/ (23.6.2013).45 Wells, InsightCrime News v. 7.12.2012.46 Hauck/Peterke, International Review of the Red Cross2010, 407 (408).47 Logan/Morse, MS-13 organization and US response, 2007,S. 2; Bruneau/Boraz, Military Review 2006, 36 (37).48 Farah (Fn. 23), S. 12; Franco (Fn. 35), S. 5.49 Sullivan, Transnational Gangs, The Impact of Third GenerationGangs in Central America, 2008, S.3. Abrufbar unter:http://www.airpower.maxwell.af.mil/apjinternational/apjs/2008/2tri08/sullivaneng.htm(23.6.2013)._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com337


Sven Peterke_____________________________________________________________________________________ihrer modi operandi komme. 50 Der Gewalteinsatz diene immerweni<strong>ger</strong> zur Verteidigung von Territorium und zur Herstellungvon Gruppenidentität und Loyalität, sondern seizunehmend strategischer Natur: er ziele auf den Schutz undden Ausbau der besetzten Marktnische gegenüber Konkurrentenab. Hierbei könne oftmals auch eine Politisierung undTransnationalisierung der Gruppen beobachtet werden. BeiBanden der 3. Generation hätten sich diese Tendenzen verhärtetund es könne eine Diversifizierung anspruchsvollerillegaler Tätigkeiten festgestellt werden. Charakteristisch seiauch der Rückgriff auf terroristische bzw. quasi-terroristischeMethoden als politisches Druckmittel gegenüber dem Staatsowie die Kooperation mit transnationalen kriminellen Vereinigungen.51 Sullivan selbst stuft die MS-13 und die M-18als transnationale Banden der 3. Generation ein. 52Indes wird bestritten, dass die bestehenden Kontakte unterden Maras Ausdruck einer fassbaren länderübergreifendenOrganisationsstruktur sind. Vielmehr handele es sich um sehrsporadisch genutzte informelle Netzwerke. 53 Betont wird auch,dass die große Mehrheit der Mareros nach wie vor in denlokalen Cliquen verwurzelt ist. 54 Dies lege nahe, dass es sichbei den Maras im Kern immer noch um Straßen- und Gefängnisbandenhandele. Aufgrund ihrer Stigmatisierung würdensie jedoch regional als Bedrohung der öffentlichen und mittlerweilesogar nationalen Sicherheit wahrgenommen. Feststehtzumindest, dass diesen Gruppen bislang keine Kontakte zuterroristischen Vereinigung nachgewiesen werden konnten,obgleich sich einige ihrer Taten, wie z.B. das Anzünden vonöffentlichen Verkehrsmitteln unter Inkaufnahme einer Vielzahlvon Toten, als terroristische darstellen lassen, sofern voneinem verkürztem Terrorismusbegriff 55 ausgegangen wird.Tatsächlich sind solche Schreckenstaten aber wohl eher alsWutreaktionen auf spezifische Repressionsmaßnahmen dennals genuin staats- und gesellschaftsfeindliche Signale zu deuten.2. Transformation in organisierte KriminalitätMit Besorgnis wird aber registriert, dass einzelne Mara-Gruppen immer mehr in den professionellen Transport vonDrogen und Menschen vom Süden des Landes zu dessenNordgrenze involviert sind. 56 Es liegt somit auf der Hand anzunehmen,dass die Schmuggelaktivitäten neben einem erhöhtenMaß an Organisation auch die für organisierte Kriminalitättypischen Korruptionspraktiken implizieren. Insoweit50 Sullivan (Fn. 49), S. 3.51 Sullivan (Fn. 49), S. 4.52 Sullivan (Fn. 49), S. 4. Siehe auch Sullivan, Global Crime2007, 487 (504).53 Santamaría Balmaceda, Revista Mexicana de PolíticaExterior 2007, 101 (123); Winton, Boletín del Instituto deGeografia 2012, 136 (144).54 Wolf (Fn. 7), S. 160; Fariña/Miller/Cavallaro (Fn. 40),S. 218.55 Statt vieler zur Abgrenzung von Terrorismus und organisierterKriminalität Peterke, Humanitäres Völkerrecht-Informationsschriften2011, 202.56 Dudley (Fn. 43), S. 21.lassen sich diese Gruppen heute leichter in ihre Nähe rücken.Während wohl tatsächlich einzelne Gruppen zunehmend professionelleragieren und sich ihre Strukturen entsprechendverfeinert haben, wird dieser Befund dennoch für kaum verallgemeinerungsfähiggehalten. 57 Es wird neuerlich eingewandt,dass sich Maras nach wie vor in hohem Maße aus marginalisiertenJugendlichen zusammensetzten, denen die illegalenEinnahmen vor allem zur Erfüllung ihrer materiellen Bedürfnisseund der Unterstützung ihre Familien dienten, ohne dasshierbei ein unternehmerisches Streben nach Profit feststellbarsei. Weni<strong>ger</strong> noch gebe es Hinweise darauf, dass sie außerhalbder Haftanstalten Einflusspersonen korrumpierten odersogar in legale Geschäfte investierten.Hält man diese Argumente für zutreffend und bemühtzum Beispiel jene Gesamtschau von Indizien, die vom Bundeskriminalamtund anderen Institutionen und Autoren zur Ermittlungvon organisierter Kriminalität verwendet werden, 58spricht in der Tat einiges gegen eine vorschnelle und zumalgeneralisierende Einordung der Maras als organisierte Kriminalität.Eine große Herausforderung für Staat und Gesellschaftstellen sie trotzdem dar. Dies gilt insbesondere für die MS-13und M-18.III. El Salvadors staatlich vermittelter „Bandenfriede“Als im Juni 2009 der ehemalige Journalist Mauricio Funessein Amt als erster demokratisch gewählter Staatspräsidentantrat, der nicht der ARENA-Partei angehört, versprach ereine Neuausrichtung der Sicherheitspolitik durch stärkereHinwendung zu nicht-repressiven Ansätzen. Trotzdem ordneteer wenig später die Einbeziehung der Streitkräfte in dieArbeit der PNC an und sorgte hiermit in vielen Kreisen fürUnverständnis. 59 Im Friedensvertrag von 1992 war dieser„Tradition“ aus guten Gründen eine Absage erteilt worden.Zur Rechtfertigung dieses Schritts betonte der Präsident, dasssich das Militär zur Stütze der Demokratie gewandelt habe.Er stritt zudem ab, dass eine weitere Involvierung der Streitkräftein den Kampf gegen Gewalt und Kriminalität geplantsei. 60Im Juni 2010 wurden 16 Menschen auf brutale Weise beieinem Anschlag auf zwei öffentliche Busse getötet. 61 Er wurdevon M-18-Mitgliedern verübt. Neuerlich entbrannte eineöffentliche Debatte über die Notwendigkeit eines härterenDurchgreifens des Staates. Die radikale GANA-Partei schrecktenicht davor zurück, die Wiedereinführung der Todesstrafezu fordern; die ARENA-Partei plädierte u.a. für einen zweijährigenMilitärdienst als obligatorische Rehabilitierungsmaßnahmefür einfache Bandenmitglieder sowie für die Gründungeiner Anti-Mara-Spezialeinheit der Streitkräfte. 62 Präsident57 Wolf (Fn. 7), S. 160; Winton, Boletín del Instituto de Geografia2012, 136 (144).58 Vgl. Schwind, Kriminologie, 2008, S. 614; Albanese, OrganizedCrime In Our Times, 2011, S. 4.59 Vgl. Rupp, Lateinamerika Nachrichten 451 (Januar 2012).60 Beier, Lateinamerika Nachrichten 425 (November 2009).61 Renderos, Los Angeles Times v. 21.6.2010.62 Lambert, Lateinamerika Nachrichten 433/434, (Juli/August2010)._____________________________________________________________________________________338<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


El Salvadors staatlich vermittelter Bandenfriede: Ausweg oder Irrweg?_____________________________________________________________________________________Funes selbst sprach von „terroristischen Akten“. 63 Die Nationalversammlungnahm Beratungen über ein neues Bandengesetzauf, welches u.a die Erhöhung der Strafe für Bandenmitgliedschaftauf bis zu zehn Jahre Freiheitsstrafe vorsah. Diesbrachte viele Maras in Rage. Sie reagierten landesweit mitDrohungen und gewaltsamem Protest. Beachtenswerter Weiselancierten dann aber die an sich verfeindeten MS-13 und M-18 ein gemeinsames Manifest, in dem sie die Bevölkerungeinerseits um Entschuldigung baten und andererseits einenDialog mit der Regierung anregten. 64 Diese war hierzu abernicht bereit und Funes unterzeichnete das Bandengesetz nochim September 2010. Die zur Unterstützung der PNC abkommandiertenMilitäreinheiten wurden nochmals aufgestockt.Damit nährte die Regierung Befürchtungen um eine Remilitarisierungder inneren Sicherheit El Salvadors bzw. um eineRückkehr zur Politik der mano dura. 65 Der Präsident wurdemit den Worten zitiert: „Wir befinden uns in einem neuenKrieg, einer neuen Schlacht gegen ein Übel, das die nationaleSouveränität bedroht.“ 66Im November 2011 ernannte Funes den Ex-General DavidMunguía Payés zum Minister für Justiz und Sicherheit, dereine effektivere Verbrechungsbekämpfung und die Senkungder Mordrate um 30 % ankündigte – für viele der letzte Belegfür eine Rückkehr zur Politik der mano dura gegen die Banden.67 Tatsächlich hegte die Regierung aber wohl bereits zudiesem Zeitpunkt Pläne zu einem geheimen Dialog mit deninhaftierten Mara-Anführern.Wie erst Monate später offiziell ein<strong>ger</strong>äumt wurde, betratam 9.2.2012 der ehemalige Guerillakämpfer und ex-ParlamentsabgeordneteRaul Mijango zusammen mit MilitärbischofFabio Colindres erstmals das Hochsicherheitsgefängnis Zacatecoluca,um mit den Führungsfiguren der MS-13 Sondierungsgesprächeaufzunehmen. 68 Dies geschah in en<strong>ger</strong> Absprachemit Munguía Payés, der Mijango als seinen Vertrautenbetrachtet. Nach weiteren Vorbereitungsgesprächen mit denAnführern der M-18, bei denen sich auch herausstellte, dasssie nicht nur über detaillierte Informationen über die beidenMediatoren verfügten, sondern bereits seit über fünf Jahrenum eine Aufnahme des Dialogs mit der Regierung bemühtwaren, kam es zu einer ersten Zusammenkunft der beidenGruppen. 69Eingeleitet wurde sie mit einem von Colindres gesprochenenGebet. Dieses Ritual wurde bei den folgenden Sitzungenwiederholt. Dem Religiösen kam offenkundig eine entscheidendeRolle dabei zu, auf die Anführer einzuwirken,damit sie ihre Rivalität überwinden und als Gegenstand derzu führenden Verhandlungen eine signifikante Reduzierungder Tötungsdelikte akzeptieren würden. Dieses Ziel war von63 Lambert, Lateinamerika Nachrichten 433/434 (Juli/August2010).64 Paranagua, Guardian Weekly v. 21.9.2010.65 Lineber<strong>ger</strong>, Vanderbuilt Journal of International Law 2011,187 (195).66 Rupp, Lateinamerika Nachrichten 451 (Januar 2012).67 Rupp, Lateinamerika Nachrichten 451 (Januar 2012).68 Martinez/Sanz, InSight Crime News v. 14.9.2012.69 Martinez/Sanz, InSight Crime News v. 14.9.2012.Mun-guía Payés und Mijango trotz fehlender Belege für dieHypothese festgelegt worden, dass vor allem die Maras hinterder hohen Mordrate El Salvadors steckten. 70 Schließlichkonnten erste Führerfiguren zum symbolischen Handschlagüberredet werden; ihnen folgten die meisten anderen Anwesenden.71 Nun fanden erste Konversationen statt und dieMediatoren zogen sich in eine Ecke des Raumes zurück, umdiese nicht zu behindern. Später wurde ein festliches Abendbrotserviert und ein Erinnerungsfoto geschossen.Am 24.2.2012 wurde der Entwurf eines „Abkommens“abgefasst und den Gruppen Zeit gegeben, es mit ihren Haftgenossenzu diskutieren. Am 29.2.2012 wurden sodann handschriftlichsechs Konsenspunkte niedergelegt. 72 Beschlossenwurde ein dreimonati<strong>ger</strong> Nicht-Aggressionspakt, der bei beidseiti<strong>ger</strong>Umsetzung und positivem Fortgang der Verhandlungenverlän<strong>ger</strong>t werden sollte. Darüber hinaus wurde Stillschweigenüber den gesamten Vorgang vereinbart, bis sichpositive Ergebnisse präsentieren ließen. Bekannt wurde indes,dass alsbald eine Gruppe hochrangi<strong>ger</strong> Mareros aus Hochsicherheitsgefängnissenin gelockerte Haftbedingungen überführtwurde. 73Im Folgemonat fiel die Mordrate um über 60 %. 74 DerBandenfriede war wirksam und nun auch evident, dass dieMaras tatsächlich für einen erheblichen Teil dieser Verbrechenverantwortlich waren. Dieser Zwischenerfolg ermöglichte dieFortsetzung des Mediationsprozesses. Er wurde im Juli 2012durch die direkte Teilnahme des Generalsekretärs der Organisationder Amerikanischen Staaten (OAS) aufgewertet, derhierauf seine Unterstützung zusagte. 75 Dies mag auch als politischesSignal an andere Staaten gewertet werden, dem BeispielEl Salvadors zu folgen. Tatsächlich zeigen die NachbarstaatenGuatemala und Honduras Interesse an diesem modellhafterscheinenden Experiment. 76Rätselraten gab derweil die Entscheidung der US-Behördenauf, die MS-13 auf die Liste transnationaler kriminellerOrganisationen zu setzen. Dies geschah am 11.10.2012 durchdas Treasury Department und gestattet v.a. das Einfrieren derVermögen von Bandenmitgliedern. 77 Begründet wurde diesinsbesondere mit ihrer Involvierung in den transnationalenDrogen- und Menschenhandel. Indes wird – wie gesehen –weithin bezweifelt, dass dies über Transportdienste einzelnerCliquen hinaus in beachtlichem Umfang der Fall ist. Gleichwohlist belegt, dass einzelne Bandenmitglieder zwischen El70 Vgl. Dudley, CLAS White Paper Series 1 (2013), S. 16.71 Martinez/Sanz, InSight Crime News v. 14.9.2012.72 Martinez/Sanz, InSight Crime News v. 14.9.2012.73 Farah/Lum, Central American Gangs and Transnational CriminalOrganizations, The Changing Relationships in a Timeof Turmoil, 2013, S. 24. Im Internet abrufbar unter:http://www.strategycenter.net/docLib/20130224_CenAmGangsandTCOs.pdf (23.6.2013).74 Stone, Insight Crime News v. 1.5.2012.75 Archibold, The New York Times v. 27.8.2012.76 Stone/Wells, Insight Crime News v. 24.1.2013.77 Die offizielle Verlautbarung ist im Internet abrufbar unter:http://www.treasury.gov/press-center/press-releases/Pages/tg1733.aspx (23.6.2013)._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com339


