Erinnerungen

Erinnerungen Erinnerungen

03.12.2012 Aufrufe

tschechisch/später polnisch erfolgten Schulbildung keine Sprachschwierigkeiten hatte und die Grundschule in Bogatynia ziemlich jung abschließen konnte; er wohnte in Zgorzelec privat. Für die Internatsschüler gab es im Kellergeschoss Frühstück, welches immer aus einer großen Tasse Malzkaffee und einem Brötchen mit einer Scheibe Wurst bestand. Mittagessen gab es in einem anderen Gebäude für alle, die Abendbrotregelung war Privatsache. Obwohl für Außenstehende uninteressant gebietet es doch die Achtung und Dankbarkeit das Lehrerkollegiums der damaligen Zeit zu erwähnen: − Zuerst die wohl interessanteste Persönlichkeit, einen Professor für Mathematik, der im Vorkriegspolen Abgeordneter im Sejm war und wohl deshalb von der Polizei verpflichtet wurde, im Schulgebäude in oder nahe der Bibliothek zu wohnen. Er wurde im allgemeinen als der „Szlachcic“ bezeichnet, abends war manchmal zu sehen, wie der ältere Herr im Nachthemd auf der Leiter stand, um sich ein Buch aus dem Regal zu holen. Er hatte aber die Sympathie der Jugend gewonnen und auch ich habe immer ausgesucht höflich gegrüßt, um das zu zeigen. Manfred Horn hatte bei ihm Unterricht und er nannte ihn klug und gütig. Sein Name war wahrscheinlich Swidzinski oder ähnlich. − Direktor war Herr Palieter, der 1955 aber mit Familie nach Frankreich ausreiste, nach ihm kam Herr Radzik, dessen Schwester in unserer Klasse war, wo er auch Biologie unterrichtete. − Stellvertretende Direktorin war Frau Rajchel, die Französisch unterrichtet, eine kleine energische Person, immer mit Zigarette. − Klassenleiterin war Kazimiera Mita, eine strenge gelernte Archäologin, die Geschichte lehrte. − Frau Lorenz lehrte Polnisch und obwohl die Fälle dieser Sprache bei mir nie in Fleisch und Blut übergegangen sind, stand ich immer auf „Gut“. − Die herzensgute Frau Ostrowska lehrte Mathematik. Ihr Sohn Jacek war bei uns in der Klasse und der größte Rabauke. Sie glaubte mathematisch an mich, seitdem mir in einer Sternstunde an der Tafel einmal eine selbstständige geometrische Ableitung gelang. Ihr Nachfolger im Fach war Herr Bober. − Chemie gab der schon ältere Herr Kwasniewski, der vom Studium her wahrscheinlich Deutschkenntnisse hatte, denn er gebrauchte bei Tages-Leistungen gern das deutsche Sprichwort von der Schwalbe, die noch keinen Sommer macht. − Russisch lehrte die ältere Dame Wołowska. − Physik und Geographie gab die junge Frau Lisicka. − Sport hatten wir beim 30jährigen blonden Wilhelm Nowicki aus Pommern. − Für Wehrunterricht/Ertüchtigung war Herr Wiatrowski zuständig. Den Kreis der Schülerinnen und Schüler aus unserer Klasse könnte ich heute noch nennen, dabei hatte ich bei mindestens 20 % begründeten Verdacht, dass sie Deutsch verstehen, vom Familiennamen her, von erwähnter Verwandtschaft, einige haben wahrscheinlich gleich gut deutsch gesprochen, aber sie haben das eisern unter der Decke gehalten. Anders ich, der ich immer unmissverständlich klargestellt habe, wer ich bin, was im ersten Schritt für viele eine Sache war, die Einordnung erforderte, mir aber dann auch Anerkennung wegen klarer Haltung einbrachte. Kritisch war es zuerst im Milieu des Internats, wo unter den Neuen sich eine Rangordnung ausbilden musste, wobei mich also einer als ausgewiesenen Deutschen unterordnen wollte und mir vor versammelter Mannschaft mit Wucht auf den Rücken sprang, was ich aber aus hielt um ihn dann meinerseits über die Schulter platt auf die Dielen zu werfen, wo er erst einmal liegen blieb, weil die Luft raus war. Damit blieb meine Unabhängigkeit gewahrt. Das erste Schuljahr fuhr ich nur einmal im Monat nach Hause, der Fahrtkosten wegen. Man konnte auch ab Zgorzelec Moys mit der Bahn fahren. im Bahnhof Ostritz war scheinbar das dichte stalinistisch/sozialistische Grenzregime aufgehoben, denn dort stiegen im Wechsel deutsche und polnische Reisende in Züge. Für mich war es total aufwühlend so viele unbekannte Deutsche zu sehen, bis heute träume ich von dieser scheinbar durchbrochenen Grenzstelle. Gleichzeitig stiegen in Ostritz aber auch polnische Posten zu, in 56

