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Erinnerungen

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<strong>Erinnerungen</strong><br />

1


<strong>Erinnerungen</strong><br />

Aus Reichenau und aus dem frühen Bogatynia; aufgeschrieben für Kinder und Enkel; alle<br />

Rechte vorbehalten; von PETER PALM<br />

1. Die Vorfahren<br />

Jeder Mensch kann sich als Kind seiner zwei direkten Eltern sehen, aber auch in der<br />

Zusammensetzung von vier Großeltern oder aber von 8 Urgroßeltern abstammend. Letztere<br />

erweiterte Sicht ist interessant, denn manchmal überspringen Eigenschaften eine Generation.<br />

Von meines Vaters Seite ist als Urgroßvater ein Zimmerer-Meister von hohem Wuchs<br />

und kräftiger Statur (und hohen Schultern) der einzige große Mensch in der Ahnenreihe, der<br />

aber seine Körpergröße konsequent weiter vererbte. Bei meinem Enkelsohn sehe ich<br />

zumindest schon die hohen Schultern, die aber sein 1,94 m großer Vater nicht hat, wohl aber<br />

ich, der Großvater.<br />

Die Vorfahren von meines Vaters Seite lebten alle auf der böhmischen Seite.<br />

Vorgenannter Zimmerer-Meister hatte es in Brüx (Most) zu beträchtlichem Vermögen<br />

gebracht, seine Söhne studierten in Prag Architektur, aber alles war in Brüx durch Bergbau<br />

unterhöhlt worden, bis 1896 die Stadt sich durchaus plötzlich im Ganzen absenkte und sich<br />

mit zerstörten Gebäuden in einer Binge befand. So im Näheren heimatlos geworden und an<br />

Vermögen stark gemindert, beschloss die Familie sich näher der Heimat meiner Urgroßmutter<br />

2<br />

Man sieht ihm an, dass er es körperlich<br />

und geistig geschafft hat. auf der<br />

Baustelle


zu begeben, einer geb. Nemethy, einer Enkelin des ehemaligen bekannten Oberamtmannes<br />

gleichen Namens der böhmischen Grafschaft Friedland.<br />

Aufgrund rheumatischer Beschwerden der Urgroßmutter kaufte man sich mit dem<br />

Restvermögen im aufstrebenden Moorbad Oppelsdorf auf sächs. Seite ein, erbaute die<br />

Pension „Waldesruh“ und erwarb ein kleines Haus am Ende der „Villenstraße“. Mein<br />

Großvater, der eigentlich viel lieber Arzt geworden wäre, (er bemühte sich ständig um ärmere<br />

Kranke) verdiente sein Geld anfänglich als freier Architekt (dabei Schule in Bad Oppelsdorf,<br />

Brunnenhäuschen) im ganzen Bezirk und lernte in Haindorf-Ferdinandstal meine Großmutter<br />

kennen (als sie krank war). Sie hatten 2 Söhne.<br />

Großmutter entstammte einer zahlreichen Gastwirts- und Fleischer-Familie (5 Kinder).<br />

Ihre Großeltern hatten noch selbst im Walde die Steine gebrochen und in Ferdinandstal die<br />

Gaststätte und Fleischerei „Waldschlösschen“ errichtet.<br />

3


Wilhelm und Martha geb. Linke. Heirat 11.02.1908<br />

4


Soweit die Vorfahren von Seiten des Vaters, hierzu noch zwei Anekdoten:<br />

– Als der Bruder meines Vaters an einem Schulausflug von Oppelsdorf in das Museum<br />

Schloss Friedland teilnahm wurde ihm gesagt: „Wenn ihr in der Galerie am Bild von<br />

Nemethy vorbeikommt, kannst Du ja durchblicken lassen, dass Du sein Nachkomme bist.“<br />

Wieder zurück wurde er gefragt: „Wart ihr am Bild von Nemethy?“, Antwort: „Ja.“, „Hast<br />

Du durchblicken lassen?“, Antwort: „Nein, die haben gesagt, dass er gern einen getrunken<br />

hat“.<br />

– Wenn an der Wallfahrtskirche in Haindorf Anfang Juli die Kirchweih gefeiert wurde,<br />

kamen zahlreich Roma , um u. a. an den Geschäften teilzunehmen. Die Roma, damals noch<br />

fahrendes Volk mit Pferden, wurden vom Förster auf einer Waldwiese oberhalb<br />

Ferdinandstal eingewiesen, wo der Tross bleiben musste. Waren die Geschäfte in Haindorf<br />

schlecht gegangen, so war unser Anwesen in Ferdinandstal, vor dem Wald, die letzte<br />

Chance, um die Lage zu verbessern und es fehlte wohl oft ein Huhn oder eine andere<br />

Kleinigkeit. Eines Tages aber kam ein alter Roma zu meinem Urgroßvater und sagte<br />

sinngemäß: „Herr Linke, meine Frau ist krank, wir kommen nicht mehr weiter, bitte helfen<br />

Sie uns.“ Urgroßvater konnte nur den Heuboden und Decken anbieten, verpflichtete den<br />

Gast auf Handschlag dort nicht zu rauchen und versorgte die Beiden täglich mit<br />

ausreichend Speisen. (Mein Vater als Kind sah den alten Roma mit seiner kurzen<br />

Stummelpfeife noch vor dem Haus sitzen.) Nach ca. 1 Woche war die Frau wieder gesund<br />

und der alte Roma sagt: „Herr Linke, ich habe kein Geld um zu bezahlen, aber ich habe<br />

Zeichen für meine Brüder gemacht, das ist auch gut.“ Niemand hat jemals diese Zeichen<br />

gesehen, aber niemals wieder ist durch Roma etwas verschwunden.<br />

5<br />

Ehepaar Andree ca. 1944


Von meiner Mutter Seite, einer geb. Preibisch aus Reichenau, diese Familie dort ansässig<br />

seit dem 18. Jahrhundert, damit genügend Zeit für Reichenauer Einheirat, so dass wir uns<br />

auch als Nachkommen der ersten deutschen Siedler von ca. 1250 sehen können und zur Hälfte<br />

der örtlichen Wenden, wobei der Name Preibisch selbst slawischen Ursprung ist. Von<br />

Urgroßvater Preibischs Mutter weiß ich, dass sie als meine Ur-Urgroßmutter die Witwe des<br />

Goldschlägers Leupolt war, vermögend und sehr schön, mit einem Kranz wunderschöner<br />

Töchter, die sie mit in die Ehe brachte und über welche, für meine Mutter noch deutlich<br />

spürbar wir mit fast allen großen Bauernwirtschaften in Reichenau aktuell verbunden waren.<br />

Die Ur-Urgroßeltern erbauten auch über dem Uferweg als 389 a das neue Bauernhaus im<br />

klassizistischen Stil (dort 18. mein Urgroßvater geboren), mit ursprünglicher Freitreppe vom<br />

Uferweg; von der Bevölkerung damals als „Glaspalast“ angesprochen. Sie pflanzten um den<br />

Hof herum 97 Kirschbäume (Abnehmer damals evtl. schon u. a. Firma Rolle, von den letzten<br />

Bäumen habe ich noch profitiert). Ansonsten war die kleine Bauernwirtschaft von ca. 10 ha<br />

mehr die Grundlage für einen Fuhrbetrieb, denn die meisten Kesselhäuser der zahlreichen<br />

Fabriken mussten lange Zeit noch von Pferdegespannen mit Kohle versorgt und von Asche<br />

entsorgt werden; außerdem stand auf jedem Bauernhof eine elegante Kutsche „Landauer“<br />

genannt, für sozusagen Taxidienste für die Bevölkerung (und bei uns auch noch ein<br />

Leichenwagen). Urgroßvater Preibisch hat mir lange Lebenszeit ein Rätsel aufgegeben, indem<br />

ein Wagen aus seiner Zeit abgestellt war mit seinem Namen und dem Zusatz „D. R. G. M.“<br />

(Deutsches-Reichs-Gebrauchs-Muster hat sich später für mich erschlossen ca. Patent). Der<br />

Boden des Wagens ging zwecks Kohle-Entladung über eine Kurbel zu öffnen und das Patent<br />

wurde für ca. 5.000,00 Reichsmark = heute ca. 100.000,00 € in die USA verkauft.<br />

Urgroßvater war „Kirchenvater“ in Reichenau. Für meine Mutter war es durch aus ein Schock<br />

als sie als 6-jährige erlebte, wie ihr bewunderter Vater sonntags auf dem Klavier seiner Eltern<br />

Töne anschlug und dessen Vater das Klavier zu- und ihm auf die Hände schlug und sagte:<br />

„Heute ist Sonntag!“. Urgroßmutter war eine geborene Trenkler von einem großen Hof in<br />

Markersdorf und allzeit eine sehr heitere Frau. Sie hatten 4 Kinder. Vom anderen<br />

Urgroßvater, d. h. vom Vater meiner Reichenauer Großmutter, weiß ich , dass er als Sohn des<br />

Leutevogtes Seidler auf dem Schloss in Großhennersdorf geboren wurde. Die Urgroßmutter<br />

nahe bei in Burkersdorf in der „Alten Schäferei“ als Tochter des Groß-Schäfermeisters<br />

Gäbler. Die Beiden gingen später mit ihren 5 Kindern nach Reichenau, wo der Haupternährer<br />

dann als Fuhrmann arbeitete.<br />

Als ich 1943 als 3 ½-jähriger nach Reichenau kam, fehlte aus dem Kreis der Großeltern<br />

schon der Vater meines Vaters, der nach einem Sturz auf einer Baustelle schon 1937<br />

verstorben war. Am 1. Weltkrieg nahm er als Österreichischer Pionieroffizier teil und war<br />

später in den Dienst der Firma Rolle in Reichenau getreten (damals größte Obstwein- und<br />

Marmeladenfabrik Deutschlands), die u. a. für ihren Neubau in Niederoderwitz und für<br />

Lockerungs-Sprengungen von Baumpflanzungen auf ihren großen Plantagen einen Fachmann<br />

brauchte (das Sprengbuch habe ich noch, ebenfalls die Baufoto-Dokumentation vom<br />

Erweiterungsbau der KOSA Niederoderwitz). Er liegt auf dem Waldfriedhof in Oppelsdorf<br />

begraben. Meine Großmutter hatte später den etwa zur gleichen Zeit verwitweten (die<br />

Familien waren sich früher schon gut bekannt) Carl Andreè, Bürgermeister in Oppelsdorf und<br />

Inhaber der Pension „Villa Clara“ auf der Villenstraße, geheiratet; er war uns immer ein guter<br />

Stiefgroßvater.<br />

6


So habe ich in der „Villa Clara“ den ausklingenden Pensionsbetrieb noch erlebt, d. h. es<br />

roch immer gut nach Kaffee, die Bäder wurden bereitet, irgendwo in den Parks spielte Musik<br />

und die Leute spazierten vorbei. Der Krieg spielte nur soweit eine Rolle, als mir die<br />

Großmutter immer die Geschichte eines Schäferhundes, Liebling der Familie, vorlesen<br />

musste, der dann zum Militär geholt und für die Front als Retter ausgebildet wurde, was er so<br />

tapfer tat, dass viele Dankschreiben von Soldaten eintrafen, bis eines Tages vom Ende der<br />

Straße zwei Soldaten auf das Haus zugingen, die einen Korb zwischen sich trugen, der mit<br />

einer Ehrenschleife bedeckt war ... Weiter haben wir die Geschichte nie kennen gelernt, weil<br />

wir immer ab dieser Stelle, Großmutter und ich , auf dem Sofa saßen und weinten. Mit und<br />

ohne Großmutter waren wir vor 45 oft in Ferdinandstal, wo ihr Bruder inzwischen die<br />

Gaststätte führte. Dort hing ein Bild in der Gaststube auf dem gezeigt wurde, wie Wölfe einen<br />

Schlitten, die bewaffneten Männer darauf und die durchgehenden Pferde anfielen, Ausgang<br />

ungewiss. Was nützt mir die ganze Malkunst Anderer, wenn ich dieses Bild bis heute nicht<br />

wieder gefunden habe. Ab 1943, als mein Vater eingezogen wurde, mieteten wir die<br />

Wohnung im Obergeschoss des Hauses der Eltern meiner Mutter, so dass ich nahe bei den<br />

Großeltern Preibisch aufgewachsen bin.<br />

Ich will zum Wohnen im damaligen Reichenau vermerken, dass dieses anders als heute<br />

eigentlich nur in der Wohnküche stattfand. Nur dieser Raum war an den Wochentagen<br />

beheizt, das Wohnzimmer wurde nur an Wochenenden erwärmt und genutzt, wenn Besuch zu<br />

erwarten war. An den Schlafzimmerwänden glitzerte im Winter der Frost und als Seelen- und<br />

Körpertrost wurde ein mit Warmwasser gefüllter Bettwärmer ca. ½ Stunde vor dem<br />

Schlafengehen ins Bett gestellt.<br />

7<br />

Hochzeitsbild Edwin und Lina (geb.<br />

Seidler) Preibisch.<br />

Man fuhr mit der Kutsche bis nach<br />

Oybin zur Trauung in der Kirche dort.


Die Wohnküche war gleichfalls Körper-Reinigungsstelle, wochentags mit den<br />

Möglichkeiten eines Handwaschbeckens, samstags mit Ganzkörper-Zinkbadewanne.<br />

Letzteres evtl. auch in der Waschküche im Keller, wo der Wäschekessel dann entsprechend<br />

geheizt, die größeren Mengen Warmwasser lieferte. In den meisten Häusern war die<br />

Abortgrube zu riechen, manchmal auch in den Kleidern der Bewohner. Wie komfortabel man<br />

heute in Deutschland auf ca. 40 m² beheizter Fläche pro Person lebt, ist bekannt. Mit dem<br />

Schwinden/Verteuern von Energie und der Zunahme von CO2 in der Atemluft wird man unter<br />

Druck kommen in Richtung Ehemals und es wird Verstand nötig sein, um Oberhalb zu<br />

bleiben. Ansonsten ist bescheidenes Leben aber nicht gleichzusetzen mit unglücklichem<br />

Leben. Eine der schönsten Kindheitserinnerungen meiner Mutter war, dass die Familie sich<br />

abends in der Wohnküche zur „Dunkelstunde“ versammelte, d. h. um Licht zu sparen, öffnete<br />

man das Feuerloch des Ofens, die Familie saß drumherum und erzählte sich Geschichten.<br />

Großvater war ruhig, freundlich und klug, mit einer guten Ausbildung in seiner Jugend<br />

zum Webmeister über die Firma Preibisch, die sich die entfernten Verwandten gleichen<br />

Namens gern in verantwortliche Positionen qualifizierte, so ihn als Versandleiter, bis zum<br />

Niedergang der Firma in der Weltwirtschaftskrise. 1912 kam im neu gebauten Haus auf<br />

eigenem Grund neben dem Hof, Uferweg 389 b, meine Mutter als erstes von 4 Kindern zur<br />

Welt.<br />

Im I. Weltkrieg lag Großvaters Kompanie an der Somme und es überlebten davon nur 17<br />

Soldaten. An der Hauptkampflinie konnten die Soldaten nur durch das ständige<br />

Hineinspringen in frische Granattrichter einen Beitrag zur Erhaltung ihres Lebens leisten.<br />

Nachts schliefen sie tief unter der Erde, wo die Einschläge nicht durchdringen konnten, so die<br />

Selektion durch den Tod über 3 Jahre. Ein Hitler, der unweit davon im gleichen Einsatz war,<br />

verlor die Orientierung. Großvater wendete sich noch mehr der Natur zu und freute sich über<br />

jeden Tag den er später in der geliebten Heimat in Frieden verleben durfte.<br />

8<br />

Meine Mutter Anneliese geb. Preibisch,<br />

als 1. Kind. Geb. 09.01.1912.


Großmutter, wie schon erwähnt, stammte aus der großen Familie eines einfachen<br />

Fuhrmannes und konnte trotz guter Leistungen in der Schule keine weitere Ausbildung<br />

bekommen. Sie erzählte, dass sie einmal einen fälligen Hausaufsatz vergessen hatte und<br />

diesen in ihrer Not dann von einem weißen Blatt ab las, mit gutem Ergebnis. Die beiden<br />

lernten sich bei der Arbeit kennen und hatten mit dem Hausbau auf eigenem Grund und der<br />

Ehemann als zukünftiger Hoferbe und der Hof durchaus mit Barvermögen versehen, einen<br />

guten Start. Das sah nach dem I. Weltkrieg aber ganz anders aus. Zwei weitere Kinder wurden<br />

geboren, es gab nur einen Verdiener, die Stammfirma brach zusammen, das Barvermögen des<br />

Hofes holte die Inflation und das Haus musste weiter abbezahlt werden. In dieser Situation<br />

versuchten die jungen Eheleute über Wasser zu bleiben indem sie jeden Monat im Voraus das<br />

Geld für alle Belange in die winzigen beschrifteten Schubfächer eines Vertikos taten; d. h. wo<br />

dort nichts mehr war, konnte finanziell nichts mehr sein. Leider war wohl auch oft bei der<br />

Sparte „Ernährung“ zu wenig. „Der Schnellzug ist über die Butterbrote gefahren“ sagten die<br />

Kinder und bei meiner Mutter wirkte sich das so aus, dass sie nicht genommen wurde als sie<br />

eine Lehre beginnen sollte sondern, für ein Jahre zurückgestellt, in einer Fleischerei<br />

(Lehmann) mit aushelfen musste, damit sie zu Kräften käme. Diese Zurückstellung ist für<br />

meine Mutter wohl ein tiefer Schock gewesen, denn bis ins Alter gab sie nur ungern<br />

Auskunft, woher sie wohl die guten Kenntnisse beim Fleischkauf habe.<br />

Bruder Roland trat in Löbau eine Gärtnerlehre an (Gärtnerei existiert Eingangs Löbau<br />

von Herrnhut her noch), Bruder Kurt setzte später ebenfalls eine Gärtnerlehre durch.<br />

9<br />

Ilse u. Kurt Preibisch Meine urgroßm.<br />

Seidler<br />

Tante Luise<br />

Christine Knebel<br />

Ilse Sprenger aus Haindorf<br />

Meine Großeltern Andree<br />

Standesperson<br />

Edwin u. Lina Preibisch<br />

Meine Urgroßvater Linke aus Haindorf /<br />

Ferdinandstal<br />

Hochzeitsfoto vor der Kirche in Bad.<br />

Oppelsdorf


Mit Kurgästen der „Villa Clara“; 2. von links Christel Jung<br />

Für intelligente Mädchen aus einfachen Verhältnissen gab es damals eine Chance der<br />

fälligen Fabrikarbeit zu entgehen, indem man sich in konzentrierten bezahlbaren „Kursen“<br />

berufliche Fähigkeiten aneignete. So absolvierte meine Mutter eine Ausbildung als Stenotypistin<br />

und Maschineschreiberin, in welchen beiden Fächern sie später bei öffentlichen<br />

Wettbewerben mit hunderten von Teilnehmern vordere Plätze erreichte (die Urkunden haben<br />

wir noch). Die jüngste Schwester Ilse konnte später schon eine gediegenere kaufmännische<br />

Ausbildung erhalten. Meine Mutter aber, damals die Älteste unter einem ganzen Schwarm<br />

von Cousinen, konnte durchaus beneidet, außerhalb Reichenau bei der Firma „Weinbrand<br />

Wilthen“, erst in Wilthen selbst, dann in Bautzen, dann bei der Außenstelle Stettin, Geld<br />

verdienen und ein selbstständiges Leben führen. Die Großeltern Pampl in Oppelsdorf hatten,<br />

wie schon erwähnt, ein kleines Haus am Ende der Villenstraße erworben, wo mein Vater Karl<br />

1908 und später sein Bruder Kurt geboren wurden. Wenn man auch inzwischen knapp bei<br />

Mitteln war, so war die Anstellung Großvaters als Architekt bei Rolle doch vergleichsweise<br />

gut bezahlt und mein Vater wuchs auch sonst im wie immer sonntäglichen Milieu des<br />

Kurbades auf und alles gefiel ihm so gut, dass er eigentlich nicht mehr wollte. Jedenfalls<br />

schwieg er lieber über seine 2 Gymnasialjahre in Zittau, die wahrscheinlich keine Ruhmesblätter<br />

waren. Er absolvierte dann eine Maurerlehre bei Firma Weickelt in Reichenau, dabei<br />

stürzte er in der Ziegelei Oppelsdorf hoch vom Gerüst ab und blieb aber zum Glück bis zum<br />

Gürtel tief in einem Braunkohlehaufen stecken; als eine junge Frau in die Kalklöschgrube<br />

gefallen war, durfte er sie mit herausziehen, schleunigst völlig entkleiden und immer und<br />

immer wieder mit Wasser übergießen. Die sonstigen Prüfungen bestand er auch, so dass er<br />

dann auf der Baugewerbe-Schule in Zittau als junger Mann zum Abschluss als Bautechniker<br />

kam. Worauf wieder Jahre in Arbeitslosigkeit im schönen Bad Oppelsdorf kamen und<br />

Bekanntschaft und Heirat mit meiner Mutter, die ihn aber auch 1937 zu einem Bewerbungsschreiben<br />

bei der Aufbauleitung des Flugplatzes Kamp veranlasste.<br />

2. Kamp<br />

So stehen denn jetzt meine jungen Eltern allein auf dem Plan, Mutter vorerst noch in Stettin,<br />

Vater erstmals vom Leben so richtig ergriffen auf dem Anmarsch nach Kamp (Luftlinie ca.<br />

120 km östlich von Stettin), wo ihm die Flugplatz-Bauleitung einen PKW bis Bahnhof<br />

10


Treptow entgegen schickte und zwei Ingenieure zur Begrüßung, Ehre und Verpflichtung<br />

gleichermaßen. Ich weiß es selbst noch vom Berufsanfang, man kommt dann plötzlich in eine<br />

gehobene Gemeinschaft, die aber auch Leistung verlangt. Es wird wohl eine Probezeit<br />

gegeben haben, nach deren positiven Ablauf zwei Verdiener in der Ehe waren, worauf nach<br />

damaliger Regelung die Ehefrau die Arbeit aufzugeben hatte, d. h. meine Mutter kam auch<br />

mit nach Kamp, in eine Wohnbaracke für kinderlose Ehepaare. Allerdings kam sie auch in<br />

eine wunderschöne Lebenszeit und eine wunderschöne Gegend. Abgesehen von dem Kranz<br />

der anderen jungen Familien in der ca. 20 Personen zählenden Bauleitung, den ich nur im<br />

Unbewussten noch kenne, kann man die schöne Landschaft heute noch sehen. Die Wohnung<br />

befand sich auf den Ausläufern der Dünen, der Weg zum Strand ca. 200 m, der Weg zum<br />

Seebad Deep ca. 1,5 km, nach Kolberg 12 km, nach Treptow 10 km.<br />

Letzte Tage in Kamp (Flugplatz)<br />

– Meine erste persönliche Erinnerung (ich wurde 1939 geboren) war, dass ich von 2 Radfahrern<br />

überfahren wurde, Bauarbeiter, die furchtbar schimpften.<br />

– Als zweite Erinnerung tauchen ausklopferbewaffnete Mütter auf, nachdem wir wieder<br />

einmal den Zaun zum Flugfeld durchbrochen hatten.<br />

– Erinnerlich auch Fische, die in der Pfanne mit den Schwänzen schlugen.<br />

– Als ich nach 62 Jahren erstmals wieder in das Kamper Wohnzimmer kam, wusste ich sofort,<br />

wo der ca. 1,20 m hohe Ofen gestanden hatte, auf welchen wenn er kalt war, ich auch schon<br />

mal strafgesetzt wurde, wie auf einen hohen Felsen.<br />

– Erinnerlich auch die letzte Nacht in Kamp, als an den Wänden schon die Pakete standen und<br />

ich den Lichtschalter nicht finden konnte und alles umriss. Eine Nachbarin holte dann<br />

meine Eltern von Abschiedsbesuchen zurück, wegen meines furchtbaren Geheuls und<br />

ständigen Krachens.<br />

Aber auch im Unterbewusstsein ist manches wahrscheinlich haften geblieben:<br />

– Das Wachgebäude zum Kasernenbereich spricht mich heute noch an, auch die charakteristisch<br />

gebauten Militär-Wohnhäuser, auch wenn diese in Deep stehen, wie gute alte<br />

Bekannte von nebenan, mit dem Hinweis aus Kinderzeit „hier bist auch Du gleich zuhaus“.<br />

11


– Ca. 20 Jahre nach Kamp war ich erstmals wieder am Meeresstrand (39 – 42 vom März bis<br />

November fast täglich) und ich musste immer wieder sehen und lauschen, da war etwas<br />

Altbekanntes um mich herum.<br />

3. Reichenau 1943<br />

Die erste Zeit von 1942 – 1944 liegt im Unbewussten. Natürlich werde ich in dieser Zeit<br />

schon mein neues Umfeld aufgenommen haben, was aber von späteren Bildern überdeckt<br />

wird.<br />

Neben unserer direkten Wohnung mit meiner lieben Mutter, kleinen Schwester und<br />

vertrauten Kamper Möbeln, mit Rundumblick auf anfänglich unbekannte Objekte, ist sicherlich<br />

die Wohnküche mit meiner Großmutter im Erdgeschoss sofort das Zentrum geworden,<br />

welches es bis zur Großjährigkeit dann auch geblieben ist. Großmutter war eine feste Instanz<br />

und Zuflucht von Anfang an. Der berufstätige Großvater trat erst in den Folgejahren in<br />

anderer Weise in den Vordergrund, als mir bewusst wurde, dass ich von ihm immer gute<br />

Antworten bekam.<br />

Im Umfeld des Hause traf man auf Nachbarkinder, die alle Oberlausitzer Mundart<br />

sprachen. Anfänglich wurde ich abgewiesen und ausgeschlossen mit der Begründung: „... dar<br />

koan jo no gorne richtsch radn“, worauf zur Verzweiflung meiner Mutter das vornehme Nord-<br />

Hochdeutsch mit Stock und Stein – „S-T“ schnellstens von mir abfiel und ich ein akzeptierter<br />

Oberlausitzer Quirler wurde. Die umwohnenden Kinder hatten in damaliger Sicht alle nur<br />

Mütter, die Väter waren im Kriege. Die anwesende Großväter-Generation stellte einigermaßen<br />

einen Ersatz dar, aber manchmal unterhielten wir uns doch über die abwesenden Väter,<br />

wie stark die wären, was für Muskeln die hätten, usw.<br />

12<br />

Vater in Uniform in Nordfrankreich


Wenn man das Reichenauer Wohnhaus verließ, stand man wohl im dichtest bepflanzten<br />

Garten Sachsens. Das war dem Umstand zuzuschreiben, dass Großvater eigentlich auch gern<br />

Gärtner geworden wäre, seine 2 Söhne das aber beruflich verwirklicht hatten und man sich<br />

dann zu dritt am vorhandenen Areal ausgelassen hatte. Es stand aber alles genau richtig und<br />

Bäume und Sträucher waren von bester Sorte und sehr ertragreich. Das Trio war auch in den<br />

umliegenden Bauernschlauen am Fuß des Gebirges am Flüsschen „Schläte“ zum Veredeln<br />

und Pflanzen übergegangen, was mir in späteren Jahren alles vom Großvater übergeben<br />

wurde, nebst den Pilzwörtchen der Familie dort.<br />

Urgroßvater Preibisch mit den Familien der Söhne Edwina und Otto sowie seiner Dochter Gertrud.<br />

Vorn Irene und Ilse.<br />

Es erschloss sich mir bald, dass ich als kleiner Nachwuchs in einem Preibisch-Nest saß,<br />

denn nebenan war der Preibisch-Hof auf dem der Bruder Erich meines Großvaters<br />

wirtschaftete. Auf der anderen Seite des Gartens stand ein kleines Umgebindehaus, welches<br />

Bruder Otto bewohnte, wobei das Gelände bis zur Dorfstraße und bis zum Uferweg mit<br />

Bäumen, Wiese und Hang ca. 0,75 h noch zum Hof gehörte. In Richtung Nieder-Reichenau<br />

folgten dann der Brückner-Bauer sowie Apelt- und Scholz-Bauer, in Richtung Ober-<br />