Sven Peterke_____________________________________________________________________________________Salvador und den USA Geld transferierten. 78 Einzelne Beobachtersehen in der Entscheidung der US-Behörden den Versuch,den Druck auf die Banden in El Salvador zu erhöhen,um sie zu Zugeständnissen bei den aktuellen Gesprächen zubewegen. 79 Offiziell hat sich die Obama-Administration nochnicht zum Bandenfrieden positioniert. Feststeht allein, dassdie USA seit 2008 rund 500 Millionen US-Dollar für Gewaltreduktionsprogrammein El Salvador bereitgestellt haben. 80Dem liegt offenkundig die Einsicht zugrunde, dass ein reinrepressiver Ansatz unzureichend zur Eindämmung der Gewaltund Kriminalität der Maras ist.Im November 2012 regten die staatlichen Vermittler schließlichGespräche über „Friedenszonen“ an, 81 in denen die Marasihre Waffen abgeben und ihrer Delinquenz abschwören sollten.Der Staat könnte dann auf nächtliche Großrazzien verzichtenund gezielt Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen implementieren.Diese neue Phase sollte zunächst in zehn ausgewählten Bezirkengetestet werden. 82Anfang Dezember 2012 nahmen diesen Vorschlag sowohldie MS-13 und M-18 als auch drei weitere Banden (MaoMao, La Maquina und Miradas Locas) an, stellten aber zweiBedingungen: nämlich dass einerseits – wie ins Gesprächgebracht – in den „Friedenszonen“ die nächtlichen Razzienaufhörten, und anderseits die Bandengesetzgebung einer Revisionunterzogen würde. 83 Erstgenannte Bedingung wurde vonPräsident Funes ausgeschlagen. Er begründete dies u.a. damit,dass das den Razzien innewohnende Überraschungsmomentwichtig im Umgang mit den Banden und bei der Überwachungder von ihnen gemachten Zusagen sei. 84 Er zeigtesich aber offen für eine Diskussion über das 2010 verabschiedeteBandengesetz.Dieses Angebot reichte den inhaftierten Mara-Anführern.Sie legten – wie von den staatlichen Vermittlern an<strong>ger</strong>egt –eine Liste von zehn Munizipien vor, in denen die „Friedenszonen“implementiert werden sollten. 85 Im Januar 2013 verkündetendie Gesprächspartner schließlich, dass die erste inIlopango ein<strong>ger</strong>ichtet werde und noch im selben Monat SantaTecla und Quezaltepeque folgen würden. 86 Indes blieb eineReihe von Fragen unbeantwortet. Dies gilt zum einen für die78 Ramsey, Insight Crime News v. 12.11.2012.79 Stone, InSight Crime News v. 12.11.2012.80 Dudley (Fn. 43), S. 2.81 Rodríguez/Serrano, La Pagina v. 23.11.2012. Der Vorschlagist im Original im Internet abrufbar unter:http://www.lapagina.com.sv/nacionales/74210/2012/11/23/Municipios-santuarios-definiran-segunda-fase-de-tregua-entrepandillas(23.6.2013).82 Stone, InSight Crime News v. 23.11.2012.83 Pachico, InSight Crime News v. 5.12.2012.84 Bargent, InSight Crime News v. 18.12.2012.85 Rodríguez, La Pagina v. 5.12.2012. Die Verlautbarung derMaras ist im Original im Internet abrufbar unter:http://www.lapagina.com.sv/nacionales/74767/2012/12/04/Pandilleros-eligen-municipios-considerados-%E2%80%9Csantuarios%E2%80%9D-en-segunda-fase-detregua(23.6.2013).86 Wells, InSight Crime News v. 23.1.2013.Rolle der Polizei und der zu ihrer Unterstützung abgestelltenStreitkräfte. Zum anderen hatten die Maras wohl darauf hingewiesen,dass sie nur dann von ihrer Haupteinnahmequelle,der Erpressungskriminalität, Abstand nehmen könnten, wennihren Mitgliedern tatsächlich Arbeitsbeschaffungsmaßnahmenzugutekämen. Die Regierung aber hüllte sich in Schweigenüber der Gestalt und Finanzierung. Bekannt ist lediglich, dasseine Stiftung ein<strong>ger</strong>ichtet wurde, um Gewaltpräventions-, Rehabilitations-und Reintegrationsprogramme zu unterstützenund die internationalen Hilfsbemühungen zu koordinieren. 87Die Interamerikanische Entwicklungsbank stellte 45 MillionenUS-Dollar zur Verfügung. 88Nachdem im Februar in Sonsonate eine vierte Friedenszoneein<strong>ger</strong>ichtet worden war, ließ VerteidigungsministerAtilio Benitez verkünden, dass sich die Streitkräfte aus ihnenzurückziehen würden, dementierte aber, dass es sich um einZugeständnis an die Banden handele. Vielmehr sei die militärischeBegleitung der Polizei nicht län<strong>ger</strong> notwendig. 89 ImMärz 2013 hieß es, dass die Einrichtung weiterer 14 Friedenszonenvereinbart worden sei und es die Absicht der Beteiligtensei, insgesamt 60 solcher Bezirke festzulegen. 90IV. Bewertung: Ausweg und Irrweg?Blickt man auf El Salvadors jün<strong>ger</strong>e Geschichte zurück, somuss rund ein Jahr nach Verkündung des Bandenfriedens zunächstauf die Tatsache verwiesen werden, dass dort die Mordrateim Jahr 2012 um 41 % zurückgegangen ist. 91 Ein entsprechendniedri<strong>ger</strong> Stand wurde zuletzt 2003 erreicht. DieserErfolg ist kein Zufall, sondern beruht zweifelsohne auf einemneuen sicherheitspolitischen Ansatz gegenüber den Maras,der sehr behutsam von der neuen Regierung vorbereitet undvorangetrieben wurde. Zugleich kann nun als weitgehendbelegt gelten, dass diese Gruppen für einen Großteil der vorsätzlichenTötungsdelikte verantwortlich sind.Ermöglicht wurde dieser Erfolg durch einen Tabubruch,der politisch schwer zu vermitteln und zu verteidigen ist: demDialog mit verurteilten Kriminellen als Repräsentanten vonGruppen, die aus strafrechtlicher Sicht als Tätergemeinschaftenaufzufassen sind. Wie gesehen, sind sie aber zugleich alsOpfer eines komplexen Stigmatisierungsprozesses aufzufassen,in dessen Folge es zu einer exzessiven Kriminalisierung einesPhänomens kam, dessen Ursache u.a. die oftmals desolateLage der jungen, männlichen Bevölkerung El Salvadors ist.Vor diesem Hintergrund gab es wohl keine echte Alternativezu einem anfänglich geheimen Vermittlungsprozess. Er erklärtauch, warum die Regierung darum bemüht ist, den Eindruckzu vermeiden, sie habe konkreten Forderungen der Marasnachgegeben. Offiziell hat sie sich in die Rolle des Vermittlersbegeben – die Abmachungen treffen die Banden untereinander.Zwar mögen die Haftbedingungen eini<strong>ger</strong> Bandenpersönlichkeitengelockert worden sein. 92 Dennoch kann der Regie-87 Seelke (Fn. 33), S. 10.88 McAnarney, Truthout v. 9.4.2013.89 Santos, La Prensa Gráfica v. 3.2.2013.90 Bargent, InSight Crime News v. 21.2.2013.91 Vgl. Fox, InSight Crime News v. 4.1.2013.92 Farah/Lum (Fn. 73), S. 24._____________________________________________________________________________________340<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


El Salvadors staatlich vermittelter Bandenfriede: Ausweg oder Irrweg?_____________________________________________________________________________________rung nur schwer der Vorwurf gemacht werden, dass diese wieauch andere Maßnahmen in einem direkten Zusammenhangmit dem Mediationsprozess stehen. Weni<strong>ger</strong> noch lässt sichbehaupten, dass sie den staatlichen Strafanspruch zur Diskussionstelle und das Legalitätsprinzip verletzte. Gleichwohlsetzt sie sich dem Verdacht eines informellen Deals mit denMaras aus, der freilich hochgradig sittenwidrig wäre, solltedas Versprechen der Maras, weni<strong>ger</strong> zu morden, von derRegierung mit Sozialprogrammen und weni<strong>ger</strong> hartem Durchgreifenprämiert worden sein. Vielmehr sind durch den Mediationsprozessauf beiden Seiten Erwartungshaltungen erzeugtworden, deren informelle Befriedigung bislang den Erfolgdes Experiments auszumachen scheint.Es könnte jedoch sein, dass die neue Bandengesetzgebungnoch zu einem juristischen Stolperstein für einige Unterstützerdieses Projektes wird. Sie verbietet nicht nur die Mitgliedschaftin MS-13 und M-18, sondern erklärt sämtliche Rechtsverhältnisse,welche diese Gruppen über ihre Mitglieder oderDritte eingehen, für illegal und mit Mitteln des Straf-, ZivilundVerwaltungsrechts verfolgbar. 93 Als nun einige Bür<strong>ger</strong>meisterBandenmitglieder unter Vertrag nahmen, damit siegegen Bezahlung bei der Bekämpfung von Überschwemmungsschädenmitwirkten, wurde rasch der Vorwurf desRechtsbruchs laut. 94 Er ertönte erneut, als einigen in Freiheitlebenden Bandenmitgliedern die Möglichkeit gegeben wurde,zusammen mit inhaftierten Führungspersönlichkeiten Pressekonferenzenabzuhalten, und sie danach unbehelligt die Gefängnisseverlassen durften. 95 Strafrechtliche Konsequenzenzeitigten diese Episoden bislang zwar keine. Doch wurden sievon Unverständnis begleitet. Ein großer Teil der Bevölkerungsteht der neuen Politik ohnehin sehr skeptisch gegenüber. 96Insoweit kann von einem politischen Schaden auch für dieRegierung ausgegangen werden, und zwar sowohl im linkenLa<strong>ger</strong>, aufgrund der Mitverantwortung für das neue Bandengesetz,als auch im konservativen La<strong>ger</strong>, wegen seines mangelhaftenVollzugs. Funes scheint somit rechtlich wie politischgut damit beraten, die angekündigte Revision dieses Gesetzesvoranzutreiben.Von wissenschaftlicher Seite wird zu bedenken gegeben,dass die Regierung derzeit zwei unvereinbare Ziele verfolge:„die Zerschlagung von Bandenstrukturen vs. deren für dieDurchsetzung von Befehlen notwendigen Stärkung.“ 97 Dennochfragt sich, ob die breite Gefolgschaft mit der Existenzvon Befehlsketten erklärt werden kann oder nicht vielmehrAusdruck der Anerkennung für bestimmte Personen und Inhalteist. Zudem muss bezweifelt werden, ob es der Regierungum die Zerschlagung der Maras geht. Dies wäre angesichtsder sozioökonomischen Lage des Landes und der dort vorherrschendenHaftbedingungen eine pure Illusion.Da das politische Kapital der Regierung derzeit die Erfolgsstatistikist, <strong>ger</strong>ät dieses Zahlenwerk nun zunehmend indie Kritik. Behauptet wird ein Anstieg der Zahl der Vermiss-93 Vgl. Stone, InsightCrime News v. 27.3.2013.94 Vgl. Stone, InsightCrime News v. 27.3.2013.95 Vgl. Stone, InsightCrime News v. 27.3. 2013.96 Vgl. Stone, InsightCrime News v. 27.3. 2013.97 Wolf (Fn. 7), S. 162.ten, weil die Maras dazu übergegangen seien, ihre Opfer verschwindenzu lassen. 98 Sicherheitsminister Munguía Payés hatdiesen Vorwurf ausdrücklich dementiert. Seiner Darstellungnach ist das Gegenteil der Fall. Er räumte aber gleichwohl ein,dass der Staat Probleme dabei habe, die verfügbaren Informationenin statistisch abgesicherte Ergebnisse zu fassen. 99Wenig später musste er dann auf die Behauptung reagieren,dass seit Abschluss des Bandenfriedens die Erpressungskriminalitätangestiegen sei. 100 Offiziellen Statistiken zufolge ist dieszwar nicht der Fall; es wird jedoch darüber spekuliert, ob dieMaras neue Methoden anwenden, die der Polizei weitgehendverborgen bleiben. 101 Munguía Payés räumte ein, dass Erpressungskriminalitätdie Haupteinnahmequelle der in derRegel arbeitslosen Bandenmitglieder darstelle. Solange ihnenkeine Perspektive geboten würde, könne nicht davon ausgegangen,dass sie hierauf gänzlich verzichteten. Er wies auchdarauf hin, dass über diesen Punkt bislang keine Einigkeit beidem Dialog mit den Maras erzielt worden sei. 102Kurz darauf gab die PNC bekannt, dass die Zahl der Mordein den ersten beiden Monaten des Jahres 2013 um 12 % angestiegensei; die den Banden zurechenbare Delikte sollen garum 59 % zugenommen haben. 103 Obwohl dies im Vergleichzum Vorjahreszeitraum immer noch einen Rückgang derMordrate um mehr als die Hälfte bedeutet, 104 kam Kritikerndiese Statistik gelegen, welche die Regierung einmal mehrunter Druck setzte. Sie räumte daraufhin ein, dass der Bandenfriedein verschiedenen Teilen des Landes nicht wirksam sei.Dies gelte vor allem für die an der Grenze zu Honduras gelegeneStadt La Union. 105 Dies kann bedeuten, dass einzelneCliquen dem inhaftierten Führungspersonal die Gefolgschaftversagen. In dieser Region sollen die Perrones als eine jenerMara-Gruppe agieren, die nicht an den Beratungen teilnehmenund denen eine professionelle Involvierung in denDrogen- und Menschenschmuggel teilweise nachgewiesenwerden konnte. 106Für politisches Störfeuer sorgt auch der Vorwurf, die Regierunghabe die Maras zu politischen Akteuren aufgewertet,die nunmehr ihre Macht bewusst zu nutzen begännen. 107 Wiegesehen, hat sich der Politisierungsprozess der Maras aberbereits vor eini<strong>ger</strong> Zeit vollzogen und wurde durch die staatlicheRepression begünstigt. Seit lan<strong>ger</strong> Zeit suchen die Marasden Dialog mit der Regierung, die ihm bis vor kurzem jedochstets eine Absage erteilt hat. Klar ist heute, dass ihre inhaftiertenAnführer die Interessen ihrer Mitglieder in einer Weisezu repräsentieren vermögen, welche jedenfalls innerhalb derGruppen breite Zustimmung findet und viele Cliquen dazuveranlasst, außerhalb der Gefängnismauern ihren Beitrag zum98 Vgl. Caravantes, El Faro v. 21.1.2013.99 Caravantes, El Faro v. 21.1.2013.100 Wells, InsightCrime News v. 18.3.2013.101 Wells, InsightCrime News v. 18.3.2013.102 Wells, InsightCrime News v. 18.3.2013.103 Vgl. Bargent, InsightCrime News v. 8.3.2013.104 Bargent, InsightCrime News v. 8.3.2013.105 Wells, InsightCrime News v. 13.3.2013.106 Dudley, InsightCrime News v. 9.5.2012.107 Vgl. Ramsey, InsightCrime News v. 29.6.2012._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com341


Sven Peterke_____________________________________________________________________________________Gelingen dieses Experiments zu leisten. Freilich passen dieMaras als gebrandmarkte Rechtsbrecher nicht ins herkömmlicheSchema politischer Akteure. Ihnen fehlt Legitimität undGlaubwürdigkeit. Besinnt man sich aber auf die Erkenntniszurück, dass Banden- und organisierte Kriminalität nichtsaußerhalb der Gesellschaft Stehendes sind, 108 das isoliertbetrachtet und bekämpft werden könnte, darf der Dialog mitihnen nicht tabuisiert werden. Viele ihrer sozialpolitischen Forderungensind als solche legitim. Dies wird auch von internationalenGeldgebern anerkannt, die nunmehr verstärkt in dasbettelarme Land investieren – sei es in soziale Projekte oderschlicht in die Wirtschaft, die insbesondere mehr Arbeit fürdie junge Bevölkerung schaffen muss, zugleich aber bessererRahmenbedingungen bedarf. Hierzu gehört auch eine Verbesserungder öffentlichen Sicherheit und Ordnung.Vor diesem Hintergrund bestehen derzeit keine objektivenGründe, die neue Politik als Irrweg zu verwerfen. Sie hat demLand wieder die Hoffnung gegeben, der Gewaltspirale zu entrinnen.Ob dies langfristig gelingen wird, hängt freilich voneiner Vielzahl von Faktoren ab. Von einem Ausweg zu sprechenist insoweit noch zu früh.108 Schöneberg, in: Schöneberg (Hrsg.), Internationaler Drogenhandelund gesellschaftliche Transformation, 2000, S. 2._____________________________________________________________________________________342<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


The Effectiveness of the Global Combat against the Financing of Terrorism forPreventing Terrorist ActivityBy Assessor Niclas-Frederic Weisser, LL.M. (Osnabrück), LL.M. (Kingston upon Hull), Bremen*Within the new battlefield of Terrorism and the global combatagainst its financing, every state tries to enact the necessarylegislative tools in order to identify, detect, freeze, seizeand forfeit money as well as assets of terrorist organizations.Keeping that in mind, this essay deals with the question,whether the worldwide combat against the financing of terrorismis an effective instrument for preventing terrorist activities,or not. This depends on several factors, i.e. the kindof terrorism, the amount of money needed, the way in whichterrorism is financing itself and the possible negative sideeffects.I. IntroductionThe world has changed in the 21st century. Even though terrorismexisted for a long time and endan<strong>ger</strong>ed different countriesbeforehand, the attack on the World Trade Centre inSeptember 2001 as well as the following wars in Afghanistanand Iraq brought terrorism to a whole new level. Instead ofbeing a local problem, the new generation of terrorism operateson a global scale 1 and has become a war against stateless,networked individuals. 2 The goals of this new kind of globalwarfare are not economic advantages or territorial gains andalso not the submission of another state. 3 Additionally, terrorismis hard to fight, because terrorist activities can be conductedwith a minimum of resources and a maximum of damage.Nevertheless, even if the potential need of financingcould be low compared with ordinary military operations, terroristcells still need financial reserves in order to fulfill theirmissions. For a long time this was left out of any consideration.Within this new battlefield, every state therefore needslegislative tools in order to effectively identify, detect, freeze,seize and forfeit the targeted money and assets. 4 But the questionremains, whether the combat against the financing of terrorismis an effective instrument for preventing terrorist activities,or not. This depends on several factors, i.e. the kindof terrorism, the amount of money needed, the way in whichterrorism is financing itself and the possible negative sideeffects.II. Types of TerrorismTerrorism occurs due to indefinite causes and in differenttypes. Three of them are of relevance and significance: the* The author is Ph.D.-Student at the University of Osnabrück(Germany), Assessor, Dipl.-Jur., Master of Laws in BusinessCriminal Law (Osnabrück) and Master of Laws in InternationalBusiness Law (Kingston upon Hull).1 Baylis/Smith/Owens, The Globalization of World Politics,4 th ed. 2008, p. 371.2 Slaughter/Burke-White, Harvard International Law Journal43 (2002), 1 (4).3 Slaughter/Burke-White, Harvard International Law Journal43 (2002), 1 (4).4 Davis, Journal of Financial Crime 2003, 269.nationalist/separatist terrorism (e.g. IRA 5 and ETA 6 ), whichaims at political self-determination, the ideological terrorism(e.g. RAF 7 and NSU 8 in Germany, FARC 9 , as well as otherright- or left wing terrorists 10 ), which attempts to change thepolitical, economical or social system 11 and the religious terrorism,which commits terrorist activities to conduct religiousgoals (e.g. Al-Qaida). 12 Nevertheless, some terrorist groupscombine these different components (e.g. the Hamas) 13 andform a terrorist organization sui generis. Terrorism over alland especially the religious one is motivated by the fact thatthe enemy cannot be overwhelmed by military force and especiallynot in an “open” combat. Therefore terrorist attacksshall “create so much pain on the states involved that it becomesimpossible for their governments to tolerate the publicoutcry”. 14 In this respect, the attacks have to be fulfilled on ahuge scale 15 and terrorism needs continuity in order to createa constant fear.III. Development of Terrorism in the Last CenturyOver the last century terrorism has developed in differentstages, each of them containing one significant type. In thelate 1960s and the 1970s the ethno-nationalist/separatist backgroundbrought terrorism to the awareness of the global societyand reached its climax with the hijacking of an airplane bythe PFLP. 16 Opposite to the former post-colonial terrorism,the globalization of the 20th century provided the opportunityfor terrorists to travel from one country to another in a shortperiod of time in order to launch their attacks and in order toretreat afterwards. 17 Alongside the ethno-nationalist terrorismand revolutionary left wing-terrorism (ideological terrorism)grew especially in Germany with the RAF but also in Japan(Japanese Red Army). 18 Besides the ongoing nationalist/separatistterrorism of the ETA and IRA, the religious motivated5 Irish Republican Army.6 Euskadi Ta Askatasuna (Basque Homeland and Liberty).7 Rote Armee Fraktion (Red Army Fraction).8 Nationalsozialistischer Untergrund (National Socialist Underground).9 Las Fuerzas Armadas Revolucionarieas de Columbia (RevolutionaryArmed Forces of Columbia).10 Baylis/Smith/Owens (fn. 1), p. 372.11 Wilkinson, Terrorism Versus Democracy, The Liberal StateResponse, 2001, p. 20.12 Koh, Suppressing Terrorist Financing and Money Laundering,2006, p. 2.13 Hoffman, Inside Terrorism, 1999, p. 87; Baylis/Smith/Owens (fn. 1), p. 372.14 Bodansky, Bin Laden, The Man Who Declared War onAmerica, 1999, p. 53.15 Koh (fn. 12), p. 5.16 Hoffman (fn. 13), p. 68.17 Koh (fn. 12), p. 4.18 Koh (fn. 12), p. 4._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com343