jeden Waggon einer und die Fenster mussten geschlossen werden, denn die Gleise laufen teilweise auch westlich der Neiße, die Ausweise wurden während der Fahrt kontrolliert. Als die Großmutter von Klaus Joschko, die kein Wort Polnisch sprach, diese Strecke befuhr, reichte sie dem Posten in ihrer Nervosität aus der Handtasche statt Ausweis eine prachtvolle in Französisch gehaltene Speisekarte aus dem Hotel Adlon, die dieser ratlos hin und her wendete, dann mit Verbeugung zurückgab, wobei er abschließend zackig vor ihr salutierte und mit militärischer Kehrtwendung die Hacken zusammenschlagend abging. In Türchau musste man auf die Kleinbahn nach Reichenau umsteigen. Seit 1951 konnte man mit dieser auch von Reichenau bis Kleinschönau fahren. Allerdings waren die starken Lokomotiven 45 im Zittauer Depot geblieben und dann durch kleinere Dampfloks von nur ca. 1/3 Leistung ersetzt worden. Die Erstfahrt 1951 nur mit Lok ließ diese in Reibersdorf über eine Straße aus den verschmutzten Schienen springen und in einen Hof hineinfahren. Indem dieser aber gepflastert war, soll man einfach rückwärts wieder auf das eigentliche Gleis gefahren sein. Die Schwäche dieser Lokomotiven machte es aber unmöglich, ohne Schwung an Brendlers Fabrik vorbei aus dem Reichenauer Tal hinauszufahren, d. h. man konnte nicht wie früher im Schritt, der Schaffner mit roter Fahne voraus, die ersten drei Straßen ab Bahnhof überqueren, sondern man musste ab Abfahrt Volldampf geben, um Geschwindigkeit zu bekommen, dabei laut pfeifen. Die Gefährlichkeit der kleinen Bahn sprach sich schnell herum und die Bäuerlein aus Za Buga waren sehr unruhig, wenn sie sich den Gleisen mit ihrem Pferdchen näherten. Wenn man dann noch 20 – 30 m entfernt war und das Ungeheuer fing zu pfeifen an, was dann? Würde das Pferdchen stehen oder durchgehen, oder was? Und da war man schon wieder ein Stück gefahren. Also Vorwärts! Vorwärts! Und so kam es zur Wettfahrt, bei denen die Bahn noch ein Stückchen vom Wägelchen erwischte, aber keiner kam zum Halten, das Pferdchen lief noch hunderte Meter weiter um sein Leben und die „Tschiuchtschia“ musste mit Schwung die Höhe nach Wald-Oppelsdorf gewinnen. Auch der Autobus wurde ab und zu gestreift. Ich habe erlebt, wie danach bei Fahrerwechsel die Gefahr eines „Feuerteufels aus dem Gebüsch“ beschrieben wurde. Einmal bekamen wir nach Zgorzelec über eine Stunde Verspätung, weil bei leichtem Frühnebel der Fahrer konsequent den Schaffner ca. 20 m voraus laufen ließ, um die Gleise zu suchen. 17. Das Jahr 1955 Hier wäre im Nachgang zu berichten, dass ich endlich mit Clara und Dangola in einer Klasse vereint war, wobei es in diesem Alter zwischen Jungen und Mädchen zu einer Auseinanderläufigkeit der Entwicklung kommt, d. h. die Mädchen sind einerseits biologisch weiter, anderseits sehr kompliziert und die Jungs fangen an, vom sportlichen Heldentum und sonstigen Bewährungen zu träumen und wollen ungebunden sein. Kurzum, es wurde in dieser Phase, trotz gegebenen Möglichkeiten, nichts aus uns. Als ich bei der Niederschrift des Vorkapitels bei Dangola und Clara nach dem Namen des alten Mathematikprofessors (Schlachcic) fragte, nannten beide, obwohl hunderte Kilometer getrennt sofort den Namen eines auch in meiner Erinnerung sehr gut aussehenden jungen Mathelehrers. So kommt nach 50 Jahren noch an den Tag, wo die jungen Mädels ihre Augen hatten. Der Sportlehrer fand heraus, dass ich gut Hochsprung-tauglich war, sozusagen am Standort konkurrenzlos und ich wurde in die Zgorzelecer Leichtathletik-Mannschaft, einem herausgehobenen Kreis, eingereiht. Äußerer Ritterschlag war, dass man einen schicken Trainingsanzug bekam und Spikes. Nächster Vorteil war, dass man voll gesponsert (sogar mit Taschengeld) in Schlesien, nach Breslau, Hirschberg, Waldenburg, Schweidnitz, Glatz zu Wettkämpfen (mit Hotelübernachtung ) fahren konnte und so als armer Junge auch ein Stück von der Welt sah; in Schlesien auch noch Landsleute traf, so den Sprinter Peter Klose, den Kugelstoßer Martin ... und andere. Unsere Zgorzelecer Spitzenkönner war Lucjan Kijewski, der ca. 11.4 sek/100 m lief und entsprechend auch ein guter Weitspringer war, Henryk Bieniewski warf den Speer in die 60er Meter, außer ihm gab es noch einen anderen guten 57

tschechisch/später polnisch erfolgten Schulbildung keine Sprachschwierigkeiten hatte und die<br />

Grundschule in Bogatynia ziemlich jung abschließen konnte; er wohnte in Zgorzelec privat.<br />