Reichenau ein weiter kleiner aufgegebener Hof vom entfernt verwandten Robert Preibisch,<br />

der aber jetzt von den befreundeten Scholz-Jungens bewohnt wurde und mit zum nächstfolgenden<br />

Heidrich-Hof gehörte. Die Felder dieser Bauernhöfe lagen in Richtung Lichtenberg<br />

hinter der Oppelsdorfer Straße, reichten aber ursprünglich in Reichenau bis an die Höfe heran.<br />

Doch irgendwann war ein ca. 150 m breiter Streifen von Siedlungshäusern dazwischen gebaut<br />

worden. In Richtung Lichtenberg endeten die Flurstreifen der Höfe am Fuße des Kahleberges<br />

und des Gickelsberges am klaren Gebirgsbach Schläte jeweils mit einem kleinen Bauernwald,<br />

was dann abgewandelt als Heidrichs, Preibischs oder Brückners Schläte bezeichnet wurde.<br />

Sobald die Äcker die Lichtenberger Straße erreichten, stand dort eine mächtige uralte Linde<br />

mit Spuren von Blitzschlägen, die man als Landschaftsmarkierung gleichfalls immer hofbezogen<br />

benannte.<br />

13


Erich Preibisch mit Familie<br />

Unter den Preibischs wurde ich als kleiner Nachwuchs sehr freundlich aufgenommen.<br />

Zum Brücken-Bauer stellte sich ebenfalls ein gutes Verhältnis ein und zum Heidrich-Bauern<br />

frequentierte ich mit meinen Scholz-Freunden, wobei uns „Hederch“ Edmunt immer von<br />

weitem schon zu rief- „Macht Euch ja lucker“, was von seiner und unserer Seite aber als eine<br />

Art Pflichtübung ohne weitere Bedeutung angesehen wurde. Jedenfalls vertrugen wir uns<br />

prächtig auf seinem Hof.<br />

Von Kleintieren und Kühen auf den Höfen will ich derweil nicht berichten, denn für uns<br />

Jungs war die Arbeit der Männer vor allem interessant und damit verbunden waren damals die<br />

Zugtiere. Bei Hederch Edmund standen die Pferde Hans und Harras, beide über 24 Jahre alt<br />

und Harras kam eines Tages nicht mehr hoch. Über dem Pferdestall war eine Futterkammer<br />

mit Säcken voll Zuckerrüben-Schnitzel und Edmund, der sehr wohl wusste, warum wir uns<br />

um ihn herumdrehten, ging dann wohl mit uns dort hinauf und wir durften uns jeder eine<br />

Handvoll nehmen. Bei Onkel Erich stand ebenfalls ein alter „Hans“ im Stall (das jüngere<br />

Pferd musste abgegeben werden) und ein ersatzweise herangezogener riesiger rotbunter<br />

Ochse „Fritz“. Auf Fritz war ich sofort stolz, denn er verfügte über größte Kräfte. Wenn ein<br />

damals seltener LKW im Straßengraben landete, so wurde Fritz geholt und es gab nur zwei<br />

Möglichkeiten, entweder der LKW stand wieder auf der Straße oder Fritz hatte die Stränge<br />

zerrissen. Beim Brückner-Bauer stand ein Schimmel im Stall. Außer durch Kuh- und<br />

Pferdeställe zeichneten sich die Höfe durch Scheunen mit Dreschmaschinen und Maschinen<br />

zur Heuernte aus. Bei Edmund in der Scheune stand auch ein hochmechanischer Mähbinder,<br />

der von 3 Pferden zu ziehen war, das Getreide schnitt, zu Garben bündelte, mit einer Schnur<br />

umband, einen Knoten machte und die fertige Garbe seitlich auswarf. Das war schon was!<br />

Ansonsten waren vorhanden:<br />

– eisenbereifte hölzerne Ackerwagen, deren Seitenteile auch durch sogenannte Leitern für den<br />

Heu- und Getreidetransport ersetzt werden konnten,<br />

– sogenannte leichte und schwere „Rollwagen“ mit kleineren einsenbereiften Rädern unter<br />

einer nach außen etwas gehobenen Plattform für Säcketransport und Umzüge,<br />

– leichte sogenannte „Jagdwagen“, wahlweise umrüstbar für den Transport von Menschen<br />

oder Gütern, eine Vorstufe von Kutschen,<br />

– sogenannte „Landauer“, d. h. Kutschen für insgesamt bis 8 Personen und einer Innenausstattung<br />

die heute von manchem PKW nicht erreicht wird,<br />

14


– Jauchewagen aus Holz oder schon verzinktem Metall, die schon im Frühjahr, wenn von der<br />

Sonne erwärmt, ein herrlicher Sitzplatz mit Heizung für die nackten Beine boten. Aber<br />

nicht hinten nahe der Einfüllöffnung, dort gab es Düfte, die den heute bekannten<br />

Schnüfflern leicht zu einem Vollrausch verholfen hätten.<br />

Das Alles ist heute eine nach ca. 2.500 Jahren historischem Bestand weitgehend und<br />

schnell untergegangene Welt, aber solches erst in den letzten 50 Jahren. Der bekannte Opfer-<br />

Wagen im Norddeutschen Museum, der von den Altvorderen schon ca. 500 Jahre vor Christus<br />

im Moor versenkt wurde, war von gleicher Bauart und hätte damals noch bis ca. 1950 mit auf<br />

den Feldern eingesetzt werden können. Vorgenannte Wagen mussten auch alle einen sicheren<br />

Kutschbock haben (mit Vor-, Rück- und Seitengeländer) sowie intakte Bremsen aus<br />

Holzklötzen, die Kutschen waren entsprechend vorn und hinten beleuchtet. Für Tiere und<br />

Menschen wurden sogenannte Pferdedecken mitgeführt, die Polizei achtete auf alles. Bei allen<br />

Fahrzeugen mussten öfters die Räder abgezogen werden, um die Achsen mit schwarzem Fett<br />

(Wagenschmiere) zu schmieren, denn Kugellager und Wartungsfreiheit kannte man in diesem<br />

Bereich noch nicht.<br />

Die Anschirrung der Pferde und die Anspannung über Ortscheite und das Waagscheit,<br />

der Ausgleich der Kräfte der Zugtiere über dieses (verkehrte Wog), kann man heute noch auf<br />

Turnieren beobachten. Während die Zügelung der Pferde sehr kompliziert ist, erfolgte das bei<br />

den Ochsen nur über einen links gehangenen Strick. Wollte man links fahren, so zog man<br />

daran und rief „hierum“, wollte man rechts fahren, so schlug man mit dem Strick leicht gegen<br />

die Seite und rief “hutterum“. Das „Brr“ für das Stehen bleiben habe ich später bei den Polen<br />

auch vernommen.<br />

Damen kostümiert zur Jahrtausend Feier der Oberlausitz Juli 1933<br />

Im beschriebenen engen Bereich der Höfe fehlen heute ca. 5 Gebäude und es existieren<br />

auch nicht mehr die öffentlichen Wege durch die Höfe zwischen Oberer Dorfstraße und dem<br />

Uferweg und hinter den Höfen an der Böschungskante entlang. Diese Wege mussten zu<br />

unserer Zeit bleiben (obwohl sie Grundstücke zerschnitten), weil sie über 100 Jahre<br />

bestanden. Die Bauern sahen sie wohl auch als kurze Wege ihrer Kundschaft an, dem Wesen<br />

nach wird es sich wohl um sogenannte „Wasserwege“ gehandelt haben, denn vor der<br />

Verlegung von Wasserleitungen musste alles Vieh in der Erlbach getränkt werden, Brunnen<br />

gab es erst auf dem Niveau des Uferweges (einen kenne ich noch), von wo man sich das<br />

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Wasser ins Haus tragen musste und die Wäsche wurde vor allem im Erlbach auf Waschstegen<br />

gewaschen. Meine Mutter ist 1916 von einem solchen, als 4-jährige neben ihrer Mutter ins<br />

Wasser gefallen. Der Preibisch-Hof besaß von Anfang an allerdings auch schon eine selbst<br />

verlegte Wasserleitung aus einem eigenen Brunnen hinter der Oppelsdorfer Straße.<br />

4. Reichenau 1944<br />

Meine <strong>Erinnerungen</strong> an dieses Jahr beginnen mit hohen Schneewehen an der Oppelsdorfer<br />

Straße, auf der Lichtenberger Seite, die größere Jungens ausgehöhlt hatten und in welche sie<br />

von oben hinein rutschen konnten.<br />

Erinnerlich auch die prächtigen Pferdeschlitten, von Pferden gezogen in Prunkgeschirr<br />

mit Glöckchen, aber auch die hakenförmigen Bremse dort habe ich wahrgenommen und als<br />

technisch richtig eingeordnet. Erste eigenständige Versuche auch mit anderen Kindern von<br />

Hügeln Schlitten zu fahren und der Ärger der großen Jungs, wenn so ein kleiner in die Quere<br />

kam, stammen auch aus dieser Zeit. Wegen der Kälte stellte ich mich in der Wohnung der<br />

Scholze-Jungs so nahe zum Aufwärmen an das Feuerloch, dass mein Mantel ein Loch bekam.<br />

Das war ein Schrecken und schwerer Heimgang, denn für neue Kleidung hatten wir nur knapp<br />

Geld und außerdem gab es sogenannte „Kleiderkarten“. Aber da war auch schon der Frühling<br />

nahe bei und auf den Höfen wurde es lebendiger. Der gute Ochse Fritz, der ewig nicht aus<br />

einem Stall herausgekommen war und dessen Kräfte ungemein zugenommen hatten, der<br />

wurde unberechenbar und für friedliche Zugdienste unbrauchbar und ich durfte nicht in seine<br />

Nähe.<br />

Der Ochse bekam also eines Morgens nichts zu fressen und ein Korb mit Heu wurde vor<br />

dem Stall vor einen starken Birnbaum gestellt. Dann ging Onkel Erich in den Stall, alle Türen<br />

blieben offen, dann sauste er als erster aus dem Stall am Seil den wilden Fritz, der sich<br />

16


ersatzweise auf den Heukorb stürzte, während Erich hinter dem Baum stehend das Seil dort<br />

befestigte. Dann schoben wir den großen schweren Ackerwagen mit den breiten Rädern von<br />

hinten an den fressenden Fritz heran und schirrten ihn an. Wir bestiegen den Wagen (ich<br />

konnte kaum über die Seitenbretter sehen), Tante Ida löste hinter dem Baum stehend das Seil<br />

und der Ochse stürmte in die Freiheit. Die wilde Fahrt ging natürlich erst mal durch den<br />

„öffentlichen Verkehrsraum“, der aber damals von KFZ wenig frequentiert war, bis man<br />

hinter der Oppelsdorfer Straße die Felder und Feldwege erreichte, immer im zügigen<br />

Ochsentrab, in einer Art hussitischen Sturmwagen, über Wiesen und durch Gräben, durch die<br />

Schläte und bis vor Lichtenberg und wieder zurück, zuletzt gemächlich, die wilde Kraft war<br />

weg, der Ochse war wieder der gute alte Fritz geworden.<br />

Schwester Jutta und im Hintergrund Urgroßvaters Patent – kohlewagen<br />

Mit Onkel Erich war ich dann oft auf den Feldern, wo es dann auch langweilig wurde für<br />

einen kleinen Jungen beim Pflügen und Eggen und wo durch die Selbstüberlassung dann die<br />

ruhige Beobachtung der Umwelt eintrat, sowohl der Landschaft als auch der Tiere bis hin zu<br />

den Kleinsten. Weniger ruhevoll war es bei der Heuernte, die sich damals selbst auf kleinen<br />

Flächen in der sogenannten „Schläte“ erstreckte, wo man altersmäßig durchaus auch schon<br />

einen Rechen handhaben konnte und auch als kleiner Junge nicht beiseite stehen konnte,<br />

wenn in Hast vor dem drohenden Gewitter das trockenen Heu auf Haufen gesetzt oder auf den<br />

Wagen geladen wurde. Die Beladung des Wagens war eine Kunst für sich. Auf dem Wagen<br />

waren meist 2 Personen, die einerseits das mit 3-zinkigen Heugabeln hochgereichte Heu von<br />

den Gabeln abnahmen, anderseits diese großen Ballen dann bis hoch über die Leitern allseits<br />

gleichmäßig einbauten. Ganz oben darauf wurde dann straff der sogenannte „Heubaum“ in<br />

Längsrichtung gebunden. Dann durfte man selbst auf die ca. 4 m hohe Fuhre und der Wagen<br />

schwankte heimwärts, um vor dem Regen noch die Tenne der Scheune zu erreichen. Einmal<br />

fiel der Wagen vor der Scheune um und Tante Edith (Erichs Tochter) darunter und musste<br />

schnell freigegraben werden und hatte sich mit der Heugabel ins Bein gestochen.<br />

Im Spätsommer lief dann die Getreideernte. Der von den Pferden gezogene Mähbinder<br />

konnte nur seitlich schneiden, weshalb um das Feld herum erst eine Breite für 3 Zugtiere von<br />

Hand gemäht werden musste, d. h. wie vor Jahrhunderten mit großen Getreidesensen, mit<br />

aufgesetzten senkrechten Bügeln, damit mit dem Schwung der Sense das geschnittene Korn<br />

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seitlich mit ausgetragen wurde und auf Schwad liegen blieb, die Ähren nach außen. Diesen<br />

Schwad nahmen Frauen dann auf, bis zur Menge einer Garbe (d. h. wie ein Ährenstrauß von<br />

ca. 30 cm Durchmesser), die dann mittels aus demselben Material geformten Strohseilen<br />

umbunden wurden, wobei jeweils ca. 7 Stück zu sogenannten „Puppen“ gegeneinander<br />

gestellt wurden, Die Ähren waren immer nach oben, damit sie nach Schlechtwetter sofort auf<br />

dem Felde wieder trocknen konnten. Es war immer ein Kampf mit dem Wetter, die Garben<br />

trocken zu bekommen, denn nur so konnten sie in die Scheune eingelagert werden (vorher<br />

Beladung und Transport wie bei Heu, aber mit 2-zinkigen Gabeln). Bei Feuchtigkeit verdarb<br />

Stroh und Ähre, es konnte auch zur Selbstentzündung in der Scheune kommen. Auf das<br />

trocken eingelagerte Getreide warteten natürlich auch die Mäuse, weshalb die Katzen<br />

angesehene Mitarbeiter auf dem Hofe waren, denen man an langweiligen Regentagen nicht<br />

die Barthaare abschneiden durfte, wie von mir getan, da war was los, man spricht heute noch<br />

in der Familie davon.<br />

Auf dem Felde war die Ernte auch durch Räuber bedroht. Kleintierhalter z. B. fuhren mit<br />

Fahrrad und Decke nächtens auf das Feld, das Fahrrad wurde auf Lenker und Sattel gestellt,<br />

das Hinterrad von Hand mittels der Pedale schnell gedreht, die Ähren in die Speichen<br />

gehalten und damit ausgedroschen und auf der untergelegten Decke sammelten sich die<br />

begehrten Körner.<br />

Eine schwere und staubige Arbeit war das maschinelle Dreschen des eingelagerten<br />

Getreides. In den Scheunen hingen auch von Früher noch die Dreschflegel, die ich nur einmal<br />

im Einsatz erlebte, als bei defekter Dreschmaschine eine kleine Kornmenge für die Hühner<br />

benötigt wurde. Im Hause ganz oben am Südgiebel, befand sich ein helles und freundliches<br />

Zimmer, in welches dann das über die Dreschmaschine in Säcke abgefüllte Getreidekorn in<br />

Zentnerlasten hoch getragen und breit geschüttet wurde, damit es Onkel Erich mittels einer<br />

18<br />

Zu Besuch in Bad Oppelsdorf bei<br />

Tante Luise


Holzschaufel in Zeitabständen umschaufeln und somit trocken halten konnte. Aus dieser<br />

Beobachtung der gesamten Arbeit konnte man später leicht verstehen „.. unser täglich Brot<br />

gib uns heute“.<br />

Indem ich ein etwas „spillriges“ Knäblein war, durfte ich durchaus auch auf dem<br />

Preibisch-Hofe mit Frühstücken, wo ich schon ausreichend früh erschien, um die Unternehmungen<br />

des Tages mit Onkel Erich nicht zu verpassen. Das Frühstück an Werktagen war<br />

immer eine dicke graue Suppe aus Roggenmehl, in welche in der Mitte einige Esslöffel Milch<br />

gegeben wurde. Brot ist mir kaum erinnerlich, dann begann der Bauer sein schweres<br />

Tagewerk, wahrscheinlich in meiner Familie so seit Jahrhunderten.<br />

Es war damals natürlich eine schwere Zeit, mit knappsten Lebensmittelkarten-Rationen.<br />

Insgeheim, weil verboten, röstete Erich einmal auf einem Kuchenblech Gerstenkörner, die<br />

dann gleich in der Handmühle zu Kaffee-Ersatz vermahlen wurden, welcher „Kaffee“ auch<br />

gleich aufgebrüht und von den Damen bereits erwartet wurde. Es gab natürlich auch<br />

uninteressante Arbeitseinsätze auf dem Preibisch-Hof, wie langwieriges Rüben verziehen<br />

oder Rauchpumpen von Hand und Breitfahren auf dem Feld (wo ich aus Geruchsgründen<br />

besser nicht dabei sein sollte), auch das Mist fahren war so eine anrüchige Sache und für den<br />

Bauer mit Hand-Beladung, -Entladung und Ausbreitung auf dem Feld eine Knochenarbeit, bei<br />

der ich kaum auf freundliche Beachtung hoffen konnte. Da kam es mir ganz gelegen, dass ich<br />

auch zum benachbarten Brückner-Bauer ein freundschaftliches Verhältnis aufgebaut hatte, wo<br />

ich zwar nicht so in die Tagesarbeit integriert war, aber genau wusste, wann man wohin mit<br />

dem Schimmel fuhr, damit ich dabei sein konnte. Indem Erich und Brückner-Bauer auch<br />

befreundet waren, nannten sie mich freundlich untereinander den „Großknecht“ und dachten<br />

bei meiner Anwesenheit wahrscheinlich an die Zeit mit ihren Kindern zurück und auch noch<br />

weiter an die eigene Kindheit, denn damals änderte sich die Zeit nicht so schnell wie heute.<br />

19


Trauer und Bedrückung herrschte in der Familie von Edwin Preibisch, denn Roland erlag<br />

den Verwundungen, die er an der Westfront empfangen hatte. Kurt, der jüngere Sohn war an<br />

der Ostfront. In der Familie von Erich Preibisch war Sohn Heinz an der Ostfront verschollen.<br />

Mein Vater war in Frankreich in amerikanische Gefangenschaft gekommen. Im Nachbarhaus,<br />

bei Otto Preibisch (der ebenfalls eingezogen war), war eines Tages ein gut aussehender junger<br />

Mann von ca. 19 Jahren auf Fronturlaub, also Gottfried Preibisch, einziges Kind der sehr<br />

freundlich zu mir war, ich kann mich heute noch an seine blauen Augen und seine lockigen<br />

schwarzen Haare erinnern, er ist bei Monte Casino geblieben.<br />

Im Herbst 44 unternahm Großvater mit mir eine Wanderung entlang der Schläte bis nach<br />

Oppelsdorf, dort über Leupolts Berg bis zur „Keilschänke“ vor Kohlige (heute dort an der<br />

Grenze vor Uhelna nur noch der Wirtsgarten und Reste des Kellers), wo ich also auch die<br />

Erinnerung an die Gaststube und ein Malzbier behalten habe. Auf dem Rückweg in der<br />

Schläte auch an einer Birke vorbei, die Roland gepflanzt hatte, es war eine Trauerbirke.<br />

Erinnerlich für mich auch, dass ich bei jedem Sirenen-Feueralarm sofort nach Onkel<br />

Erich suchen musste, damit er die Trompete von der Wand nahm, um am Abhang über<br />

Reichenau stehend, mehrmals ein Trompetensignal zu blasen „Kamerad, Kamerad komm<br />

schnell herbei, es brennt, es brennt, es brennt“. Aus meiner heutigen Sicht stammt diese<br />

Maßnahme wohl aus einer Zeit, als es in Reichenau noch keine Sirenen gab und die<br />

Kirchglocken so schnell nicht zu erreichen waren. Auch konnte man von oben wohl auch gut<br />

zeigen, in welcher Richtung es brannte. Das Ganze war 1944 bereits Brauchtum, welches<br />

Erich als ehemaliger aktiver Feuerwehrmann den Auftrag hatte, weiterzuführen. Weihnachten<br />

1944 ging Großvater mit mir in die Kirche. Die Solostimme beim Gesang war seine Nichte<br />

20<br />

Gottfried Preibisch


Christine, wie ich damals erfahren habe. Es war ein Kriegsweihnacht und das hat wohl wie<br />

ein Schleier über diesem Fest gelegen und das Herz wird einem bei der Niederschrift nicht<br />

leichter, indem man jetzt weiß, dass es die letzte Weihnachtsfeier Reichenaus war.<br />

5. 1945 bis 7. Mai<br />

Ich lerne Kurt Preibisch, den Bruder meiner Mutter, der auf Heimaturlaub ist, kennen. Er<br />

wurde 1941, 20-jährig, eingezogen und ist in Russland auf dem Vormarsch und auf dem<br />

Rückzug als einfacher Soldat immer an vorderster Front gewesen. Bei seiner Kompanie<br />

wurde die Mannschaft wohl mehrmals ersetzt, bis 1945. Von den vier Preibisch-Kindern ist er<br />

dabei der ruhigste und der Heimat und der Natur (Gärtnermeister) wohl am engsten verbundene<br />

gewesen. Welch Kontrast mögen die wenigen Tage im Vaterhause für ihn gewesen sein,<br />

das Spiel mit mir, dem er die Dampfmaschine aus seiner Kindheit vorführte, was mir noch so<br />

gegenwärtig ist, als wäre es gestern gewesen. Dann fuhr er wieder an die Ostfront, mit dem<br />

letzten Zug nach Königsberg hinein, danach umschlossen die russischen Truppen die Stadt.<br />

Sein Glück war, dass er im Schneefeld einsam auf Vorposten gestellt, zeitig gefangen<br />

genommen wurde, von Russen, die sich in weißen Umhängen aus dem Schnee erhoben. Bei<br />

den späteren schweren Kämpfen wurden dann kaum noch Gefangene gemacht.<br />

Aus dieser Zeit sind mir auch noch Bilder von Flüchtlingstrecks erinnerlich, die Pferdegespann<br />

für Pferdegespann vor unserem Haus auf der oberen Dorfstraße standen oder sich<br />

zögerlich vorbei bewegten. Dabei viele Planwagen, einige sogar mit Ofenrohr, auch die ersten<br />

luftbereiften Ackerwagen habe ich gesehen, aber auch viele bedenkliche Wagen ohne<br />

Bremsen, die aus flacheren Regionen zu uns ins Bergland kamen. Zu vermerken ist auch, dass<br />

viele Volksgenossen sich eher vor der Aufnahme der Flüchtlinge drücken wollten, während<br />

das scheinbare Raubein Heidrich, Edmund, sie sich geradezu von der Straße holte und seinen<br />

21<br />

Ilse und Kurt Preibisch


ganzen Hof voll stellte. Von den Flüchtlingen, als zeitweilig untergestellt, blieb auf seinem<br />

Hof ein schwarzer Junghengst namens „Hans“ zurück, den ein anderes Pferd schwer mit dem<br />

Huf geschlagen hatte. Wir Kinder hatten sofort zu ihm das innere Verhältnis als zu einem<br />

lieben Altersgenossen, nur das er eben ein Pferd war, aber er gehörte in unserem Lebensbereich<br />

dazu und wir beobachteten seine Gesundung und weiteren Werdegang mit freundlicher<br />

Anteilnahme.<br />

In der Nacht vom 13. zum 14. Februar fuhr die jüngere Schwester meiner Mutter, Ilse<br />

Preibisch, mit dem letzten Zug auf Dresden Hauptbahnhof ein und überlebte im<br />

Luftschutzkeller dort die Liquidierung der Wohnviertel, mit einer Bombensetzung, wie in<br />

amerikanischen Labors zur Tötung der Zivilbevölkerung erprobt. Nach diesem 1. Angriff, bei<br />

welchem der Hauptbahnhof fast unversehrt geblieben war und zum Zufluchtsort vieler<br />

geworden war, wurde sie glücklicherweise von einem Offizier angesprochen: „Fräulein,<br />

gehen Sie lieber mit zum Elbufer“, dort überlebte sie dann den 2. schweren Angriff, der<br />

planmäßig dem Hauptbahnhof und den Menschen dort galt. Am Morgen wurde sie von<br />

Kradfahrern in Richtung Ostfront mitgenommen und erreichte irgendwann Reichenau, wo ein<br />

Flüchtling bei uns die Tür öffnete und sagte: „Fräulein, hier können Sie nicht rein, hier ist<br />

alles voll“.<br />

In diesen Tagen auch, als die Kämpfe um Lauban tobten, was auch bei uns zu hören war,<br />

nahm mich der Brückner-Bauer beiseite und fragte mich etwas, was ich nicht gleich verstand.<br />

Er wiederholte also: „Ich habe Dich gefragt, ob Du schwarz siehst?“. Ich verstand gefühlsmäßig,<br />

das die Generation der Erwachsenen Unterstützung braucht und verneinte und meinte, die<br />

Wehrmacht wird es schon noch richten. In den folgenden Wochen gewann ich auch erste<br />

„Fronterfahrungen“, denn meine Mutter ging mit mir bis nach Friedland, wo es auf die Lebensmittelkarten<br />

etwas mehr gab. Auf dem Wege dorthin wurden wir von einem Tiefflieger<br />

angegriffen (meinten wir) und suchten Deckung im Straßengraben. Der Angriff galt aber<br />

wohl eher einem Bauern mit Gespann unweit auf einem Felde, was dann in der Zeitung stand.<br />

Am 22. April gab es Fliegeralarm (wohl der Generation der ein solches grausiges schnelles<br />

Auf- und Abgeheul der Sirene erspart bleibt). Wir standen im Keller, Ilse hatte sich mit mir<br />

unter einen Türsturz gestellt und bei dem beklommenen Warten, dem Flugzeuggeräusch (ca.<br />

200 m Flughöhe), sich nähernden Einschlägen, die sich mit Sausen ankündigten, brach für<br />

mich die sichernde Autorität der Erwachsenenwelt zusammen. Es wurde begrifflich, dass im<br />

Krieg alle zur Tötung freigegeben sind. Ein Einschlag war ca. 100 m von uns entfernt etwa an<br />

der unteren Dorfstraße vor Lichtners Fabrik, die nächste Detonation (die mich an die Kellertür<br />

warf) nur ca. 50 m nah am Pferdestall des Brückner-Bauer, die nächste Bombe fiel als<br />

Blindgänger auf die obere Dorfstraße, direkt vor dem Turmaufbau vor Altmann-Dachdeckers<br />

Haus, in welchem Zimmer unsere Spielfreunde (Langer Jürgen und Schwester) waren. Von<br />

ca. 65 abgeworfenen Bomben sollen 10 gezündet haben. Auf der unteren Dorfstraße vor<br />

Lichtners Fabrik hatte die Bombe ein Mädchen getötet und nur ein Schatten von ihr soll an<br />

der Wand gewesen sein, weshalb ich einige Zeit nicht zur „Wally“ nahe dort gehen durfte, um<br />

unsere Magermilch abzuholen. Im Pferdestall beim Brückner-Bauer war das Gewölbe eingestürzt<br />

und auf den Schimmel gefallen, dessen Rücken seitdem angeblich etwas durch gebogen<br />

war, was auch zu stimmen schien. Um diese Zeit auch flog ein größeres deutsches Flugzeug<br />

im Tiefflug brennend über uns hinweg, um in Oppelsdorf nahe der Reibersdorfer Straße<br />

abzustürzen. Der Ort ist mir bekannt, denn Stiefgroßvater Carl Andreè, Besitzer der Villa<br />