Niclas-Frederic Weisser_____________________________________________________________________________________terrorism (especially with an Islamic background) emerged inthe 1980s. 19 It has grown over the past decades, driven by theconstant US-military operations within the Middle East andreached its ultimate climax in the attacks on the World TradeCentre in September 2001 as well as the following wars inAfghanistan and Iraq. Keeping its currant priority in mind,this article mainly refers to the combat against the financingof religious terrorism.IV. The Needs of Terrorist FinancingDue to its decentralized cell structure, only small financialreserves are needed in order to launch severe terrorist bombings.20 The 9/11 attacks for example, as the biggest terroristattacks ever conducted, have cost less than 500.000 US-Dollars 21 (including pilot-training, travel expenses etc.) 22 , theLondon bombings in 2005 are estimated to have cost notmore than 15.000 US-Dollars, the Madrid bombing in 2004roughly about 60.000 US-Dollars 23 , the Istanbul bombings in2003 not more than 40.000 US-Dollars, the Bali bombings in2002 around 20.000 US-Dollars, the Nairobi bombings in1998 not more than 50.000 US-Dollars and last but not leastthe New York bombings in 1993 about 18.000 US-Dollars. 24The day-to-day warfare in countries like Afghanistan andIraq involves even more modest costs. 25 A regular IED 26 costapproximately not more than 100 US-Dollars 27 , a Kalashnikov2.000 US-Dollars and an explosive belt for a suicide bomberless than 150 US-Dollars. 28Nevertheless, every terrorist needs training, transport andweapons. 29 Also the necessary disappearance and reappearanceof members of terrorist groups can be expensive. 30 Decentralizedcells also need ideological guidance and someonewho plans the global strategy as well as the local tactics.Therefore, even though the terrorist attack itself does not costa lot of money, several needs of financing within the terroristnetworks still exist. In this respect, a substantial financialbackground is vital for the purpose of recruiting and training19 Wilkinson (fn. 11), p. 34.20 Wilkinson, in: O’Sullivan (ed.), Terrorism, Ideology andRevolution, 1986, p. 209 (210).21 Bell, Journal of Money Laundering Control 2003, 105;Gunaratna, Inside Al Qaeda, Global Network of Terror,2002, p. 64.22 Pieth, Journal of International Criminal Justice 4 (2006),1074 (1075).23 Barrett, Case Western Reserve Journal of InternationalLaw 2009, 7 (14).24 Levi, British Journal of Criminology 2010, 650; Biersteker/Eckert, in: Biersteker/Eckert (ed.), Countering the Financingof Terrorism, 2008, p. 1 (7).25 Pieth, Journal of International Criminal Justice 4 (2006),1074 (1075).26 Improvised Explosive Device.27 Levi, British Journal of Criminology 2010, 650; Biersteker/Eckert (fn. 24), p. 7.28 Bell, Journal of Money Laundering Control 2003, 105 (106).29 Bell, Journal of Money Laundering Control 2003, 105.30 Levi, British Journal of Criminology 2010, 650 (663).of potential terrorist fighters as well as for the maintenance ofterrorist camps. 31 Just as an example, Al-Qaida trained morethen 70.000 people in their terror-camps before 9/11. 32 Therefore,money is needed to provide food, housing and trainingfacilities. In order to fulfill these tasks, Al-Qaida has built themost complex and robust terrorist financial network everseen. 33Furthermore, in many cases potential suicide bombers areconvinced to commit the attack due to the fact that the terroristorganization is financing their families afterwards. The poorestpeople have discovered this as an opportunity of feeding theirstarving loved ones. It is reported that every family of a suicidebomber in Palestine was donated with 30.000 US-Dollars (an amount of money, which grants the survival ofthe family for years) by outside sponsors after the attack. 34Therefore, welfare and support of families of terrorists involvefar lar<strong>ger</strong> sums than the actual attack. 35 Besides that, terroristfighters in the warzones of Afghanistan or Iraq have to getaccess to heavy weapons, like RPGs or surface-to-air-missilesas well as explosives. Additionally, financial support is neededin order to buy popular support at the Islamic home groundand to buy influence over the political and social elite in theMoslem world. As one of several examples the Hamas hasenlarged their activities besides their guerrilla warfare tosocial and political activism, by supporting schools, mosques,healthcare in run-down areas. 36 Furthermore, the fundamentalterrorist groups try to give poor social classes a new perspectiveas well as security in order to buy their support. 37 Due tothe fact that recently established democratic governments riseout of civil wars (i.e. Arabic Spring) and have therefore regularlydepleted financial reserves, they are not able to pay thesame amount of money and are not able to provide the samesupport concerning healthcare, schools and security as well associal welfare as terrorist organizations do. But, in order tofulfill this propaganda, a huge and constant income is vital,because an interruption in the cash flow leads immediately toan interruption of public support.Additionally, global terrorist groups, like Al-Qaida, providea financial aid system for other local terrorist groups,which would otherwise not have the money to stay operationalin every situation. 38 Some local and minor terrorist cells orgroups heavily depend on a limited number of ways to financetheir terrorist missions. Besides the financial aid system,enormous amounts of money are needed for the bribery of thepolice and the military in order to operate undisturbed and toset up training camps.31 Koh (fn. 12), p. 12.32 Koh (fn. 12), p. 12.33 Gunaratna (fn. 21), p. 86.34 Goldberg, The Guardian of 12.6.2002, p. 2.35 Levi, British Journal of Criminology 2010, 650.36 Esposito, Unholy War, Terror in the name of Islam, 2002,p. 99.37 Koh (fn. 12), p. 15.38 Gunaratna (fn. 21), p. 235._____________________________________________________________________________________344<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Effectiveness of the Global Combat against the Financing of Terrorism for Preventing Terrorist Activity_____________________________________________________________________________________V. The Financing of TerrorismThe combat against the financing of terrorism is not an easytask, due to the different patterns of funding, which are characterizedby an across-boarder abuse of the financial system.39 In this respect, organized criminal groups and terroristcells have huge similarities in the way they are trying to erasetheir money trails and the link between the distinction of thefunds and their nature. 40 The constant need for financial supportin order to keep terrorist activities alive leads to thequestion how those organizations are generating their cashflow in a world full of institutions that are willing to fightterrorism. The globalised world of the 21st century providesnearly uncountable possibilities. According to the FinancialAction Task Force of Money Laundering (FATF), terroristorganizations rely on legitimate and illegitimate resources atthe same time. 411. Illegitimate FinancingAs most people expect, terrorism is financed to a huge partby illegitimate financing mechanisms. The specific characteristicsdepend on the regional possibilities. The major sourcesof income for several terrorist groups within the Middle Eastand within South America as well are the harvest and sale ofdrugs. Just to name a few, the FARC, the Kurdistan Workers’Party, the Sri Lanka’s Liberation Ti<strong>ger</strong>s of Tamil Eelam andthe Afghanistan Hizbi-Islami, mainly rely on drug traffickingas a method of fundraising. Terrorist groups in Columbia generate60-90 % of their financial background from drugsalone. 42 Peasants in Afghanistan are producing more that70 % of the world’s opium supply, which provides terroristgroups with millions and even billions of US-Dollars. Besidesthe possibility to generate money, drugs are also used as weaponsagainst the Western World within special Islamist “fatwas”.43 Other methods of generating money are kidnappingand piracy, which have lately become lucrative businesses forterrorist groups. The ETA for example has generated approximately15 million US-Dollars via kidnapping in 1997. 44 Besidesthe regularly occurring kidnapping of tourists, foreignworkers or missionaries, modern piracy (especially at thecoastlines of Somalia) has increased dramatically, which hasenormous influence on the world trade. The impact is so hugethat a naval military operation seemed to be the only optionin order to stop piracy by escorting the targeted oil tankersand other cargo ships.In other parts of the world, smuggling provides the possibilityof generating terrorist money. Smuggling involves the39 Gardella, in: Bianchi (ed.), Enforcing International Law,2004, p. 415 (415).40 Gardella (fn. 39), p. 419.41 FATF-XIII, Report on Money Laundering Typologies2002-2003 of 14.2.2003, p. 1.42 See Berry/Curtis/Hudson/Kollars, A Global Overview ofNarcotics-Funded Terrorist and Other Extremist Groups,2002, p. 52.43 Bodansky (fn. 14), p. 322.44 Napoleoni, Modern Jihad, 2003, p. 36.transport of contraband goods, which includes legitimate products(especially tobacco and liquor) that are restricted ortaxed differently in the target market than in the home market.45 Besides the smuggling, product counterfeiting providesanother method of generating money. Additionally, the tradewith gemstones helps terrorists to move their money outsideof the formal sector. 46 This way of trading provides manyadvantages, like the hold in value, the easy convertibility incash, the possibilities of transportation including the limiteddetection by metal detectors and the untraceable nature. 47Therefore, the kind of illegitimate finance depends heavilyon the region in which the terrorist group is located and operating.As shown above, piracy occurs mainly at the coast ofSomalia and Indonesia and therefore in specific geographicalareas with high sea-traffic, whereas kidnapping is only possiblein countries, which are providing the possibility of withdrawingand hiding victims. These are mainly sparsely populatedareas with a low security infrastructure, e.g. Iran, Yemen,Egypt or Indonesia. Al-Qaida’s financial network in Europeon the other hand is based on credit-card fraud, which generatesapproximately up to one million US-Dollars per month. 48Nevertheless, Islamic terrorist groups also raise money bystreet level drug dealing or other smaller criminal offences. 492. Legitimate FinancingIllegitimate financing via criminal activities is believed to bethe most important financial source for terrorism. 50 Nevertheless,especially within the last decades the globalization openedseveral new legitimate methods of financing as well. Terroristfunds can derive from membership subscriptions, sales of publications,cultural and social events or donations 51 , whichwere merely introduced by the IRA in the 1960s. 52 The socalled“Noraid” secured their funding out of the USA andraised more than 50 % of the IRA’s cash. 53 The estimatedfundraising capacity of the IRA was estimated to be somewherebetween 5 and 8 million GBP per year, whereby theannual running costs were estimated at about 1,5 millionGBP. 54Islamic terrorist groups introduced a quite similar way tofinance their activities. Al-Qaida for example has developed ahuge financial network and donation system, which includeswealthy Muslims and the masses that make regular charitabledonations as their religious obligation. 55 It is estimated that atleast 6 million GBP are sent annually from contributors outof Great Britain to Al-Qaida. 56 These donations come from45 DeKieffer, in: Biersteker/Eckert (fn. 24), p. 150 (156).46 Farah, in: Biersteker/Eckert (fn. 24), p. 193 (193).47 Farah (fn. 46), p. 193.48 Gunaratna (fn. 21), p. 65.49 Bell, Journal of Money Laundering Control 2003, 105 (106).50 Koh (fn. 12), p. 18.51 Gardella (fn. 39), p. 420.52 Levi, British Journal of Criminology 2010, 650 (652).53 Adams, The Financing of Terror, 1998, p. 172.54 Bell, Journal of Money Laundering Control 2003, 105 (107).55 Koh (fn. 12), p. 21.56 Bell, Journal of Money Laundering Control 2003, 105 (106)._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com345


Niclas-Frederic Weisser_____________________________________________________________________________________wealthy contributors as well as from other Islamic militants. 57Additionally, in the Islamic community every good Muslimhas to pay the zakat, which is at least 2.5 % of the accumulatedwealth held for one year. 58 Islamic banks take the same 2.5 %for every transaction or contract they handle. 59 Even thoughmost of the time the zakat is used for legal and charitable purposes,it provides a very good possibility to collect money forterrorist organizations, especially because it is regularly offthe balance sheet and records can easily be destroyed afterthe transaction is complete. Therefore they are nearly impossibleto trace for western intelligence. 60 However, if the abuseof charities would be so widespread, the question arises whyonly a few charities have been found guilty of funding terrorismworldwide. 61Besides the donations, terrorist activities are also financedby ordinary legitimate business, which includes real estateinvestments, regular businesses and investments at the stockexchange. Bin Laden for example reportedly owned a substantialportion of legitimate manufacturing companies and ashipping fleet. 62 Additionally, some countries in the MiddleEast are buying protection. It is reported that the Saudi royalfamily gave millions of US-Dollars to Al-Qaida in exchangefor an agreement that there will be no attacks on the soil ofSaudi Arabia whatsoever. 63 Diametrical to the illegitimate activities,legitimate businesses suffered serious losses in therecent years, due to the fact that counter-terrorism agenciesaround the world are trying to find those companies ownedby terrorist supporters as well as due to the financial crisis.Nevertheless, the legitimate origin of the funds makes themeven harder to detect. 64VI. Tools in the Combat against the Financing of TerrorismThe backbone of the combat against the financing of terrorismis the identification, detection, freezing, seizure and forfeitureof terrorist funds. 65 Confiscation of property itself feltinto disuse after the monarchies within the eighteenth centuryindiscriminately used asset forfeiture in order to finance theirwars. 66 During these times it was seen as the “civil death57 Bell, Journal of Money Laundering Control 2003, 105 (106).58 Lewis/Algaud, Islamic Banking, 2001, p. 27.59 Napoleoni (fn. 44), p. 33.60 Napoleoni (fn. 44), p. 33.61 Gunning, in: Biersteker/Eckert (fn. 24), p. 93 (94).62 Bell, Journal of Money Laundering Control 2003, 105 (106).63 Bell, Journal of Money Laundering Control 2003, 105 (107).64 Gardella (fn. 39), p. 419.65 According to Art. 1 para. 1 ICSFT funds are: “assets ofevery kind, whether tangible or intangible, movable or immovable,however acquired, and legal documents or instrumentsin any form, including electronic or digital, evidencingtitle to, or interest in, such assets, including, but not limitedto, bank credits, travelers cheques, bank cheques, money orders,shares, securities, bonds, drafts, letters of credit”.66 Pieth, Journal of International Criminal Justice 4 (2006),1074 (1075).penalty”. 67 Nowadays, this approach has been reintroduced innearly every jurisdiction and as well within the InternationalConvention for the Suppression of the Financing of Terrorismfor example. 68After the money is identified and detected, the only wayto combat the financing of terrorism is the freezing and seizureof the funds, which means temporarily prohibiting thetransfer, destruction, conversion, disposition or movement ofproperty or temporarily assuming custody or control of propertyon the basis of an order issued by a court or other competentauthority. 69 An important element of the freezing offunds is the fact that the assets and funds remain in the propertyof the original owner, who stays in charge of the administration.70 Within seizure on the other hand the assets andfunds also remain in the property of the original owner, althoughthe seizing state authority will take over the administration,possession and management. 71 In this respect, it isessential to remember that freezing and seizure can only betemporarily measures and not for good. This fact often seemsto be forgotten by some state authorities within the global waron terror. Forfeiture or confiscation on the other hand takesplace when the state authorities order that the ownership offunds or assets is transferred to the state whereby the originalowner loses all rights to the property. 72 Therefore, forfeitureis the last and most effective part of the tools of the combatagainst the financing of terrorism.VII. Effectiveness for Preventing Terrorist ActivityIt is necessary to evaluate whether the general financial combatagainst the financing of terrorism by the freezing and forfeitureof funds can reach the goal of minimizing the financialinfrastructure of terrorism or not as well as which negativeside effects do exist and if they could outweigh the accomplishedbenefit.1. Amount of Money NeededOne of the central roles in the evaluation of the effectivenessof the combat against the financial infrastructure of terrorismplays the actual amount of money needed by terrorist groupsin order to stay operational. As we have seen above, besidesthe 9/11 attacks, severe bombings can be accomplished withonly a limited amount of money, mostly under 50.000 US-Dollars. Within the warzones of Afghanistan and Iraq, IEDsare even less expensive and therefore constantly in use. Dueto the fact that the financial background needed is so low,some state that every dollar counts and freezing as well as67 Pieth, Financing Terrorism, 2002, p. 118.68 Pieth, Journal of International Criminal Justice 4 (2006),1074 (1075).69 Art. 1 lit. g of “The Council of Europe Convention onLaundering, Search, Seizure and Confiscation of the Proceedsfrom Crime and on the Financing of Terrorism” from 2005.70 International Monetary Fund, Suppressing the Financing ofTerrorism, A Handbook for legislative Drafting, 2003, p. 28.71 International Monetary Fund (fn. 70), p. 28.72 International Monetary Fund (fn. 70), p. 28._____________________________________________________________________________________346<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Effectiveness of the Global Combat against the Financing of Terrorism for Preventing Terrorist Activity_____________________________________________________________________________________seizure of terrorist money is absolute critical. Others concludethat the inexpensiveness of terrorist acts makes thefreezing and seizure of funds to an impossible task, 73 whichleads to the assumption that the combat against the financingof terrorism might not be as effective in the war on terror asmany people expected it to be. 74But is it really true that terrorism does not need a majorfinancial background? The essay has revealed that a terroristattack itself is quite cheap and can probably not be foughtdirectly with financial measures. But like all other organizations,terrorist groups require money to pay for their infrastructure.75 The essay has shown that they need huge financialresources for training camps, donations to the families ofthe suicide bombers, welfare and several other investments.These costs are enormous compared to those of the attackitself. Al-Qaida for example is estimated to spend about 10 %of their money on actual terrorist attacks, while the rest isused to administrate and maintain the organization, recruitment,training, indoctrination, disseminating information, livingexpenses or to establish and maintain so-called “sleepers”.76Nevertheless, the cost-benefit ratio is still against theWestern World, due to the fact that billions are invested tosecure the population and only thousands are needed tolaunch multiple attacks. Due to the fact that the combatagainst the financing of terrorism is not able to prevent terroristattacks in the short-term or a specific bombing, eventhough several people conclude differently, it is more of along-term strategy. Overall, the financial war on terror is onlyone brick in the wall of obtaining terrorism. It is reducing theamount of training facilities and indoctrination. Furthermore,terrorist groups are losing support on their home ground iftheir investment into welfare and security is depleting. Therefore,the combat against the financing of terrorism stays anecessary tool to prevent terrorist activities in a long term.2. Amount of money frozen and forfeitedAnother indicator for the effectiveness of the combat againstterrorism is the actual amount of money, which has beenfrozen and forfeited. Due to the necessary relation betweenproportionate measures and their potential effectiveness 77 , thefrozen money should be quite high, because of the constantviolations of human rights. Still some believe in the effectivenessof the combat against the financing of terrorism in thewar on terror 78 , by saying that over 147 million US-Dollarshave been frozen worldwide until the year 2005. 79 This figureseems to be very high in the first place. But if one comparesit to the estimated money of the terrorist organizations, 147million US-Dollars is not an overwhelming figure. 80Furthermore, even those figures are arguable. Whereby,the US Assistant Treasury Secretary estimated the mentionedamount of money in 2005, the UN 1267 Committee estimatedthe frozen and forfeited money to be not more than 91,4 millionUS-Dollars in 2006. 81 Still, some argue that this wouldstill be an impressive achievement. 82 But even if severalhundred million US-Dollars would have been blocked, it islikely that at least several dozen million US-Dollars have notbeen detected and therefore not been frozen or confiscated.With this amount of money many massive attacks are stillpossible worldwide. Another often unmentioned fact is thatseveral million US-Dollars have been unfrozen again, includingthe tens of millions returned to the Afghan Governmentafter the official end of the war and the establishment of anew government. 83 Furthermore, the drug-industry in Afghanistan,which is financing all kinds of terrorist groups, makesapproximately 6 billion US-Dollars every year. By comparingthese figures one can easily see the gap between the frozenand confiscated amount of money and the amount involved interrorist funding.Additionally, the donations for charities, which are linkedto Al-Qaida, are estimated to be between 6 and 9 million US-Dollars per year in the United States of America alone. 84Even if only 10 % of this money is channeled to Al-Qaidadirectly, the organization earns up to 900.000 US-Dollars peryear in the USA from donations. Needless to say the freezingof approximately a few hundred million US-Dollars since 9/11is not the preached breakthrough in the combat against thefinancing of terrorism. The UK Foreign Office Minister suggestedthat Al-Qaida’s income has fallen by over 90 % sincethe attacks on the World Trade Centre as a result of the internationalefforts, without referring to any figures. 85 Keepingthe estimated annual income of terrorist organizations in mind,this assumption does not seem to be very convincing. Therefore,the actual amount of money, which has been frozen orforfeited, does not speak in favor of an effectiveness of thecombat against the financial infrastructure of terrorism. Buteven if not all or only a small amount of terrorist money canbe frozen, it is a success within the war on terror. It will neverbe possible to forfeit all funds, but it puts pressure on theterrorist organizations.73 Biersteker/Eckert (fn. 24), p. 7.74 Bowers, Denver Journal of International Law and Policy2009, 379 (388); Gunaratna (fn. 21), p. 64; Biersteker/Eckert(fn. 24), p. 1.75 Bell, Journal of Money Laundering Control 2003, 105.76 Biersteker/Eckert (fn. 24), p. 7.77 Pieth, Journal of International Criminal Justice 4 (2006),1074 (1075).78 Passas, Case Western Reserve Journal of International Law2009, 243.79 Levi, British Journal of Criminology 2010, 650 (654); Biersteker/Eckert(fn. 24), p. 12.80 Crimm, Wake Forest Law Review 2008, 577 (616).81 Biersteker/Eckert/Romaniuk, in: Biersteker/Eckert (fn. 24),p. 234 (245).82 Biersteker/Eckert (fn. 24), p. 12; McCulloch/Pickering,British Journal of Criminology 2005, 470.83 Sproat, Journal of Money Laundering Control 2010, 315(330).84 Gunning (fn. 61), p. 104.85 Bell, Journal of Money Laundering Control 2003, 105 (120)._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com347