Für die Internatsschüler gab es im Kellergeschoss Frühstück, welches immer aus einer großen<br />

Tasse Malzkaffee und einem Brötchen mit einer Scheibe Wurst bestand. Mittagessen gab es<br />

in einem anderen Gebäude für alle, die Abendbrotregelung war Privatsache. Obwohl für Außenstehende<br />

uninteressant gebietet es doch die Achtung und Dankbarkeit das Lehrerkollegiums<br />

der damaligen Zeit zu erwähnen:<br />

− Zuerst die wohl interessanteste Persönlichkeit, einen Professor für Mathematik, der im<br />

Vorkriegspolen Abgeordneter im Sejm war und wohl deshalb von der Polizei verpflichtet<br />

wurde, im Schulgebäude in oder nahe der Bibliothek zu wohnen. Er wurde im allgemeinen<br />

als der „Szlachcic“ bezeichnet, abends war manchmal zu sehen, wie der ältere Herr im<br />

Nachthemd auf der Leiter stand, um sich ein Buch aus dem Regal zu holen. Er hatte aber<br />

die Sympathie der Jugend gewonnen und auch ich habe immer ausgesucht höflich gegrüßt,<br />

um das zu zeigen. Manfred Horn hatte bei ihm Unterricht und er nannte ihn klug und gütig.<br />

Sein Name war wahrscheinlich Swidzinski oder ähnlich.<br />

− Direktor war Herr Palieter, der 1955 aber mit Familie nach Frankreich ausreiste, nach ihm<br />

kam Herr Radzik, dessen Schwester in unserer Klasse war, wo er auch Biologie unterrichtete.<br />

− Stellvertretende Direktorin war Frau Rajchel, die Französisch unterrichtet, eine kleine energische<br />

Person, immer mit Zigarette.<br />

− Klassenleiterin war Kazimiera Mita, eine strenge gelernte Archäologin, die Geschichte<br />

lehrte.<br />

− Frau Lorenz lehrte Polnisch und obwohl die Fälle dieser Sprache bei mir nie in Fleisch und<br />

Blut übergegangen sind, stand ich immer auf „Gut“.<br />

− Die herzensgute Frau Ostrowska lehrte Mathematik. Ihr Sohn Jacek war bei uns in der<br />

Klasse und der größte Rabauke. Sie glaubte mathematisch an mich, seitdem mir in einer<br />

Sternstunde an der Tafel einmal eine selbstständige geometrische Ableitung gelang. Ihr<br />

Nachfolger im Fach war Herr Bober.<br />

− Chemie gab der schon ältere Herr Kwasniewski, der vom Studium her wahrscheinlich<br />

Deutschkenntnisse hatte, denn er gebrauchte bei Tages-Leistungen gern das deutsche<br />

Sprichwort von der Schwalbe, die noch keinen Sommer macht.<br />

− Russisch lehrte die ältere Dame Wołowska.<br />

− Physik und Geographie gab die junge Frau Lisicka.<br />

− Sport hatten wir beim 30jährigen blonden Wilhelm Nowicki aus Pommern.<br />

− Für Wehrunterricht/Ertüchtigung war Herr Wiatrowski zuständig.<br />

Den Kreis der Schülerinnen und Schüler aus unserer Klasse könnte ich heute noch<br />

nennen, dabei hatte ich bei mindestens 20 % begründeten Verdacht, dass sie Deutsch verstehen,<br />

vom Familiennamen her, von erwähnter Verwandtschaft, einige haben wahrscheinlich<br />

gleich gut deutsch gesprochen, aber sie haben das eisern unter der Decke gehalten. Anders<br />

ich, der ich immer unmissverständlich klargestellt habe, wer ich bin, was im ersten Schritt für<br />

viele eine Sache war, die Einordnung erforderte, mir aber dann auch Anerkennung wegen<br />

klarer Haltung einbrachte. Kritisch war es zuerst im Milieu des Internats, wo unter den Neuen<br />

sich eine Rangordnung ausbilden musste, wobei mich also einer als ausgewiesenen Deutschen<br />

unterordnen wollte und mir vor versammelter Mannschaft mit Wucht auf den Rücken sprang,<br />

was ich aber aus hielt um ihn dann meinerseits über die Schulter platt auf die Dielen zu<br />

werfen, wo er erst einmal liegen blieb, weil die Luft raus war. Damit blieb meine Unabhängigkeit<br />

gewahrt. Das erste Schuljahr fuhr ich nur einmal im Monat nach Hause, der<br />

Fahrtkosten wegen. Man konnte auch ab Zgorzelec Moys mit der Bahn fahren. im Bahnhof<br />

Ostritz war scheinbar das dichte stalinistisch/sozialistische Grenzregime aufgehoben, denn<br />

dort stiegen im Wechsel deutsche und polnische Reisende in Züge. Für mich war es total<br />

aufwühlend so viele unbekannte Deutsche zu sehen, bis heute träume ich von dieser scheinbar<br />

durchbrochenen Grenzstelle. Gleichzeitig stiegen in Ostritz aber auch polnische Posten zu, in<br />

56

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!