Clara, war als Bürgermeister mit seinem Fahrrad mit als erster vor Ort, die Besatzung hatte<br />

den Aufprall nicht überlebt.<br />

In diesen letzten Kriegstagen bekamen wir auch Soldaten als Einquartierung ins Haus, in<br />

einem Fall musste ich für einen Hauptmann den Stahlhelm aus der ehemaligen Preibisch-<br />

Fabrik holen und kam dort mitten unter eine Kompanie, wo ich mich durchfragen musste.<br />

Am 06. Mai 1945 ca. 5.00 Uhr früh wurden wir durch eine laute Auseinandersetzung vor<br />

unserem Haus geweckt. Eine Wehrmachtsstreife hatte einen Offizier festgenommen und der<br />

Steifenführer schrie: „Degradiert ihn, degradiert ihn“ und der Offizier rief: „Ihr blöden<br />

22


Hunde, der Krieg ist doch vorbei“, Schüsse haben wir keine gehört. Auf dem Preibisch-Hof<br />

stand ein Wehrmachts-Werkstatt-Wagen ohne Benzin, der dann von der Besatzung mittels<br />

eines Beiwagen-Motorrades vom Hof auf die Wiese gezogen wurde, abgestellt an der Oberen<br />

Dorfstraße und am Zaun zu Heidrich. Die Soldaten bauten dann zwischen Motorrad und<br />

Seitenwagen noch einen Notsitz und nahmen eine junge Frau mit Kind mit in Richtung West.<br />

Abends am 06. Mai 1945 sollten wir Reichenau in Richtung Westen verlassen. Die<br />

Pferdewagen rumpelten mit etwas von unserer Habe bis auf die Oppelsdorfer Straße, als wir<br />

dort aber die Höhe gewonnen hatten, blieben wir stehen, denn der Himmel im Westen war<br />

blutrot. Heidrich Edmunt, Onkel Erich und Großvater berieten sich und sagten dann: „Was<br />

uns erwartet, das soll uns zu Hause antreffen“, worauf wir wieder umkehrten und die<br />

Reichenauer nach uns auch. Die Scholz-Jungens waren mit ihrer Mutter und der Großmutter<br />

im Handwagen voraus gegangen über Oppelsdorf nach Kohlige, wo sie unter Fliegerbeschuss<br />

kamen, aber unverletzt blieben. Meine Schwiegermutter war mit meiner Frau und deren<br />

Schwester im Säuglingsalter ebenfalls von Oppelsdorf aus in dieser Richtung auf der Flucht<br />

und kam ebenfalls unter diesen Beschuss, ebenfalls unverletzt. Als wir wieder unsere Häuser<br />

erreichten, brannte der zurückgelassene Wehrmachts-Werkstatt-Wagen lichterloh und erhellte<br />

die ganze Wiese. Als Kinder waren wir aber froh, dass wir in unser Bett konnten, denn es war<br />

spät geworden.<br />

Am 07. Mai 1945 lag Brandgeruch in der Luft und das Feuer am Werkstatt-Wagen<br />

brannte verhalten. Über die Wiese lief der zurückgelassene mittelgroße Hund des Werkstatt-<br />

Wagens. Die junge Hündin Kora nahm gern Asyl auf dem Preibisch-Hof und wurde die<br />

Stammmutter von Generationen von Hunden, ihre Gene werden wohl heute noch in der<br />

wilden Hundepopulation von Bogatynia zu finden sein. Sorgenvolle Spannung lag über den<br />

Erwachsenen, denn die Front musste nahe sein. Gegen 14.00 Uhr heulten alle Sirenen<br />

Panzeralarm. Es war die letzte hoheitlich Handlung der deutschen Verwaltung aus eigener<br />

Entscheidung. Es war wie der anhaltende Todesschrei des alten deutschen Reichenau, als die<br />

Sirenen verklungen waren, war alles anders.<br />

6. 1945 – 7. Mai bis 22. Juni<br />

Aus den Gesprächen hatte ich schon entnommen, das die Sieger die Frauen haben wollten.<br />

Der hohe Wert der Frauen war für mich als 6-jähriger schon erfasslich, was sich in der<br />

Realität dahinter verbarg, war für mich aber plakativ nicht vorstellbar. Die Furcht der<br />

Erwachsenen vor dem was kommen würde, führte dazu, dass am 8. Mai als die Wehrmacht<br />

kapitulierte, ich mich bewaffnete, d. h. ich übertrat das Verbot, ein Beil überhaupt anzufassen<br />

und stellte mir von den drei Stück, die Großvater hatte, das kleinste und schärfste hinter die<br />

Schuppentür, um einem Bedränger unserer Frauen damit in die Beine zu hacken. Bald tauchte<br />

auf der oberen Dorfstraße auch ein Mann in brauner Uniform auf, der große Schwierigkeiten<br />

mit einem Damenfahrrad hatte, ob aus technischen oder alkoholischen Gründen blieb unklar.<br />

Wir waren als Kinder instruiert worden, dass wir auf keine Fall sagen sollten, wo unsere<br />

Mütter wären, am besten hemmungslos weinen und schreien. Alle Frauen machten sich in<br />

diesen Tagen kleidungsmäßig so alt wie möglich und die Gesichter mit Dreck unansehnlich.<br />

Nach allen Seiten musste gesichert werden, auf Abstand, ob fremde Männer sich nähern.<br />

Indem unser Garten in Reichenau, wie bereits erwähnt, sehr dicht bepflanzt war, dabei sogar<br />

direkt vor dem Hause eine kleine Baumschule aus dichten Wachholdersträuchern, versteckten<br />

sich meine Mutter und Tante Ilse dort und stets auch einige Frauen aus der Nachbarschaft.<br />

Dieses Versteck bot bei Entdeckung auch die Möglichkeit, dass alle in alle Richtungen<br />

auseinander laufen konnten.<br />

Ich war soweit einbezogen, dass ich in der Nähe des Dickichtes, wo freie Sicht war, auf<br />

dem Boden mit Steinchen spielte und ohne zu den Versteckten hinzusehen, hörbar vor mich<br />

hin sprach, ob Männer sich näherten oder gehen. Die Gefahr war sehr groß, als Mutter und<br />

Tante und zwei weitere Frauen im winzigen Taubenschlag in unserem Haus versteckt waren.<br />

23


Ein Russe ging mit meinem Großvater durch das Haus und verlangte, dass an der<br />

Wandschräge das Bild (hinter dem die Luke zum Traubenstall war) abzunehmen sei. Das alles<br />

war in einem Abstand von ca. 2 m zu den versteckten Frauen, da durfte im Holzverschlag<br />

keine Nadel zu Boden fallen. Großvater machte deutlich, dazu müsse er erst eine Leiter holen<br />

Der Russe folgte ihm in diese Richtung und vergaß die Sache. Im Nachbarhaus versteckte<br />

Baggerfahrer Slawisch auch Frauen, als die Russen vorn hinein kamen, konnten die Frauen an<br />

der Hangseite aus dem Haus springen und sich dann bei uns verstecken. Alles musste völlig<br />

geräuschlos vor sich gehen, gefürchtet war die Hederch Liese, die den Mund nicht halten<br />

konnte.<br />

Slawskis Haus<br />

Erinnerlich ist mir auch noch der gestiefelte Offizier, der in unserem Garten mit meiner<br />

Schwester spielte und sie immer wieder nach der Mutter fragte. Damals auch die Erkenntnis<br />

bei mir, dass Freundlichkeit gefährlich sein kann. Onkel Erich hatte die damals hochschwangere<br />

Tochter Edith im Obergeschoss des Hofes regelrecht eingemauert und im Erdgeschoss<br />

im Flur einen Kindersarg mit Kerzen aufgestellt. Als zwei Kerle mit einem Motorrad auf den<br />

Hof geknattert kamen, ging er entschlossen zum Sozius, fasste den am Ärmel und zeigte zum<br />

Haus und sagte: „Zum Kommandanten, dawai“, worauf die Beiden hoch erschrocken sofort<br />

Vollgas wieder abfuhren. (Erich war einer der zwei Reichenauer, die mit der Auszeichnung<br />

des Eisernen Kreuzes 1. Klasse aus dem 1. Weltkrieg kamen, allerdings bei ihm nicht durch<br />

Tötung von Feinden, sondern er hatte allein die gestaffelte Front durchbrochen und im<br />

Hinterland eine Fernsprechleitung angezapft, so dass das französische Kommando längere<br />

Zeit abgehört werden konnte.)<br />

Die Siegersoldaten waren durch die aufgefundenen Weinvorräte bei Firma Rolle längere<br />

Zeit stark alkoholisiert und im Zentrum von Reichenau wurde viel vergewaltigt bis der<br />

russische Kommandant dann langsam wieder Ordnung einführte. Die Deutschen in den<br />

Reichenauer Betrieben produzierten in dieser Zeit immer weiter, Materialreserven waren<br />

vorhanden, Abnehmer würden sich finden. Nach ihrer Meinung waren die Anderen die<br />

Fremdlinge im Lande. Niemand war sich bewusst, dass es umgekehrt sein könnte.<br />

Irgendwann steckten in den Uniformen Polen, ein Kontingent der Kosciuszkowcy mit eckigen<br />

Mützen (von den Deutschen Elitepolen genannt) war nur einige Tage in Reichenau (das jetzt<br />

24


Rychwaĺd heißt) und bewegte sich weiter in Richtung Westen. Von Anfang an gab es einen<br />

polnischen Kampfkommandanten (Lewy?) in Rychwaĺd, von den Deutschen „Spitzbart“<br />

genannt. Indem dieser seine Schreibarbeiten in Deutsch im Büro der Firma Brendler durch<br />

meine Tante erledigen konnte und dort für Polnisch auch schon Frau Jenny Fischer zur<br />

Verfügung stand, bekam unsere Familie einen Fernkontakt zu diesem damals mächtigen und<br />

umgänglichen Mann.<br />

In dieser Zeit mussten die Deutschen bei schwerer Strafandrohung die Radioapparate und<br />

die Feldstecher abgeben. Indem das mir verständliche Wort Fernglas nicht verwendet wurde,<br />

konnte ich mir unter Feldstecher nur die wie ein langer Schuhanzieher aussehenden Distelstecher<br />

vorstellen, mit denen ins Feld gestochen wurde und ich erschrak mächtig, als ich die<br />

unsrigen Stecher noch auf dem Karnickelstall vorfand, weshalb ich diese sofort unter den<br />

Kohlen vergrub. Niemand sage, der Junge war einfältig, diese Zeit mit Krieg und Nachkrieg<br />

war für alle verrückt und unvorstellbar.<br />

Einige Wochen lag an der Oppelsdorfer Straße, nahe der Kreuzung Richtung<br />

Lichtenberg, ein „Kettenkrad“, d. h. ein kleines Fahrzeug vorn mit Rad und Lenker wie ein<br />

Motorrad, hinten beidseitig Kettenantriebe wie ein Panzer, dabei Sitze für bis 6 Soldaten und<br />

Anhängemöglichkeit für eine kleine Panzerabwehrkanone. Es war klar, es fehlte nur Benzin,<br />

aber alles kombinieren half nichts, ich war eben noch zu klein. Zuerst fehlten die Räder und<br />

irgendwann war das Ding dann ganz weg, aber auf der Siedlung nach Lichtenberg habe ich<br />

noch Jahrzehnte lang 1-achsige Handwagen gesehen, mit hartgummibereiften, kugelgelagerten<br />

Rädern vom Kettenkrad, beneidenswert; noch heute halte ich in dieser Gegen Ausschau,<br />

die Dinger waren doch unverwüstlich. (Im Heeresmuseum in Dresden aber habe ich das<br />

Kettenkrad original wiedergefunden.)<br />

7. 1945 – 22. Juni bis Jahresende<br />

Vom 22. Juni ist mir nur das Nachher bewusst, was auch logisch ist, denn die Maßnahme<br />

wurde gegenüber den Deutschen geheimgehalten (wäre wohl auch nicht geglaubt worden)<br />

und lief wie ein Donnerschlag ab ... „aufstehen, mitnehmen was man in den Händen tragen<br />

kann, den Schlüssel außen in die Tür stecken, alles sofort, bei Todesstrafe“. Allerdings hatte<br />

es auch Listen gegeben, die ca. 10 % der Deutschen von der Vertreibung zurückstellte, als<br />

erforderlich für die weitere Betreibung der Fabriken. Dort war auch mein Großvater, Edwin<br />

Preibisch, als Webmeister eingetragen, womit auch seine gesamte Familie zurückgestellt war.<br />

Vom 23. Juni ist mir erinnerlich, dass aus den deutschen Fabrik-Fachleuten Rettungstrupps<br />

zusammengestellt wurden, für das Vieh auf den verwaisten Bauernhöfen, bei den Rettern<br />

auch meine Mutter, dabei mir erinnerlich auch der Sohn von Dr. med. Hauptmann. Für mich<br />

wurde der Einsatz auf den umliegenden 3 Bauernhöfen zum großen Auftritt, denn ich wusste<br />

genau, wo etwas lag und wo es lang ging. Die Tiere waren zu füttern, zu tränken und auszumelken,<br />

allerdings waren die Kühe bei den ungeschickten Griffen der ungeübten fremden<br />

Leute ziemlich renitent. Kritisch wurde es auf Seiferts-Hof, vielleicht kamen wir dorthin<br />

etwas zu spät, jedenfalls waren die Tiere sehr unruhig. Die Pferde, zwei feurige Rappen,<br />

ließen niemand in den Stall, ständig waren die ausschlagenden Hinterhufe in der Türöffnung<br />

zu sehen. Der Ochse war in der Scheune eingesperrt und donnerte gegen das Tor. Ein Mann<br />

ging mit mir in das Innere des Hauses, wo auf dem Tisch noch die angefangene Mahlzeit<br />

stand, ein angeschnittenes Brot, ein geöffnetes Glas Leberwurst. Er bereitete mir eine<br />

Wurstschnitte, mit der ich dann vor meiner Mutter erschien, um sofort eine kräftige Ohrfeige<br />

(das Brot fiel herunter) wegen Stehlens zu bekommen. Den Erwachsenen war noch nicht<br />

bewusst, was eigentlich passiert war. In der Folge übernahm meine Mutter Erichs und<br />

Brückner-Bauers Hof. Es ist mir erinnerlich wie wir auf dem Feld die Kühe hüteten und wie<br />

diese Biester sich gegenseitig ansahen und dann die Schwänze hoben um einige hundert<br />

Meter weiter zu galoppieren. Nach ca. 1 Woche war Brückner-Bauer wieder da und übernahm<br />

seinerseits auch weitgehend die Pflege auf Erichs Hof. Bei Heidrichs kam der Sohn Walter<br />

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mit Familie und auch Edmund mit Frau zurück. Nachbar Slawski, als Baggerfahrer in der<br />

Grube Türchau, bezog auch ganz legal wieder sein Haus. Nach ca. 3 Wochen waren Onkel<br />

Erich Preibisch und Tante Ida auch wieder da. Im Allgemeinen wurden die zurückgekehrten<br />

deutschen Landwirte geduldet, da neben der Fürsorge für das Vieh auch die Ernte einzubringen<br />

war. Mein Großvater, Edwin Preibisch, war ohne Unterbrechung in Lichtners Fabrik<br />

beschäftigt. Für die Sperrstunde hatte er einen russischen „Propusk“. Die Deutschen mussten<br />

eine Zeit lang eine weiße Armbinde tragen, mit einem blauen Steifen in der Mitte. So in etwa<br />

jeder dritte Deutsche war nach einigen Wochen wieder anwesend, die Arbeit auf den Höfen<br />

und in den Fabriken und Werkstätten wurde aufrecht erhalten, wahrscheinlich teilweise schon<br />

mit polnischen Leitungspersonal und Arbeitern. In der zweiten Hälfte des Jahres 45 wurden<br />

auch erste Höfe von den Polen übernommen. Bei Heidrichs durch Mutter und Sohn Janecki,<br />

die plötzlich mit auf dem Hofe waren und denen plötzlich alles gehörte. Viel mehr als auf<br />

materielle Werte, war der junge Pole aber um die Zuneigung der jungen Inge Heidrich<br />

bemüht, was auch erwidert wurde, so herrschte auf diesem Hofe eine gewisse Eintracht (und<br />

vorweggenommen, übers Jahr wurde auch ein ganz legaler deutsch/polnischer Hoferbe<br />

geboren).<br />

Bei Ernst Preibisch, einem Cousin von Großvater, waren er und seine Familie am 08. Juli<br />

zurückgekehrt. Zu dem eingesetzten jungen polnischen Bauern entwickelte sich eine gewisse<br />

Vater-Sohn-Beziehung und Ernst als erfahrener Landwirt nahm ihn intensiv in die Lehre. Was<br />

auch notwendig war, denn der junge Pole hatte sich als Landwirt deklariert und zu einer<br />

Hofübernahme bekannt, um sofort aus der Armee entlassen zu werden.<br />

Es ist mir auch noch erinnerlich, wie Pan und Pani Wierzbicka erschienen und erstmalig<br />

auf den Preibisch-Hof zugingen. Sie in einer knapp sitzenden Uniformjacke über dem Rock,<br />

er mit umgehangener Jagdflinte und erinnerlich auch der Schreckensruf meiner Großmutter:<br />

„Um Gottes Willen, ein Flintenweib, auch das noch!“.<br />

Erich und Ida und die Neuen mussten sich die Wirtschaft teilen, d. h. den Deutschen<br />

wurden die restlichen Räume zugeteilt und die Sachen, die sie dort behalten durften, wahrscheinlich<br />

im Falle von Wierzbickis mit Anstand.<br />

Es dauerte nur kurze Zeit und das „Flintenweib“ klopfte zum Erschrecken der Großmutter<br />

an unsere Tür, mit der Frage nach einem Gewürz, welches in unserer Küche zu haben war<br />

und einmal sie dort, war es passiert! Die beiden kräftigen Damen fanden Gefallen aneinander<br />

und auf dem Wege ins Dorf oder aus dem Dorf, oder sonst auch, saßen Pani Wierzbicka und<br />

Großmutter nur zu gerne in der Küche zusammen, die eine konnte kein Deutsch, die andere<br />

kein Polnisch, trotzdem erzählte man sich in langen Sessionen alle Neuigkeiten aus dem Dorf,<br />

bei unerhörten Sachen wurde der Vortrag oder die Kenntnisnahme akustisch durch kräftiges<br />

Klatschen auf die eigenen Schenkel unterstrichen, die Damen hatten ja. Es schallte durchs<br />

ganze Haus.<br />

Bei Wierzbickis war auch ein Sohn Namens Zdzisĺaw, ca. doppelt so alt wie ich, der<br />

interessanterweise ein Fahrrad hatte, mich akzeptierte – und zu langen Ausflügen auf der<br />

Querstange mitnahm. Mit Wierzbickis kam eine schwarze gutmütige Stute Namens „Murdel“<br />

auf den Hof. In diesem Herbst hatten die deutschen Bauern zum großen Teil noch allein<br />

geerntet, aber die Herbstbestellung geschah schon erstmalig gemeinsam mit den eingesetzten<br />

polnischen Wirten. Im November veranlasste die sowjetische Administration in Zittau, dass<br />

mittels der Kleinbahn die unbewirtschafteten Kartoffelfelder zwischen Oppelsdorf und<br />

Reibersdorf abgeerntet wurden, zugunsten des überfüllten und hungernden Zittau.<br />

Im November kam der Vater der Scholz-Jungen aus der Gefangenschaft zurück und ging<br />

zuerst allein über die Neiße nach Reichenau-Rychwaĺd zurück. Sein Bruder und Nachbar der<br />

Scholz-Friseur am Uferweg, neben Baggerfahrer Slawski, war auch wieder anwesend und<br />

übte seinen Beruf zu deutsch/polnischer Zufriedenheit aus. Alfred Scholz bekam sofort Arbeit<br />

im Kesselhaus bei der ehemaligen Firma Lindemann, (d. h. auch eine Aufenthaltsgenehmigung)<br />

und holte dann nächtens seine Familie mit herüber, so dass ich mit meinen Hauptfreunden<br />

wieder vereinigt war.<br />

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Was die Polen unter uns betraf, so sollte man sehen, dass sie sich in jeder Beziehung in<br />

der Fremde“ ansiedelten, d. h. die anwesenden Polen waren für sie auch Unbekannte. Natürlich<br />

begannen bei den Polen die Versuche für ein gesellschaftliches Leben untereinander. Zu<br />

diesem Zwecke brauchte es im allgemeinen auch Alkohol, weshalb Wierzbickis unten in der<br />

Küche, über dem Brühkessel, eine Kartoffel-Destillation aufbauten, mit geheimnisvollem<br />

Glucksen in den Rohren und von unvergesslicher Ausdünstung. Die geladenen Gäste waren<br />

aber ziemlich rabiater Natur, jedenfalls beschloss zu nächtlicher Stunde einer, dass es Zeit sei,<br />

die Ehefrau zu erschießen, welche dann angeschossen durch das Haus flüchtete und in größter<br />

Not von Erich unter dessen Schreibtisch geschoben wurde. Erich setzte sich davor und<br />

obwohl der rasende Pole mehrmals mit rauchender Pistole durch das Zimmer stürmte,<br />

akzeptierte er irgendwie, d. h. es schien in sein Weltbild zu passen, dass der deutsche Bauer<br />

zu nächtlicher Stunde am Schreibtisch sitzt und schreibt. So avancierte mein listig-lustiger<br />

Onkel Erich neben seinem EK I noch zum anerkannten Retter einer Polin.<br />

Bei uns erschienen irgendwann zwei Soldaten, die uns mitteilten, dass wir uns zwecks<br />

Ausweisung am Folgetag bei der Kommandantur melden sollten. In Vorbereitung dessen<br />

gingen sie durch das Haus, um von allem das Beste in Säcke verschwinden zu lassen, die sie<br />

mitnahmen. Tante Ilse ging aber sofort zum Kommandanten, der seine Hansel antreten ließ,<br />

zwei fehlten, die erst noch gesucht und geholt werden mussten, die waren es. Umgehend<br />

waren die Säcke mit Inhalt wieder in unserer Wohnung. Erinnerlich ist mir auch ein Kerl, der<br />

mit einer Spitzhacke im Keller die Wand bearbeitete, weil er einen weiteren Keller dahinter<br />

vermutete. Auch für mich als Kind war das Wissen um die Rechtlosigkeit in der wir uns<br />

befanden eine schwere psychische Belastung, wir hatten Angst um unsere Erwachsenen. Vor<br />

Weihnachten bekamen die Polen eine Sonderzuteilung Butter und Zdzisĺaw nahm mich auf<br />

dem Fahrrad mit zur Abholung. Zurückgekommen händigte er mir 2 Stück als Weihnachtsgeschenk<br />

aus, welche meine Mutter aber sofort wieder zu Pani Wierzbicka brachte, im<br />

Hintergrund Zdzisĺaw mit rotem Kopf. Frau Wierzbicka sagte aber, dass alles seine Richtigkeit<br />

habe, die kluge Frau hatte wahrscheinlich begriffen, dass ihr Sohn damit auch ihr ein sehr<br />

schönes Weihnachtsgeschenk bereitete.<br />

8. Das Jahr 1946<br />

Irgendwann im Februar kam Hans Scholz, ein damals ca. 17-jähriger älterer Bruder von<br />

Gottfried und Klaus zur Familie zurück (westlich von Neiße und Oder hungerte man) und<br />

entsprechend seiner bisherigen Tätigkeit in der Landwirtschaft arbeitete er in Reichenau<br />

/Rychwaĺd als Melker im Stadtgut, welches etwa hinter der jetzigen Stadtbibliothek (als<br />

ehemaliges Preibisch-Gut) gelegen war.<br />

Als erste Datensammlung vermerkte ich damals, dass angenehmerweise am 07.03. G.<br />

Scholz Geburtstag hatte und am 07.04. meine Schwester. Das Jahr fing also immer gut an.<br />

Wie jedes Jahr wieder erblühte auf der Wiese hinter unserem Haus in Schneeglöckchen „RP“,<br />

d. h. Roland Preibisch, von ihm gepflanzt als er fort ging, wie schmerzvoll wohl für Eltern<br />

und Geschwister im Hause, da er zu den Lebenden niemals zurückkehren würde. Im April<br />

tauchte ein junger Mann namens Kurt Stein auf, der unbedingt mit mir Freundschaft schließen<br />

wollte und das auch untermauerte, indem er einen 1-achsigen kleinen Wagen mit langer<br />

Deichsel mitbrachte und mich stundenlang durch die Botanik fuhr. Alles angenehm aber<br />

etwas unverständlich für mich, bis sich der wahre Grund langsam herausstellte, denn er wollte<br />

dafür meine Tante Ilse haben. Ich begriff aber schon damals, dass ich diese nicht ganz<br />

verlieren würde und ich habe mir lebenslang keinen besseren Onkel vorstellen können, als er<br />

es war. Zurückgekehrt war auch die Schwester meines Großvaters mit ihrer Familie. Träger<br />

des Aufenthaltes war die jüngere Tochter, Christine Knebel, die als Weberin arbeitete und<br />

Aufenthaltserlaubnis bekommen hatte. Die ältere Tochter, Irene, war in Zittau geblieben, sie<br />

war ein kühnes Mädchen, welches sich von der Grenze und selbst Neißehochwasser nicht<br />

abhalten ließ und an arbeitsfreien Tagen ganz konsequent in dunkler Nacht die Seiten<br />

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wechselte. Mitte Mai brachte Irene unseren Vater aus amerikanischer Gefangenschaft zu uns<br />

zurück, der sich am 17.05. in Rychwaĺd anmeldete und Aufenthaltserlaubnis bekam und<br />

Arbeit als Maurer.<br />

Anmeldung meines Vaters in „Rychwałd“<br />

Als eine gewisse Friedens-Dividende lernte ich in diesem Frühjahr erstmals komfortable<br />

selbst gemachte Sandalen kennen, mit einer Sohle aus Autoreifen, die genau bis in den<br />

Spätherbst hielten, dann waren sie durchgelutscht. Bei den früheren Kriegs-Sandalen, bestand<br />

die Sohle aus Holzstäbchen, die oben mit einer dünnen Kunstledersohle überklebt waren und<br />

die es immer schafften ganz gefährlich zu zwicken. Für die Sandalen der neuen Art schwanden<br />

in den Fabriken die Schlagriemen von den Webstühlen, auch hatten die Fabriken einen<br />

großen Verbrauch an Glühbirnen, denn wer eine solche zu damaliger Zeit privat brauchte,<br />

konnte diese nirgends kaufen, nur in einem unbeobachteten Augenblick in einer Lampe auf<br />

Arbeit schnell umwechseln.<br />

Da hatten die Betriebselektriker dann viel zu laufen. Es ist mir erinnerlich, dass ich<br />

meine Mutter bei Brendler von der Schicht abholte und dass vor der Pförtner ein großer Stau<br />

von Menschen war, der kontrolliert und abgetastet wurde, dabei auch eine polnische Frau, die<br />

sich das sehr energisch von Männerhand verbat. Textilien hatten damals eine sehr hohen Wert<br />

und wären auch gern über die Mauern des Fabrikgeländes gegeben worden, wenn da nicht<br />

polnische Wachmänner gewesen wären. Ein junger von ihnen, ein gewisser Milan, offenbarte<br />

sich gegenüber meiner Tante Ilse, dass er viel lieber qualifizierte Büroarbeit wie sie machen<br />

würde, als den stupiden Wachdienst. Sie ermutigte ihn eine Lehre im Büro zu beginnen, was<br />

er auch tat, wobei er auch sehr tüchtig war, eine Fernstudium anschloss und schließlich<br />

Hauptbuchhalter wurde. Einen ganz ähnlichen Werdegang vollbrachte ein gewisser Wozniak,<br />

bis zum technischen Direktor. Im Juli bekamen wir Nachricht, dass in Oppelsdorf eine damals<br />

83-jährige Tante Luise meines Vaters verblieben war. Sie war der Aussiedlung entgangen,<br />

indem sie einen tschechischen Pass von früher vorzeigen konnte, wohnte ganz allein im<br />