Niclas-Frederic Weisser_____________________________________________________________________________________3. Effects on the Legal Economy and Problems of EntrustmentOne of the negative side effects of the combat against thefinancing of terrorism is the effect on the legal economy. Thelegislation imposes enormous costs for the regular legitimateeconomic activities 86 , which includes a tremendous increasein paperwork and documentation, like the supervision of transactions.Additionally, the new procedures which are governingthe opening of bank accounts have increased the costsfor financial institutions and therefore also for their customers.87 In this respect, the monitoring and documentationcosts are higher than ever before, because within the waragainst the financing of terrorism states are not able to monitorand control the financial transfers directly and by themselves.88 The process has to be entrusted to financial servicefirms (e.g. banks) in order to use their expertise and manpower.Keeping this in mind, the costs for the society couldoutweigh the benefit of the war against the financial infrastructureof terrorism. Furthermore, the increase of costs aswell as the mandatory detailed documentation could lead to adecrease in the readiness to operate legal charity organizations,which are vital for many least developed countries.However, the side effects are only petit compared to the economicallosses after terrorist attacks. 9/11 and every otherbombing in the Western World has had enormous effects onthe global stock exchanges, which let to tremendous financiallosses for businesses and private investors. Therefore, the negativeside effects of the financial infrastructure of terrorismon the legal economy do not outweigh the benefits and do nothinder the effectiveness of the combat against the financingof terrorism.4. Problems with the Detection, Freezing and Seizure of FundsWithin the assessment of the effectiveness of financial war onterror one major problem is obvious. Within the financialcombat against terrorism the detection of money as well asthe blocking of transactions in order to forfeit the financialbackbone of the terrorist groups sounds easier as it really is.State authorities do not have the required manpower to viewall international transactions or even a small percentage ofthem. Therefore, within the globalized world with its billionsof transactions per year on a global scale, money-trackingschemes have to be computer-based. Even though the capacityof computers has increased dramatically over the recent years,computer-based search engines still need specified search parametersin order to detect those transactions, which are forterrorist purposes from those, which have just a legal background.Parameters could be the exceeding of a specifiedamount of money, or every transaction that is donated to aspecific person, group or company. Furthermore, the enginecould search for constant transaction of small amounts ofmoney to one person or a small group. The problem is obvi-86 Davis, in: Ramraj/Hor/Roach (ed.), Global Anti-TerrorismLaw and Policy, 2005, p. 183 (197).87 Davis (fn. 86), p. 197.88 Levi, British Journal of Criminology 2010, 650 (651); Biersteker/Eckert(fn. 24), p. 1.ous, the narrower the parameter the more terrorist transactionscannot be detected. On the other hand, the wider theparameter, the more transactions will be under suspicion andif the amount of transaction under suspicion is exceeding thework limit of the state authorities, the detection of the transactionswill be too late to freeze and forfeit funds or assets.Therefore, law enforcement agencies are not able to monitora significant proportion of the worldwide transactions or touse the monitored data efficiently. 89Furthermore, terrorist groups are trying to counter the parametersof the search engines. They split up huge amounts ofmoney into several transactions, each with a different sum.These transactions are regularly hidden within businesses,which have already a huge amount of constant incoming andoutgoing transactions. Additionally, not all of them are addressedto the same consignee. Instead, they are split up andspread over several different companies and private persons.Due to this method, the tracing of terrorist transactions becomesnearly impossible, because every transaction lookslike millions of other regular ones. Due to the fact that it isnearly impossible to detect terrorist money right away, theweb of different people and organizations used to transfermoney can only be unraveled, if some are already known bythe intelligence or police. Nevertheless, this does not happenvery often. Between 9/11 and the 31.12.2007 only 74 chargeswere laid in Great Britain concerning the financing of terrorism,which are just less than 12 per annum. 90Besides the problem of detection within the regular financialsystem, the essay has revealed that terrorist organizationsare using other transfer systems as well, like informal fundtransfer systems (e.g. hawala, hundi, fei chien and other blackmarket exchange networks) 91 . Hawala for example, is one ofthe only effective and cost efficient ways of transferringfunds in many parts of the developing world. 92 In this respect,IFTS are not an invention of terrorist groups, but a regularmethod of transferring money in some parts of the world.They have some common characteristics, which include ageneral absence of long-term record keeping and know yourcustomer practices, collateral and unintended damages, themixing of other activities and IFTS as well as the huge difficultiesto establish countermeasures. 93 By using the IFTS terroristorganizations can evade the ordinary possibilities ofbeing detected. However, law enforcement officers have notfound a single case in the United States of America and norecent one within Europe where the hawala-system has beenused by a terrorist group 94 , either due to the fact that it is notso common as expected or to the fact that it is working sowell that it does not provide a chance of detection. This con-89 Davis (fn. 86), p. 196.90 Sproat, Journal of Money Laundering Control 2010, 315(318).91 Passas, Case Western Reserve Journal of International Law2009, 243 (252).92 Biersteker/Eckert (fn. 24), p. 10.93 Passas/Maimbo, in: Biersteker/Eckert (fn. 24), p. 174(177).94 Passas/Maimbo (fn. 93), p. 177._____________________________________________________________________________________348<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Effectiveness of the Global Combat against the Financing of Terrorism for Preventing Terrorist Activity_____________________________________________________________________________________clusion is backed up with the fact that the financing of terrorismis very hard to prove. Within Great Britain for example1.286 people were arrested, for their relation to terrorist activitiesbetween 2001 and 2008, whereby only 442 have beencharged, including only 47 charges for terrorist financing. 95In the end only 189 people were convicted including 8 convictionsrelated to terrorist financing. 96 These figures showthat only every 23rd conviction is conducted due to the financingof terrorism.One major problem within the detection of terrorist fundsappears to be the dan<strong>ger</strong> of proscribing illegitimate as well aslegitimate financings especially within the work of charitableorganizations with mixed purposes and activities. 97 Most ofthe time, those organizations have officially the purpose ofpeaceful political engagement or the fight against povertywithin least developed countries. Therefore, it is not verylikely to find out, whether the organization supports terroristactivities or not, especially if the funding supports both 98 , becausemany funds are invested off the balance sheet. Due tothe problems of detecting, which money is supposed to be forterrorist activities and which is not, a combat against the financingof terrorism could lead to severe impacts upon the legitimateglobal humanitarian aid within least developed countries.Furthermore, nearly 2,5 billion people and therefore morethat one-third of the global population is “unbanked”. Withoutbank accounts monitoring becomes nearly impossible andsearch engines are useless. Besides that, new payment technologieshave been developed, like digital currencies 99 andthe mobile payment service via mobile phones, which allowsvalue storage on the phone (widespread in Southeast Asia andupcoming in Africa). By using this new payment methods bankaccounts can easily be bypassed. 100 Other upcoming paymentservices are centrally recorded value cards and those, whichkeep the value on the card itself and are therefore harder totrace and to record by counter terrorist units. 101 Many ofthose new payment methods have anonymity risks by a lackof customer due diligence requirements. 102VIII. ConclusionTerrorism is one of the key threats to a stable, globalisedfinancial system. 103 In this respect the financing of terrorismhas attracted the attention of the international legal communityas one way within the multifaceted war against terror. 104 Theonly legal tools within this new “battlefield” are the freezing,seizure and forfeiture of terrorist funds. This essay has revealedseveral difficulties and negative side effects of a worldwidecombat against the financing of terrorism and especially ofthe freezing, seizure and forfeiture of funds. In this respect, itis not clear whether the positive outcome is outweighing thenegative side effects. Uncountable legitimate and illegitimateways of terrorist financing do exist worldwide, which sometimesleads to the false assumption that a combat against thefinancing of terrorism is fully ineffective right away. But theessay has shown as well that some funds can be identifiedeven though the detection techniques could be improved.Keeping this in mind, the ineffectiveness of the detection ofterrorist funds at the moment should not lead to surrender butto a change of mind in respect to the cooperation of states andprivate businesses. In this respect the diversity of terroristfinancing also reveals that a multi-disciplinary approach concentratedon criminal and financial law and regulations as wellas coordinated multi-jurisdictional efforts are needed. 105The main problem of the freezing, seizure and forfeitureof funds is the assumption that terrorist cells only need alimited amount of money in order to stay operational and tofulfill multiple attacks. The essay has revealed that the answerto this question is two-fold. It is true that the actual attackitself does not cost a lot of money. However, terrorism needsa constant and immense cash flow in order to stay operationalon a long-term basis. Propaganda, the support of the familiesof suicide bombers, recruitment, guidance, the set-up andmaintenance of terror camps as well as their relocation in acase of emergency are only some examples of the desperateneed of financial support. In this respect, the combat againstthe financing of terrorism and the tools of freezing, seizureand forfeiture are useful and necessary in the war on terror,even though they can only be one little brick in the wall ofthe war on terror. Additionally, home grown terrorism shouldbe prevented with a decent immigration-strategy, collateraldamage within the warzones should be minimized and economiccooperation’s are needed in order to increase thewealth in endan<strong>ger</strong>ed countries with terroristic potential. Ifthese strategies would be conducted and the financial combatwould become more efficient, the suppression of terrorismmay be achievable on a long term.95 Sproat, Journal of Money Laundering Control 2010, 315(320).96 Sproat, Journal of Money Laundering Control 2010, 315(320).97 Davis (fn. 86), p. 184.98 Davis (fn. 86), p. 184.99 Hett, Richmond Journal of Law and Technology 2008, 1.100 Zerzan, New Technologies, New Risks?, 2009, p. vii.101 Zerzan (fn. 100), p. vii.102 De Koker, Journal of Financial Crime 2006, 26 (28);Zerzan (fn. 100), p. 30.103 Mills, Journal of Financial Crime 2004, 380 (395).104 Gardella (fn. 39), p. 415.105 Gardella (fn. 39), p. 415._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com349