Albertbad und lebte von der Gnade der neuen Administration und der neuen Nachbarn. Wie<br />

gesagt, ganz allein im großen Hause, wenn unten jemand klopfte, zog sie sich große Männerstiefel<br />

an, stapfte damit kräftig herum und fragte mit tiefer Stimme, wer denn da sei. Es ist<br />

mir erinnerlich, wie wir mit Wierzbicki, Murdel vorgespannt und den leichten Plattenwagen<br />

angehangen den bescheidenen Umzug zu uns nach Rychwaĺd durchführten. Wenn ich mich<br />

heute frage, warum wohl Onkel Erich nicht kutschiert hat, so gebe ich die Antwort, dass<br />

Wierzbicki einem Deutschen das wertvolle Gespann nicht anvertrauen konnte, denn man<br />

durfte es ihm wegnehmen; vielleicht hatte Wierzbicki versteckt sogar die Schrotflinte mit.<br />

So war denn unser Haus ziemlich voll geworden, Ilse und Kurt übergaben ihr beheizbares<br />

Zimmerchen im Obergeschoss an Tante Luise und zogen nach unten, wo die Großeltern<br />

ihnen die gute Stube mit Veranda übergaben, sie selbst beschränkten sich auf die Wohnküche<br />

und das Schlafzimmer. Ich schlief in einem winzigen Zimmer neben genannter Wohnküche,<br />

in welcher sich von Großmutter freundlich regiert, sowieso das Zentrum befand, nebst der<br />

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Speisekammer, in welcher einmal, ist mir erinnerlich, nur noch eine Speckschwarte hing.<br />

Doch obwohl es manchmal sehr knapp war, haben wir Hunger nicht kennen gelernt.<br />

Da wir immer mit unserer Aussiedlung rechnen mussten und wussten, wie knapp die<br />

Nahrung westlich der Neiße ist, wurde sooft es gelang Brot auf Vorrat gekauft, in Scheiben<br />

geschnitten und geröstet, d. h. somit haltbar gemacht. Für mich für lange Zeit eine feine<br />

Sache, da immer eine große Kommode, die Schubfächer mit Röstbrot gefüllt, vorhanden war<br />

und niemand den langsamen Schwund durch mich so richtig bemerkte.<br />

Ende August bekamen wir über Irene Nachricht, dass die Mutter meines Vaters im<br />

Walde beim Pilze suchen eine schweren Schlaganfall bekommen hatte, der dann auch zum<br />

Tode führte. Mit Irenes Hilfe konnte unser Vater an der Beerdigung seiner Mutter in Zittau<br />

teilnehmen. Vor diesem Schicksalsschlag war in unserem Hause im August Hochzeit gewesen<br />

mit einer großen Tafel im Wohnzimmer und Veranda, Onkel Erich und Tante Ida waren auch<br />

dabei und viele junge Leute aus dem ehemaligen Reichenau und Tante Ilse hieß von da an<br />

Stein. Kurt Stein arbeitete bei der ehemaligen Firma Brendler als Webmeister.<br />

In dieser Zeit kam dann auch der Vater von Kurt, Hans Stein, als Kommunist in<br />

Buchenwald inhaftiert gewesen, zeitweise in unser Haus. Da lag erst einmal eine gewisse<br />

Spannung in der Luft, denn mein Vater und er kannten sich von früher! Da war mal so eine<br />

Wehrübung des Jung-Stahlhelms (Stahlhelm = Bund der Soldaten des I. Weltkrieges) im<br />

Gelände angesetzt gewesen, von der auch die Reichenauer Kommunisten wussten. Sie<br />

rückten also zu Dritt aus, dabei auch Hans Stein, um zumindest einen dieser Reaktionäre zu<br />

erwischen und abzustrafen. Mein Vater, der einsam auf Vorposten lag, sah die drei in der<br />

Abenddämmerung kommen, Ortscheite in der Hand. Er schmiegte sich unsichtbar in den<br />

dichten Klee, aber der Zufall wollte, dass sie über ihn stolperten. Dann ging alles blitzschnell,<br />

Vater Karl hatte sich den Mittelsten vorgenommen und würgte ihn und würgte ihn, währenddessen<br />

die handlungsfähigen Kommunisten ihm mit den Ortscheiten auf den Kopf<br />

schlugen. Bei dem allgemeinen Gebrüll kamen die anderen Stahlhelmer hinzuglaufen, aber<br />

am Ende ging alles so aus, dass jede Partei ihren Halbtoten schnell zum Arzt schaffte,<br />

meinem Vater wurde die ganze Kopfhaut mit Watte unterstopft, erzählte er. Aber einmal<br />

familiär vereint, war das alles vergessen, man sagte „Karl“ und „Hans“ zueinander und spielte<br />

abends Skat.<br />

Auch an den Arbeitsplätzen in den Fabriken waren alle Kriegsbeile begraben, wahrscheinlich<br />

waren alle froh, den Krieg überstanden zu haben und nicht zu hungern. Auch wäre<br />

es wohl der Produktion nicht bekommen, wenn jemand gegen die zumeist deutschen Webmeister<br />

gehandelt hätte. Anders war es in den Nächten. Die Besitznamen durch Polen waren<br />

erfolgt, leer stehende Häuser und Gehöfte ausgeplündert, da blieben für nachrückende Polen<br />

nur noch die von Deutschen bewohnten Häuser, die auszurauben waren. Unser Haus wurde<br />

abends in eine Festung verwandelt. Vor jedes Fenster im Keller und im Erdgeschoss kam von<br />

innen eine Holzplatte, die mit einer Stange fest gegen einen Wandanschluss abgesteift wurde.<br />

Die Türen wurden ähnlich gesichert, wohl dem, der einen großen Hund hatte. In der Nacht<br />

hörte man dann die verzweifelten Hilferufe wo eingedrungen wurde, auch das Ächzen und<br />

Stöhnen, wenn die Leute zu Boden geschlagen wurden. Die Banden waren schwer bewaffnet,<br />

die Deutschen rechtlos, außerhalb ihres Hauses erst recht vogelfrei, einzige Gegenmaßnahme<br />

blieb mit Stürzen und Pfannen bei offenen Fenstern Lärm machen, Weigelt Paul ließ eine<br />

Sirene heulen. Angst hatte ich vor der Behandlung, die einer Frau wiederfahren war, die man<br />

still machte durch Einwickeln in die Bettdecke und Umschnüren mit einer Wäscheleine. Sie<br />

überlebte, war aber ganz blau.<br />

Unser Nachbar schräg gegenüber, Hermann Broksch, bekam eine große Familie zur<br />

Einquartierung, die morgens mit den Werten verschwunden war. Er lag mit eingeschlagenem<br />

Schädel in der Jauchegrube. Es gab Fälle, wo die deutsche Familie nur mit Gewehren in<br />

Schach gehalten wurde, während man das ganze Haus ausgeraubte. Unter dem Strich aber,<br />

haben wir Deutschen im Reichenauer Zipfel, aus dem für Banden schwer herein und heraus<br />

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zu kommen war, viel weniger Drangsal erlebt als unsere Landsleute auf dem flachen Lande,<br />

in Schlesien, Ostbrandenburg, Pommern und Ostpreußen.<br />

Im November wurde die Familie von Ernst Preibisch ausgewiesen, obwohl der polnische<br />

Jungbauer dagegen unternahm, was er nur konnte. Diese 2. Ausweisung erfolgte schon so,<br />

dass der Transport in Güterwagen erst fast 8 Tage nach Osten fuhr (sehr zur Sorge der<br />

Transportierten), aber dann wiederum eine reichliche Woche nach Westen, in die spätere<br />

DDR.<br />

Mit Ernst Preibisch ging wohl der maßgeblichste und letzte „Kirchenvater“ aus<br />

Reichenau hinaus, der in den 30er Jahren gegen die von den Nazis propagierten sogenannten<br />

„Deutschen Christen“ gestanden hatte. Indem die eingesetzten „DC“ – Pfarrer keine Gemeinde<br />

in der Kirche vor fanden, wurde für die oppositionellen Pfarrer jeweils kurzfristige<br />

Hausarreste verhängt. Die Gemeinde versammelte sich aber unter dem geöffneten Fenster des<br />

Pfarrhauses, durch welches der Arrestierte den Gottesdienst abhielt. Das war der sogenannte<br />

„Kirchenkampf“.<br />

Vetter Ernst Preibisch bleibt Landwirt; in Großschönau<br />

Als nahe das Gasthauses „Zum Hirsch“ niederbrannte, war die deutsche Feuerwehr schon<br />

so geschwächt, dass sie neue Mitglieder werben musste, so auch meinen Vater, der u. a. als<br />

Bausachverständiger entscheiden sollte, wie lange das brennende Objekt noch steht. Brände<br />

gab es in dieser Zeit sehr viele; ich hatte mir aber abgewöhnt zu Onkel Erich zu laufen, denn<br />

die Trompete hing jetzt außerhalb seines Bereiches und er wollte sowieso nicht blasen. Auch<br />

ich verstand, dass die Polen wohl übel reagiert hätten, wenn im Falle eines Brandes noch ein<br />

Deutscher von oben auf der Trompete geblasen hätte.<br />

Die Nachbarschaft in unserem unmittelbaren Umfeld hatte sich Ende 46 ca. so verändert,<br />

von Norden beginnend, entgegen dem Uhrzeigersinn:<br />

− Brückner-Bauer hatte aufgegeben, denn der Sohn und Hoferbe war nicht aus dem Krieg<br />

zurückgekehrt. An seiner Stelle war ein Franzose, der mit einer Deutschen aus der<br />

Nachbarschaft zusammenlebte, beides sehr angenehme Leute.<br />

− In Ehrentrauds Haus waren Neudels eingezogen, sozusagen als polnische Verwandte dieser<br />

Familie, dabei auch die 17-jährige Tochter Ina, ein sehr anmutiges Mädchen, von der ich<br />

gern viel mehr beachtet worden wäre.<br />

− Ein Haus weiter, in Englers Villa, wohnte Familie Warchol, die uns auch sehr gute<br />

Nachbarn wurden.<br />

− Im Haus mit dem Turm (bei ehemals Altmann-Dachdecker) war die polnische Familie<br />

Jarosz eingezogen. Sie bekamen ein Kind Namens Stanislaus. Vater Jarosz arbeitete mit<br />

meinem Vater bei BZPB.<br />

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− Leubners wohnten weiter in ihrem Haus, mit Schwiegersohn Heinz Jirch.<br />

− Bei ehemalig Brocksch-Hermann wohnte eine polnische Familie, dahinter der Zimmermann-Maler.<br />

− Bei Heidrich-Bauer lebte deutsch und polnisch einvernehmlich durcheinander, nur die<br />

Mutter von Jan Jackiewicz war mit der Situation nicht so richtig einverstanden. Inge<br />

Heidrich war von Jan hoch in anderen Umständen.<br />

− Im Nebenhaus, bei ehemals Otto Preibisch, wohnte jetzt ein kinderloses polnisches Ehepaar<br />

namens Artelt, von ihm nahmen wir immer an, dass er deutscher war, als er zugab.<br />

− Für mich war ganz maßgeblich, dass zwischen Artelt und Heidrich/Jackiewicz meine<br />

Scholz-Freunde wohnten, wie seit alten Zeiten.<br />

Hier noch ein kleines Erlebnis, was alles wechselseitig passieren kann, wenn man als<br />

kleiner Junge nur eine Viertel-Portion ist in der Welt der Erwachsenen. Wir waren auf der<br />

Rückfahrt auf einem staubigen Weg bei Bräuers Fabrik. Es war in der warmen Mittagszeit,<br />

das Pferd Murdel ging halb schlafend, Wierzbicki und ich saßen ebenfalls dösend in großer<br />

Ruh auf dem schmalen Ackerwagen auf einer Bohle, die quer über den Wagen gelegt war.<br />

Nur, dass es eben von unten stuckerte und Wierzbicki auf seiner Seite auf der Bohle über den<br />

Wagenrand hinaus gerutscht war; so begann für mich plötzlich ein wundersames Schweben<br />

mit immer schnellerer Luftfahrt, am Ende ein weiter Freiflug in den Straßengraben.<br />

Wierzbicki rutschte entsprechend unter den Wagen und das Hinterrad lief über seinen Fuß. Da<br />

war wirklich eine plötzliche Situationsänderung aus heiterem Himmel und Halbschlaf. Als ich<br />

aus dem Graben kroch, sah ich Murdel in einer Staubwolke davon preschen, Wierzbicki lief<br />

humpelnd hinterher und rief: „Br, br“.<br />

Weihnacht 46 haben wir in einem deutlich volleren Hause gefeiert als im Vorjahr,<br />

dadurch auch alles viel geborgener und wärmer für uns Kinder und wie immer mit dem<br />

Klavierspiel von Großvater. Die Kirche wird wohl verwaist und aufgegeben gestanden haben.<br />

9. Das Jahr 1947<br />

Es fing gut an, wie ein echtes Friedensjahr, und die jungen Erwachsenen, die wir in Gestalt<br />

von Kurt und Ilse im Haus hatten, beschlossen hineinzufeiern. Staunend sahen wir Kinder,<br />

was ausgelassene Erwachsene im Vorfeld zustande bringen. Da war die Jahreszahl 1947 in<br />

vier fröhlich hereintanzende große Figuren aufgelöst, die Zahlen mit Armen, Beinen und<br />

Gesichtern versehen. Über den Kreis der Gäste kann ich nur mutmaßen:<br />

− War Webmeister Kurt Lachmann mit Frau schon dabei, oder der junge Webmeister Kurt<br />

Beyer mit polnischer Freundin Lydia, oder gar schon Rudi Fischer mit Warschauer Freundin<br />

Jenny, der aus Buchenwald zurückgekehrt war und mit Ilse und Jenny bei ehemals<br />

Brendler arbeitete, oder Rudi Serebtz mit polnischer Freundin, später ein Fußballstar von<br />

Bogatynia, oder Ulla Zosel mit ihrem polnischen Freund und späteren Ehemann; sicher<br />

aber Gerhard Hirsch, der einarmig zeitig aus dem Krieg zurückgekehrt war und seine<br />

Versehrtheit bei Sport und Arbeit mit Fassung trug, als Chemiker eher ein Mann des<br />

Geistes als welcher er auch später in Deutschland weiter studierte. Ein liebenswerter<br />

vornehmer Mensch, den ich 2000 leider zum letzten Mal begegnet bin. Seine ältere<br />

Schwester und meine Mutter waren eng befreundet.<br />

Das Leben normalisierte sich auch auf anderen Gebieten, Kinder kamen zur Welt, zuerst<br />

bei Jan Jackiewicz und Inge Heidrich deren Sohn Siegmund war eigentlich der natürliche<br />

Erbe auf dem Heidrich-Hof, aber alle Tragödien haben Scheinlösungen eingebaut.<br />

Ende Februar wurde in unserem Haus mein Vetter Dieter Stein geboren, als Geburtshelfer<br />

der alte Dr. Hauptmann, den mein Vater und Kurt Stein nebst Utensilien auf einem<br />

Hörerschlitten herbei zogen. (Vorweggenommen: – Siegmund und Dieter waren 10 Jahre<br />

später in Zittau wieder zusammen in einer Schulklasse.)<br />

Ich selbst wurde an diesem Tage zur Familie von Großvaters Schwester ausquartiert und<br />

habe dort auch übernachtet, dabei sicher auch Christine angetroffen, die als Weberin arbeitete<br />

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und wahrscheinlich auch die kühne Irene, die in Zittau arbeitete, sich aber wie schon berichtet<br />

von der Grenze nicht abhalten ließ.<br />

Erich baute sich Frühjahr mit Wierzbickis Genehmigung aus einer leichten Kutschachse<br />

einen Handwagen, mit zwei Deichseln, zwischen denen er gehen wollte, Ida sollte hinten<br />

schieben, im Falle der Ausweisung. Im April war es soweit, Heidrich-Bauer und Preibisch-<br />

Bauer mussten gehen. Dabei auch Inge Heidrich und ihr Kleinkind Siegmund. Wohl 3 – 4mal<br />

hat in den Folgejahren Jan sich Frau und Kind nächtens über die Neiße zurückgeholt,<br />

immer nur für kurze Zeit, denn die Behörden und seine Mutter waren dagegen. Zeitweise war<br />

er inhaftiert, dann wurde er wahrscheinlich 49 aus der Region entfernt.<br />

Im Frühjahr 47 brachte mir u. a. eine Anstellung als Ziegenhirt; d. h. diese nützlichen<br />

Tiere waren schleichend überall eingestallt worden, u. a. auch von unserer Großmutter und<br />

bei Wierzbickis und ... und..., jedenfalls gab es 4 dieser Tiere in der Nachbarschaft, die ich<br />

früh auf die Weide bis über die Oppelsdorfer Straße bringen, mittags umpflocken und abends<br />

zurückbringen musste. Großmutters Kalkül dabei, wenn ich Wierzbickis Ziege mit versorge,<br />

dann kann unsere auch dort mit weiden. Der erste Weidegang war eine üble Sache, die Biester<br />

zogen lange Ketten mit, womit sie sich oft an Gegenständen und untereinander verhedderten<br />

und hatten sowieso keine Lust irgendwohin zu folgen. Am Ende stand ich zwei Ziegenketten<br />

in der Hand, auf der Oberen Dorfstraße, eine Ziege wollte weidewärts, die andere heimwärts,<br />

ein Lastauto musste vor mir stoppen und zwei Ziegen plünderten überhängende Sträucher von<br />

Vorgärten. Es durfte nur einmal passiert sein, dass alle mich so schwach sahen! Außerdem<br />

war ich einige Mal zu Fall gekommen als ich auf Ketten der unberechenbaren Tiere trat. Beim<br />

nächsten Trieb stellte ich voll auf Terror ab, mittels einer Gerte, mit der ich diese schwierigen<br />

Tieren den Weg wies und sie nicht zum Stillstand kommen ließ. Es war ein einziges Getöse<br />

und Gerassel und Funkensprühen der Ketten auf der Schotterstraße, nicht nur das Auge sah,<br />

auch das Ohr hörte sofort den Stillstand, damit hatten die Ziegen verloren. Die Eigentümerinnen<br />

beschwerten sich zwar etwas über die forsche Gangart, das wäre der Milchleistung<br />

abträglich, aber selbst machen wollten sie es auch nicht.<br />

Mit dem Abgang der deutschen Bauern war auch für die polnischen Wirte eine härtere<br />

Zeit angebrochen, die sich teilweise deutsche Arbeitskräfte auf dem Weg von der Fabrikarbeit<br />

oder sonst im Ort zwangsrekrutierten. Ilse versorgte unseren Großvater in dieser Zeit zum<br />

Schutz mit einem aktuellen Fabrikausweis. Im Falle Wierzbicki hatte unser Haus die Ernteunterstützung<br />

unternommen, auf dem Jackiewicz/Heidrich-Hof die Familie Scholz, in beiden<br />

Fällen war ich wahlweise mit dabei. Zur Getreideernte bei Wierzbicki die Erinnerung, wie<br />

stolz dieser war, einen doppelten Hektarertrag zum Vorjahr erzielt zu haben. Ansonsten waren<br />

wir, was seine bäuerlichen Qualitäten anbelangte, eher skeptisch: – „vielleicht za Buga ein<br />

Pferdchen und eine Kuh“ meinte mein Vater. Andererseits aber punktete Wierzbicki bei<br />

unseren Männern als Jäger. Es blieb nicht unbemerkt, dass er mit Flinte und Fahrrad in den<br />

Wald fuhr und umgehend mit erlegten Füchsen und Hasen zurückkehrte, das schien seine<br />

starke Seite zu sein. Ansonsten war er, obwohl auch jähzornig, ein umgänglicher gutmütiger<br />

Bursche, der für uns ein Schutz war. Als ein Schäferhund auf der Wiese vor dem Hof die<br />

Ziegen anfiel, erschien er sofort mit der Flinte. Die Besitzer des Hundes wollten ihr Tier<br />

retten und beschimpften ihn als Deutschen-Freund. Daraufhin schoss er gerade in die Luft als<br />

sie weiter schimpften, schoss er noch einmal aber schon schräger. Für mich war das eine<br />

beruhigende donnernde Machtdemonstration in unserer Ecke. Meine Mutter schneiderte für<br />

sich und für uns Kinder schon seit Kriegszeiten. Auf diesem Feld zeigte sich auch Frau<br />

Wierzbicka sehr bewandert, so dass die beiden sich austauschten und ein achtungsvolles<br />

Verhältnis zueinander hatten.<br />

In diesem Jahr starb 84-jährig auch Tante Luise, sie wachte vom Nachmittagsschlaf nicht<br />

mehr auf. Die Beerdigung fand schon in dem Bereich des evangelischen Friedhofs statt, wo<br />

auch heute die meisten neuen Gräber vorzufinden sind. Indem unsere Familie ein Trauerfall<br />

getroffen hatte, nahm auch der ehemalige polnische Kampfkommandant teil, der sich sogar<br />

anbot, zu sprechen.<br />

32


Während die Welt der Erwachsenen sich einigermaßen arrangiert hatte, gab es unter der<br />

Übermacht polnischer Kinder reichlich Exemplare, die den Krieg mit anderen Mitteln an uns<br />

Wenigen fortsetzen wollten. Wir Kleineren konnten uns nur schützen, indem wir uns im<br />

Umfeld größerer Jungen oder Erwachsener aufhielten, trotzdem kam es oft zu Überfällen mittels<br />

scharf geworfener Schottersteine. Es kam zur Gegenwehr von uns auf gleicher Ebene, zu<br />

Angriffen und Gegenangriffen mit Feuerschutz, wie im Krieg. Unvergessen wird mir bleiben,<br />

wie Klaus Scholz, der ca. 4 Jahre älter war als wir, allein gegen einige gleichaltrige Gegner<br />

vorging, damit wir Kleinen uns ungetroffen zurückziehen konnten. In diesen Zeiten hatten wir<br />

sicherheitshalber immer einige Schottersteine in der Hosentasche, bzw. wussten, wo solche<br />

abgelegt waren. Natürlich bemühten wir uns bei unserer Minderzahl auch als Friedensstifter<br />

aufzutreten, d. h. näher wohnende polnische Kinder oder einzeln Gehende wurden von uns<br />

freundlich behandelt bzw. einbezogen.<br />

Trotzdem war damals jeder Gang in den Ort ein Wagnis und nur zu oft musste ich einkaufen<br />

gehen. Als ich den Auftrag bekam, in die Weberei BZPB regelmäßig das von Oma<br />

gekochte Mittagessen zu schaffen, war das ein Weg voll durch fremde Interessensphären, von<br />

teilweise rigorosen bekannten Feinden besetzt. Indem mir klar war, dass bei einem solchen<br />

Treffen Weglaufen nicht meine Sache wäre, andererseits meine Hände durch den wertvollen<br />

Essenstopf auch doppelt gebunden waren, musste ich mir in der Sache schon Gedanken zu<br />

Strategie und Taktik machen. Strategisch verlegte ich den Weg über die obere Dorfstraße am<br />

Friedhof vorbei, bis nahe zu Bräuers Fabrik und dann zu BZPB. Taktisch nahm ich den<br />

ehemaligen Militärhund Kora am Bande mit, obwohl ich wusste, dass er nur den Rückzug<br />

mitgemacht hatte und im Bedarfsfalle eher auf Flucht setzte. Und Drittens ging ich, sobald ich<br />

bei Neudels um die Ecke war zum Schnelllauf über, denn logischerweise konnte durch solche<br />

Zeitraffung ja weniger passieren, außerdem konnte ich mich eventuellen Feinden schnell<br />

annähern, durchlaufen und weiterlaufen, ohne dass man es in diesem Fall als Flucht auslegen<br />

konnte. Insgesamt musste ich diesen Weg aber nur 3-mal machen, denn es kam mit Großmutter<br />

zu Streitereien über die Art der überbrachten Mahlzeiten.<br />

Indem wir uns viel selbst überlassen waren, war es ein Glück, dass Klaus Scholz und<br />

Horst, Sohn von Webmeister Lindner (wohnte nahe Akku-Weigelt), schon Schuljahre hinter<br />

sich gebracht hatten, also Lesen und Schreiben konnten und auch die Grundrechenarten.<br />

Besonders durch Klaus seinen Einfluss lernten wir bei Scholzes in der Bastelstube das Alphabet<br />

und das Lesen, sozusagen in aller Stille und spielend. Ich reihte mich zu Hause also in die<br />

Reihe der Lesenden ein, las Kinderbücher, Märchen, Onkels Krimihefte und dann nahm ich<br />

mir ein dickeres Buch vor, wo obenauf geschrieben war „Roman“, also genau wie ein polnischer<br />

Spielfreund gerufen wurde, dann aber den Untertitel „Kreuzweg der Liebe“. Ich weiß<br />

noch, dass man interessanterweise mit einem Motorboot auf dem Nil fuhr, zum Schutz einen<br />

großen Hund namens Fox hatte und man den Einen nicht leiden konnte, weil er ein<br />

Hochstapler war. Unklar war, warum die Fähigkeit in die Höhe zu stapeln einen Mann abwertete.<br />

Ich zog mich also aus diesem Buch zurück und nahm nur den Namen des tapferen<br />

Hundes Fox mit. Im Jahr 1947 wird es wohl auch stattgefunden haben, dass im damals stalinistischen<br />

Polen aus dem evangelischen Pfarramt die Dokumente aus vielen Jahrhunderten in<br />

die Kesselhäuser gefahren wurden, die Heizer standen bis zu den Knien darin und schaufelten<br />

in die Flammen. Dieser Vorfall wird bei vielen Deutschen wohl endgültig zur Überzeugung<br />

geführt haben, dass in dieser Heimat keine Bleibe mehr ist.<br />

Am Ende des Berichtes zum Jahr will ich sozusagen als Warnung für meine Enkel, dass<br />

Gefahr für jeden immer allgegenwärtig ist noch folgendes berichten:<br />

− Ich war allein in Wierzbickis Scheune und stand am Rande der Dreschbühne, d. h. ca. 2 m<br />

über dem Estrich der ebenerdigen Tenne. Unten auf der Tenne lag ein ca. 0,70 m hoher<br />

Schwad Stroh, in den beschloss ich steif hineinzuspringen um mich mit der Federkraft des<br />

Strohs im Trampolineffekt nach oben wegschnellen zu lassen. Was ich von oben nicht<br />

bemerkt hatte, war dass der Schwad nur ganz locker hingestreut lag, d. h. weitgehend mit<br />

Luftlöchern, mit wenig Strohsubstanz. Nach dem Sprung lag ich auf dem Boden und<br />

33


glaubte vor Schmerz beide Beine gebrochen und bewegte mich dann die ca. 10 m bis zum<br />

Scheunentor nur mit Armkraft auf dem Boden. Konnte dann aber, erst zögerlich, dann<br />

immer besser wieder gehen.<br />

10. Das Jahr 1948<br />

Es begann mit der Ausweisung unserer Familie. Wir waren ja auf so etwas gefasst. Von den<br />

Trocken-Röstbrot-Vorräten, die zu meiner Genugtuung 3 Schubfächer einer großen Kommode<br />

voll immer bereitgehalten wurden, habe ich ja bereits berichtet. Zusätzlich war jedes<br />

Familienmitglied mit einem Reisekorb (seiner Größe angemessen) ausgerüstet. Unter die<br />

Reisekörbe waren Holzrahmen mit Holzachsen und Rädern aus einer Holzscheibe gebaut,<br />

vorn eine Schnur zum Ziehen, also ein Gefährt, welches bis zu einem Stellplatz aushalten<br />

würde. Damals war somit gestattet, mitzunehmen was eine Person bewegen und zusätzlich<br />

auf sich tragen konnte. Meine Eltern gingen mit uns noch einmal durch die traute Wohnung,<br />

der Erinnerung wegen. Es kam der Abschied von den Großeltern und Kurt und Ilse. Vor dem<br />

Haus im morgendlichen Halbdunkel stand eine Traube Menschen, die oben in unsere<br />

aufgegebene Wohnung wollten, was ihnen aber verwehrt wurde. Mit Rucksack auf dem<br />