Der Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern in EuropaVon Wiss. Mitarbeiterin Georgia Stefanopoulou, LL.M., PassauI. EinführungJede Gesellschaft wird mit dem Bedürfnis der ausreichendenAbschirmung ihrer Mitglieder von gefährlichen Tätern konfrontiert,die immer wieder dazu neigen, straffällig zu werden.Da aber dieses Sicherungsbedürfnis mit dem Freiheitsgrundrechtdes Täters kollidiert, 1 sind repressive Reaktionen,die sich auf unberechtigte gesellschaftliche Verbrechensfurchtstützen und die Rechte des Täters übermäßig tangieren,höchst bedenklich. Vielmehr ist die Ausgestaltung einer angemessenenKriminalpolitik durch rationale Überlegungsprozesseerforderlich. In der Art des Umgangs mit den gefährlichenStraftätern bildet sich die kulturelle Reife einer Gesellschaftab. Es ist eine große Herausforderung für eine Gesellschaft,deren Vorschriften ihr Spiegelbild sind, das Sicherheitsbedürfnisund das Freiheitsgrundrecht des Täters miteinanderin Einklang zu bringen. 2 Hochinteressant ist daher zuschauen, wie neben Deutschland andere europäische Ländersich um das Ziel der <strong>ger</strong>echten Regulierung des Spannungsverhältnisseszwischen Sicherheit der Allgemeinheit und denGrundrechten des Täters bemühen. Dadurch wird eine breitereSichtweise auf die Gefühlslage der Öffentlichkeit gegenüberdem Verbrechen und das kriminalpolitische Zeitempfindengewonnen. Zusätzlich erhalten wir dann womöglich aucheinen Fin<strong>ger</strong>zeig für eine besonnene Behandlung gefährlicherTäter. Die Bedeutsamkeit der Blickerweiterung erkennt auchder EMGR, wenn er in seinem vieldiskutierten Urteil vom17.12.2009 auf einen europäischen Rechtsvergleich der europäischenSysteme zum Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichenStraftätern eingeht. 3 Im Folgenden werden die voneuropäischen Staaten gewählten unterschiedlichen Wegeskizziert und kritisch betrachtet. 4II. Die Behandlung der gefährlichen Straftäter im englischenSanktionssystem1. Die Berücksichtigung des Sicherungsbedürfnisses derGesellschaft allein durch StrafenWährend in Deutschland trennscharf zwischen Strafen undMaßregeln zu unterscheiden ist, sieht das aktuelle englischeSanktionsrecht neben der Strafe keinen zweiten Typus vonstaatlicher Reaktion gegen einen Straftäter vor, die im Gegensatzzur Strafe schuldunabhängig ist. Die englische Rechtsordnunglegt ein einspuriges Sanktionssystem (Single-track-1Zum Spannungsverhältnis von Sicherheit und FreiheitHassemer, StV 2006, 321.2 So Sturm, Die Sicherungsverwahrung in Deutschland undEngland, Ein kriminologisch-rechtsdogmatischer Vergleich,2010, S. 1.3 EGMR, Urt. v. 17.12.2009 – 19359/04 (M. v. Deutschland),Rn. 69-75.4 Im Rahmen der hiesigen Untersuchung kann aber leider nureine Auswahl besprochen werden. Im Vordergrund stehenLänder, deren kriminalpolitische Lösungen am meisten vondem deutschen Sanktionssystem abweichen.System) zugrunde, das nur Strafen kennt. 5 Somit bildet dasenglische Sanktionssystem den konzeptuellen Gegenpol zumdeutschen System der Zweispurigkeit. Hier sollte aber nichtder irreführende Eindruck entstehen, dass die englische Rechtsordnungdas Problem der Behandlung von gefährlichen Täterneinfach ausblendet und keine konkrete Lösung für diese Kategorievon Tätern vorsieht. Ganz im Gegenteil, sie erkenntnicht nur das Problem, sondern entfaltet ein besonders verschärftesGefahrenabwehrrecht. 6 Der genaue Unterschied zuDeutschland liegt darin, dass die besondere Reaktion gegenüberden gefährlichen Tätern nicht „Maßnahme“ genannt wird,sondern wie im Falle gewöhnlicher Täter als Strafe wahrgenommenwird, die allerdings die konkretere Bezeichnung„besondere Strafe“ 7 verdient, weil sie im Vergleich zu übrigenVerhängungstatbeständen formelle und materielle Besonderheitenaufweist und nur die Kategorie der gefährlichen Täterbetrifft. Die Wirkungen dieser kriminalpolitischen Grundentscheidunggehen aber, wie an späterer Stelle gezeigt wird,über die rein begriffliche Verschiedenheit hinaus und betretenden Bereich der rechtsstaatlichen Grenzen des Strafrechts.Die Erklärung für diese Diskrepanz zwischen den zweiSanktionssystemen liegt darin, dass in das englische Strafverständnishauptsächlich praktische Faktoren eingewirkt habenund nicht dogmatische Überlegungen, wie sie zum deutschenZweispurigkeitskonzept geführt haben. 8 Dies wird durch einenBlick auf die unterschiedlichen Entstehungsgeschichten derSicherungsverwahrung in Deutschland und der vergleichbarenbesonderen Strafe in England anschaulich. Während diezweispurige Sanktionsstruktur Deutschlands das dogmatischverankerte Kompromissergebnis des intensiven Dialoges zwischender auf den Lehren von Kant und Hegel aufgebautenklassischen Lehre und des v. Lisztschen Marbur<strong>ger</strong> Programmsdarstellt, das ein vergeltendes Schuldstrafrecht und ein präventivesMaßregelrecht zu vereinbaren versucht, ist die besondereStrafe in England auf rein praktische Probleme zurückzufüh-5 Ein zweispuriges Sanktionssystem (Double-track-System)hat auch England mit der Erlassung des Prevention of CrimeAct 1908 gekannt, das aber 1948 wegen der in der Praxis<strong>ger</strong>ingen Anwendung des im Act vorgesehenen preventivedetention durch das Single-track-System abgeschafft wurde,dazu Allen, ZStW 80 (1968), 163 (164); Geisler, Die Sicherungsverwahrungim englischen und deutschen Strafrecht, EinBeitrag zur Behandlung und Bestrafung der Rezidivisten,1967, S 65 f.; dazu ausführlich auch Ashworth, Sentencingand Criminal Justice, 2010, S. 196 f.6 Allgemein zu der repressiven Strafrechtspolitik Englands,siehe Ashworth, ZStW 109 (1997), 677; zur Tendenz des englischenSanktionssystems zu der „just deserts philosophy“,Baker/Clarkson, Crim.L.R 2002, 81 (85).7 Auf diese richtige Bezeichnung weist Sturm (Fn. 2), S. 2.8 Die homogenere und teilweise besser durchdachte SanktionsstrukturDeutschlands betont Wischmeyer, ZStW 118 (2006),773 (798); dazu auch Geisler (Fn. 5), S.33 ff.; zu der Zweitrangigkeitder dogmatischen Diskussionen in England imGegensatz zu Deutschland auch Sturm (Fn. 2), S. 23._____________________________________________________________________________________350<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Der Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern in Europa_____________________________________________________________________________________ren. 9 Auslöser der Diskussion über die besondere Behandlungvon gefährlichen Tätern in England war in erster Linie die inder Mitte des 19. Jahrhunderts praktizierte Verwei<strong>ger</strong>ung derEastern Colonies Australiens, weitere verurteilte Straftäter aufzunehmen.10 Damit wurde England gezwungen, seine frühereDeportationspolitik in ferne Kolonien aufzugeben und nachanderen Umgangslösungen mit Straftätern zu suchen. Nebendiesem aus praktischen Gesichtspunkten problematischen Hintergrundsind als weitere Prägungsfaktoren des englischenpragmatischen Sanktionskonzepts die traditionell starke Stellungdes Richters und die eine „Überdogmatisierung verhinderndeLaienorientierung“ zu erwähnen. 112. Konkrete Ausgestaltung der „besonderen Strafe“ imCriminal Justice Act 2003Zwar ist schon im Criminal Justice Act 1991 eine besondereRegelung für gefährliche Täter zu finden, welche die Verhängungvon erweiterten Freiheitsstrafen ermöglicht, die überdie vom Prinzip der Verhältnismäßigkeit eingegrenzten Strafrahmenhinausgehen (lon<strong>ger</strong>-than-proportionate sentences). 12Eine aus systematischen Perspektiven betriebene Behandlunggefährlicher Straftäter als eigene Kategorie ist jedoch erst mitdem Inkrafttreten des Criminal Justice Act 2003 13 zu konstatieren.14 15 Höchst bedenklich ist dabei, dass es, um aus formellerSicht unter die Kategorie „gefährlicher Täter“ zu fallen,allein auf die Schwere der Anlasstat ankommt. 16 Das Vorliegeneiner bestimmten Anzahl von Vortaten als zusätzliche formelleVoraussetzung ist im Gegensatz zur deutschen Sicherungsverwahrungnicht erforderlich. Dadurch bleibt der Täterungeschützt und unvorbereitet gegenüber dem Eingriff derbesonderen Strafe. Denn die formelle Voraussetzung einer Anzahlvon Vorverurteilungen entfaltet eine Warnfunktion hin-9 Sturm (Fn. 2), S. 11 ff. und S. 17 ff.; dazu auch Geisler(Fn. 5), der auf die empirische Basis der englischen Diskussionüber die Sicherungsverwahrung aufmerksam macht, S. 33;zur deutschen Zweispurigkeit als Kompromiss des Schulenstreitsin dem Entwurf von 1909 für ein neues Strafgesetzbuchauch Eser, in: Britz (Hrsg.), Grundfragen staatlichen Strafens,Festschrift für Heinz Müller-Dietz zum 70. Geburtstag, 2001,S. 213 (S. 224).10 Dazu Sturm (Fn. 2), S.19.11 Wischmeyer, ZStW 118 (2006), 773 (798).12 Dazu Ashworth/Player, MLR 2005, 822; Ashworth, ZStW109 (1997), 677 (684); Henham, Crim. L.R 2001, 693.13 Zu einer kritischen Darstellung des Gesetzes Ashworth/Player, MLR 2005, 822 (825). Die Autoren sehen in dem Act2003 in Bezug auf die Darlegung der Strafzwecke in Section142 „a major step backwards“. Denn das Hauptgewicht derStrafzwecke liege in der Abschreckung und der öffentlichenSicherheit, was zur Erhöhung der Strafrahmen und zur Verletzungdes Proportionalitätsprinzips führt.14 Forster, in: Sieber/Cornils (Hrsg.), Nationales Strafrecht inrechtsvergleichender Darstellung, Allgemeiner Teil, Bd. 1,2009, S.155 (S. 165).15 Die konkrete Behandlung der gefährlichen Straftäter ist inChapter 5, Part 12, in Sections 224 bis 236 <strong>ger</strong>egelt.16 Sturm (Fn. 2), S. 102 und S. 105 f.sichtlich der Auslösung des Mechanismus der schärfsten Maßnahmedes Strafrechts. 17 Außerdem entnimmt der Verzicht aufdas Erfordernis von Vortaten der Gefährlichkeitsprognose diesolide Einschätzungsbasis, die nur die „Legalbiografie“ desTäters bieten kann. 18 Falls aber eine Vorverurteilung für einebesonders schwerwiegende Straftat vorliegt, kommt es zu einergesetzlichen Vermutung der Gefährlichkeit. 19 Diese Lösungkann aber nicht überzeugen. Eine gesetzliche Vermutung stellthinsichtlich der rechtsstaatlichen Grenzen des Strafrechts eineunzulässige Vereinfachung der Gefährlichkeitsprognose dar,die die besondere Strafe ihres Ultima ratio-Charakters beraubt.Was nun die konkrete Ausgestaltung der besonderen Strafebetrifft, sieht der Criminal Justice Act 2003 drei Arten vonbesonderen Strafen vor: a) Die lebenslange Freiheitsstrafe(„Imprisonment for Life“), b) die unbestimmte Freiheitsstrafeaus Gründen des öffentlichen Schutzes („Imprisonment forpublic protection“) und c) die erweiterte Freiheitsstrafe („ExtendedSentence“) 20 . 21 Welche von den drei besonderen Strafen,die mit unterschiedlicher Zeitlänge verbunden sind, verhängtwird, hängt allein von der Schwere der Anlasstat ab.Die Anlasstaten, die in Betracht kommen, sind im Anhang 15des Act 2003 enthalten. Hierzu gehören nur Sexual- undGewalttaten. Kritisch ist allerdings anzumerken, dass derSexualtäterbegriff, den das Gesetz zugrunde legt, sehr weitist. Denn unter die Kategorie der „specified sexual offences“,die eine besondere Strafe begründen können, fällt ein breitesSpektrum von Taten, die von der Prostitution bis zur Pädophiliereichen. 22Unbehagen sollte aus rechtsstaatlichem Blickwinkel auchder Umgang Englands mit gefährlichen Personen bereiten,die wegen psychischer Störungen nach deutschem Recht alsunzurechnungsfähig behandelt würden. Zwar sieht der MentalHealth Act 1983 für solche Fälle die Möglichkeit der Unterbringungin einem psychiatrischen Krankenhaus vor. Die Anordnungdieser Maßnahme ist jedoch nicht zwingend, was zueiner Erweiterung des Anwendungsbereichs der besonderenStrafe führt. 23 Eine strafrechtliche Verurteilung ist daher inEngland grundsätzlich unabhängig vom geistigen Zustand desTäters möglich. 24 Diese wenig überzeugende Politik erscheint17 Sturm (Fn. 2), S.102 und S. 105 f.18 Sturm (Fn. 2), S.106.19 Dazu Sturm (Fn. 2), S. 61.20 Dazu ausführlicher Wischmeyer, ZStW 118 (2006), 773(787); Sturm (Fn. 2), S. 57 ff. und S. 105 f.21 Ein wesentlicher Unterschied zwischen den besonderenStrafen und den Strafen für gewöhnliche Täter liegt in demEntlassungsmechanismus. Während gewöhnliche Täter nachder Politik des sog. „halfway release point“ nach der Hälfteihrer Haft entlassen werden, müssen die gefährlichen Täterlän<strong>ger</strong> auf ihre Freilassung warten. In besonders schweren Fällenist eine lebenslange Freiheitsentziehung („whole life order“)nicht ausgeschlossen, siehe Sturm (Fn. 2), S. 62.22 Sturm (Fn. 2), S.106.23 Wischmeyer, ZStW 118 (2006), 773 (786).24 Wischmeyer, ZStW 118 (2006), 773 (787), der darauf hinweist,dass in der Praxis der Mangel an Krankenhausplätzender häufigste Grund gegen ein Vorgehen gemäß dem Mental_____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com351


Georgia Stefanopoulou_____________________________________________________________________________________das Ergebnis des Mangels an theoretischer und dogmatischerFundierung des englischen Saktionssystems zu sein, das „dieFrage mad or bad“ nicht auf der Schuldebene beantwortetund Sanktionen nicht in Strafen und Maßregeln aufteilt. 25 Dieohnehin diffusen Konturen des Sanktionsrechts in Englandwerden aber noch undeutlicher und blasser mit Blick auf diefragwürdigen Anordnungen von „anti-social behaviour orders“oder „ASBOs“ und auf die präventiven Haftungen gegen mutmaßlicheTerroristen. 26 Diese scharfen Maßnahmen siedelnunter dem Dach des Verwaltungsrechts; dadurch werdenstrafrechtliche Garantien umgangen. 27 Konkreter kommt fürmutmaßliche Terroristen, die mangels <strong>ger</strong>ichtsfester Beweisenicht angeklagt und verurteilt werden, als präventives Mitteldie Verhängung einer Kontrollverfügung in Betracht. 28 Diesesoll so lange verhängt werden, wie eine Strafverfolgung nichtmöglich ist. Dass eine solche Vorgehensweise gegen dieUnschuldsvermutung verstößt, liegt auf der Hand. 293. Schlussanmerkungen zum englischen SystemDer voreilige Zugriff auf die besonderen Strafen, die stiefmütterlicheund wenig ausdifferenzierte Behandlung vonschuldunfähigen und schuldfähigen Straftätern sowie die Verschiebungder Strafe unter der Tarnkappe der präventivenMaßregel auf das Vorfeld der kriminellen Betätigung indizierendas Aufblühen eines punitiven Klimas, das seine Wurzelnin der verbreiten gesellschaftlichen Verbrechensfurcht, demmedialen Populismus 30 und der symbolischen Kriminalpolitikder Spätmoderne hat. 31 Auslösende Momente dieser Verschärfungvon Kontrolle und Sanktionierung und der punitivengesellschaftlichen Einstellung gegen das Verbrechen in Englandsind zwei Ereignisse gewesen: Einerseits das tragischeEreignis des Mordes an dem Kind James Bul<strong>ger</strong> durch zweiZehnjährige, ein Fall, der die englische Öffentlichkeit 1993tief erschüttert hat, und andererseits die ins selbe Jahr fallendepopulistische Aussage des damaligen Innenministers MichaelHoward, dass „Prison works“, obwohl drei Jahre zuvor dasInnenministerium noch vertreten hatte: „Prison can be an ex-Health Act ist. Dadurch landet ein Großteil von nach deutschemVerständnis schuldunfähigen Tätern im Strafvollzug.25 Wischmeyer, ZStW 118 (2006), 773 (787).26 Forster (Fn. 14), S. 155 (S. 162 f.).27 Dazu Wischmeyer, ZStW 118 (2006), 773 (785); Forster(Fn. 14), S.155 (S. 163, 166).28 Forster (Fn. 14), S. 155 (S. 166); zu ASBOs auch Ashworth(Fn. 5), S. 362.29 Forster (Fn. 14), S. 155 (S. 163); Kritik übt auch Forsteran der gesamten tatsächlichen Gestaltung des Strafrechts inEngland. Die Grundsätze der individuellen Verantwortlichkeit(principle of responsibility) und des criminal law as last resortwerden in England nicht genug beachtet und Vorschriftenstrafrechtlicher Natur werden auf die Regelung von sozialenund politischen Problemen ausgedehnt, Forster (Fn. 14), S. 155(S. 156).30Zum Populismus im „policy-making“ Baker/Clarkson,Crim.L.R. 2002, 81 (93 ff.).31 Dazu Garland, KrimJ 2004, 3; so auch Wischmeyer, ZStW118 (2006), 773 (792).pensive way of making bad people worse“. 32 Dadurch wurdeeine „gefühlte Bedrohungslage“ 33 erzeugt, die nicht der tatsächlichenKriminalitätslage entsprach und sich in dem anstrafrechtlichen Garantien praktisch wenig gebundenen SanktionssystemEnglands widerspiegelt. 34 Insgesamt erscheint esnicht unberechtigt festzustellen, dass das SanktionsregimeEnglands nicht dem allgemeinen Standard rationaler Kriminalpolitik<strong>ger</strong>echt wird, die Behauptung von Gefahren nicht nurin den Raum zu stellen, sondern auch empirisch zu validieren.35III. Die Behandlung gefährlicher Straftäter in Schweden 361. Das Hin-und-her-Schwanken der schwedischen KriminalpolitikAuf Einspurigkeit gründet sich auch das schwedische Sanktionssystem.Zu dieser Lösung wurde Schweden aber aus ganzanderen Gründen als England bewogen. Während Englanddurch die Einspurigkeit eher auf Repression abzielt, siehtSchweden hierin vielmehr den Weg zu einer humanitären undmilden Behandlung der Straftäter. Das zweispurige Systemverstoße gegen das Menschlichkeitsgebot. 37 Interessant istdas schwedische Beispiel aus folgendem Grund: Zwar stelltdie schwedische Kriminalpolitik immer auf Einspurigkeit ab,schwankt jedoch stets zwischen unterschiedlichen Formen,die von einem Extrem in das andere kippen und dann nocheinmal zur Ausgangsposition zurückkehren. Deshalb werdendie Bewegungen der schwedischen Kriminalpolitik mit deneneines Pendels verglichen. 38 Während im 19. Jahrhundert eineeinseitige Prägung der Kriminalpolitik durch die generalpräventivenZiele der klassischen Strafrechtslehre festzustellenist, geht das schwedische Sanktionssystem am Anfang des20. Jahrhunderts zu einem an Individualprävention orientierteneinspurigen Maßregelsystem über, das wiederum schnellzugunsten eines einspurigen Systems verlassen wird, das vonNeuem nur Strafen erkennt und auf präventiv aus<strong>ger</strong>ichteteMaßnahmen mit zeitunbestimmter Freiheitsentziehung verzichtet.39 Wegen dieser Entwicklungsbesonderheiten deraktuellen Kriminalpolitik Schwedens einerseits und der generellenSchwierigkeit einer angemessenen Reaktion auf gefährlicheRückfalltäter andererseits, lohnt es sich, die konträrenKonzeptionen zu skizzieren, die den immer wieder neuauftauchenden Einspurigkeitslösungen in Schweden zugrundeliegen.32 Ashworth/Player, MLR 2005, 822.33 Hassemer, StV 2006, 321 (329).34 Kritisch auch Sturm (Fn. 2), S. 26.35 Die Formulierung dieser Plicht stammt aus Hassemer, StV2006, 321 (331).36 Für einen Überblick über sämtliche nordischen Länder, Cornils,ZStW 99 (1987), 873 (881 ff.); Sveri, ZStW 80 (1968),176.37 Simson, ZStW 80 (1968), 189 (194).38 Cornils, ZStW 99 (1987), 873 (874).39 Ausführlich dazu Cornils, ZStW 99 (1987), 873 (874 ff.);auch Victor, ZStW 102 (1990), 435._____________________________________________________________________________________352<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Der Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern in Europa_____________________________________________________________________________________2. Der BehandlungsoptimismusAbweichend vom Schuldprinzip und der Voraussetzung einerProportionalität zwischen Tat und Strafe, wie sie die klassischeStrafrechtslehre vertrat, wendet sich am Anfang des20. Jahrhunderts die schwedische Kriminalpolitik, die durcheine zweckorientierte und nüchterne Einstellung zum Strafrechtgekennzeichnet ist, den positiven und modernen Strafrechtschulenzu. 40 Dadurch verblasst die abstrakte Vergeltungstheorieund es treten praxisbezogene individualpräventiveund behandlungsorientierte Sanktionskonzepte in den Vordergrund.Grundpfeiler der Kriminalpolitik Schwedens wird dieAnnahme, dass der Mensch im Grunde gut sei und kriminellesVerhalten auf einer krankheitsähnlichen Fehlentwicklungberuhe, die durch die richtige Behandlung geheilt werdenkönne. 41 Insoweit trifft die Aussage von Hassemer zu: „DasResozialisierungskonzept nimmt dem strafenden Staat dasOdium des Kerkermeisters und teilt ihm die Würde des Arztesmit“. 42 „Heilen statt Strafen“ stellt eine gute Rechtfertigungfür harte Eingriffe in Freiheitsrechte der Person dar. Resozialisierungwird als menschenfreundlichere und humanereAlternative zur Vergeltung angesehen. 43 Vor diesem Hintergrundwird die Willensfreiheit in Frage gestellt und derSchuldbegriff als veraltete Metaphysik bezeichnet. 44 Sofernjeder Straftäter als behandlungsbedürftig betrachtet wird,erscheine eine Aufteilung der Straftäter in Schuldfähige undSchuldunfähige überflüssig und bedeutungslos. 45Auf dem Boden dieses Behandlungsoptimismus ist dasKriminalgesetzbuch von 1965 in Kraft getreten, das tatsächlichdie Zurechnungsfähigkeit als Strafbarkeitsvoraussetzungin Schweden abgeschafft hat. Dieser Entscheidung bleibtauch der heutige Gesetzgeber treu. 46 Das neue Gesetz alsAusdruck der Behandlungsideologie hat zur Marginalisierungsowohl des Begriffs als auch der praktischen Bedeutung derStrafe erheblich beigetragen. In Anbetracht der Einführungvon neuen besonderen Sanktionsarten (Zwangserziehung,Jugendgefängnis für Minderjährige und Internierung für geistigeAbnorme und gefährliche Rückfalltäter) könnte man voneinem Ersatz der Strafe durch ein vom Tatproportionalitätsprinziplosgelöstes System der Besserung und der Sicherungsprechen, das den Täter von Straftaten abzuhalten und dieGesellschaft vor Straffälligkeit zu schützen abzielte. 47 DerAusdruck „Strafe“ wurde sogar aus symbolischen Gründenim Titel des Gesetzes nicht erwähnt. 4840 Cornils, ZStW 99 (1987), 873 (875).41 Cornils, ZStW 99 (1987), 873 (876); Simson, ZStW 80(1968), 189 (195).42 Hassemer, KrimJ 1982, 161 (162).43Mushoff, Strafe-Maßregel-Sicherungsverwahrung, 2008,S. 148.44 Victor, ZStW 102 (1990), 435 (436); Cornils (Fn. 14),S. 597 (S. 649).45 Sveri, ZStW 80 (1968), 176 (180); Victor, ZStW 102(1990), 435 (436).46 Cornils, in: Sieber/Cornils (Fn. 14), S. 597 (S. 636); Victor,ZStW 102 (1990), 435 (436).47 Victor, ZStW 102 (1990), 435 (436).48 Cornils (Fn. 46), S. 597 (650).Den Gerichten wurde durch das täterorientierte Grundkonzeptdes Gesetzes ein großer Spielraum ein<strong>ger</strong>äumt, dieArt und den Inhalt der Behandlung dem Einzelfall anzupassen.49 Sozialtherapeutische, pädagogische und psychiatrischeBehandlungen stellten die Grundinstrumente der justiziellenPraxis dar. Die Gerichtspsychiatrie spielte hierbei eine eminenteRolle 50 und nach der richterlichen Überweisung in einebesondere Behandlungsform übernahmen die Vollzugsbehördendie Bestimmungshoheit über den Zeitpunkt der Entlassung.51 Konkreter ist bezüglich der Internierung anzumerken,dass sie als eine zeitlich unbestimmte Maßnahme vorgesehenwar. Unter den Begriff des Gewohnheitsverbrechers, dessen„Geistesverfassung“ 52 die Notwendigkeit der Internierung indizierenkonnte, fielen auch diejenigen Täter, die Diebstähleund Betrü<strong>ger</strong>eien als hauptsächliche Einkommensquellen hattenund in Bezug auf welche die Gefahr bestand, dass sie immerwieder rückfällig wurden. 533. Der NeoklassizismusZwar war das Behandlungsmodell als Zuwendung des Rechtssystemszum pflegebedürftigen Gesetzbrecher als krankemMitglied der Gesellschaft gut gemeint, sie war jedoch miteiner gewissen Naivität behaftet, die von der empirischenkriminologischen Forschung in Schweden bereits mit demInkrafttreten des Kriminalgesetzbuches im Jahre 1965 aufgezeigtwurde. Steigende Kriminalitätsraten bezeugten, dass derBehandlungsoptimismus nicht berechtigt war. 54 Gegen den„Verarztungsgedanken“ wurden auch Bedenken angemeldet,die auf die Ungleichbehandlung von Tätern unterschiedlichersozialer Herkunft verwiesen. 55 Die sozial schwächsten undbehandlungsbedürftigen Straftäter waren öfter mit unbestimmtenSanktionen konfrontiert als Täter aus sozial privilegiertenSchichten. 56 Vor dem Hintergrund dieser kritischenAnmerkungen gegen die Behandlungsideologie entstand diesog. neo-klassische Philosophie, die mehr Rechtssicherheitund Vorhersehbarkeit der Sanktion verlangte. 57 Danach mussdas Strafrecht sich wieder mehr an der Tat statt an der Täterpersönlichkeitausrichten und die Prognosen über die Behandlungsbedüftigkeitund die Resozialisierungsfähigkeitsollen in den Hintergrund treten. 58 Die Strafe wird nicht mehr49 Victor, ZStW 102 (1990), 435 (437).50 Sveri, ZStW 80 (1968), 176 (177).51 Victor, ZStW 102 (1990), 435 (438).52 Sveri, ZStW 80 (1968), 176 (177).53 Sveri, ZStW 80 (1968), 176 (177).54 Blau, in: Schwind/Holyst (Hrsg.), Festschrift für Hans JoachimSchneider zum 70. Geburtstag am 14. November 1998,Kriminologie an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, 1998,S. 759 (S. 766 f.), der allerdings kritisch anmerkt, dass derNeoklassizismus ein voreili<strong>ger</strong> Behandlungspessimismus ist;dazu auch Cornils (Fn. 46), S. 597 (S. 650); Victor, ZStW102 (1990), 435 (440).55 Dazu Victor, ZStW 102 (1990), 435 (440); Cornils (Fn. 46),S. 597 (S. 650).56 Cornils, ZStW 99 (1987), 873 (879).57 Cornils, ZStW 99 (1987), 873 (879).58 Cornils, ZStW 99 (1987), 873 (879)._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com353