Rücken und Wäsche-/Reisekorb am Bändel ging es die ca. 200 m bis zu Akku-Weigelt, wo<br />

vor dem Haus ein offener LKW stand. Zdzisław Wierzbicki ging mit und zog meiner<br />

Schwester den Reisekorb. Wir waren zeitlich die Ersten auf dem LKW, der immer voller<br />

wurde. Dann kam ein Mann, der verlas Namen von Familien, die dableiben mussten. Wir<br />

gehörten dazu und waren eine halbe Stunde später wieder in unserer Wohnung. Vom 16.01.48<br />

habe ich von meinen Eltern Ausweise mit Lichtbild, wo der Wohnsitz Bogatynia, Naus-Nr. ...<br />

bis auf Widerruf bestätigt wurde (Geburtsort meines Vaters dabei vermerkt „Oplówka“). Ein<br />

weiterer Rückkehrer hielt sich ganz im Stillen in unserem Haus auf. Es war Kurt Preibisch,<br />

der jüngste Bruder meiner Mutter, der wie bereits unter 5. geschildert vor der Erstürmung von<br />

Königsberg in russische Gefangenschaft gekommen war. Irene brachte ihn nächtens über die<br />

Neiße und ich war erstaunt, wie wohlgenährt er trotz russischer Gefangenschaft aussah. Er<br />

war aber durch Wasser aufgeschwemmt und somit in einem sehr bedenklichen Gesundheitszustand,<br />

was auch die Grundlage für seine frühe Entlassung gewesen war. Internes Vorfühlen<br />

ergab, dass Kurt von der Administration nicht geduldet worden wäre, so konnte er höchstens<br />

im Dunkeln seinen geliebten Garten besuchen. Nach ca. 3 Monaten Erholung musste er sich<br />

wieder mit Irene nach Zittau begeben. Er wäre wohl nie von Reichenau weggegangen. Auf<br />

seinem letzten schweren Krankenlager 1990, ließ er sich das sonnenbeschienene Giebelfoto<br />

des Vaterhauses auf A4 vergrößern und schnitt aus einer Gärtnerzeitung an Gewächsen aus,<br />

was er nehmen wollte, d. h. er beklebte damit das Vorfeld des Fotos und pflanzte somit noch<br />

ein letztes mal in seinem Garten und vor seinem Haus.<br />

Nach erfolgter Zurückstellung bei Aussiedlung wurde mein Vater als „Kierownick“<br />

(=Leiter) eingestellt und ein längerer Verbleib im polnischen Umfeld wurde wahrscheinlich,<br />

weshalb unsere Eltern in der polnischen Grundschule wegen unserer Aufnahme vorstellig<br />

wurden. Die Antwort des damaligen Direktors war aber: „... das ist eine Schule nur für<br />

polnische Kinder.“<br />

So konnte ich an dieser Schule in den Folgejahren nur vorbeigehen und habe noch gut in<br />

Erinnerung, wie vom Kirchberg bis an die Pforten der Schule zunehmend herausgerissene<br />

zinnerne Orgelpfeifen lagen. Ein Vergnügen für die große Pause, damals von mir ohne Emotionen<br />

auch so eingeordnet. Heute bin ich froh, dass ich diesen Direktor mit seiner Lehrerschaft<br />

nicht kennen gelernt habe. Erinnerlich ist mir aber, wie bedrückt meine Großeltern<br />

waren (Großmutter sprach sogar von einer Silbermannorgel, was aber wohl nicht zutrifft),<br />

denn die Preibischs hatten immer auch sogenannte „Kirchenväter“ gestellt und es schwang in<br />

der Familie noch eine Erinnerung mit, wie sehr die Kirchgemeinde sich angestrengt hatte, um<br />

diese Orgel zu bekommen.<br />

34


Wie bereits erwähnt, hatten wir Kinder unter der Anleitung von Klaus Scholz bereits<br />

spielend das Lesen gelernt, dabei spielte Indianer-Literatur zunehmend eine Rolle. Indem wir<br />

nur ein kleiner Stamm waren, verteilte Klaus großzügig an alle Häuptlingsposten, aber mit der<br />

hintersinnigen Auflage, Tagebuch zu führen. Ich war voll zufriedengestellt zum Junghäuptling<br />

„Flinker Hirsch“ avanciert und legte mir also entsprechend Weisung des Oberhäuptlings<br />

eine A4-große Kladde an, mit der Aufschrift „Flinger Hisch“. Weiter gedieh die Sache nicht,<br />

Oberhäuptling hatte wohl auch zuviel andere Ablenkung. Die Auffindung dieser meiner<br />

ersten Schreibanstrengung brachte außer Erheiterung meiner Eltern auch zu Bewusstsein, dass<br />

Zeit zum Handeln gekommen sei. Indem mein Vater jetzt besser verdiente, konnte meine<br />

Mutter zu Hause bleiben und sich der Bildung der Kinder widmen. So saßen in unserem<br />

Wohnzimmer außer meiner Schwester und mir bald auch noch Gottfried Scholz, Manfred<br />

Pieche und Edda Hüttmann und mühten sich mit Lesen, Schrieben und Rechnen. Das war<br />

aber im Wesentlichen nur eine ca. 3-Tage-pro-Woche-Vormittagsschule, die viel Freizeit ließ.<br />

Einen geringen Teil dieser Freizeit belegte noch die Christenlehre, die von den Schwestern<br />

Else und Margarete im Stiftsgebäude am Reichenauer Krankenhaus abgehalten wurde.<br />

Schwester Else war Diakonissin und Operationsschwester und sie soll in der Umbruchszeit als<br />

Ärzte fehlten, selbst operiert haben, um Leben zu retten (wurde gesagt).<br />

Bei Scholzes wurde der neue Arzt erwartet und er kam mit einem BMW-Motorrad (statt<br />

Fußrasten Fußbretter), Lederkappe und brauner Lederjacke, selbst die Böschung fuhr er<br />

hinauf. Er nannte sich Dr. Joschko und es stellt sich heraus, dass er auch Deutscher war.<br />

So festigten wir Restdeutschen unsere Positionen, obwohl wir zu dieser Zeit noch<br />

weitgehend rechtlos, weil staatenlos waren. Es ist mir erinnerlich, wie ein junger Mann, auf<br />

dem Wirtschaftshof vor Scholzes Haus, alles daransetzte, Alfred Scholz aus der Fassung zu<br />

bringen. Dieser als ehemaliger Bademeister in Reichenau, mit keinem Gramm Fett auf dem<br />

Körper und muskulös, war eigentlich keiner, den man ungestraft an der Jacke ziehen, auf die<br />

Hacken treten, am Ärmel zupfen konnte, es sei denn man setzte auf die Rechtlosigkeit der<br />

Deutschen. Als der Tunichtgut wahrnahm, dass Alfred Scholz seine Beherrschung verlor,<br />

speichte er davon. Zur rechten Zeit, denn ihm wurde eine Schaufel nachgeworfen, die durch<br />

die Luft schwirrte und zwischen Scheunenwand und Schuppen hin- und her prallte, wie ich es<br />

bis dahin noch nicht gesehen hatte.<br />

Auch die Administration von Bogatynia, die manchmal in der Verlegenheit war, nomadisierende<br />

Pärchen kurzzeitig unterzubringen, bediente sich gern der von Deutschen bewohnten<br />

Häuser. So auch bei Scholzes. Trotz der großen Familie, wurde dort einquartiert. Die<br />

Untermieter, Mann und Frau, waren nicht die Besten zueinander. Der Streit eskalierte soweit,<br />

dass er sie, mit dem Messer in der Hand, um das Haus trieb. „Alfred geh dazwischen“ rief<br />

Frau Scholz, „er bringt sie um!“. Der aber sagte nur ganz ruhig: „Ach, lass nur, die brauchen<br />

das“. Die wilde Jagd ging wieder in das Haus hinein, die Treppe hinauf, ins Zimmer der<br />

Untermieter, dann war Stille, mörderisch für Frau Scholz. Aber dann fing das Eisenbett der<br />

Untermieter an, Töne von sich zu geben. Die Deckenbalken überm Erdgeschoss bewegten<br />

sich. „Siehst Du, die brauchen das“, sagte Alfred Scholz.<br />

Hans der Älteste der Scholze-Jungen arbeitete auf dem „Majątek“ (=Preibisch-Gut) als<br />

Schweizer, weshalb Gottfried Scholz, der mit mir etwa gleich alt ist, dort zeitweise als<br />

Hütejunge tätig war. Da ging ich natürlich manchmal mit. Indem Gottfried sozusagen einen<br />

Angestellten-Status hatte, konnten wir uns gegen Schlechtwetter jeder einen brauchbaren<br />

Sack aussuchen, bei dem wir einen Zipfel in den anderen steckten und so eine Kapuze<br />

bekamen, die uns kleinen Kerle maßgeblich bedeckte. Sicher haben wir auch Kartoffeln mitgenommen,<br />

auch wussten wir, wo auf dem Felde Pferdemöhren angebaut waren, wo<br />

Brennholz zu finden war, usw. Einmal waren wir mit dem Austrieb weit weg auf dem Felde<br />

bei einem Erdhügel = Wasserbehälter, wo zufällig ein Wärter zugegen war, der uns eintreten<br />

ließ in eine kleine Arbeits-/Aufenthaltsstube mit Tisch und Stuhl, ganz unerwartet in der<br />

Feldeinsamkeit. Heute glaube ich, diesen Behälter eingebaut zwischen Gebäuden zu erkennen.<br />

Wenn abends die 52 Kühe wieder im Stall waren, wo auch der Bulle stand, der keinen<br />

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Freigang hatte, dann wartete der in ähnlicher Funktion anwesende große Herr Ziegenbock<br />

bereits im Park auf uns, zum Kräftemessen. Zentrum der Jagd war ein damals noch vorhandenes<br />

trockenes Brunnen-Rondell mit schräg nach innen abfallendem Boden. In dessen Schräge<br />

konnten Mensch und Tier im Rundlauf große Geschwindigkeiten erreichen, wobei man bei<br />

zunehmendem Vorsprung auch schnell hinter dem Bock sein konnte. Das veranlasste diesen<br />

zu plötzlicher Kehrtwendung, worauf man hinausspringen musste und der Freund musste, um<br />

zu retten, im wahrsten Sinne des Wortes „einspringen“ und wieder vorn rennen, um den Herrn<br />

des Parks abzulenken.<br />

Mit Gottfried waren wir auch im Herbst Kartoffeln lesen. Wir waren sozusagen plötzlich<br />

gesuchte Arbeitskräfte, bekamen bei den Bauern auch Mittagessen (dabei lernten wir erstmalig<br />

die gute polnische Küche kennen), manchmal gab es auch Schnitten auf dem Feld, aber<br />

ansonsten war die Realität des Kartoffel-Auflesens dann auf dem Feld doch sehr hart. Oft<br />

haben wir die letzten Kartoffeln unseres Abschnitts direkt vor den Pferdehufen aufgelesen,<br />

dann waren die vollen Körbe bis zum Wagen zu tragen und dort in den hohen Wagen zu<br />

entleeren. Fast zuviel für so kleine Kerle, aber wir haben es geschafft. Die Härte war schnell<br />

vergessen und das Drumherum lockte immer wieder zu einem Einsatz bei einem weiteren<br />

Bauern. Als ich dann Nachricht bekam, ich solle meine Vergütung abholen, waren es auf dem<br />

Handwagen mehr als 3 Zentner Winterkartoffeln, für meine Eltern eine unerwartete Absicherung<br />

der Ernährung bis zum Frühjahr; für mich auch die erste Erfahrung, dass man durch<br />

Arbeit verdienen kann.<br />

Ansonsten hielt ich natürlich wie früher engen Kontakt zum Wierzbicki-Hof, besonders<br />

bezüglich Ausfahrten. Es gab da sozusagen ein Interessengeflecht:<br />

− Frau Wierzbicka wusste, dass sie über mich abends zumindest das Fuhrwerk wieder bekam,<br />

− der Pan wusste, dass er über mich evtl. das Fuhrwerk los wurde (nicht selbst lenken<br />

musste),<br />

− das Pferd Murdel wollte auf jeden Fall auch nach Hause,<br />

− und ich wollte unbedingt mit Pferd und Wagen durch den Ort fahren.<br />

Erinnerlich ist mir eine Fahrt zur Mühle nach Markersdorf und alleinige Rückfahrt,<br />

desgleichen auch eine Fahrt zur niederen Mühle, dort dann ein gewisses Warten mit Pferd und<br />

voll geladenem Rollwagen in Erwartung wie der innere Kampf bei Wierzbicki ausgehen<br />

würde; der trinkfeste Müller lockte und er gab das Zeichen zu meiner Abfahrt. Als ich merkte,<br />

dass ich mich der Hubbrücke näherte (am Wehr vor ehemals Preibisch), wo geheimnisvoll<br />

eine Null, ein Komma, eine 5 und ein „t“ daran standen, war der Weg schon so eng, dass eine<br />

Umkehr unmöglich war. Vor der Brücke schaute Murdel noch einmal kurz zu mir zurück,<br />

dann donnerten wir darüber und alles ging gut, eben deutsche Wertarbeit. Ansonsten war<br />

Murdel ein so kluges Pferd, dass es vor der Brückenrampe zu Hoffmanns Laden von selbst<br />

Anlauf nahm und ich hielt mich für den Rest der Fahrt auf der langsam aufsteigenden<br />

Hauptstraße und konnte dann auf dem Hofe Frau Wierzbicka alles übergeben.<br />

Am Ende dieser Jahresschilderung will ich für meine Enkel noch vermerken, wie<br />

gefährdet kleine Jungen in ihrer Unerfahrenheit manchmal sind:<br />

− In der Scheune bei Wierzbickis waren zeitweise zwei Ochsen im hinteren Teil frei laufend<br />

eingestallt. Aus Erzählung meines Vaters wusste ich, dass auf dem Rittergut in Oppelsdorf<br />

auch ein solches Zugtierpaar sich ganz eng mit einem Jungen angefreundet hatte, nur mit<br />

ihm waren sie bereit zu arbeiten. War er krank, ließen sie sich zwar vor den Wagen spannen,<br />

beim ersten Hüh liefen sie aber unabänderlich mit dem unglücklichen Kutscher bis<br />

nach Reibersdorf und zurück auf den Hof, womit die Schicht beendet war. Bei diesen<br />

Ochsen wollte ich also der befreundete unabkömmliche Junge werden. Ein verdeckter<br />

Zugang zu den Tieren war schnell gefunden und ich begann die Ochsen an mich zu gewöhnen.<br />

Die Dummheit ging nach einigen Tagen soweit, dass ich mich auf einen liegenden<br />

Ochsenfreund setzte, als der Ochse aber seinen Kopf herumschlug und das Horn neben<br />

meiner Wade seinen Körper traf, war der Verstand sofort wieder da und ich schnell vom<br />

Tier herunter und an der Wand herauf, wo das lose Brett war, und fort!<br />

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11. Das Jahr 1949<br />

Hier will ich eingangs von Einkaufpflichten berichten. Eine ernste Sache, für welche man seit<br />

1990 jede Menge großflächige Hallen in die Gegend setzte und die Bevölkerung weitgehend<br />

mit PKW ausrüstete. Von 1945 an war das für unsere Großfamilie aber weitgehend eine<br />

Sache für einen kleine Jungen, nämlich meine. Es gab zwar damals weiterhin Lebensmittelkarten,<br />

d. h. die Fresslust war gebremst, aber es gab nur kleine Läden für viele Leute und<br />

vom Auto lediglich die unter 8. beschriebenen Sandalen unter den Füßen. Vor den Geschäften<br />

waren viele Menschen, die in Schlangen anstanden. Wer vormittags nicht an die Reihe<br />

gekommen war, der blieb über die 1 – 2-stündige Mittagszeit vor verschlossener Ladentür<br />

gleich stehen. Wenn diese dann geöffnet wurde, dann war der Druck von hinten so groß, dass<br />

ich einige Male ohne Bodenberührung in den Laden geschwommen bin, wie ich heute weiß,<br />

eine gefährliche Situation. War man glücklich mit der Ware zu hause angekommen, dann gab<br />

es die Nachaufträge, was die Frauen vergessen hatten, wobei mich Kurt Stein als mein Freund<br />

und Onkel aber unter der Hand zur Verweigerung aufforderte. Wenn uns das Schicksal schon<br />

außerhalb regulärer Schulbildung gestellt hatte und uns damit mit viel Freizeit bedachte, so<br />

war doch irgendwie klar, dass die Freizeit unter den gegebenen Umständen weitgehend in<br />

Nutzen zu verwandeln war. Eine solche Richtung hatte Brennholzbeschaffung. Zwar gab es in<br />

den Haushalten ausreichend Braunkohle, diese brannte aber sehr träge. Brauchte man<br />

plötzlich Flamme, z. B. um Teewasser zu kochen, so konnte das nur über Beifügung von Holz<br />

erreicht werden, ebenso das Anfeuern.<br />

Wir trafen uns zu diesem Zweck mit unseren Leiterwagen (vorher die Räder abgezogen<br />

und die Achsen abgeschmiert), Säge und Beil dabei und fuhren als „Karawane“ in den damals<br />

in Richtung Reibersdorf/Türchau noch vorhandenen Hartbusch. Natürlich mit viel Gaudi<br />

unterwegs, z. B. konnte Leiterwagen an Leiterwagen gebunden werden, im vordersten Wagen<br />

saß einer, der die Deichsel mit den Füßen bediente, alle anderen schoben wie die Feuerwehr<br />

und sprangen bergunter auf. Natürlich ging das fußgelenkte Berg abfahren auch mit<br />

Einzelwagen. Gegen Feierabend kamen wir dann mit Wagen voll geladen mit trockenem<br />

Brennholz auf den heimischen Hof zurück. Wie schon erwähnt, waren wir als Helfer bei den<br />

anliegenden Landwirten auch gern gesehen, z. B. wenn das Heu in die Scheune gebracht<br />

wurde, war es erwünscht, dass es zur Volumenverkleinerung „eingetreten“ wurde. Wie schon<br />

Generationen vor uns, benutzten wir die Gelegenheit von hoch liegenden Balken „einzuspringen“,<br />

und ebenso wie die vor uns hatten wir abends eine voll von Heu zerkratzte und<br />

zerstochene Haut, die sich nur mit Schmerzen reinigen ließ. Indem wir so auf den Höfen<br />

eingeführt waren, standen uns besonders bei Jan Janecki auch an den Schlechtwettertagen die<br />

Scheunen für Spring- oder Ringkampfveranstaltungen offen. Auf Janeckis Hof spielten wir<br />

auch über Jahre ausdauernd Fußball, dabei auch Herr Scholz und Onkel Kurt, also Groß und<br />

Klein in gemischten Mannschaften ausgewogen aufgeteilt.<br />

Die Auseinandersetzungen zwischen Kindern im Ort hatten etwas nachgelassen, vielleicht<br />

auch, weil die gegenseitige Bewaffnung abschreckend geworden war. Die Schottersteine<br />

waren Hochleistungs-Katapulten gewichen, die Kieselsteine zum Verschießen wurden<br />

durch Bleiecken ersetzt, die sich jeder selbst goss und vereinzelte. Wierzbicki, der sich immer<br />

sehr für Waffen interessierte, war beeindruckt, als ich eine solche Bleiecke ca. 1 cm tief im<br />

Holz des Scheunentores versenkte. Er sagte ganz begeistert, das würde auch für einen Hasen<br />

reichen, man müsste nur besser treffen können. Katapult und Bleiecken waren sozusagen eine<br />

unsichtbare, immer vorhanden Waffe in der Hosentasche. Glücklicherweise gab es keine<br />

Unfälle. Gleichermaßen einige hundert Meter weit konnte man mit Pfeil und Bogen schießen,<br />

wenn der Bogen entsprechend und der Pfeil aus trockenem Schilf mit an der Spitze eingelagertem<br />

Nagel war. Aber diese Waffe war unhandlich und auffällig, sie bleib gleichermaßen<br />

ohne Unfälle.<br />

Als ich im Erlbach den Lauf eines historischen Gewehrs fand, baute ich heimlich in<br />

Wierzbickis Scheunen-Werkstatt, aber eigentlich auf der Werkbank meines Urgroßvaters, die<br />

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fehlenden Holzteile an und den Abzugshahn dazu, einen Riemen fand sich auch. Mit dem<br />

fertigen Gewehr auf dem Rücken spazierte ich absichtlich über Wierzbickis Hof, der heftig<br />

erschrak und mir das Gewehr abnahm, dann aber immer wohlwollender grinste und mir das<br />

Ding zurückgab. Gegenüber meinen Eltern äußerte er sich sogar begeistert.<br />

Wenn ich wusste, dass Murdel auf der Weide war, hielt ich mich gegen Abend gern in<br />

Wierzbickis Nähe auf, der erfahrungsgemäß nach des Tages Last und Müh (oder was er dafür<br />

hielt) ungern den Weg zur Weide noch anfügte. Er sah in diesem Fall dann zufällig mich und<br />

sagte in seinen breiten z-za-Buga-Dialekt: „... Aj, Pioter, geh Du“, worauf ich natürlich nur<br />

gewartet hatte. Die Weide befand ich gleich hinter der Oppelsdorfer Straße auf einem<br />

umzäumten Wiesenstück mit einem gemauerten tiefen Brunnen (von welchem meine Vorfahren<br />

wie bereits berichtet aus Holzrohren eine Wasserleitung bis zum Hofe gelegt hatten, bevor<br />

öffentliche Wasserversorgung kam), heute ist das Grundstück bebaut. Ich wollte natürlich<br />

reiten, was nicht so einfach war, denn das große Pferd war sozusagen nackt. Das „Tor“ der<br />

Weide bestand aus einem kniehohen und einem brusthohen Stacheldraht, die jeweils mit<br />

Schlaufen an Nägeln des einen Pfahls hingen. Murdel wartete schon dort, während ich zuerst<br />

den kniehohen Draht beiseite räumte. Dann drückte ich Murdel nahe an den Pfahl und<br />

kletterte auf den Kopf des Holzes, um von dort mit einem Sprung das Pferd zu erreichen, was<br />

aber selten gelang, da Murdel meist wieder einen Schritt beiseite gegangen war. Also wieder<br />

alles von vorn, bis ich dann oben saß, wobei Murdel aber nahe am Pfahl bleiben musste,<br />

damit ich mich an der Mähne festhaltend soweit herunter beugen konnte, um ebenfalls den<br />

oberen Tordraht aus seiner Schlaufe zu heben. Dann ging es stolz heimwärts, wobei das gute<br />

Pferd wahrscheinlich absichtlich im Schritt ging.<br />

Wie bereits erwähnt, wurde Jan Janecki wegen seines Festhaltens an seiner deutschen<br />

Familie aus der Region entfernt. Der Wirt nach ihm hatte auch unser befreundetes Pferd Hans<br />

(er war 44/45 als verwundetes junges Flüchtlingspferd auf dem Heidrich-Hof geblieben)<br />

übernommen. Hans war vor einen Wagen gespannt, der schwer mit Mist beladen war und den<br />

er nicht aus der Senke raus ziehen konnte. Der unbeherrschte neue Bauer hatte schon eine<br />

Holzlatte auf ihm zerschlagen, Hans sprang nur noch in die Stränge und wurde von diesen<br />

entsprechend zurückgeworfen und drohte auf den glatten Steinen der Mistsenke zu Boden zu<br />

gehen. Wir standen entsetzt dabei. Glücklicherweise war es die Zeit, wo Alfred Scholz von<br />

der Arbeit kam, den seine Jungs sofort holten. Er durfte helfen. Hans barg geradezu seinen<br />

Kopf an ihm und wurde langsam beruhigt. Dann gingen wir alle an den Wagen, ich weiß noch<br />

wie das Pferd zu uns zurückblickte und dann ruhig, kräftig und nicht nachlassend den Wagen<br />

her auszog, von Alfred Scholz geführt.<br />

In der zweiten Hälfte des Jahres erkrankte ich schwer an Gelbsucht. Ich meine zu wissen,<br />

dass ich in einer schweren Fiebernacht nahe daran war, auf die andere Seite hinüber zugehen.<br />

Bei meiner Schwäche war es für meine Genesung eine sehr große Hilfe, zu wissen, dass<br />

wieder ein deutscher Staat gegründet war. Wir waren nicht mehr staatenloses Freiwild, es<br />

konnte nur noch besser werden.<br />

In unserem Haus und drumherum wuchs in dieser Zeit immer spürbarer die Generation<br />

der 1947 geborenen heran. Hauptversammlungsraum war wie früher Großmutters Küche.<br />

Nach der Geburt meines Vetters Dieter Stein war Kora zu uns übergegangen (bei Wierzbickis<br />

blieb eine Tochter von ihr), um sich besorgt um seine Erziehung zu kümmern. In einer Zeit,<br />

wo andere Kleinkinder noch krabbeln, lief Dieter schon, indem er sich an Kora festhielt.<br />

Wenn man ihn haben wollte, musste man nach Kora rufen, die erschien dann ganz langsam<br />

aus der damals noch dichten Bepflanzung des Gartens, mit dem angekrallten Schützling. Sie<br />

war in den Folgejahren immer in der Nähe der größer und älter werdenden Spielschar zu<br />

finden, wenn einer von diesen Kumpels ein Spielzeug mitnehmen wollte, hielt sie ihn<br />

angeblich von hinten fest.<br />

Zum Ende des Jahresberichts will ich noch den wahrscheinlich für mich gefährlichsten<br />

Vorgang bringen. Es muss im Spätherbst gewesen sein, wo ich mit Wierzbicki Mist<br />

ausbringen war. Er beauftragte mich den leeren Wagen auf den Hof zurückzufahren. Es waren<br />

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fremde Pferde vorgespannt, die zurückgegeben werden mussten. Ein solcher Mistwagen hatte<br />

bei der Leerfahrt keine Seitenbretter, alles wurde flach auf den Wagenboden gelegt. Als ich<br />

auf dem Feldweg war, ließ ich die fremden Pferde leichtsinnigerweise beschleunigt laufen,<br />

welche Fahrt mit den fremden Rössern immer schneller wurde, ich dabei frei stehend auf dem<br />

schmalen Bodenbrett, der Ackerwagen über Steine springend. Die Tiere ließen sich nicht<br />

zügeln und zur Oppelsdorfer Straße war es nicht mehr weit, gegenüber war der Straßengraben.<br />

Eine gewisse Ermattung und vorhandener Pferdeverstand und auch mein zügeln, ließ vor<br />

der Straße die Tiere wieder vernünftig werden, da war ich sehr froh.<br />

12. Das Jahr 1950<br />

Es war mein letztes Jahr nur in Reichenau und ich muss nachdenken, über was denn noch<br />

nicht berichtet wurde.<br />

Da wäre zu Jahresanfang im Winter über das Skifahren zu berichten. Noch mein Vater<br />

musste in seiner Kindheit/Jugend in Oppelsdorf nach einem alten Fass suchen, dessen Dauben<br />

mit seitlich angenagelten Riemen zu Schneeschuhen wurden.<br />

Stöcke fanden sich im Gebüsch. Da hatten wir es mit aufgefundenen Restbeständen<br />

schon besser. Weihnachten 49 war die Bescherung für mich scheinbar sehr sparsam geworden,<br />

womit ich mich schon abfinden wollte, als die Eltern mir lächelnd empfahlen, doch noch<br />

unter den Tisch zu sehen. Dort lagen ein Paar lange Skier der damaligen Spitzenklasse aus<br />

zweiter Hand. Das war ein innerer Jubel. Nicht lösbar durch meine Eltern war die Frage von<br />

Winterschuhen. Diesbezüglich versorgte ich mich immer selbst aus einem Haufen Uralt-<br />

Schuhe auf dem Hausboden von früheren Preibisch-Generationen. Gleichfalls hatte ich<br />

herausbekommen, dass Socken nicht unbedingt lebensnotwendig waren. Man konnte auch gut<br />

39<br />

Familie Scholz


mit Fußlappen leben. Noch heute beherrsche ich ganz automatisch die Handgriffe, die für das<br />

Anlegen von Fußlappen notwendig sind. In diesem Winter aber erinnere ich mich, dass ich<br />

auf dem Boden nur die Auswahl zwischen hoch hackigen hoch geschnürten Damenschuhen<br />

aus der Kaiserzeit hatte und den abgelegten Arbeitsschuhen eines Preibischs, der schon im<br />

Erwachsenenalter gewesen sein musste. Für letztere stellte ich notgedrungen die Skibindung<br />

ein. Es stellte sich heraus, dass selbst doppelte Fußlappen diese Schuhe nicht ausfüllten,<br />

weshalb ich sie im Kaninchenstall straff mit Heu ausfütterte. Anfangs ging auch alles gut, die<br />

Schwierigkeit mit den langen Skiern nahm aber zu, als das Heu in den großen Schuhen<br />

zerkrümelte, d. h. Kurvenfahren war fast immer ein stiller Versuch mit Sturz. Wir fuhren auch<br />

schon viele Jahre Schlittschuhe, diese konnten wir bei Paul Weigelt zeitweise abgeben für die<br />

Erneuerung des Schliffs, dann brauchte es nur noch guter Riemen, um die Dinger fest an die<br />

Schuhe zu binden und so ausgerüstet konnte man auf dem Eis des Husaren-Teiches Eishockey<br />

spielen, die Schläger schnitt sich jeder aus dem Gesträuch. Im Husaren-Teich, d. h. im abgesoffenen<br />

ehemaligen Bergwerk dort, hatte ich bis 50 auch Schwimmen gelernt. Alle meine<br />

Sportausübungen war in der Regel an die sehr sportliche Scholz-Familie (Vater und 3 Söhne)<br />

gebunden, die damals schon über 3 Fahrräder verfügten und Gottfried und mich auf der<br />

Querstange mitnahmen.<br />

Von links: Webmeister Walter Wildner, Chemiker Gerhard Hirsch, Johannes Scholz, Elektriker Werner<br />

Zimmermann, Webmeister Achim Schulz, Färber Max Ludwig, Webmeister Kurt Beyer, Webmeister Kurt<br />

Lachmann, meine Person.<br />

Vorn sitzend: Webmeister Kurt Stein und Jungen Gottfried Scholz, der kleine Wolfgang Wildner, Rainer<br />

Colavincenzo und andere Söhne.<br />

In diesem Jahr fanden wir uns über Mundpropaganda auch sonntags auf den Fußballplätzen<br />

in Markersdorf (nahe Colarinzezo-Gärtner) bei Bräuers Fabrik oder auf einer vereinbarten<br />

brauchbaren Wiese zusammen, um Alt- und Jung miteinander Fußball zu spielen.<br />

Gleichfalls begann in diesem Jahr die Freundschaft mit Manfred Horn/Domagalla und<br />

Klaus Joschko. Beide aus besser gestellten Arztfamilien, die schon damals jährlich ihren<br />

Seeurlaub machten, was für mich natürlich eine fremde und verzichtbare Sache war. Manfred<br />

war bis 1950 bei tschechischen Verwandten aufgewachsen und hatte dort auch die Schule<br />

besucht. Nach seine Übersiedlung nach Bogatynia besuchte er die polnische Grundschule und<br />

konnte sich sprachlich schnell umstellen. Schwieriger hatte es Klaus Joschko, der bis ca. 1949<br />

vom Großvater (Dr. vet.) geschult wurde, schnell einen hohen Wissensstand bekam, dieses<br />

40


Wissen in der polnischen Grundschule wegen Sprachschwierigkeiten aber nur schwer anwenden<br />

konnte. Er war der älteste von vier Brüdern (ein fünfter gesellte sich später noch hinzu)<br />

und stand wie seine Mutter feststellte, sozusagen früh verernstet und einsam an der Spitze,<br />

weshalb aus mütterlicher Fürsorge meine Person, die äußerlich als wohlerzogen galt, ihm als<br />

Freund zur Seite gestellt werden sollte.<br />

Diese Einschätzung wurde aber sofort, sozusagen bei meinem ersten Besuch bei<br />

Droschke, stark ausgehebelt. Ich fand in Klaus einen hoch interessierten Partner in Fragen<br />

Waffen und indem für ein Katapult die Zutaten im Umfeld augenblicklich nicht beschaffbar<br />

waren, entschlossen wir uns einen Bogen zu bauen. Klaus beschaffte sofort ein großes Messer<br />

aus der Küche, ein Fliederstrauch mit bestem zähen Holz stand nahe bei. Als wir diesen mit<br />

vereinten Kräften zu Boden gebogen hatten, Klaus mit Körpergewicht hielt und ich am Fuße<br />

den Lebensnerv sozusagen schon durchschnitten hatte, kam Frau Dr. zufällig vorbei, um sich<br />

an uns zu erfreuen. Kurzum, die mütterliche Ermahnung dieser temperamentvollen Dame<br />

hielt sich zwar in Worten, war aber so durchdringend, dass wir wie nasse Lappen verblieben.<br />

Wir wurden zwar nicht eilends wieder getrennt, aber einen Bogen haben wir nie mehr gebaut,<br />

man braucht dazu eine beruhigte Erinnerung. Für mich sprach wohl auch, dass ich mich den<br />

kampflüsternen drei Kleinbrüdern als Sparringspartner zur Verfügung stellte, d. h. ich wurde<br />

(einvernehmlich) in ein abgelegenes verdunkeltes Zimmer gebeten, wo alles was Joschko hieß<br />

mich zu Boden rang, allerdings ging der Erfolg nie soweit, dass ich dort bewegungslos wurde,<br />

auch wurde sich im Zeitlupentempo bewegt, um kleinere Kämpfer nicht zu beschädigen. So<br />

herrschte den im Hause Joschko lange Zeit ganz erstaunliche Ruhe, höchstens dass ab und zu<br />

ein Stuhl um fiel.<br />

41<br />

Dr. med. Joschko mit Söhnen Klaus und<br />

Werner


Bei Joschkos zu einem Kinder – Geburstag<br />

Viel lauter ging es zu beim Fußballspielen auf dem Hofe, auch dort rang die Joschko-<br />

Mannschaft verbissen um den Sieg. Als eine zu Besuch weilende Dame eine jugendliche<br />

Anwandlung bekam, sich einmischte und auf das Joschko-Tor schoss, stellte Klaus erbittert<br />

und für die Besucherschar hörbar klar: „.. mit krummen Beinen schießt man kein Tor!“, was<br />

solange zum Spielabbruch führte, bis er sozusagen gewaschen und gekämmt sich öffentlich<br />

entschuldigte, wobei aber alle Anwesenden das alte Siebenbürger Sprichwort kannten –<br />

„Kinder und alte Leute sagen die Wahrheit“ – und die Sache zumindest im Ansatz unterschwellig<br />

bestätigt fanden.<br />

Das Leben in Bogatynia wurde in dieser Zeit durch interessante Filme aufgewertet. Der<br />

erste bewusste Kinobesuch des Lebens, mit meiner Schwester, auf den Plätzen 96 und 97 war<br />

„Tarzan“, später folgten „Zorro“ und dann „Der Graf von Monte Christo“, auch „Wolfsblut“<br />

(von Jack London) wurde gegeben.<br />

Was die Wolfsabkömmlinge von Bogatynia, also die Hunde anbelangte, so gab es unter<br />

diesen eine große Gruppe von Freigängern, die von Hochzeit zu Hochzeit ausrückten. Wenn<br />

es bei Kora soweit war (und dazu kam noch ihre Tochter Foxine, die bei unserer Familie<br />

lebte), so waren ständig ca. 20 Freier um unser Grundstück herum, darunter auch riesengroße,<br />

die kleine Konkurrenten unwillig in den Hintern bissen und ansonsten nächtens so tief<br />

grollten, dass es klang, als belagere ein Löwenrudel unser Haus. An einem dunklen stürmischen<br />

Abend, als alle schon zur Ruhe gehen wollten, klinkte es an unserer Haustür. Von uns<br />

wurde Innen gefragt: „Wer ist denn da?“ aber Draußen herrschte Schweigen, nur die Klinke<br />

ging weiter. Großmutter schlussfolgerte, dass es verfolgte Neißegänger sein könnten, die sich<br />

nicht äußern durften und öffnete im Dunkeln die Haustür. Herein zur Tür kam würdevoll ein<br />

großer Schäferhund, der ohne sich umzusehen durch den langen Flur schritt und die Tür zur<br />

Küche öffnete, wo die heiße Braut Kora wartete. Im Kriegsrat der Männer wurde beschlossen,<br />

zur Wiedergewinnung des Heims keinen Frontalangriff zu wagen, sondern die Türen nach<br />

Außen zu öffnen und durch die Veranda mit Spießen und Stangen einzudringen. Ein diesbezügliches<br />

Handeln führte dann auch zum würdevollen Abgang des Liebespaares. Als Kurt zur<br />

Frühschicht ging, sah er im Frühnebel das Paar an der Wegkante sitzen und in die Stadt<br />

hinunter sehen, wobei Kora an die breite Brust des Geliebten anlehnte. Ansonsten ging das<br />

Leben einen ruhigen Lauf, da war es schon eine Ausnahme, wenn morgens bei Wierzbicki in<br />

der Scheune die Dreschmaschine wummernd anlief. Da ging man nebenbei nachsehen, wer<br />

wohl was machte und stellte fest, dass niemand das Stroh von der Tenne schaffte, also nahm<br />

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man ohne Überlegung eine Gabel, um einen Moment zu helfen, bald aber kam die Ernüchterung,<br />

weil niemand Erwachsenes kam und man einmal eingereiht schlecht weggehen konnte.<br />

Da schleppte man also und schleppte und die Dreschmaschine ging bis Mittag auch nicht<br />

kaputt. Dann war noch eine Hoffnung „Die könnten mich ja zum Mittagessen mitnehmen!“,<br />

aber dann gingen alle ohne sich umzusehen ins Haus und ich musste in meine Richtung gehen,<br />

und am Nachmittag, wenn die Maschine wieder anlief, war ich wie unter Zwang wieder<br />

dabei. In dieser Zeit begann ich mir bewusst zu werden, mit was für guten Großeltern ich<br />

bedacht war und ich machte das deutlich in dem ich deren Haushalt mit Holz und Kohle<br />

versorgte. Auch sah ich im Garten, dass die hintere Bank nur noch ein Sitzbrett besaß und zu<br />

reparieren war. Eine 2-m-Bohle war schnell gefunden, den Wierzbicki hatte eine solche an<br />

den Wegrand geworfen. Als er aber nach Tagen sein Wertstück suchte, war das bereits von<br />

mir eingebaut und jemand hatte mich wegschleppen sehen. Großvater bot finanzielle Sühne<br />

oder Rückgabe an. Als wir uns aber bei der Affäre in die Augen sahen, erließ Wierzbicki<br />

alles.<br />

Damit in etwa endet mein aktiver Lebenslauf mit ihm. In späteren Jahren, als Erwachsener<br />

zu Besuch in Bogatynia, war ich auch immer bei Wierzbickis, die dann in einer Stadtwohnung<br />

wohnten. Er arbeitete als Wache (mit Gewehr!) am Sprengstofflager der Kohlegrube.<br />

Das Jahr will ich wieder mit dem Unangenehmen beschließen:<br />

− Die ca. 200 in Bogatynia und Umgebung verbliebenen Deutschen stellten eine Liste der<br />

Verdienenden auf und eine solche von alleinstehenden Alten, die keinerlei Bezüge hatten.<br />

Es kam zu einer Umlage der Verdienenden an die Bedürftigen. Es war aber noch die Zeit<br />

des Stalinismus und ehrgeizige Geheimdienstler stellten das als eine entdeckte Verschwörung<br />

der Deutschen heraus. Da waren wir alle in großer Gefahr, aber die Anwesenheit<br />

deutscher Staaten und die Intervention der Betriebsdirektoren ließen es nicht zu einer<br />

Deportation kommen, nur verhört wurde.<br />

− Gedenken will ich hier auch der vielen polnischen Kinder, die von 45 an mit Munition<br />

spielten und zerrissen oder verkrüppelt wurden. Dabei denke ich auch an einen jungen<br />

Deutschen, der ein Maschinengewehr vergrub, mit dem Kinder gespielt hatten. Das brachte<br />

ihm Jahre schweren Straflagers ein. Er wohnt heute noch in Bogatynia.<br />

− Die Brotverteilung an die Läden erfolgte in Bogatynia durch einen gedeckten Pferdewagen,<br />

mit dessen Kutscher wir befreundet waren und auf dessen Wagen wir hinten mitfahren<br />

durften. Einmal begingen wir den Fehler, hinten aufzuspringen ohne uns bei ihm gemeldet<br />

zu haben. Er dachte es wird Brot gestohlen und schlug mit der Peitsche nach hinten. Der<br />

erste Hieb traf mich auf das linke Auge und während ich noch erstarrt saß, kam der zweite<br />

Schlag auf das rechte Auge. Ich fiel mit den Händen vor dem Gesicht vom Wagen und<br />

Gottfried führte mich, dann ich sah nichts mehr. Nach ca. 15 Minuten kam aber langsam<br />

wieder das Licht auf beide Augen. Ich glaube bei der Niederschrift heute noch meine<br />

Verzweiflung bis zum ersten Lichtschimmer zu spüren. Unglück kommt eben unverhofft<br />

oft will ich meinen Enkeln sagen und man sollte alle Handlungen im Voraus gut bedenken,<br />

um ihm zu entgehen.<br />

13. Das Jahr 1951<br />

Weihnachten und Wintervergnügen wie schon beschrieben. Nachzutragen wäre noch das vor<br />

allem winterliche Basteln mir Märklin- und Stabilbaukästen. Teils ererbt, teils in emsiger<br />

Suche auf Schutthalden gefunden und mit Drahtbürste und Farbe wieder aufbereitet, bauten<br />

wir mit diesem Material auf tischgroßen Holzplatten eine durchgehende Transmissionswelle<br />

auf, setzten einen E-Motor oder eine Dampfmaschine als Antrieb an diese und links und<br />

rechts angetriebene selbst gebaute Maschinen aller Art. Auf gleicher Material-Basis auch<br />

lenk- und bremsbare LKWs und Anhänger.<br />

Vor Ostern in diesem Jahr bekam unser Vater einen Hinweis, dass sein Elternhaus in Bad<br />

Oppelsdorf am Ende der Villenstraße leer stehe. Beim Osterspaziergang mit der befreundeten<br />

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Familie Reimer (er aus Siebenbürgen, sie Tochter vom Zückert-Schneider) wurde uns das<br />

bestätigt. Erinnerlich ist mir auch, dass wir in Donaths Bierstuben einkehren konnten. Nach<br />

eingehender familiärer Aussprache entschieden sich die Eltern wegen des Hauses in der<br />

Gemeindeverwaltung vorzusprechen. Dort trafen sie auf den Bürgermeister Szymków und auf<br />

Frau Jagodzinska. Letztere, eine gut Deutsch sprechende Südpolin (aus dem ehemaligen<br />

Österreich) mit entsprechend freundlichem Wesen, setzte sich sehr für die neue Nachbarschaft<br />

ein, denn sie wohnte auch auf der Villenstraße, im Haus welches bis 1945 die Familie Bernert<br />

gemietet hatte (aus welcher meine Frau Karin stammt). Wir konnten also das Haus mieten<br />

und im Vertrag ist erstaunlicherweise das Haus als Eigentum, über welches zur Zeit nicht<br />

verfügt werden kann, vermerkt. So konnten wir denn das Grundstück betreten. Von Außen<br />

gesehen links vom Gartentor nahe am Zaun waren damals noch die Gräber von Mutter und<br />

Tochter Hartdorf zu sehen, unseren Mietern, die 1945 den Freitod gewählt hatten und u. a.<br />

von meiner Schwiegermutter mit geborgen wurden. Aber davon wussten wir damals nichts.<br />

Das Haus selbst war abgewohnt, der Fußboden teilweise brüchig, vom Mobiliar nichts mehr<br />

vorhanden, auf dem Hofe Unordnung. Für die Instandsetzung hatten wir im Grunde keine<br />

Geld. Von BZPB, dem Arbeitgeber meines Vaters, gab es aber eine Unterstützungserklärung<br />

und unter den restlichen Deutschen gab es viel nachbarliche Solidarität, d. h. nur die Schnitten<br />

und den Tee für das Abendbrot boten wir für Arbeit. Dabei für mich immer wieder erinnerlich<br />

Alfred Scholz, der Mann mit den goldenen Händen, bei dem ich in dieser Zeit viele handwerkliche<br />

Praktiken zum ersten Mal sah. Seine größeren Jungs waren von Fall zu Fall auch<br />

anwesend. Zuletzt der Reichenauer Zimmermann Maler und dann sind wir irgendwann im<br />

Frühsommer eingezogen.<br />

Wir waren aber nicht die einzigen Deutschen, denn in Wald war das alte Ehepaar August<br />

Scholze nicht ausgesiedelt worden. In dem Schwester Else, die Diakonissin war, in der<br />

Friedehofskapelle regelmäßig sonntäglichen Gottesdienst hielt, konnten versprengte Deutsche<br />

dort mit den anderen Kontakt aufnehmen und halten. So auch August Scholze, der nach dem<br />

Tode seiner Frau Betreuung vor Ort durch die Schwestern Else und Margarete erhielt, in die<br />

deutsche Rentenumlage einbezogen wurde und sonntags von Familie zu Familie zum Essen<br />

ging. So war er uns auch schon von früher bekannt. Unser Nachbar war der Bürgermeister<br />

Szymków, dessen Frau gut deutsch sprach, da sie in einer deutschen Familie dienstverpflichtet<br />

war, aber ohne Groll, denn sie wurde freundlich behandelt. Sie hatte bald engen Kontakt<br />

zu meiner Mutter. Ihre zwei Söhne waren zwar jünger als meine Schwester, konnten aber<br />

noch ins Spiel einbezogen werden. Bald waren wir auch mit Dr. Jarmata und Familie bekannt,<br />

sowie mit Familie Kaminski (aus Litauen) mit den Söhnen Rajmund, Richard und Stanislaus.<br />

Ganz glücklich waren meine Eltern über die Reaktion des Schulleiters Nadachowski, der auf<br />

Deutsch gesagt hatte: „Diese Kinder sofort in die Schule!“.<br />

So ging ich denn mit 12 Jahren Anfang September erstmalig in die Schule, mit meiner<br />

Schwester in die 3. Klasse. Die Sache drückte mir gewaltig auf die Psyche, besonders wenn<br />

wir in der Öffentlichkeit unterwegs waren. Aller Blicke sah ich dann auf mich gerichtet, da<br />

ich inmitten der Kleinen als notorischer Sitzenbleiber erscheinen musste. Dazu kamen noch<br />

die Jarmata-Zwillinge Clara und Dangola, zwei sehr hübsche Mädchen, mit denen wir im<br />

Ansatz schon bekannt geworden waren, die vom Äußeren wie aus einer anderen Welt kamen<br />

und die auch in den Pausen 2 Klassen über mir Zurückgeblieben eingeordnet waren, da durfte<br />

ich mir wirklich kein Hoffnungen machen. Trotzdem beschloss ich wenigstens von Ferne eine<br />

zu verehren, praktischerweise die mit den deutschen Rufnamen Clara, als ich sie aber übers<br />

Jahr besser auseinander halten konnte, merkte ich , dass es Dangola war. Den Bruder der<br />

beiden, der ca. 5 Jahre älter war, ein Fahrrad mit Tretlager-Gangschaltung fuhr und im Bad<br />

vom 10-m-Turm Kopfsprung machte, habe ich mir nie getraut anzusprechen.<br />

Im Oppelsdorfer Bad sah ich in diesem Jahr auch ein wunderschönes junges deutsches<br />

Ehepaar, scheinbar Lichtjahre von uns armen Häuslerleuten entfernt, die ich mir als<br />

Erscheinung einprägte, weil es mir nicht vorstellbar war, dass sie als Siegfried und Margot<br />

Domagalla jeweils in mein Leben treten würden.<br />

44


Im Schulunterricht ergab sich erst einmal eine kritische Phase, da die Lehrerin für mich<br />

wie aus sprachlichem Nebel agierte. Dieser Nebel lichtet sich aber von Monat zu Monat mehr,<br />

dabei war unsere Klassenlehrerin Frau Nadachowska eine sehr angenehme Frau, die ich zu<br />

verehren begann und der gegenüber ich niemals Versagen wollte. So kam es, dass ich vor<br />

Weihnachten das beste Diktat schrieb und ganz unvorhergesehen zum Halbjahr schon in die<br />

vierte Klasse versetzt wurde, für mich wahrlich ein Riesengeschenk. Indem wir jetzt zur<br />

Schule gingen, gibt es von diesem Jahr weniger Ereignisse als früher zu berichten. Natürlich<br />

waren wir weiterhin mit Reichenau verzahnt, die Großeltern und Steins waren bei uns und wir<br />

bei ihnen. Von Bogatynia hatten wir 2 mittelgroße Hündinnen mitgebracht, die schlaue Kora-<br />

Tochter Foxine (sie sah immer wie ein junger Schäferhund aus) und Thedda. Letztere fand<br />

sich in unserem Reichenauer Kaninchenstall und als ich den für mich fremden Hund mit dem<br />

Besen vertreiben wollte, brach sie vor Angst uns Schwäche zusammen. Mit so nachgewiesener<br />

Bedürftigkeit durfte sie bleiben und schloss sich uns glücklich an.<br />

Da in Oppelsdorf nur zum Nachbarn und zur Straße Zaun stand, hatte ich Veranlassung<br />

dort häufig vom Hause einen mittelgroßen kräftigen Hund zu vertreiben, der aber immer<br />

wieder erschien. Als ich an einem Winterabend die Haustür öffnete, lag er vor dieser und<br />

konnte nicht flüchten, denn er war am Abstreicher angefroren. Vater und ich trugen ihn<br />

vorsichtig, denn er konnte ja bissig sein, mit dem Abstreicher in die Wohnküche. Wir konnten<br />

aber unbesorgt sein, denn Tarzan, so wurde er genannt, war die Gutmütigkeit in Person und<br />

wir trugen einen Vertriebenen zurück in sein Paradies, denn er war (wie wir später erfuhren)<br />

im Hause groß geworden und später zu anderen Leuten gekommen, die ohne ihn weg zogen.<br />

Vom Jahresende habe ich die Erinnerung, dass wir am Kretscham auf den Autobus nach<br />

Bogatynia warteten, es war Frost und kein Schnee und ich hatte mein Weihnachtsgeschenk,<br />

einen Fußball, zum Spielen bei mir.<br />

14. Das Jahr 1952<br />

Es begann wie immer mit Wintersport, aber jetzt am anderen Ort mit teilweise neuen Teilnehmern.<br />

Der andere Ort war Leupolts Berg, der damals nur auf seiner Kappe bewaldet war, ganz<br />

vorn zu Oppelsdorf mit einer uralten halb verbrannten Linde als Aussichtspunkt mit Bänken.<br />

Der heutige Wald am Hang zur Straße war damals noch eine Viehweide, aber diese oberhalb<br />

des Schnees schon braun von Birkenschwuppen bis 1 m hoch, welche in Begriff waren, die<br />

Weide in Besitz zu nehmen. Als Mutprobe habe ich eine Schussfahrt durch diesen Bewuchs,<br />

der mir grade noch erträglich gegen die Beine schlug, gemacht. Heute steht dort Hochwald.<br />

Schon zu meines Vaters Zeiten war Leupolts Berg ein Abenteuerplatz der Oppelsdorfer<br />

Jungen, welcher Platz aber zeitweise von den Lichtenberger Jungen angegriffen wurde (die<br />

ihre scharfen Hofhunde mitbrachten) und verteidigt werden musste (alles unter der Hand<br />

abgesprochen). In Bezug auf die Übermacht der kräftigen Lichtenberger Bauernjungen und<br />

deren schlimme Hunde, konnte nur donnernde Abschreckung helfen, weshalb ein Oppelsdorfer<br />

eine historische Reiterpistole seines Vaters von der Wand nahm, (die wollte er bis Feierabend<br />

wieder hin hängen) welche im Geäst der Linde angebunden wurde, mit einer langen<br />

Drachenschnur am Abzug. Damit es richtig donnert, schüttete man doppelt Schwarzpulver auf<br />

die Pfanne. Als die Lichtenberger nahe genug heran waren, zog man aus der Ferne ab und es<br />

gab einen Donnerschlag, der weithin widerhallte. Die bösen Hunde liefen in Voraus Richtung<br />

Lichtenberg, die Besitzer hinterher. Der Sieg war also vollkommen und man rollte die<br />

Abzugsschnur ein bis zur Pistole, von der fand sich aber nur noch der Kolben am Fuße der<br />

Linde und mein späterer Vater musste der Auseinandersetzung mit seinem Vater einsam<br />

entgegen gehen.<br />

Bald waren wir nicht mehr der neueste Zuzug in Oppelsdorf, denn aus Südostpolen, wohl<br />

wegen einer Grenzänderung wegen Erdöl dort, kamen die Bauernfamilien der Brüder<br />

Legażynski ins Dorf. Einer wurde auf Donaths Gut nahe der Kirche gesetzt, der andere auf<br />

Robert Flaschners Hof, der schon einige Zeit leer stand (von dort auch unser Hund Tarzan).<br />

45


Zum Hof und den Personen dort hatten wir schon immer ein enges Verhältnis (Robert<br />

Flaschner war meines Vaters guter Freund, ich und auch meine spätere Frau Karin waren bis<br />

45 dort Milch holen.) und rasch waren wir mit den neuen Wirten (dort auch die Söhne Franek<br />

und Józek im Alter meiner Schwester) gut bekannt geworden. Es war schnell zu sehen, dass<br />

die Legażynskis ordentliche und tüchtige Bauern darstellten und dass sie als Spätumsiedler<br />

nicht auf Rosen gebettet wurden, da die Höfe 1952 nach Leerständen nur sehr spärlich ausgerüstet<br />

standen und irgendeine Unterstützung wird es wohl nicht gegeben haben. Als Milchkunde<br />

habe ich diesen schweren Anfang der Familie wahrgenommen. Zu Legażynskis hatten<br />

wir schnell ein sehr gutes nachbarschaftliches Verhältnis, auch stellte man fest, dass man in<br />

der Vorgeneration gemeinsam unter Österreich war, besonders verunsicherte unglückliche<br />

Umsiedler sind ja dankbar für jedes gute Wort und für jede entdeckte Gemeinsamkeit in der<br />

neuen fremden Heimat. Erinnerlich sind mir die Schwierigkeiten, die der Bauer aus Südostpolen<br />

anfangs mit unserem schweren lehmigen Boden hatte. Der bei uns anliegende ca. 1 ha<br />

große Acker war etwas zu tief umgeackert worden und oben lagen harte ausgetrocknete<br />

Lehmschollen, von der Egge kaum zu zerstören. Legażynski ging breitbeinig die Furchen<br />

entlang und der hagere große Mann zertrümmerte in tagelanger Arbeit mit einem langstieligen<br />

schweren Hammer mit gewaltigen Schlägen die Lehmbatzen. Sein offener Kittel flatterte im<br />

Herbstwind. Das war ein Pole, wie wir einen solchen noch nicht kennen gelernt hatten, da<br />

kämpfte ein Mann um eine gute Ernte, um seine Familie durchzubringen (ein kleines Mädchen<br />

war noch dazugekommen).<br />

Im Frühjahr ergab sich in meinem inneren Leben ein Wendepunkt. Ich saß allein im<br />

Garten auf einem Holzstapel und sah über alles darüber hin. Langsam stieg in mir ein tiefes<br />

Glücksgefühl hoch, ganz unbeschreiblich. Plakativ vergleichbar, als wenn die Sonne aus<br />

dunklen Wolken über die Landschaft scheint, nur dass dieses Gefühl bis zur letzten Stunde in<br />

Oppelsdorf bei mir blieb. Ich ging also durch Haus und Garten und sah, was alles zu machen<br />

war und war froh darüber. Natürlich blieb ich auch ein 12-jähriger Junge und baute auf die<br />