Georgia Stefanopoulou_____________________________________________________________________________________als Behandlungsmaßnahme hinsichtlich eines zukünftigenRückfallrisikos, sondern als Reaktion auf einen in der Vergangenheitliegenden Sachverhalt konzipiert. Diese Einstellun<strong>ger</strong>scheint grundsätzlich aus humanitären Perspektivenfreundlicher als die Abstellung auf ein monolithisches Behandlungssystem,das in hohem Maße mit Unvorhersehbarkeitund Unbestimmtheit einhergeht. Daher stellen die neoklassischenAnforderungen einen ersten positiven Schritt zueinem ausgewogeneren Sanktionssystem in Schweden dar.In Abkehr von der täterorientierten Individualpräventionerfolgte in den Jahren 1983 und 1989 unter dem Einfluss derneuen Sanktionsgedanken des Neoklassizismus die Abschaffungder zeitunbestimmten Sanktionen und die Einführungvon generalpräventiven Strafzwecken in das Kriminalgesetzbuch.59 Auf dem Boden einer „strengen Einspurigkeit“ istnach den Änderungen ein Nacheinander von Gefängnis undZwangsfürsorge ausgeschlossen. 60 Das schwedische Strafrechtsieht die zeitlich befristete Freiheitsstrafe als einzige freiheitsentziehendeSanktion vor. Sie orientiert sich an der Tatschwere.Im Falle eines Rückfalls ist vorgesehen, dass dieFreiheitsstrafe bis zu vier Jahren oberhalb des Maximums derangedrohten Strafe erhöht werden kann. 61 Die Zwangsfürsorge,die nichts anders als eine Verwahrung ist, kann nur wegeneiner schweren psychischen Störung angeordnet werden. EineSicherungsverwahrung von gefährlichen Rückfalltätern, diekeine psychische Störung aufweisen, ist im Gegensatz zuDeutschland nach schwedischem Recht ausgeschlossen. 62 Irritierendist allerdings, dass in Schweden der Schuldbegriff unddie Zurechnungsfähigkeit keine Strafbarkeitsvoraussetzungenbilden. Dies hat zur Konsequenz, dass auch Kinder und GeisteskrankeStraftaten begehen und als Straftäter verurteilt werdenkönnen. 63 Die Schuldunfähigkeit wirkt nur mildernd imRahmen der Strafzumessung. Kritischer ist diese gesetzlicheLage seit 2008 geworden. Während zumindest eine Gefängnisstrafebis 2008 gesetzlich nicht erlaubt war, ist sie seitherunter bestimmten Voraussetzungen nicht völlig ausgeschlossen.644. Neue Pendelbewegung?Trotz des Schwachpunkts mit Blick auf das Kriterium derSchuldfähigkeit ist jedoch noch einmal hervorzuheben, dassdas schwedische Sanktionssystem anders als das englischeweni<strong>ger</strong> aus Repressionsüberlegungen, sondern eher aus Anforderungendes Humanitätsgrundsatzes motiviert wird. Besondersmit der Abwendung von dem zweifelhaften Abstellenauf eine extreme Behandlungsideologie, der Verankerung derStrafe an der Tatproportionalität und der Verhängung von mildenstatt harten Strafen genoss Schweden in den letzten Jah-59 Dazu Cornils (Fn. 46), S. 597 (S. 651); Victor, ZStW 102(1990), 435 (441).60 Cornils (Fn. 46), S. 597 (S. 634).61 Blau (Fn. 54), S.759 (S. 766 f.), der diese Straferhöhungsmöglichkeitim Rahmen des einspurigen Strafrechts als systemwidrigbezeichnet.62 Dazu Cornils (Fn. 46), S. 597 (S. 637).63 Viktor, ZStW 102 (1990), 435.64 Dazu ausführlicher Cornils (Fn. 46), S. 597 (S. 636).ren den Ruf eines Modellstaates moderner Kriminalpolitik. 65Neue Tendenzen drohen aber, dieses Bild zu relativieren. Reformgutachtenaus den Jahren 1995 und 2002 verlangen einestärkere Gewichtung des Schutzes der Allgemeinheit und derindividuellen Behandlungsprävention in der Sanktionierung,so dass der Verdacht eines erneuten Pendelrückschlags aufkommt.66 In Vorschlägen für Gesellschaftsschutzmaßnahmenin Bezug auf jugendliche rückfällige Täter, in der Einführungvon strafrechtlichen Reaktionen im Vorfeld des kriminellenHandelns gegen Terroristen sowie in der Verschärfung desSexualstrafrechts im Jahr 2005 lässt sich auch in Schwedeneine Stei<strong>ger</strong>ung des Repressionsniveaus erkennen.IV. Die Behandlung der gefährlichen Straftäter in TschechienWegen aus Verhältnismäßigkeitssicht fragwürdigen Strafrechtsreformenverdient auch das tschechische dualistischeSanktionssystem Erwähnung, welches traditionell zwischender Funktion und den Zielen der Strafe auf der einen undeinem Schutzmechanismus auf der anderen Seite unterscheidetund die Sicherungsverwahrung bislang als ultima ratioder Schutzmaßnahmen gegen gefährliche Täter kannte. 67 Dasneue tschechische Strafgesetzbuch aus dem Jahr 2009 enthältallerdings Neuerungen, die den Schutzgedanken erheblich verstärkenund das Wesen der Sicherungsverwahrung als ultimaratio entfallen lassen. 68Grundbedingung für die Verhängung der Sicherungsverwahrungin Tschechien ist die Feststellung einer „psychischenStörung“ oder einer „Drogenabhängigkeit“, die aber nichtzwingend eine Zurechnungsunfähigkeit begründen müssen.Zudem wird voraussetzt, dass die psychische Störung oder dieSuchtabhängigkeit nicht durch die Maßnahme der „Schutzbehandlung“in stationärer Form ausreichend bekämpft werdenkönnen. 69 Die Sicherungsverwahrung besitzt daher einensubsidiären Charakter gegenüber der Schutzbehandlung. Währendnach früherer Rechtslage das Gericht die Sicherungsverwahrungals subsidiäre Lösung zur Schutzbehandlung nurgegen Täter von schwerwiegenden vorsätzlichen Straftatenverhängen durfte, die mit einer Freiheitsstrafe von mehr alsfünf Jahren Freiheitsentziehung bedroht waren, kann heutenach der Gesetzänderung Sicherungsverwahrung auch gegenTäter weni<strong>ger</strong> schwerwiegender Straftaten angeordnet werden.70 Es genügt dafür, dass der Täter eine <strong>ger</strong>ichtlich verhängteTherapie verwei<strong>ger</strong>t oder durch sein Verhalten dieVollstreckung der Schutzbehandlung erschwert. Dies bedeutet,dass ein Täter, der in der Vergangenheit lediglich kleinereDiebstähle begangen und während der hinterher wegen Alkoholsuchtangeordneten stationären Schutzbehandlung nichtkooperativ in seiner Therapie mitgewirkt oder Fluchtversucheunternommen hat, sehr leicht in der Sicherungsverwahrung65 Cornils, ZStW 99 (1987), 873 (874).66 Cornils (Fn. 46), S. 597 (S. 652).67 Valkova/Bohata, NK 2012, 82 (83).68 Valkova/Bohata, NK 2012, 82.69 Valkova/Bohata, NK 2012, 82 (83).70 Valkova/Bohata, NK 2012, 82 (83)._____________________________________________________________________________________354<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Der Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern in Europa_____________________________________________________________________________________landen kann. 71 Dass eine solche Lösung ein viel zu schnellerZugriff auf die schärfste präventive Maßnahme des Strafrechtsist, der sowohl gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeitals auch die Menschenrechte verstößt, liegt auf der Hand. 72V. Die Behandlung der gefährlichen Straftäter in SüdeuropaDie drei südeuropäischen Länder Italien, Spanien und Griechenlandoperieren mit dem zweispurigen System. Es wird inallen drei Systemen trennscharf zwischen Strafen und Sicherheitsmaßnahmenunterschieden (pena-misure di sicurezza,pena-medidas de seguridas und ποινή-µέτρα ασφαλείας). 73Die konkrete Sicherungsmaßnahme der Sicherungsverwahrungist allerdings nur in Italien vorgesehen.Wie Deutschland agiert auch Italien mit der vom Schuldprinzip(colpevolezza) abgekoppelten Sicherungsverwahrunggegen voll verantwortliche Straftäter, abstellend lediglich aufdie Gefährlichkeit des Täters für die Allgemeinheit (pericolositasociale). 74 Das italienische Strafgesetzbuch sieht keineBegrenzung der Dauer der Sicherungsverwahrung vor. 75 DasProblem der Ableugnung des Rückwirkungsverbots, das inDeutschland zu der Entzündung einer lebhaften Debatte undzu der Verurteilung Deutschlands durch den EuropäischenGerichtshof für Menschenrechte geführt hat, ist auch in Italienfestzustellen. Maßgeblich ist § 200 des italienischenStrafgesetzbuches, der die Rückwirkung der Bestimmungenüber die Sicherungsverwahrung vorsieht. 76 Danach müssenEntscheidungen, mit denen Sicherungsmaßregeln – darunterfällt auch die Sicherungsverwahrung – angeordnet werden, aufden zum Zeitpunkt der Vollstreckung der Maßregeln geltendenRechtsvorschriften beruhen.Im Gegensatz zum zweispurigen System Italiens kenntweder das spanische noch das griechische Strafrecht eineMaßregel auf unbestimmte Zeit für schuldfähige, vollverantwortliche,gefährliche Täter. Maßregeln können nur gegennicht voll verantwortliche Täter verhängt werden, deren Zurechnungsunfähigkeitihre Ursache in einer psychischen Anomalieoder Störung oder in einer Suchtstruktur hat (Art. 20Nrn. 1-3 CP und 69-71 ΠΚ). 77 Die Frage der Gefährlichkeiteines voll verantwortlichen Täters ist dann ein Problem der71 Valkova/Bohata, NK 2012, 82 (84).72 Valkova/Bohata, NK 2012, 82 (84).73 Daher ist nicht ganz richtig, wenn behauptet wird, dassSpanien und Griechenland sich für ein einspuriges Sanktionsmodellentschieden hätten, siehe Mushoff (Fn. 43), S. 483;Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 3Rn. 71. Der Unterschied zum deutschen Zweispurigkeitssystemliegt darin, dass es die Sicherungsverwahrung als Maßregelnicht gibt.74 Jarvers, in: Sieber/Cornils (Fn. 14), S. 279 (S. 315 ff.)75 EGMR, Urt. v. 17.12.2009 – 19359/04 (M. v. Deutschland),Rn. 71.76 EGMR, Urt. v. 17.12.2009 – 19359/04 (M. v. Deutschland),Rn. 72.77 Porto, in: Sieber/Cornils (Fn. 14), S. 665 (S. 703); Mulonopoulos,Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 1. Aufl. 2007,S. 42 ff.Strafe, die im Falle eines Rückfalltäters erheblich verschärftwerden kann. 78In Spanien gilt die Rückfälligkeit als erschwerender Umstandbei der Strafzumessung (Art. 22 Ziff. 8 CP). Das spanischeSondergesetz „Ley sobre Peligrosidad y Rehabilitaciόnsocial“ (LPRS), das fünf Arten der Internierung gefährlicherStraftäter vorsah, wurde im Mai 1996 durch das neue StGBabgeschafft. 79 Dadurch ist auch die Sicherungsverwahrungals Internierung in einem „Centro de custodia“ nicht mehr indem aktuellen Cόdigo Penal zu finden. 80 Das spanische Strafrechtkennt drei freiheitsentziehende Maßregeln: Die Internierungin einem psychiatrischen Zentrum, die Entziehungsanstaltund das Zentrum der Spezialerziehung. Sie könnenaber nur gegen schuldunfähige und vermindert Schuldfähigean<strong>ger</strong>ordnet werden.In Griechenland maßgeblich sind die Strafzumessungsvorschriften,Art. 90, 91 ΠΚ, die bei rückfälligen gefährlichenHangtätern die Möglichkeit eines zeitunbestimmtenFreiheitsentzugs mit Anordnung allein der Mindestdauer derFreiheitsstrafe vorsehen. Eine Begrenzung der Dauer derUnterbringung ist allerdings in Art. 91 Nr. 3 zu finden. Ist dieMindestdauer der Freiheitsstrafe vollzogen, darf dann derFreiheitsentzug nicht län<strong>ger</strong> als fünfzehn Jahre dauern, wenndie Anlasstat mit bis zu zehn Jahren Freiheitsentzug bestraftwird, und nicht län<strong>ger</strong> als zwanzig Jahre, wenn gegen dieAnlasstat eine Freiheitsstrafe von mehr als zehn Jahre droht.Grundvoraussetzungen der Anordnung der zeitunbestimmtenFreiheitstrafe sind: a) Eine vorsätzlich begangene Anlasstat,b) das Begehen von mindestens drei vorsätzlichen Straftatenin der Vergangenheit, von denen zumindest eine mit Freiheitsstrafevon fünf bis zwanzig Jahren bedroht wird und c)eine positive Gefährlichkeitsprognose anhand der gesamten„kriminellen Laufbahn“ des Täters.Es ist unübersehbar, dass die unbestimmte Freiheitsstrafedes griechischen Strafgesetzbuches genau dem Wesen derSicherungsverwahrung entspricht mit dem entscheidendenUnterschied, dass diese Art von Sicherungsverwahrung demBereich der Strafe und nicht dem der Maßregeln zugeordnetwird, was im Hinblick auf den schwerwiegenden Eingriff indie Rechte des Täters vielleicht größere Ehrlichkeit ausweist. 81Wenn wir uns mit der Figur der Sicherungsverwahrung auseinandersetzen,bewegen wir uns in dem Bereich der vollenVerantwortung und Zurechnungsfähigkeit, der eindeutig jenerder Strafe ist. Damit, dass bei der Institution der griechischenunbestimmten Freiheitstrafe oder bei den erhöhten Strafendes spanischen Systems spezialpräventive Erwägungen dieStrafrahmen über die Schuld hinaus mitbestimmen, ist keinSpurwechsel verbunden. Vielmehr erscheinen die griechischeund spanische Lösung hinsichtlich der Ziele und Zwecke derzwei Sanktionsspuren insgesamt weni<strong>ger</strong> widersprüchlich als78 Porto (Fn. 77), S. 665 (S. 703); Mulonopoulos (Fn. 77),S. 42 ff.79 Blau (Fn. 54), S. 759 (S. 767 f.)80 Blau (Fn. 54), S. 759 (S. 767 f.)81 Frey weist darauf hin, dass die Sicherungsverwahrung zwarihrem Namen nach Maßnahme sei, in Wirklichkeit aber Strafe,Frey, ZStW 80 (1968), 189 (194)._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com355