Zweige des großen Ahornbaumes eine Hütte, an dem waagerechten Ast eines hohen Baumes<br />

in der anderen Gartenecke zum Feld eine Schaukel, aber ich sortierte auch auf dem Hof das<br />

Holz in brauchbar und in Feuerholz. Wir hatten ein weißes Zieg-Zickel eingestallt und ca. 6<br />

Hühner. Der Mist wurde gesammelt und kam im Herbst auf drei ca. 20 m² Gartenflächen, die<br />

ich umgrub. Im Spätherbst wurden für die heranwachsende Ziege viele Säcke mit Laub gesammelt<br />

als Einstreu. Ein Stadel mit Heu wurde auch angelegt.<br />

Die deutsche Gemeinschaft hatte sich immer mehr gefunden und gestaltete am Wachberge<br />

in Markersdorf ein Sommerfest. Bei der geringen Zahl der Deutschen und deren Verstreutheit<br />

ging das natürlich nur, wenn ca. jeder Zweite an Vorbereitung und Durchführung<br />

teilnahm, es war also ein großer Anlauf erforderlich. Für uns Kriegs-/Nachkriegskinder war<br />

dieses Fest wie ein Wunder. In der oberen Ecke des großen Gartens spielte eine deutsche<br />

Kapelle, dabei die Webmeister Wildner und Stein sowie der technische Zeichner Galenski. Es<br />

gab betreute Spiele für Kinder wie Sackhüpfen, Reifenwerfen u. a. An einer Kletterstange<br />

oben hingen Preise. An einem hohen Mast war ein stolzer Adler aus Sperrholz angebracht.<br />

Geschossen wurde unter Aufsicht mit uralten Armbrüsten, die mit Hebel von zwei Männern<br />

gespannt wurden und den mindestens 40 m entfernten stolzen Adler immer mehr Federn<br />

nahmen. Ich durfte auch schießen und habe den Vogel empfindlich getroffen (man konnte ja<br />

seit Jahren Pfeile gut berechnen). Laduschek, Vater und Sohn, spielten Szenen aus dem<br />

Volksleben, Essen und Trinken gab es reichlich. Es war ein gelungenes Heimatfest geworden,<br />

die Rest-Reichenauer hatten den Kindern und sich ein Stück gute Erinnerung vorgeführt.<br />

46


Erntedankfest in der Evang Friedhofskappelle<br />

Frau Joschko, Fam. Rudolf Fischer, Siegfried Domagalla, mit Ehefrau; meine Eltern<br />

Viel für den Zusammenhalt der Reichenauer bewirkten die sonntäglichen Gottesdienste,<br />

die von Schwester Else in der evangelischen Friedhofskapelle abgehalten wurden. Auch hier<br />

stand das alte Reichenau scheinbar wieder auf, es wurde nur Deutsch gesprochen, man traf<br />

viele Bekannte, hörte Neuigkeiten, traf Verabredungen. Zum Erntedank war die Kapelle<br />

wunderbar geschmückt. Wo wir auch hingestellt waren, von den Rest-Reichenauern gab sich<br />

jeder Mühe, dass Nichts schlechter ausfalle als früher, der Umgang miteinander war wohl<br />

auch herzlicher.<br />

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Eine andere Form des Zusammenfindens waren sozusagen die Führung eines Salons bei<br />

Frau Dr. Joschko, wo empfohlene Ehepaare auf dauerhafte Gesellschaftsfähigkeit geprüft<br />

wurden und dabei sich auch gegenseitig kennen lernten.<br />

Wir hatten dabei den Bonus einer landschaftlich schönen Außenstelle und es war für<br />

mich wie ein Wunder, dass das junge schöne Paar Siegfried und Margot Domagalla (bekannt<br />

aus dem Schwimmbad) zu uns zu Besuch kam, ebenfalls Rudolf Fischer mit seiner blonden<br />

Frau Jenny, natürlich auch Joschkos. Siegfried Domagalla gehörte als Flugzeug-Ingenieur zur<br />

deutschen Olympiamannschaft Schwimmen und war als Flieger im Einsatz, zuletzt als<br />

Nachtjäger. Rudolf besaß einen tschechischen Pass, hatte den Wehrdienst abgelehnt und war<br />

ins KZ Buchenwald gekommen. Er war in einem Alter, wahrscheinlich in einer Schulklasse,<br />

mit meinem Onkel Kurt Preibisch, dessen Weg ich bereits beschrieben habe. Auch Rudolf<br />

kam schwer beschädigt aus deiner Haft zurück. Krieg ist wie das Aufstoßen der Tore zur<br />

Hölle, die jungen Männer können dann nur zwischen Teufel und Beelzebub wählen. Ich<br />

glaube auch nicht, dass man sich gegenseitig die Vergangenheit vorgeworfen hat, man sah<br />

wohl mehr ein gemeinsames Unglück, welches über alle gekommen war. Auch fand man sich<br />

als Fortsetzung des Unglücks im Stalinismus wieder und in einer ethnisch zerstörten Landschaft.<br />

Mein Vater war im konservativen Jung-Stahlhelm-Verein Mitglied, welche Organisation<br />

dann in die SA (Sturm-Abteilung) Hitlers überführt wurde. Die Führung der SA strebte<br />

aber 1934 einen Aufstand gegen Hitler an, da er die Großindustrie nicht verstaatlicht hatte.<br />

Das führte dann zur Erschießung der SA-Führung durch die SS (Schutzstaffel), wobei die SA<br />

dann als zweitrangige Massenorganisation verblieb. Als 1938 allen SA-Mitgliedern strengstens<br />

verboten wurde, sich auf die böhmische Seite zu begeben, hielt sich Vater nicht daran<br />

und besuchte die Großeltern in Haindorf und wurde aus der SA entfernt.<br />

Rudolf Fischer, Siegfried Domagalla und mein Vater.<br />

Flasche halbvoll.<br />

Im neuen Schuljahr, in der 5. Klasse angekommen, machte unsere Schule einen Ausflug<br />

in den Schafbusch, um Pilze und Beeren zu suchen. Dabei kamen wir dem umgeeggten<br />

Grenzstreifen sehr nahe. Einig liefen darauf entlang. Ein Bengel mit großen Schuhen ein<br />

Stück hinein, usw. Am Nachmittag desselben Tages war Gottfried Scholz und Rainer<br />

Colavinzenzo (Sohn des Gärtners aus Markersdorf) zu Besuch bei mir und wir gingen<br />

Richtung Sommerau, als auf der Reibersdorfer Straße ein LKW mit Soldaten in Oppelsdorf<br />

48


einfuhren, wir dachten ein Manöver. Es war aber alles viel schlimmer, denn lt. militärischem<br />

Grenz-Frontbericht war eine starke Bande, Männer, Frauen und Kinder an der Grenze gewesen<br />

und sollte im Raum Oppelsdorf aufgespürt werden. Der Fährtenhund ging durch den Ort<br />

und hielt Frank Legażynski am Bein fest. So kam durch so ein Tier mit überlegenen<br />

Fähigkeiten alles heraus. Schlimm an diesem Tage für unsere Lehrer, schlimm am Folgetag<br />

auch für uns. Trotzdem wurde ich am Jahresende vorgezogen in Klasse 6 versetzt.<br />

Im September verstarb Großvater Edwin Preibisch in Reichenau. Er war schon einige<br />

Jahre Rentner des polnischen Staates und hatte uns oft mit Kora und Enkel Frank Dieter Stein<br />

in Oppelsdorf besucht. Eingangs bei der Niederschrift dieser <strong>Erinnerungen</strong> dachte ich, dass er<br />

dabei die zentrale Person werden würde. Aber es gibt nicht viel zu berichten, wenn einer still,<br />

gütig und klug nur immer anwesend ist. Großmutter bestand darauf, dass der Trauerzug, wie<br />

früher Brauch, auf der Hauptstraße durch den Ort gehen sollte. Großvater wurde auf dem<br />

jetzigen evangelischen Friedhof beigesetzt. Als ich nach Oppelsdorf zurückging, kämpfte ich<br />

gegen einen gewaltigen Herbststurm an. In meiner Trauer wurde mir bewusst, dass wir<br />

Menschen schwach und den Gewalten und der Zeit ausgeliefert sind. Die Verstorbenen<br />

bleiben aber bei uns solange wir Ihrer gedenken, es ist wirklich so, dass die Liebe über allen<br />

Gewalten steht.<br />

In Oppelsdorf arbeitete ich weiter an der Aufrüstung meines Hofes. Als ich im Geiersgraben<br />

eine mindestens 60 cm dicke Holzrolle fand, wollte ich diese als Hackklotz haben. Ich<br />

holte mein Beil und gängelte die Rolle dann mit Fußtritten die ca. 2 km bis nach Hause, die<br />

Feldwege entlang, wobei man aller ca. 3 m mit dem Beil wieder die Richtung korrigieren<br />

musste. Nach dieser Anstrengung gab es aber in der Gartenecke unter dem großen Ahorn<br />

einen einmaligen Hackplatz mit riesigem Hackklotz, den Großteil des Grundstückes hatte ich<br />

bei der Arbeit vor Augen und wenn es plötzlich regnete, kamen die Tropfen nicht gleich<br />

durch das Blätterdach, sondern es rauschte nur über mir. Aus Derbstangen wurde zur Komplettierung<br />

noch ein großer Sägebock gebaut. Zum Sägen war eine Schrotsäge vorhanden, d. h.<br />

eine ca. 1,30 m lange Handsäge ohne Bügel, eigentlich für 2 Mann, aber wer das Geschick<br />

und die Kraft hatte, brachte es auch solo.<br />

Im Geiersgraben, gegenüber dem Waldfriedhof, befand sich ehemals eine Fasanerie, die<br />

damals schon Ruine war. Von der Umzäunung grub ich zwei Betonsäulen aus, 2,50 m lang,<br />

die ich unter größter Anstrengung allein auf den Handwagen = Leiterwägelchen geladen habe,<br />

also eine Last von mindestens 0,25 t, die Waldhöhe herunter und nach Hause bugsiert, als<br />

Reck und zum Teppich klopfen dort wieder eingegraben habe. Die steile Waldrampe hinunter<br />

hing ich einen Tannenwipfel als Schleppe an den Leiterwagen, sonst wäre die Sache nicht zu<br />

halten gewesen. Unserem Grundstück direkt gegenüber im Park befanden sich aus deutscher<br />

Zeit noch ausgehobene mannstiefe Splitterschutzgräben, die von der neuen Bevölkerung mit<br />

Schutt verfüllt wurden, eine Fundgrube für mich. Von dort konnten wir unseren Garten mit<br />

Metall-Klappstühlen und –Tischen ausrüsten, nur die Bretter mussten erneuert werden und<br />

dazu fand sich dort auch altes Material. Im unteren Park fand ich eine leere hölzerne<br />

Heringstonne. Brauchbar, um eine Hundehütte für einen mittleren Hund herzustellen. Die<br />

Frontseite war neu zu verbrettern und den Eingang hielt ich absichtlich ganz eng, damit nicht<br />

zuviel Wärme entweicht. Das Ding war schnell fertig und auf vier Feldsteine gesetzt, den<br />

Boden mit einem Stück alter Matratze ausgelegt. Die Hundehütte mit Blick auf den Hauptteil<br />

des Gartens wurde begeistert angenommen. Bald war zu sehen, dass sogar beide Hündinnen,<br />

Foxine und Tedda, darinnen Platz fanden. Als strenger Frost kam verschwand der dickfellige<br />

Tarzan gleichfalls innen und ebenfalls und gleichzeitig unsere 3 Katzen. Es herrschte wohlige<br />

Ruhe in der Hütte, nur leises Schnarchen und Schnurren war zu hören. Die Idylle wurde<br />

gestört, wenn zum Fressen gerufen wurde, dann vibrierte das Hunde-Katzen-Heim erst, dann<br />

erschien im engen Schlupfloch ein Hunde- und ein Katzenkopf, die Katze zog sich mit einem<br />

Aufschrei zurück und der erste Hund sprang heraus, dann die Katze usw. usw. Kurze Zeit<br />

später lag die ganze Bande wieder in der Tonne, Heuschuppen und Stall wurden so nicht<br />

angenommen.<br />

49


15. Das Jahr 1953<br />

Das neue Jahr begann also schulisch sehr glücklich für mich, denn ich war altersmäßig unter<br />

Meinesgleichen angekommen, dabei scheinbar auch endlich vereint in einer Klasse mit den<br />

Jarmata-Zwillingen, mit der Möglichkeit, mich in die Nähe von Dangola zu setzen. Aber das<br />

Schicksal oder die Eltern wollten, dass ab Neujahr die Töchter nach Bogatynia zur Schule<br />

gingen. Ich war mit der vorgezogenen Versetzung in der Ausbildung unter die Fittiche von<br />

Herrn Nadachowski gekommen, der die beiden letzten Klassen betreute, denn die<br />

Volksschule endete in dieser Nachkriegszeit mit der 7. Klasse. Wenn ich an diesen meinen<br />

Lehrer denke, wird mir das Herz warm. Wir waren trotz des Einzugsgebietes von Oppelsdorf,<br />

Sommerau und Lichtenberg nur 7 – 8 Schüler und es war ein sehr intensives Lernen möglich.<br />

Zumindest ich habe diesen Lehrer immer als einen älteren Freund empfunden, der mich an<br />

seinem Wissen teilhaben lässt. Ansonsten hatte uns der Winter im Griff und der gutmütige<br />

Tarzan mit seinem dicken Fell lag im Hofe auf der Seite und unsere 4 Hühner standen auf ihm<br />

und wärmten sich die Füße. Wenn zum Fressen gerufen wurde, erschien er nicht (unsere<br />

Hunde hatten es durchaus knapp) und schlug nur mit dem Schwanz auf den Schnee, denn er<br />

wurde gebraucht.<br />

Indem ich von Schlittenhunden und Skijöring gelesen hatte, schärfte sich mein Blick auf<br />

die Hundebande und ich schnitt aus einem alten Sofa auf der Schutthalde die unterseitigen<br />

Bänder heraus, für Hundegeschirre. Diese waren schnell gemacht und so jagte ich denn<br />

abends auf Skiern, die Milchkanne in der Hand, mit Hundesaus durch den Ort. Der Leithund<br />

war ohne Zweifel Foxine, in Verstand und Ehrgeiz den anderen weit überlegen, äußerlich<br />

lebenslang wie ein junger Schäferhund anzusehen. Tedda hatte soviel Verstand, dass sie sich<br />

nicht ohne Grund in die Stränge warf, sie lief also nur locker mit. Tarzan wäre bestimmt ein<br />

guter Zughund gewesen, wenn er jemals begriffen hätte, was man von ihm wollte. Alle drei<br />

waren aber in heißer Liebe zu meiner Mutter entbrannt, diese war ihr Lebensmittelpunkt und<br />

alle geschilderten Zugschwächen waren aufgehoben, wenn sie meiner Mutter nachlaufen<br />

konnten, z. B. nach Reichenau. In dem Falle konnte ich auf den Schlitten oder Leiterwagen<br />

aufladen, was ich wollte, meine Schwester kutschierte und die Meute stob davon, um Frauchen<br />

einzuholen. Foxine war beim Leiterwagen vor den Quergriff der Deichsel gespannt,<br />

denn sie reagierte auf leisen Seilzug nach links oder rechts, verstand auch „Halt“ und „Lauf“.<br />

Links und rechts der Deichsel liefen Tedda und Tarzan.<br />

In diesem Frühjahr stand ich vor ca. 60 m² Gartenfläche, die schon im Herbst mit Mist<br />

versehen, erstmalig umgegraben worden war und jetzt mit dem Handkultivator nur gelockert<br />

zu werden brauchte, um dann mit dem Eisenrechen die ca. 1 m breiten Beete anzulegen. Das<br />

Pflanzen war Sache meiner Mutter und ich war froh, das alles mit ihr gemeinsam tun zu<br />

können.<br />

Unsere Jungziege war ausgewachsen und hatte spitze Hörner bekommen, die sie auch<br />

gern einsetzte. Indem sie jetzt selbst Mutter geworden war, wurde es Zeit, sie zu melken.<br />

Diesbezügliche Versuche sich ihrem Euter zu nähern, wertete das verzogene Ding aber als<br />

unzulässige Annäherung. Meine Mutter gab schließlich auf und so kam die Reihe an mich.<br />

Ich schloss die Stalltür, sie drohte mit den Hörnern. Nach einiger Zeit des Kampfes war der<br />

Entstand so, dass sie aufrecht in der Ecke stand, von meiner Schulter hinein gedrückt, den<br />

Kopf hilflos oben, nur mit den Vorderläufen konnte sie auf meinen Rücken klopfen, unten<br />

aber hatte ich beide Hände frei zum Melken. Sie gab zwar nicht viel Milch, aber es war sehr<br />

gute, die Herkunft im Geschmack nicht anzumerken und bei der täglichen Gabe von ca. 2 l<br />

war eine Überschuss, aus dem man mittels eines Leinensäckchens wunderbaren Quark machen<br />

konnte, so fettig, dass Butter nicht dazu sein musste, mit Salz, Zwiebeln und Kräutern<br />

zur Vollendung gebracht. Später habe ich erfahren, dass es im unweiten Oderwitz den ersten<br />

Ziegenzüchter-Verein Deutschlands gegeben hat. Ein Professor auf der Grünen Woche in<br />

Berlin stellte unlängst klar, dass um 1900, als die TBC als unheilbare Krankheit grassierte, die<br />

ärmere Landbevölkerung verhältnismäßig geringe Verluste hatte, geschützt durch die gehalt-<br />

50


volle Milch der eingestallten Ziegen, sonst hätte es eine flächendeckende Katastrophe<br />

gegeben. Aber so ein nützliches Tier verlangt auch gewisse Vorkehrungen. Meine Eltern<br />

pachteten, wie es zu der Zeit in Oppelsdorf üblich war, eine Parzelle, dabei ½ Morgen Acker<br />

und ½ Morgen Wiese mit Obstbäumen, d. h. in der Summe 0,33 ha = 3.333 m². Der Acker<br />

war für Kartoffeln und Futterrüben vorgesehen, das Gras der Wiese musste zu Winterheu für<br />

die Ziege werden. So ging ich denn in den Sommerferien, wie Herr Jagodzinski mir geraten<br />

hatte, schon Vier Uhr früh mit der Sense zum Hauen, wahrlich ein Erlebnis , wenn man sich<br />

überwunden hat. Es ist still und kühl, alles ist sehr friedlich und man schafft viel. Die Sense<br />

muss man aber am Abend vorher schon dengeln, sonst hat man keine Freude an der Sache.<br />

Das Heu wiederum verlangte einen Schuppen, der aber schon im Frühjahr errichtet wurde.<br />

Gleichfalls hatte ich am ersten Morgen der Sommerferien begonnen aus Eisenrädern eines<br />

Pfluges einen hoch belastbaren einachsigen Wagen zu bauen, mit einer langen Deichsel. Der<br />

war gut für die Transporte vom und zum Feld und zum Holz holen aus dem Wald.<br />

Ich will hier gleich bekennen, dass ich zu einem schlimmen Holzräuber geworden war,<br />

immer in Angst vor dem Förster, den wir ansonsten aber gut kannten. Im Walde (immer im<br />

Geyersgraben Richtung Sommerau) suchte ich mit einem Rest Gewissen eine Stelle, wo die<br />

Fichten eng gewachsen waren und dann war so ein 20- cm – Stamm im Nu umgelegt, in 1,5 –<br />

2 m lange Stücke geschnitten und aufgeladen, obenauf altes Reisig und die Schnittstellen mit<br />

Erde geschwärzt, auch den Baumstumpf. Der Förster hat mich nie erwischt, aber in Form<br />

schwerer Gewitter gab es durchaus Ermahnung von oben. Da hastete man mit schlechtem<br />

Gewissen und schwer beladenem Wagen dem rettenden Hofe zu und hoffte auf guten<br />

Ausgang, aber das Gewitter kreiste einen ein und schickte 300 m im Voraus einen Blitz in den<br />

Acker, wo der nächste im ebenen Gelände einschlagen würde, konnte man sich ausrechnen<br />

und um die Sache nicht auf die Spitze zu treiben, ließ man wenigstens das scharfe Beil aus der<br />

Hand fallen. Nachdem der nächste Blitz viel weiter hinten einschlug, wurde es wieder geholt.<br />

Im Mai siedelten meine Scholz-Freunde nach Deutschland aus. Materiell stand die<br />

Familie mit ihrem Fleiß zeitbezogen immer gut da. Hans arbeitete inzwischen bei BZPB als<br />

Maurer-Anlernling, Klaus lernte bei der selben Firma Elektriker unter der Obhut von Vater<br />

und Sohn Zimmermann. Bei beiden älteren Scholz-Brüdern hatte sich aber der Vorteil<br />

gehabter deutscher Schulbildung in den Nachteil des Ausschlusses wegen Alters von einem<br />

polnischen Bildungsweg ergeben, d. h. die theoretischen Berufsabschlüsse waren bei beiden<br />

fast nicht vorstellbar. Einige junge Deutsche konnten diese Hürde noch nehmen, wenn es der<br />

Zufall wollte, dass sie eine polnische Partnerin fanden.<br />

51


Gemischte D / P Mannschaft Stehend 2. von links Gotfried Scholz, 3. Horst Lindner, 5. Klaus Scholz,<br />

vorn liegend Hans Scholz.<br />

Gottfried, in meinem Alter, war ganz abgeschlagen, denn in Bogatynia hätte er (vergl.<br />

Kapitel 10) vielleicht aus Gnade später eine Aufnahme in eine untere Klasse gefunden, aber<br />

wahrscheinlich keine freundliche Förderung wie ich in Opolno Zdrój und somit die<br />

Grundschule erst als Erwachsener verlassen. Aus diesen Gründen bemühte sich Herr Scholz<br />

intensiv um Ausreise, unterstützt von einem ältesten, bisher nicht genannten Sohn, der in<br />

Leutersdorf/Sa. ansässig war und man kam auch außer der Reihe so zum Erfolg. Obwohl ich<br />

vom Reichenauer Leben etwas abgekoppelt war, so war doch mit Scholzes Weggang für<br />

mich wieder ein Stück heimatlicher Rückhalt weggebrochen.<br />

Ich wendete mich noch mehr Oppelsdorf zu. Die Kartoffeln waren vom Unkraut zu<br />

befreien ebenso der Gemüsegarten, in der LPG arbeitete ich in den Sommerferien um Stroh<br />

für die Einstreu. In der neuen Schulklasse hatte ich wie erwähnt gleichaltrige neue Freunde<br />

gefunden. Einer von ihnen, Konstantin Kozimor aus Sommerau, eröffnete mir, dass er einen<br />

Fahrrad-Rahmen zu verkaufen habe. Das war ein Angebot, welches mich wie ein Blitz<br />

durchzuckte und auf ehrliche Freundschaft schließen ließ.<br />

Zur Nachkriegsgeschichte des technischen Artikels Fahrrad muss ich berichten, dass die<br />

Fahrraddichte schon zu Kriegsende wegen Frontbedarfs sehr gering war, wobei nach 45 für<br />

Deutsche sich ein weiterer Schwund durch fremde Aneignung ergab. Was dann noch da war,<br />

wurde sorgfältig behütet und in den ersten Nachkriegsjahren bis ca. 1950 nur sehr zögerlich<br />

eingesetzt, da einer stark mit Scherben bedeckten Fläche praktisch Null Nachschub an<br />

Schläuchen und Bereifung gegenüberstand. Horst, der Sohn von Webmeister Lindner, fuhr<br />

auf einem Familien-Damenfahrrad, dessen Reifen vom Vater gekonnt mit Gartenschlauch<br />

belegt waren. Das fuhr sich also etwas schwer, etwas schwammig, aber auf Gummi, dem<br />

Scherben und Nägeln nichts anhaben konnten. Wer sonst an polnischen Jugendlichen und<br />

Kindern ein Fahrrad hatte, der fuhr in der Regel mit viel Lärm und Funkensprühen auf deren<br />

Blechreifen. Aber selbst eine solche Karre bleib für mich unerfüllte Sehnsucht. Als in<br />

Bogatynia ein Metall-Laden in den ersten 50er Jahren begann, Reifen und Fahrradschläuche<br />

zu verkaufen, konnte ich mir einen Schlauch schon leisten und suchte mir vom Schutt eine<br />

28er Felge und alte Bereifung. So konnte ich am eigenen Objekt üben, was ich bei stolzen<br />

Radbesitzern gesehen hatte, d. h. Aufziehen der Bereifung und des Schlauches und das<br />

Aufpumpen. Die Löcher in der Bereifung wurden mit einem Stück Altreifen innen oder außen<br />

52


überdeckt. Bereifte Felgen hatte ich also schon. Der Rahmen kostete 38 zł und noch heute<br />

blicke ich bei der Fahrt durch Sommerau zum Dachboden des Hauses, wo ich das Wertstück<br />

mit zitternden Händen in Empfang nahm. Der Rahmen hatte vorn eine etwas krumme Gabel<br />

und ein Tretlager ohne Pedalen, aber ich war auf dem Weg zum Fahrrad endlich über den<br />

Berg. Es dauerte noch Monate, bis alles weitere Zubehör erworben war, teils weil es nichts<br />

gab, teils weil es mir an Geld fehlte. Aber dann war der Stand erreicht, dass es eigentlich nur<br />

noch an Speichen und der Kette fehlte. Herr Jagodzinski, der nach Breslau fuhr, versprach<br />

mir, Speichen zu kaufen, was er auch einhielt, aber es gab dort aktuell nur Vorderrad-<br />

Speichen, weshalb er für beide Räder solche erwarb. So ausgestattet, begann ich in der<br />

Waschküche anhand des Speichenlaufs bei Vaters Dienstrad zuerst das Vorderrad einzuspeichen,<br />

das klappte ganz gut. Für das Hinterrad waren die Speichen natürlich etwas zu lang,<br />

evtl. wäre das durch schrägen Verlauf auszugleichen gewesen, ich hielt mich aber an das<br />

Muster des Speichenlaufs und bog die Speichen mit der Kombizange unter einfach ca. 1 cm<br />

zurück. Auch das gelang brauchbar, ich konnte das bei noch fehlender Kette bereits im Garten<br />

nach der Fußabstoß-Methode des Freiherrn von Drais erproben. Als Siegfried Domagalla den<br />

Stand der Dinge sah, spendierte er mir eine Kette. Die erste Fahrt ging zur Großmutter nach<br />

Reichenau. Bereifung, Schutzbleche, Kette, Sattel waren neu, der Rest neu angestrichen, ich<br />

fuhr in Reichenau als erfolgreicher junger Mann vor. Heute haben die einfachsten Fahrräder<br />

Gangschaltungen, damals gab es nur einen Gang und selbst der konnte in der Nachkriegszeit<br />

nicht gewählt werden, sondern er stellte sich beim Zusammenbau ein. Im Falle meines<br />

Fahrrades lag der Gang sehr niedrig, d. h. man fuhr leicht aber langsam, das war aber günstig<br />

für eine Ergänzung meiner Ausrüstung, die im Folgejahr eintrat.<br />

Im ersten Halbjahr wurden zwei junge Mädchen und vier junge Männer, darunter ich,<br />

von meiner Mutter für die Konfirmation vorbereitet. Diese fand am 5. Juni durch den Superintendenten<br />

Steckel (aus Liegnitz) statt. Nach uns wird es wohl Reichenauer Konfirmanden<br />

nicht mehr gegeben haben.<br />

Fritz Geisler, meine Person, Mädchen?, Brigitte Glaser aus Markersdorf, Horst Lindner<br />

und Felix Babitsch<br />

Steckel war wahrscheinlich Superintendant ohne unterstellte Pfarrer und so als Reisepfarrer<br />

für den ganzen Bereich Niederschlesien zuständig. Für mich war sein Erscheinen ein erster<br />

Hinweis, dass wir in der Tiefe des schlesischen Raumes verstreut mit restlicher deutschen<br />

53


Infrastruktur noch vorhanden waren. Meine Mutter sieht auf den Konfirmationsbildern etwas<br />

angegriffen aus, denn sie hatte bis zum Morgengrauen an meinem gewendeten (d. h. aus<br />

einem Altanzug gefertigten) Konfirmationsanzug gearbeitet. Die Schwestern Else und<br />