Der Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern in Europa_____________________________________________________________________________________fähigen Tätern kann TBS neben der Strafe angeordnet werden,93 eine Lösung, die vorzugswürdi<strong>ger</strong> ist als die Entscheidungdes griechischen Gesetzgebers, die vermindert schuldfähigenTäter unter den Anwendungsbereich der sog. unbestimmtenFreiheitsstrafe fallen zu lassen. Durch die niederländischeLösung wird der vermindert zurechnungsfähigeTäter entsprechend seiner Schuld bestraft und entsprechendseiner Störung behandelt. Wegen eines erheblichen Anstiegsder Zahl der Untergebrachten in TBS-Kliniken haben dieNiederlande aber 1999 nach Kostenerwägungen das kontroverseLongstay-Konzept eingeführt. 94 Danach wird zwischenbehandelbaren und unbehandelbaren Patienten der TBS-Kliniken unterschieden. Die zweite Kategorie wird in densog. Longstay-Einrichtungen untergebracht, wo ein weni<strong>ger</strong>behandlungsintensives Programm als das in den TBS-Kliniken übliche angeboten wird. Hier wird im Gegensatz zuden Zwecken der TBS-Kliniken nicht mehr auf Resozialisierungund Rückfallvermeidung gesetzt. Es wird allein dieSicherung der Gesellschaft angestrebt, was hinsichtlich der inden letzten Jahren <strong>ger</strong>ingfügig angestiegenen Kriminalität inden Niederlanden als fragwürdig erscheint. 95VII. Die Behandlung der gefährlichen Straftäter in FrankreichEin eher ausgewogenes Sanktionssystem scheint aktuell inFrankreich zu gelten. Dazu hat die am 21.2.2008 ergangeneEntscheidung des Conseil constitutionnel über das Wesen derSicherungsverwahrung beigetragen. 96 Da das französische Strafrechtkeine klare Zweiteilung des Systems in Strafen undMaßregeln kennt und die Gerichte nur Strafen verhängen –wobei aus materieller Sicht unter den Begriff der Strafe auchdie Sicherheitsmaßnahmen (mesures de surete) fallen –, ist inFrankreich grundsätzlich umstritten, welche Sanktionen alsMaßnahmen und welche als Strafen im materiellen Sinne zuverstehen sind, eine Frage, die zum Entscheidungsspielraumder Gerichte gehört. 97 Daher bestand, als mit dem Gesetzvom 25.2.2008 die Sicherungsverwahrung zur Sicherung derGesellschaft vor gefährlichen Straftätern in das Strafverfahrensgesetzeingeführt wurde, Uneinigkeit darüber, ob dieSicherungsverwahrung als Strafe oder als Maßnahme einzuordnenwar. 98 Die Lösung hat der französische Verfassungsratgegeben, der zwar die hybride Natur der Institution angemerkt,wegen der fehlenden Anknüpfung an die Schuld jedochfür die Einordnung der Sicherungsverwahrung als Maß-93 Sagel-Gnade, ZStW 103 (1991), 732 (743).94 Für ausführliche Darstellung und Kritik des Konzepts,siehe Mushoff (Fn. 43), S. 484 ff.; Lindermann, R&P 2002, 8(10); Zur Vereinbarkeit des Longstay-Konzepts mit der EMRKsiehe Fin<strong>ger</strong> (Fn. 89), S. 264 ff. Kinzig ?95 Fin<strong>ger</strong> (Fn. 89), S. 227.96 Dazu EGMR, Urt. v. 17.12.2009 – 19359/04 (M. v. Deutschland),Rn. 75; Pfützner/Adams/Neumann, in: Sieber/Cornils(Fn. 14), S. 193 (S. 241).97 Pfützner/Adams/Neumann (Fn. 96), S. 193 (S. 239).98 Pfützner/Adams/Neumann (Fn. 96), S. 193 (S. 241).regel entschieden hat. 99 Diese Entscheidung wäre allerdingsnicht von erheblicher Bedeutung, wenn sie nicht von einermaßgeblichen Begrenzung begleitet würde. Im Hinblick aufdie freiheitsentziehende Art der Sicherungsverwahrung, dieDauer des Freiheitsentzugs, die unbegrenzte Verlän<strong>ger</strong>ungsmöglichkeitund die Tatsache, dass diese Maßregel im Anschlussan eine Verurteilung durch ein Gericht ausgesprochenwird, hat das französische Verfassungsrat die Entfaltung einerRückwirkung der Sicherungsverwahrung als verfassungswidri<strong>ger</strong>klärt. 100 Zwar ist diese Lösung prinzipiell richtig, weilsie den strafähnlichen Charakter der Sicherungsverwahrungberücksichtigt. Jedoch muss man auch am französischenSystem einen erheblichen Makel verzeichnen, solange dieEntscheidung über die konkrete Natur der jeweiligen Sanktionnicht gesetzlich verankert, sondern der Rechtsprechungüberantwortet ist, die auch flüchtig sein kann.VIII. FazitZusammenfassend lässt sich festhalten, dass die europäischenLänder mit unterschiedlichen Konzepten experimentieren, umdas Problem des effektiven und <strong>ger</strong>echten Umgangs mit gefährlichenStraftätern zu lösen. Es wird allerdings durch denrechtsvergleichenden Blick die Erkenntnis deutlich, dass keineeuropäische Rechtsordnung bisher ein vorbildliches Modellentwickelt hat. Bei der Ansicht der verschiedenen Systemebleibt immer ein Beigeschmack der Unvollkommenheit. EinGrund dafür liegt in dem allgemeinen Trend zu einem übermäßigan Gefahrenabwehr orientierten, „preaktiven“ 101 Strafrecht.Der Anspruch an absolute Sicherheit führt zur normativenDesorientierung 102 und zur tendenziell unverhältnismäßigenStei<strong>ger</strong>ung des Repressionsniveaus. Dabei wird übersehen,dass es absolute Sicherheit in einem freiheitlichen Rechtsstaatnicht geben kann. 103 Ein zweiter Grund liegt aber in der Naturder Sicherungsverwahrung selbst, die – abgesehen von ihrerkonkreten Ausgestaltung in der jeweiligen Rechtsordnung –wegen ihres tiefgehenden Eingriffs in die Rechte des Tätersüber seine konkrete Schuld hinaus an der Grenze der verfassungskonformenKriminalpolitik liegt und deshalb immereine gewisse Skepsis erzeugen wird. Weil sich der Staat aber(unabhängig von so waghalsigen Konstruktionen wie einesGrundrechts auf Sicherheit) auch um die Sicherheitsbedürfnisseseiner Bür<strong>ger</strong> kümmern muss, kann nicht von der Kriminalpolitikverlangt werden, auf eine präventive Reaktiongegen gefährliche Straftäter völlig zu verzichten. Es ist allerdingszu erwarten, dass eine aufgeklärte Gesellschaft sichernsthaft bemüht, von irrationaler Verbrechensfurcht frei zumachen und im Rahmen einer maßvollen Reaktionspolitikgegen gefährliche Straftäter ein gut ausbalanciertes Verhältnis99 Dazu EGMR, Urt. v .17.12.2009 – 19359/04 (M. v.Deutschland), Rn. 75; Pfützner/Adams/Neumann (Fn. 96),S. 193 (S. 241 f.).100 EGMR, Urt. v. 17.12.2009 – 19359/04 (M. v. Deutschland),Rn. 75; Pfützner/Adams/Neumann (Fn. 96), S. 193(S. 241 f.).101 Cornils (Fn. 46), S. 597 (652).102 Hassemer, StV 2006, 321 (332).103 Mushoff (Fn. 43), S. 483._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com357


Georgia Stefanopoulou_____________________________________________________________________________________zwischen Freiheit und Sicherheit zu gestalten. Dazu kann dieReflexion über die Vorzüge und Nachteile der verschiedeneuropäischen Sanktionskonzepte einen wichtigen Beitrag leisten._____________________________________________________________________________________358<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


Zur Einführung in das Problem der Sicherungsverwahrung*Von Prof. Dr. Jochen Bung, PassauUm das deutsche Sanktionsinstrument der Sicherungsverwahrunghat sich in den letzten Jahren eine kaum noch zu überblickendeDiskussion entfaltet. Ich wage die Vermutung, dasses auch in Deutschland nur eine überschaubare Anzahl vonPersonen gibt, die über das Thema wirklich umfassend Bescheidwissen. Umso mehr muss man sich die Frage stellen,was von dieser Diskussion außerhalb Deutschlands wahrgenommenwird und von Interesse ist. Ganz bestimmt ist dasThema der Sicherungsverwahrung nicht irgendein Thema derKriminalwissenschaften: Es rührt an Grundfragen der Kriminologie.Es hat eine markante und fragwürdige Geschichte.Es ist spätestens durch die Rechtsprechung des EGMR in dieeuropäische Aufmerksamkeit <strong>ger</strong>ückt und hier auch in seinerrechtsvergleichenden Relevanz deutlich geworden. Man darfnach den ersten Stellungnahmen des deutschen Gesetzgebersund des Bundesverfassungs<strong>ger</strong>ichts auch außerhalb Deutschlandsgespannt sein, was man sich einfallen lässt zum Umgangmit jenen Problemen, für welche die Sicherungsverwahrungals Lösung gedacht war, bevor sie sich selbst als eigentlichesProblem entpuppte.Das Grundproblem der Sicherungsverwahrung ist potentiellunabsehbarer Freiheitsentzug als Bedrohung der Garantiefunktiondes Rechts. Foucault hat das Problem eindringlich analysiertund in den Zusammenhang seiner Rationalisierungs-, Modernisierungs-und Normierungstheorie des Gefängnissesgestellt. Die Institution des Gefängnisses begünstigt eine Artder Beobachtung der Insassen, die diese zum Gegenstandobjektivierender, im Wesentlichen prognostischer Aussagenmacht. Es ist kein Zufall, dass sich Kriminologie als Wissenschaftmit genuin disziplinärem Selbstverständnis in derFolge von Gefängnisbesuchen eines italienischen Arztesformiert. Die Institution des Gefängnisses begünstigt Formendes Wissens, die sich vom Rechtskonstrukt der Straftat ablösenund den Täter in den Mittelpunkt der Betrachtung tretenlassen, insbesondere als potentiellen Veranlasser weitererTaten. Die zentrale Kategorie wird der Rückfall (la notion derécidive). Foucault schreibt: „In das gesamte Strafritual […]hat man einen Bereich von Gegenständen eindringen lassen,welche die juristisch definierten und kodifizierten Gegenständeergänzen, aber auch in Frage stellen. Das psychiatrischeGutachten sowie ganz allgemein die Kriminalanthropologieund der hartnäckige Diskurs der Kriminologie habenhier ihre Funktionen: indem sie die Gesetzesübertretungenfeierlich in den Bereich der wissenschaftlich erkennbarenGegenstände einweisen, berechtigen sie die Mechanismen dergesetzlichen Bestrafung zum Zugriff nicht nur auf die Gesetzesübertretungen,sondern auf die Individuen – nicht nur aufdas, was die Individuen getan haben, sondern auf das, was siesind, sein werden, sein können.“ 1* Der Beitrag erschien ursprünglich in englischer Spracheund leicht veränderter Form als Editorial zur Einführung ineine Präsentation der Sicherungsverwahrungsdebatte in demForum the art of crime (unter http://www.theartofcrime.gr/[23.6.2013]). Das Thema der Sicherungsverwahrung sollte ineiner Weise dargestellt werden, bei der von vornherein nichtNicht nur die Techniken der Besserung und Resozialisierung,sondern auch Methoden der Neutralisierung des riskantenIndividuums durch unabsehbare Arrangements der Freiheitsentziehungsind logische Konsequenzen einer Einstellung,die den Straftäter „als ein nach spezifischen Kriterien zu erkennendesIndividuum erfasst“. 2 Was an diesem Individuuminteressiert, ist nicht mehr primär der Rechtsbruch. Es handeltsich vielmehr „um einen Gegenstand, der durch Variablen definiertist, welche im Urteilsspruch […] nicht von Anfang anberücksichtigt waren […]“. 3 In der Logik dieser Grenzverwischung„zwischen dem Diskurs des Richters und dem Diskursdes Psychiaters“ 4 liegt die Annahme, dass es nicht zweckmäßigist, die Dauer der Freiheitsentziehung gleich mit der Verkündungdes Urteils endgültig zu bestimmen. Die unbestimmteVerlän<strong>ger</strong>ung einer freiheitsentziehenden Maßnahme gehörtvielmehr wesentlich zur Methode eines am Zweckmäßigkeitsgedankenaus<strong>ger</strong>ichteten Sanktionssystems. In den SchriftenLombrosos und v. Liszts, den kriminologischen Wegbereiternder Sicherungsverwahrung, lässt sich das gut belegen. Die Ideeunbestimmter Freiheitsentziehung ist die kriminalpräventionstheoretischeFol<strong>ger</strong>ung aus einer Kriminalätiologie des uomodelinquente, jenes hochriskanten Individuums, das man inDeutschland eine Zeit lang Gewohnheitsverbrecher nannte.Diese Individuen sind nach Lombroso und v. Liszt allerRechtsgarantien (namentlich der Aussicht auf Wiedererlangungder Freiheit) beraubt. v. Liszt vermerkt in seiner folgenreichenSchrift über den Zweckgedanken im Strafrecht, dieUnverbesserlichen (Gewohnheitsverbrecher) könnten nur nachMaßgabe des Schutzes der Gesellschaft behandelt werden.Damit bleibe, unter Bedingungen kultureller oder politischerUndurchsetzbarkeit von Todesstrafe oder Deportation, nur diebeabsichtigt war, die Raffinessen des Expertendiskurses inDeutschland nachzuzeichnen. Es ging um eine Präsentationder Leitfragen und Leitlinien einer über die Grenzen der deutschenDebatte hinaus für das Selbstverständnis der gesamtenStrafrechtswissenschaft, aber auch der modernen Sanktionsgesellschaftinsgesamt bedeutsamen Auseinandersetzung. Fürdie maßgeblichen aktuellen Dimensionen des Themas (Kriminologie,Historie, EGMR- und BVerfG-Rechtsprechung,Rechtsvergleich und deutsche Reformdiskussion) konnten Autorinnenund Autoren gewonnen werden, die nicht nur dienötige Sachkunde, sondern auch die Bereitschaft mitbrachten,Facetten eines labyrinthischen Themas auf ein handhabbaresFormat zu bringen, um die Diskussion auf europäischer Ebeneweiter anzuregen. The art of crime versammelt Beiträge vonKirstin Drenkhahn (FU Berlin), Robert Esser und HelmutKrickl (Universität Passau), Martin He<strong>ger</strong> und Erol Pohlreich(HU Berlin), Georgia Stefanopoulou (UniversitätPassau), Georg Steinberg (EBS Law School) sowie Till Zimmermann(Universität Passau).1 Foucault, Überwachen und Strafen [im Orig. Surveiller etpunir, 1975], 1976, S. 28.2 Foucault (Fn. 1), S. 130.3 Foucault (Fn. 1), S. 323.4 Foucault (Fn. 1), S. 324._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com359


Jochen Bung_____________________________________________________________________________________Einsperrung auf Lebenszeit oder auf unbestimmte Zeit. Nachder Vorstellung v. Liszts sollte bei dritter Verurteilung wegenbestimmter Delikte der Täter auf unbestimmte Zeit weggeschlossenwerden. Der Freiheitsentzug sollte in besonderenInstitutionen erfolgen, eine Entlassung ausdrücklich nur inganz wenigen Ausnahmefällen möglich sein. 5Schon vor v. Liszt hatte Lombroso in der ersten Auflageseiner bahnbrechenden Schrift L’uomo delinquente die Konsequenzenaus der Einsicht verlangt, dass Kriminalität ein natürlichesPhänomen sei. 6 Von den resozialisierenden Wirkungendes Freiheitsentzugs ist Lombroso nicht überzeugt, dieStraf- und Gefängnisgesellschaft seiner Zeit erfährt von ihmeine kompromisslose und moderne Kritik. Wie immer aberhaben Aufklärung und Humanität eine dunkle Seite. Die Abschaffungder Strafe soll dem Konzept der Sozialverteidigungden Weg bereiten: „Fortunately, my scientific findings, farfrom making war on social order, reinforce it. Crime is necessary,but so is defense against it […].When we justify punishmentin terms of social defense, it becomes more logicaland effective. […] I do not agree with those famous juristswho argue that all offenders should go to prison because theyfreely chose to break the law. However, if anyone argues thatoffenders should be incarcerated to protect society, then Iagree. That is the theory of social defense.“ 7 Zu den „newtherapies“ und „innovative defenses“ 8 , wird in der zweitenAuflage bekräftigt, gehört das lebenslange Wegschließen derUnverbesserlichen. 9 Das sei nicht inhumaner, als die UnterbringungGeisteskranker in psychiatrischen Anstalten. 10 Allerdingsgehe es in erster Linie auch gar nicht um Humanität:„Criminal insane asylums are more a precautonary than humanitarianmeasure. […] The new institutions would preventdan<strong>ger</strong>ous people from reentering society before they areentirely cured.“ 11 Anders als bei v. Liszt, der sich die Sicherungsverwahrungals Strafla<strong>ger</strong> unter besonders harten und unmenschlichenLebensbedingungen denkt, ist Lombrosos Visiontendenziell humaner, indem sie das zentrale Argument desBundesverfassungs<strong>ger</strong>ichts vorwegnimmt: dass es eines signifikantenUnterschieds zwischen herkömmlicher Strafhaftund Sicherungsverwahrung bedarf (Abstandsgebot). Lombrosomeint, die Betroffenen seien idealerweise auf einer Inselunterzubringen, mit frischer Luft und Zeit für sich selbst. 12Zum Verständnis des Problems der Sicherungsverwahrunggehört das Verständnis der Kriminologie, die der Ausbildungdieses Instituts den Weg bereitet hat. Es ist die Kriminalanthropologieoder Kriminalbiologie italienisch-deutscher Provenienz,wie sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundertsausgeformt hat und wie sie exemplarisch in den Schriften vonLombroso und v. Liszt heute noch nachzulesen ist. Maßgeb-lich ist die Vorstellung, dass etwas in der natürlichen Konstitutionbestimmter Individuen sie zu normverletzendem undkriminellem Handeln determiniert. Bereits bei Lombroso findetman das gesamte Ensemble der möglichen Erklärungsansätze:Hirnanomalien, neurologische Fehlfunktionen, erblicheund hormonelle Faktoren, „Atavismen“, Persönlichkeitsstörungen(z.B. Empathiemangel und Eitelkeit), usw. 13 All diesenIndividualätiologien ist gemeinsam, dass sie dazu tendieren,die kriminogenen Merkmale auf Dauer zu stellen.Lombroso meint, dass Gelegenheitskriminalität ein vernachlässigbaresPhänomen ist und auch v. Liszt sieht im Gewohnheitsverbrechertumdas vordringlichste Problem. SolcheAnnahmen sind natürlich empirisch unhaltbar, sie zeigen aberden gedanklichen Boden, auf dem die Idee einer unbegrenztenFreiheitsentziehung ruht.Kriminologien des lombrosianisch-lisztschen Typs bewirken,dass aus dem Rechtsbrecher, wie Foucault hervorgehobenhat, der „Delinquent“ wird, das ist „der Verbrecher, dermit seinem Verbrechen verwandt ist“. 14 Zur Begutachtungdieses Gegenstands entstehen Expertensysteme und Expertendiskurse,die die juristische Expertise verdrängen: „Im gesamtenVerlauf des Strafverfahrens und des Strafvollzugswimmelt es von zahlreichen angeschlossenen Instanzen. KleineGerichtsbarkeiten und Nebenrichter haben sich um dieHauptrechtsprechung herum vervielfältigt: psychiatrische oderpsychologische Sachverständige, Beamte des Strafvollzugs,Erzieher, Funktionäre der Justizverwaltung zerstückeln diegesetzliche Strafgewalt; zwar ist es richtig, dass keiner vonihnen wirklich am Recht zu strafen teilhat […]. Sobald aberdie vom Gericht festgesetzten Strafen und Sicherheitsmaßnahmennicht von vornherein endgültig bestimmt werden, sondernim Lauf des Vollzugs modifiziert werden können […] werdeneben doch Mechanismen der gesetzlichen Bestrafung in dieHände dieser anderen gelegt […].“ 15 Das Hauptproblem istallerdings weni<strong>ger</strong> der Autoritäts- oder Einflussverlust derJustiz, als die drohende Maßlosigkeit der Sanktion. Auch dasPrinzip der Verhältnismäßigkeit hilft nicht, denn Freiheitsentzugist verhältnismäßig, solange der Täter ausweislich desExpertengutachtens unverhältnismäßig gefährlich ist. „DasRecht der Strafe hat sich von der Rache des Souveräns aufdie Verteidigung der Gesellschaft verschoben. Aber es ist nunmit so starken Elementen versehen, dass es beinahe nochfürchterlicher wird.“ 165 Vgl. hierzu v. Liszt, ZStW 3 (1883), 1.6 Lombroso, Criminal Man [im Orig. L’uomo delinquente,1876], 2006, S. 92.7 Lombroso (Fn. 6), S. 92 f.8 Lombroso (Fn. 6), S. 135.9 Lombroso (Fn. 6), S. 145.10 Lombroso (Fn. 6), S. 146.11 Lombroso (Fn. 6), S. 148.12 Lombroso (Fn. 6), S. 145._____________________________________________________________________________________13Dezidiert neolombrosianisch Raine, The Anatomy ofViolence, The Biological Roots of Crime, 2013.14 Foucault (Fn. 1), S. 325.15 Foucault (Fn. 1), S. 31.16 Foucault (Fn. 1), S. 115.360<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


OLG Linz, Beschl. v. 11.4.2013 – 9 Bs 82/13t; OLG Linz, Beschl. v. 13.5.2013 – 9 Bs 153/13hJohnson_____________________________________________________________________________________E n t s c h e i d u n g s a n m e r k u n gZur Anerkennung und Vollstreckung von EU-Geldsanktionenin ÖsterreichEine inhaltliche Prüfung der dem Ersuchen um Vollstreckungvon Geldsanktionen zugrundeliegenden rechtskräftigenEntscheidung des ersuchenden Mitgliedstaates findetnicht statt. Die Vollstreckung erfolgt auf Grundlage derAngaben, die in der Bescheinigung des ersuchenden Staatesenthalten sind. (Leitsatz des Verf.)Österreichisches Bundesgesetz über die justizielle Zusammenarbeitin Strafsachen mit den Mitgliedstaaten der EuropäischenUnion §§ 53 ff.OLG Linz, Beschl. v. 11.4.2013 – 9 Bs 82/13tOLG Linz, Beschl. v. 13.5.2013 – 9 Bs 153/13hI. Die EntscheidungenIn den beiden genannten Beschlüssen des OLG Linz (Österreich)geht es um die Anerkennung und Vollstreckung vonGeldsanktionen nach dem Rahmenbeschluss 2005/214/JI überdie Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennungvon Geldstrafen und Geldbußen. Das (deutsche) Bundesamtfür Justiz hatte zwei rechtskräftige Strafbefehle deutscherGerichte zur Anerkennung und Vollstreckung in Österreichübermittelt. Dem ersten Vollstreckungshilfeverfahren lag einStrafbefehl des AG Traunstein wegen vorsätzlichen Fahrensohne Fahrerlaubnis zugrunde; der Betroffene war in Deutschlandtrotz Fahrverbots Auto gefahren. Im zweiten Verfahrenging es um einen Strafbefehl des AG Landshut wegen Steuerhinterziehung;der Betroffene hatte in Deutschland weiter Kindergeldfür seine Tochter bezogen, obwohl er zwischenzeitlichnach Österreich verzogen war. Gegen die anerkennendenerstinstanzlichen Entscheidungen des Landes<strong>ger</strong>ichts Salzburghatten die Betroffenen jeweils Beschwerde eingelegt. In beidenBeschlüssen führt das OLG Linz in ähnlicher Weise aus,dass sich das Verfahren in Österreich nach §§ 53 ff. EU-JZGrichte und dass eine inhaltliche Prüfung der ausländischenEntscheidung nicht stattfinde; die Vollstreckung erfolge vielmehrauf Grundlage der Angaben, die in der Bescheinigungdes ersuchenden Staates enthalten seien.II. AnmerkungDer Rahmenbeschluss 2005/214/JI des Rates vom 24.2.2005über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennungvon Geldstrafen und Geldbußen (im Folgenden:RB Geld) ist mittlerweile in 24 von 27 Mitgliedstaaten derEU umgesetzt worden. Mit dem Beitritt zur EU am 1.7.2013wird auch Kroatien den RB Geld anwenden. 1 Deutschland hat1 Nach Art. 2 der Akte über die Bedingungen des Beitritts derRepublik Kroatien und die Anpassungen des Vertrags […](ABl. EU 2011 Nr. L 112 v. 24.4.2011, S. 21) sind ab demTag des Beitritts […] die vor dem Beitritt erlassenen Rechtsakteder Organe für Kroatien verbindlich und gelten für Kroatiennach Maßgabe der genannten Verträge und dieser Akte.den RB Geld umgesetzt durch das Gesetz vom 18.10.2010. 2Weiterhin noch nicht umgesetzt haben Italien, Griechenlandund Irland.Am Beispiel der beiden Beschlüsse des OLG Linz, die imRahmen von Vollstreckungshilfeverfahren für von Deutschlandausgehende Ersuchen nach dem RB Geld ergangen sind,lohnt (wie immer in der internationalen Zusammenarbeit) eingrenzüberschreitender Blick auf die Umsetzung im NachbarlandÖsterreich, die zu überblicken angesichts von gleich dreiUmsetzungsgesetzen allerdings nicht ganz einfach ist. Je nachArt der zu vollstreckenden Entscheidung ist eines der dreiGesetze einschlägig. Österreich hat den RB Geld umgesetztzum ersten durch das am 1.7.2007 in Kraft getretene Bundesgesetz,mit dem das Bundesgesetz über die justizielle Zusammenarbeitin Strafsachen mit den Mitgliedstaaten der EuropäischenUnion (EU-JZG) geändert wurde. In das EU-JZG wurden(unter anderen) §§ 53-53m als Vierter Abschnitt „Vollstreckungvon Geldsanktionen“ neu eingefügt. Vergleichbarmit dem Aufbau der einschlägigen Vorschriften des deutschenIRG (§§ 87-87n für eingehende, §§ 87o und 87p für ausgehendeErsuchen) befassen sich §§ 53-53j EU-JZG mit derVollstreckung von Entscheidungen anderer Mitgliedstaatenund §§ 53k-53m EU-JZG mit der Erwirkung der Vollstreckung(österreichischer Entscheidungen) in einem anderen Mitgliedstaat.3 § 53 Abs. 1 und 2 EU-JZG erklärt die nachfolgendenVorschriften für anwendbar auf die Vollstreckung von Entscheidungenvon Gerichten anderer Mitgliedstaaten, mit deneneine Geldsanktion wegen einer nach dem Recht dieses Staates<strong>ger</strong>ichtlich strafbaren Handlung ausgesprochen worden ist(Abs. 1), sowie (vereinfacht) auf Entscheidungen anderer Justizbehörden(Abs. 3 Nr. 1) und auf Entscheidungen eines auchin Strafsachen zuständigen Gerichtes wegen einer Ordnungswidrigkeit(Abs. 3 Nr. 2). Zuständig ist der Gerichtshof ersterInstanz (Landes<strong>ger</strong>icht), in zweiter Instanz als Beschwerde<strong>ger</strong>ichtdas Oberlandes<strong>ger</strong>icht.Zum zweiten ist in Österreich einschlägig das am 1.3.2008 in Kraft getretene Bundesgesetz über die Vollstreckungvon Geldstrafen und Geldbußen von Verwaltungsbehörden imRahmen der Europäischen Union (EU-Verwaltungsstrafvollstreckungsgesetz– EU-VStVG). 4 Nach dessen § 2 Nr. 1 istdas EU-VStVG anwendbar auf Entscheidungen von nicht<strong>ger</strong>ichtlichen Behörden in Strafsachen oder Ordnungswidrigkeiten.Zuständig sind hier die Bezirksverwaltungsbehörden(Bezirkshauptmannschaften und Organe der Städte mit eigenemStatut) und die Landespolizeidirektionen. 5 Sollte vomAusnahmen oder Übergangsbestimmungen für den RB Geldenthält die Akte nicht.2 BGBl. I 2010, S. 1408; näher zum Gesetz Johnson, in:Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehrin Strafsachen, Bd. 2, 20. Lfg., Stand: Januar 2011, vor § 86IRG Rn. 1 ff.3 Den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates v. 26.2.2009über Abwesenheitsentscheidungen hat Österreich mittlerweileumgesetzt (durch die EU-JZG-Novelle 2011, BGBl. I Nr.134/2011).4 BGBl. I Nr. 3/2008 i.d.F. BGBl. I Nr. 33/2013.5 Siehe aktuell Ratsdok. 10816/13 v. 18.6.2013._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com361


OLG Linz, Beschl. v. 11.4.2013 – 9 Bs 82/13t; OLG Linz, Beschl. v. 13.5.2013 – 9 Bs 153/13hJohnson_____________________________________________________________________________________anderen Mitgliedstaat das Ersuchen um Anerkennung undVollstreckung einer Geldsanktion an eine unzuständige Stellein Österreich <strong>ger</strong>ichtet worden sein, besteht im Einklang mitArt. 4 Abs. 6 RB Geld eine Pflicht zur Weiterleitung an diezuständige Stelle (§ 53b Abs. 4 EU-JZG, § 4 EU-VStVG).Als drittes gibt es das am 26.3.2009 in Kraft getreteneBundesgesetz zur Durchführung des Rahmenbeschlusses überdie Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennungvon Geldstrafen und Geldbußen im Bereich des verwaltungsbehördlichenFinanzstrafverfahrens (EU-Finanzstrafvollstreckungsgesetz– EU-FinStrVG), das auf die Vollstreckungvon Entscheidungen der Finanz- und Zollbehörden andererMitgliedstaaten in Österreich und auf die Vollstreckung vonEntscheidungen österreichischer Finanzstrafbehörden in anderenMitgliedstaaten anwendbar ist. 6 Zuständig sind die ZolloderFinanzämter als Finanzstrafbehörden erster Instanz.Das Bundesamt für Justiz als zuständige Bewilligungsbehördein Deutschland hat im Jahr 2011 1.802 ausgehendeErsuchen an andere Mitgliedstaaten <strong>ger</strong>ichtet, davon 40 anÖsterreich; 2012 waren es bereits 4.035 Ersuchen, davon 135an Österreich. 7 Ein Ersuchen um Anerkennung und Vollstreckungeiner Geldsanktion besteht nach dem RB Geld auseiner Bescheinigung, wie sie im Anhang zum RB Geld abgedrucktist, nebst Übersetzung regelmäßig in die Amtssprachedes Vollstreckungsstaates sowie der zugrundeliegenden Entscheidung(Original oder beglaubigte Abschrift). Der sehrerfreulich angelaufene Vollstreckungshilfeverkehr mit Österreichauf Grundlage des RB Geld wird in seiner technischenAbwicklung maßgeblich dadurch erleichtert, dass weder dieBescheinigung 8 noch der nachfolgende Schriftverkehr derÜbersetzung bedürfen.Die beiden Beschlüsse des OLG Linz sind auf Grundlagedes EU-JZG ergangen, nämlich als Beschwerdeentscheidungengegen Entscheidungen des Landes<strong>ger</strong>ichts Salzburg, mit welchenjeweils ein deutsches Ersuchen um Anerkennung undVollstreckung einer im Strafbefehlsverfahren verhängten Geldstrafeanerkannt worden war und gegen welche die BetroffenenBeschwerde eingelegt hatten. Im Einklang mit vielen anderenMitgliedstaaten hat sich auch Österreich auf dem neuen Feldder Anerkennung und Vollstreckung von Geldsanktionen fürdie Notwendigkeit eines <strong>ger</strong>ichtlichen Exequaturverfahrensentschieden, in welchem ein Gericht nach Anhörung desBetroffenen (§ 53c Abs. 5 EU-JZG) und nach Prüfung derZulässigkeit die ausländische Entscheidung für vollstreckbarerklärt (oder – in österreichischem Sprachgebrauch – derenVollstreckung übernimmt). Nach § 53a Nr. 4 EU-JZG ist diebeiderseitige Sanktionierbarkeit zu prüfen, sofern es sichnicht um ein im Anhang I zum EU-JZG aufgeführtes Listendeliktim Sinne von Art. 5 Abs. 3 RB Geld handelt. Im Falledes OLG-Beschlusses v. 11.4.2013 war in der deutschen6 BGBl. I Nr. 19/2009 i.d.F. BGBl. I Nr. 70/2013.7 Aktuell zur Entwicklung insgesamt Johnson/Loroch, DAR2013, 253.8 Ratsdok. 7026/1/08 REV 1 v. 14.3.2008; Österreich verlangtdie Vorlage der Bescheinigung in Deutsch, erkennt aber aufGrundlage der Gegenseitigkeit auch Bescheinigungen in anderenSprachen an.Bescheinigung die Zuordnung der Straftat des Fahrens ohneFahrerlaubnis nach § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG zum Listendelikt„gegen die den Straßenverkehr regelnden Vorschriften verstoßendeVerhaltensweise, einschließlich Verstößen gegenVorschriften über Lenk- und Ruhezeiten und des Gefahrgutrechts“(Art. 5 Abs. 1 Var. 33 RB Geld) versehentlich unterblieben;9 dies erwies sich als unschädlich, weil der sanktionierteSachverhalt „Fahren trotz Fahrverbots“ auch in Österreichstrafbar wäre. Im Falle des Beschlusses v. 13.5.2013 wäre dersanktionierte Sachverhalt, eine Steuerhinterziehung nachdeutschem Recht (§§ 369, 370 AO) und kein Listendeliktnach dem RB Geld, in Österreich als Betrug gemäß § 146StGB strafbar. Interessant ist der Umgang des österreichischenGesetzgebers mit den Listendelikten: Nach § 53cAbs. 3 Nr. 3 EU-JZG kann die Vollstreckung verwei<strong>ger</strong>t werden,wenn (von Seiten des ersuchenden Mitgliedstaates) dierechtliche Würdigung als Straftat nach Anhang I offensichtlichfehlerhaft ist oder der Betroffene dagegen begründeteEinwände erhoben hat und die Behörde des ersuchendenMitgliedstaates dazu nicht binnen angemessener Frist ergänzend(und – so wird man hinzufügen dürfen – inhaltlich überzeugend)Stellung genommen hat. Das ist ein pragmatischerUmgang mit dem Konzept der Listendelikte und dürfte mindestensim Ergebnis der Praxis der meisten Mitgliedstaatenentsprechen. Mit dem Vortrag, die Verurteilung in Deutschlandsei jeweils zu Unrecht erfolgt, sind nach dem System desRB Geld beide Betroffenen vor den österreichischen Gerichtenzu Recht nicht gehört worden. Eine inhaltliche Prüfung derdem Ersuchen um Vollstreckung von Geldsanktionen zugrundeliegendenrechtskräftigen Entscheidung des ersuchendenMitgliedstaates findet nämlich nicht statt (auch wenn dasOLG Linz im Beschluss v. 11.4.2013 gleichwohl der Wirksamkeitdes Fahrverbots durch Nachfrage in Deutschlandnachgegangen ist). Im Einklang mit Art. 4 RB Geld erfolgtdie Vollstreckung in aller Regel allein auf Grundlage der Angaben,die in der Bescheinigung des ersuchenden Staatesenthalten sind. Dies wird besonders deutlich anhand der (zwischenÖsterreich und Deutschland gegenstandslosen) Übersetzungsregelung:Nach Art. 16 RB Geld wird nur die Bescheinigungin die Amtssprache des Vollstreckungsstaatesübersetzt, allein sie steht deshalb diesem als Verfahrensgrundlagezur Verfügung.Des Zusammenhangs wegen nur hingewiesen sei auf einenoch offene Frage im österreichisch-deutschen Vollstreckungshilfeverkehr:Nach seinem Art. 18 schließt der RB Geld dieAnwendung bi- oder multilateraler Übereinkünfte oder Vereinbarungenzwischen Mitgliedstaaten nicht aus, sofern siedie Möglichkeit bieten, über die Bestimmungen des RB Geldhinauszugehen und zu einer weiteren Vereinfachung oder Erleichterungder Verfahren zur Vollstreckung von Geldstrafenoder Geldbußen beizutragen. Im Hinblick darauf weiterhin derKlärung harrt das Verhältnis zu dem deutsch-österreichischenVertrag über Amts- und Rechtshilfe in Verwaltungssachen v.9 Zum Listendelikt „Verkehr“, das es nur im RB Geld gibt,siehe Böse, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), InternationalerRechtshilfeverkehr in Strafsachen, Bd. 4, 7. Lfg., Stand: Oktober2008, III. A. 2.4 Rn. 10._____________________________________________________________________________________362<strong>ZIS</strong> 7-8/2013


OLG Linz, Beschl. v. 11.4.2013 – 9 Bs 82/13t; OLG Linz, Beschl. v. 13.5.2013 – 9 Bs 153/13hJohnson_____________________________________________________________________________________31.5.1988, 10 der sich mit dem RB Geld im Anwendungsbereichinsoweit überschneidet, als er nach seinem Art. 9 dieVollstreckung von durch Behörden verhängten Geldbußen ab(damals) 350 Schilling oder 50 DM vorsieht.Abteilungspräsident im Bundesamt für Justiz Dr. ChristianJohnson, Bonn10 BGBl. II 1990, S. 357 und 1334, in Kraft getreten am 1.10.1990. Zum Konkurrenzverhältnis siehe etwa Jacoby, in: Grützner/Pötz/Kreß(Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr inStrafsachen, Bd. 3, 30. Lfg., Stand: Dezember 2012, II. O. 5.Rn. 37. Zur Vollstreckung österreichischer Geldbußen nachdem bilateralen Vertrag wegen Nichtbenennung des FahrersFG Hamburg DAR 2010, 281._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com363

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