Margarete schenkten mir eine Brieftasche aus Kunstleder (habe ich noch) und der Trumpf bei<br />

allen Geschenken kam von Fr. Dr. Joschko als Lederetui mit Kugelschreiber und Drehbleistift.<br />

Wir fühlten uns aber alle nicht als arm oder unglücklich.<br />

Eine Bereicherung des Lebens war auch die Freundschaft mit Eduard Konizszewski aus<br />

meiner Schulklasse. Er war ein lustiger Bursche und kam gern vom „Ziegfaberch“ wo er<br />

wohnte übers Feld zu mir gelaufen, nannte mich lachend und freundlich einen typischen<br />

Deutschen, bei dem alles eine Ordnung haben musste und trotz der Tierhaltung kein Strohhalm<br />

herum lag. Sogar der Misthaufen war von Birkenstämmchen eingefasst und es durfte<br />

nichts danebenliegen, denn langsam hatte ich alles gut in Griff bekommen. Wir sammelten<br />

gemeinsam Schrott und Altstoffe und zogen dann zwei hochbeladene Wagen bis nach<br />

Reichenau in ehem. Preibischs Fabrik. Dort wurden alle Wertstoffe angekauft, sogar das Fell<br />

eines Maulwurfs, den die Hunde am Vortag erbissen hatten, wurden wir los. Die leeren Wagen<br />

schafften wir zu meiner Großmutter, lehnten deren freundliche Einladung zum Mittagessen<br />

ab und gingen mit viel Geld in der Tasche in die Stadt. Am Bahnhof war damals noch die<br />

Gaststätte „Żytawska“, wo wir Platz nahmen und zuerst eine Suppe, Vorspeise und ein Bier<br />

bestellten, wobei wir uns so gewichtig benahmen, dass die Kellnerinnen ohne Argwohn auch<br />

das zweite Bier und das große Schnitzel brachten. Wir zahlten generös mit Trinkgeld und<br />

begaben uns hoch zufriedengestellt zu unseren Wagen und zogen mit diesen ins schöne<br />

Oppelsdorf zurück.<br />

Einmal kam Eczka strahlend übers Feld und erzählte mir sein neueste Beobachtung. Sein<br />

Vater und der Schneider saßen schon lange beisammen und tranken vom selbst gemachten<br />

Obstwein. Irgendwann wollte der Schneider auf Toilette gehen, als aber eine neue Flasche<br />

geöffnet wurde, verschob er das, saß dann aber wie abwesen und schräg auf seinem Stuhl<br />

etwas nach vorn gebeugt und Eczka sah wie durch die Kunststopfung des Gesäßes der<br />

Schneiderhose sich ganz feine Würstchen mit leisem Geknatter durchzwängten. Weiterer<br />

Ablauf ungewiss, denn er wollte mir den Spaß sofort mitteilen.<br />

54


16. Das Jahr 1954<br />

Vom Anfang dieses Jahres ist mir erinnerlich, dass ich die Zaunfelder für 2 x 40 m Zaun auf<br />

gefrorenem Boden zusammen genagelt habe. Lieferant für das Material der erforderlichen 24<br />

Pfähle und der 48 Riegel war in beschriebener Art und Weise des Vorkapitels der Geyersgraben<br />

gewesen. Die erforderlichen 600 Stück Stachelten standen ebenfalls dort als junge<br />

Birkenbäumchen. Herr Jagodzinski besorgte aus Breslau die Nägel. Es war mir schon eine<br />

Genugtuung, als im Frühjahr der Zaun stand und das Grundstück auch zu den Feldseiten<br />

geschlossen war, damit waren auch unsere Hunde besser unter Kontrolle, was auch gut für<br />

Radfahrer war. Zu den Radfahrern gehörte jetzt auch ich und hatte damit ein großes Stück<br />

persönliche Freiheit gewonnen. Aber der Mensch wünscht sich ja stetig mehr. Es war mir<br />

schon bekannt, dass es in Bogatynia vereinzelt Fahrrad-Anhänger gab, während ich immer<br />

noch häufig mit einem meiner Eisenbahnerstreik Handwagen aus Bogatynia schwere Lasten<br />

nach Oppelsdorf ziehen musste. Das waren manchmal 3 – 4 Zentner und man musste sich<br />

genau den Weg aus dem Reichenauer Tal überlegen und längere Wege fahren, um Steigungen<br />

zu vermeiden. Der Anfang wäre ein Rahmen für einen solchen Fahrradanhänger gewesen,<br />

aber alles Horchen und Spähen war bisher vergebens gewesen, bis ich im Vorbeigehen ohne<br />

solches Suchen, in den Hof der Reichenauer Nachbarin, der verwitweten Frau Artelt sah und<br />

es mich durchzuckte. Da stand ein solcher Rahmen, selbst bei nochmaligem Hinsehen, immer<br />

noch an die Wand gelehnt. Die Verhandlungen mit der Dame verliefen erfolgreich. Großmutter<br />

gab das Geld und der Rahmen zumindest war da.. Für den Wagenkasten konnte ich die<br />

Bretter von Großvaters ehemaliger Voliere nehmen, die Beschaffung von Rädern und Bereifung<br />

dauerte noch einige Monate, aber am Ende war ich ein junger Mann mit Fahrrad und<br />

Anhänger. Das war damals viel wert. So als hätte man heute einen Klein-LKW. (Den<br />

Anhänger habe ich heute noch im Gebrauch.)<br />

Herr Jagodzinski war Imker mit vielen Bienenstöcken und ich hatte für ihn in Abendkühle<br />

und Dunkel bereits Schwärme aus den Linden geholt, dabei auch manchen Stich<br />

ausgehalten. Herr Colavinzenco, Gärtner in Markersdorf, ebenfalls Imker, wollte mir 3 gebrauchte<br />

Beuten übereignen. Es war der erste Einsatz des Gespanns Fahrrad und Hänger, bis<br />

nach Markersdorf. Zwar musste ich das Gespann mit 3 Beuten beladen, schwer aus dem<br />

Reichenauer Tal schieben, aber auf der Ebene ging es locker im Sattel weiter, dabei fast<br />

geräuschlos, sozusagen glücklich gleitend nach Oppelsdorf. Herr Jagodzinski spendete einen<br />

Schwarm und einige Ausrüstung, so war ich Jungimker geworden.<br />

In der Mitte des Jahres endete die Grundschule für Nawrotówna, Helena, Biernacki,<br />

Ryszard, Kozimor, Konstanty, Koniuszewski, Edward, meine Person und aus Lichtenberg<br />

Olbrecht Jan und Irgendwen werde ich wohl vergessen oder verwechselt haben. Wie üblich<br />

kam denn in den Sommerferien die Arbeit auf dem Oppelsdorfer Rittergut, die Arbeit auf<br />

unserem Pachtland, die Arbeit im Garten.<br />

Aufgrund eines guten Zeugnisses war ich für den Besuch des polnischen Lyzeums in<br />

Zgorzelec vorgesehen und der Antrittstermin im angeschlossenen Internat kam heran. Die<br />

Anfahrt konnte man mit der Buslinie Opolno-Zdrój – Jelena Góra, die nur 1 x am Tag verkehrte,<br />

Abfahrt ca. 6.00 Uhr, unternehmen. Das Internat befand sich, wenn man vor dem<br />

Lyzeum steht im links angrenzenden Gebäude, dabei ein Eingang für Jungen, ein Eingang für<br />

Mädchen. So standen wir Anfänger, einander unbekannt, mit unseren großen Koffern (Bettsachen<br />

waren mitzubringen) erst vor dem Gebäude, dann im Gebäude herum. eine ordnende<br />

Hand schien es nicht zu geben, einige Zimmer waren verschlossen und so traute ich mich am<br />

Ende in ein großes verwüstetes, scheinbar aufgegebenes Zimmer zu gehen (1. OG, Ecke<br />

Str./Schulhof), sofort von einem Schwarm von Interessierten umgeben. Wie es genau weiter<br />

gegangen ist, weiß ich nicht mehr, aber am Ende waren wir eingerichtet, einigermaßen gewaschen,<br />

lagen zeitig zu Bett und gehörten nicht zu denen, die von älteren Jahrgängen, die erst<br />

später kamen, aus den Zimmern geworfen wurden. Am ersten Schultag traf ich dann auch auf<br />

Manfred Horn, der schon ein Jahr am Lyzeum absolviert hatte, da er aufgrund seiner anfangs<br />

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tschechisch/später polnisch erfolgten Schulbildung keine Sprachschwierigkeiten hatte und die<br />

Grundschule in Bogatynia ziemlich jung abschließen konnte; er wohnte in Zgorzelec privat.<br />

Für die Internatsschüler gab es im Kellergeschoss Frühstück, welches immer aus einer großen<br />

Tasse Malzkaffee und einem Brötchen mit einer Scheibe Wurst bestand. Mittagessen gab es<br />

in einem anderen Gebäude für alle, die Abendbrotregelung war Privatsache. Obwohl für Außenstehende<br />

uninteressant gebietet es doch die Achtung und Dankbarkeit das Lehrerkollegiums<br />

der damaligen Zeit zu erwähnen:<br />

− Zuerst die wohl interessanteste Persönlichkeit, einen Professor für Mathematik, der im<br />

Vorkriegspolen Abgeordneter im Sejm war und wohl deshalb von der Polizei verpflichtet<br />

wurde, im Schulgebäude in oder nahe der Bibliothek zu wohnen. Er wurde im allgemeinen<br />

als der „Szlachcic“ bezeichnet, abends war manchmal zu sehen, wie der ältere Herr im<br />

Nachthemd auf der Leiter stand, um sich ein Buch aus dem Regal zu holen. Er hatte aber<br />

die Sympathie der Jugend gewonnen und auch ich habe immer ausgesucht höflich gegrüßt,<br />

um das zu zeigen. Manfred Horn hatte bei ihm Unterricht und er nannte ihn klug und gütig.<br />

Sein Name war wahrscheinlich Swidzinski oder ähnlich.<br />

− Direktor war Herr Palieter, der 1955 aber mit Familie nach Frankreich ausreiste, nach ihm<br />

kam Herr Radzik, dessen Schwester in unserer Klasse war, wo er auch Biologie unterrichtete.<br />

− Stellvertretende Direktorin war Frau Rajchel, die Französisch unterrichtet, eine kleine energische<br />

Person, immer mit Zigarette.<br />

− Klassenleiterin war Kazimiera Mita, eine strenge gelernte Archäologin, die Geschichte<br />

lehrte.<br />

− Frau Lorenz lehrte Polnisch und obwohl die Fälle dieser Sprache bei mir nie in Fleisch und<br />

Blut übergegangen sind, stand ich immer auf „Gut“.<br />

− Die herzensgute Frau Ostrowska lehrte Mathematik. Ihr Sohn Jacek war bei uns in der<br />

Klasse und der größte Rabauke. Sie glaubte mathematisch an mich, seitdem mir in einer<br />

Sternstunde an der Tafel einmal eine selbstständige geometrische Ableitung gelang. Ihr<br />

Nachfolger im Fach war Herr Bober.<br />

− Chemie gab der schon ältere Herr Kwasniewski, der vom Studium her wahrscheinlich<br />

Deutschkenntnisse hatte, denn er gebrauchte bei Tages-Leistungen gern das deutsche<br />

Sprichwort von der Schwalbe, die noch keinen Sommer macht.<br />

− Russisch lehrte die ältere Dame Wołowska.<br />

− Physik und Geographie gab die junge Frau Lisicka.<br />

− Sport hatten wir beim 30jährigen blonden Wilhelm Nowicki aus Pommern.<br />

− Für Wehrunterricht/Ertüchtigung war Herr Wiatrowski zuständig.<br />

Den Kreis der Schülerinnen und Schüler aus unserer Klasse könnte ich heute noch<br />

nennen, dabei hatte ich bei mindestens 20 % begründeten Verdacht, dass sie Deutsch verstehen,<br />

vom Familiennamen her, von erwähnter Verwandtschaft, einige haben wahrscheinlich<br />

gleich gut deutsch gesprochen, aber sie haben das eisern unter der Decke gehalten. Anders<br />

ich, der ich immer unmissverständlich klargestellt habe, wer ich bin, was im ersten Schritt für<br />

viele eine Sache war, die Einordnung erforderte, mir aber dann auch Anerkennung wegen<br />

klarer Haltung einbrachte. Kritisch war es zuerst im Milieu des Internats, wo unter den Neuen<br />

sich eine Rangordnung ausbilden musste, wobei mich also einer als ausgewiesenen Deutschen<br />

unterordnen wollte und mir vor versammelter Mannschaft mit Wucht auf den Rücken sprang,<br />

was ich aber aus hielt um ihn dann meinerseits über die Schulter platt auf die Dielen zu<br />

werfen, wo er erst einmal liegen blieb, weil die Luft raus war. Damit blieb meine Unabhängigkeit<br />

gewahrt. Das erste Schuljahr fuhr ich nur einmal im Monat nach Hause, der<br />

Fahrtkosten wegen. Man konnte auch ab Zgorzelec Moys mit der Bahn fahren. im Bahnhof<br />

Ostritz war scheinbar das dichte stalinistisch/sozialistische Grenzregime aufgehoben, denn<br />

dort stiegen im Wechsel deutsche und polnische Reisende in Züge. Für mich war es total<br />

aufwühlend so viele unbekannte Deutsche zu sehen, bis heute träume ich von dieser scheinbar<br />

durchbrochenen Grenzstelle. Gleichzeitig stiegen in Ostritz aber auch polnische Posten zu, in<br />

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jeden Waggon einer und die Fenster mussten geschlossen werden, denn die Gleise laufen<br />

teilweise auch westlich der Neiße, die Ausweise wurden während der Fahrt kontrolliert. Als<br />

die Großmutter von Klaus Joschko, die kein Wort Polnisch sprach, diese Strecke befuhr,<br />

reichte sie dem Posten in ihrer Nervosität aus der Handtasche statt Ausweis eine prachtvolle<br />

in Französisch gehaltene Speisekarte aus dem Hotel Adlon, die dieser ratlos hin und her<br />

wendete, dann mit Verbeugung zurückgab, wobei er abschließend zackig vor ihr salutierte<br />

und mit militärischer Kehrtwendung die Hacken zusammenschlagend abging. In Türchau<br />

musste man auf die Kleinbahn nach Reichenau umsteigen. Seit 1951 konnte man mit dieser<br />

auch von Reichenau bis Kleinschönau fahren. Allerdings waren die starken Lokomotiven 45<br />

im Zittauer Depot geblieben und dann durch kleinere Dampfloks von nur ca. 1/3 Leistung<br />

ersetzt worden. Die Erstfahrt 1951 nur mit Lok ließ diese in Reibersdorf über eine Straße aus<br />

den verschmutzten Schienen springen und in einen Hof hineinfahren. Indem dieser aber<br />

gepflastert war, soll man einfach rückwärts wieder auf das eigentliche Gleis gefahren sein.<br />

Die Schwäche dieser Lokomotiven machte es aber unmöglich, ohne Schwung an Brendlers<br />

Fabrik vorbei aus dem Reichenauer Tal hinauszufahren, d. h. man konnte nicht wie früher im<br />

Schritt, der Schaffner mit roter Fahne voraus, die ersten drei Straßen ab Bahnhof überqueren,<br />

sondern man musste ab Abfahrt Volldampf geben, um Geschwindigkeit zu bekommen, dabei<br />

laut pfeifen. Die Gefährlichkeit der kleinen Bahn sprach sich schnell herum und die Bäuerlein<br />

aus Za Buga waren sehr unruhig, wenn sie sich den Gleisen mit ihrem Pferdchen näherten.<br />

Wenn man dann noch 20 – 30 m entfernt war und das Ungeheuer fing zu pfeifen an, was<br />

dann? Würde das Pferdchen stehen oder durchgehen, oder was? Und da war man schon<br />

wieder ein Stück gefahren. Also Vorwärts! Vorwärts! Und so kam es zur Wettfahrt, bei denen<br />

die Bahn noch ein Stückchen vom Wägelchen erwischte, aber keiner kam zum Halten, das<br />

Pferdchen lief noch hunderte Meter weiter um sein Leben und die „Tschiuchtschia“ musste<br />

mit Schwung die Höhe nach Wald-Oppelsdorf gewinnen. Auch der Autobus wurde ab und zu<br />

gestreift. Ich habe erlebt, wie danach bei Fahrerwechsel die Gefahr eines „Feuerteufels aus<br />

dem Gebüsch“ beschrieben wurde. Einmal bekamen wir nach Zgorzelec über eine Stunde<br />

Verspätung, weil bei leichtem Frühnebel der Fahrer konsequent den Schaffner ca. 20 m<br />

voraus laufen ließ, um die Gleise zu suchen.<br />

17. Das Jahr 1955<br />

Hier wäre im Nachgang zu berichten, dass ich endlich mit Clara und Dangola in einer<br />

Klasse vereint war, wobei es in diesem Alter zwischen Jungen und Mädchen zu einer Auseinanderläufigkeit<br />

der Entwicklung kommt, d. h. die Mädchen sind einerseits biologisch weiter,<br />

anderseits sehr kompliziert und die Jungs fangen an, vom sportlichen Heldentum und sonstigen<br />

Bewährungen zu träumen und wollen ungebunden sein. Kurzum, es wurde in dieser<br />

Phase, trotz gegebenen Möglichkeiten, nichts aus uns. Als ich bei der Niederschrift des<br />

Vorkapitels bei Dangola und Clara nach dem Namen des alten Mathematikprofessors<br />

(Schlachcic) fragte, nannten beide, obwohl hunderte Kilometer getrennt sofort den Namen<br />

eines auch in meiner Erinnerung sehr gut aussehenden jungen Mathelehrers. So kommt nach<br />

50 Jahren noch an den Tag, wo die jungen Mädels ihre Augen hatten.<br />

Der Sportlehrer fand heraus, dass ich gut Hochsprung-tauglich war, sozusagen am<br />

Standort konkurrenzlos und ich wurde in die Zgorzelecer Leichtathletik-Mannschaft, einem<br />

herausgehobenen Kreis, eingereiht. Äußerer Ritterschlag war, dass man einen schicken<br />

Trainingsanzug bekam und Spikes. Nächster Vorteil war, dass man voll gesponsert (sogar mit<br />

Taschengeld) in Schlesien, nach Breslau, Hirschberg, Waldenburg, Schweidnitz, Glatz zu<br />

Wettkämpfen (mit Hotelübernachtung ) fahren konnte und so als armer Junge auch ein Stück<br />

von der Welt sah; in Schlesien auch noch Landsleute traf, so den Sprinter Peter Klose, den<br />

Kugelstoßer Martin ... und andere. Unsere Zgorzelecer Spitzenkönner war Lucjan Kijewski,<br />

der ca. 11.4 sek/100 m lief und entsprechend auch ein guter Weitspringer war, Henryk<br />

Bieniewski warf den Speer in die 60er Meter, außer ihm gab es noch einen anderen guten<br />

57


Kugelstoßer und Ewa Tajner war auf dieser Strecke und mit dem Speer auch sehr gut. Ich<br />

hielt mich mit 1,78 m im Hochsprung in dieser Mannschaft. Auch mit den KK-Sportschützen<br />

bereiste ich Schlesien, indem ich bei 300 möglichen in der Regel mindestens 270 Punkte<br />

schaffte. So war den das 2. Halbjahr auf dem Lyzeum angenehm verlaufen und ich ging mit<br />

einem guten Zeugnis in die Oppelsdorfer Sommerferien, ausgerüstet auch mit Trainingsplan<br />

und mit einem Speer zum Üben. Als mein Vater aus Scherz eine Tür zu hielt, konnte ich ihn<br />

weg schieben und das sooft ich wollte, d. h. ich war mit 16 Jahren der Kräftigste in der<br />

Familie geworden. Die Ferien waren wie im Vorjahr mit gern getaner Arbeit in Haus, Garten<br />

und Feld, sowie bei der LPG ausgefüllt. Ein Huhn überlebte mein Speerwurftraining nicht.<br />

Frau Joschko mit Söhnen von links Peter, Michel, Dieter, Wermer, Klaus<br />

Schulabschluss Klaus<br />

58


Klaus Joschko, der ein Jahr jünger ist als ich, begann im Herbst in der ersten Klasse des<br />

Lyzeums in Zgorzelec seine Ausbildung und wir zogen gemeinsam in ein Privatzimmer, als<br />

Untermieter bei einer deutsch/polnischen Witwe. Unser erstes Frühstück bestand immer aus<br />

einer Haferflockensuppe mit Milch, Mittagessen gab es in der Mensa und das Abendbrot<br />

bereiteten wir uns aus eigenen Vorräten, wobei durch die Fürsorge von Frau Dr. Joschko und<br />

Klausens angeborenen starken Sorgetrieb, ich irgendwie besser gestellt war als früher.<br />

Gleichfalls ließen mich meine Eltern jetzt wöchentlich nach Hause kommen, was auch der<br />

häuslichen Wirtschaft zugute kam, denn ich konnte in ½ – 1 Tag Wochenendarbeit schon<br />

vollwertige Leistungen vollbringen.<br />

In Oppelsdorf mussten die Haushalte reihum Männer stellen für nächtliche Streifgänge.<br />

Ich vertrat meinen Vater immer bei Wasilewski (früher Herwig-Bauer) mit dem wir in dieser<br />

Sache zusammengespannt waren. Wasilewski ließ es ruhig angehen. Als Imker bewirtete er<br />

mich immer zuerst in der Küche mit Weißbrot und Honig. Dann gingen wir mit Stöcken los,<br />

eine Schleife durch das schlafende friedliche Wald-Oppelsdorf und kamen nach Mitternacht<br />

dann beim Wächter im warmen Kuhstall der Kolchose (Rittergut) an, wo immer ein interessantes<br />

Erzählen begann, z. B. Märchen, Gruselgeschichten an die der alte Wächter spürbar<br />

glaubte, Erlebnisse Wasilewski mit Wölfen. Er erzählte wie er z. B. als junger Bursche bei<br />

Regen durch nächtliches Feld und Wald seinem Dorfe zustrebte und hinter sich immer ein<br />

„Tschlap-Tschlap“ zu hören glaubte, wenn er plötzlich still stand, ging es hinter ihm noch<br />

einmal „Tschlap“, dann war Ruhe. Die Gruselgeschichten des alten Wächters bezogen sich<br />

teilweise auf ganz aktuelle Vorgänge in Oppelsdorf und es war im nächtlichen Milieu und<br />

dem gefühlten Aberglauben des Erzählers ganz schwer, einen kühlen Kopf zu behalten und<br />

sich davon zu distanzieren. Dass es schnell unangenehm werden kann, erlebte ich selbst, als<br />

ich einmal erst spät abends von Zgorzelec nach Reichenau kam und aufgrund tagheller<br />

Vollmondnacht nicht bei Großmutter blieb, sondern mich auf den Fußweg nach Oppelsdorf<br />

begab. Nahe der Kreuzung mit der Lichtenberger Straße fand ich an einem Obstbaum einen<br />

dürren Ast, der mit einem Knall abbrach und eine ca. 1,50 m langen Stock von bester Festigkeit<br />

und derben Format ergab. Siegfried Domagalla, der einmal im feindlichen Hinterland<br />

notgelandet war und durch Partisanengebiet zurückgehen musste, hatte mir geraten, bei nächtlichen<br />

Alleingang immer auf der Mitte einer Straße zu bleiben, wohin ein Angreifer aus dem<br />

Graben oder aus einem Gebüsch einige Meter zurücklegen muss, Chance für eigenes<br />

Handeln. Als ich in Richtung Oppelsdorf die Schläte überquert hatte, sah ich entfernt rechter<br />

Hand auf freiem Feld 5 große Hunde mit Jagdgekläff dahinstürmen. Plötzlich raste diese<br />

Meute auf mich zu und die Hunde sprangen zu beiden Seiten von mir über die Straße, um<br />

Richtung Lichtenberg weiter zu jagen. Das war die erste unangenehme Situation. Einige<br />

hundert Meter weiter, am tiefsten Punkt der Straße, in einer Linkskurve, sah ich dann zwei<br />

große graue Schäferhunde am linken Straßenrand sitzen. Ich verblieb auf der rechten Seite<br />

und ging festen Schrittes, den Stock aufstoßend, an dem Pärchen vorbei, im Augenwinkel sah<br />

ich, dass sie sitzen blieben. Die Möglichkeit über die Wiesen, an Herfords Scheune vorbei<br />

nach Oppelsdorf zu gehen, habe ich nicht genutzt, sondern bin bis zum Bergschlösschen auf<br />

der Straße gegangen, an der damals noch beidseitig Obstbäume standen, auf die ich mich im<br />

Falle eines Angriffs schnell begeben konnte. Unterm Strich war es rückblickend wohl gut,<br />

dass ich in jener Nacht den großen festen Stock hatte.<br />

Gefährlich sind aber auch Tiere, die keine Reißzähne haben, wenn sie so heimtückisch<br />

sind, wie unsere Ziege es war. Diese durfte im Spätherbst frei im Garten herumlaufen und<br />

kein Besucher achtete auf sie, sondern mehr auf die Gunst der Hunde, wenn er unseren Garten<br />

betreten wollte, z. B. um am Haus etwas abzulegen. Auch war es kaum bemerkenswert, dass<br />

die Ziege dann vor dem Gartentor stand, durch welches man hinaus wollte. Wenn man dann<br />

aber weiter in diese Richtung ging, zeigte sich, dass eine Ziege, die sich auf die Hinterbeine<br />

stellt, bis an die Hörnerspitzen etwa so groß ist wie ein Mensch. Mit diesen Hörnern ging sie<br />

dann tief hinunter und ackerte damit ein Stück im Kiesweg, um den Kopf dann plötzlich<br />

hochzureißen, wobei Dreck und scharfkantige Kiesel auf den Besucher prasselten. Spätestens<br />

59


dann waren erste Schreckensschreie zu hören. Damen haben aber immer eine Tasche bei sich<br />

und konnten diese, wie Toreros das rote Tuch, zwischen sich und die Ziege halten bis das<br />

rettende Tor erreicht war. Als Klaus und Manfred mich besuchen wollten, machte ich sie auf<br />

die Gefahr aufmerksam. Die kühnen jungen Männer wollten sich aber vor Lachen fast ausschütten.<br />

Im Herbstwind hörte ich dann immer scheinbar meinen Namen rufen, unterbrochen<br />

von einem „Rums“. Die Kampf-Ziege hatte die beiden Helden null-komma-nichts in die<br />

Waschküche gejagt und lauerte vor der Tür, die sie bei jedem Öffnen mit einem „Rums“ mit<br />

Kopfstoß wieder schloss.<br />

Im Herbst 55 war ich in einer echten selbst verschuldeten Gefahr, als wir mit Klaus in<br />

Zgorzelec in einem Steinbruch waren und ich die Wand durchsteigen wollte. Es ging bis zu<br />

einem Punkt, wo es immer schwieriger wurde, d. h. es ging nicht mehr Vorwärts und nach<br />

Rückwärts auch nicht, den ein Stück Fels war abgebrochen. So hing ich denn hoffnungslos in<br />

der Wand, nach Unten ca. 8 – 10 Meter war es zwar sichtlich nicht unbedingt tödlich, aber<br />

doch bis nahe daran. Da hing ich also mit dieser Perspektive in der Wand, meine Fußspitze<br />

begann sich als Nähmaschine zu betätigen, Klaus sauste gleichermaßen verzweifelt umher<br />

und verschwand nach Oben. Als ich schon der an mir zerrenden Schwerkraft nachgeben<br />

wollte, schwebte von Oben ein Stahlseil ein und der stämmige Schlesier zog mich hinauf. Da<br />

war man als Sachse wieder mal gerettet.<br />

18. Das Jahr 1956<br />

Nach dem Weggang meiner Scholz-Freunde waren meine Partner für Wintersport vor allem<br />

Klaus Joschko und Manfred Horn geworden. Es ist mir erinnerlich, dass wir in diesem Jahr<br />

vom Reichenauer Steinberg auf Skiern eine Schussfahrt ins Tal unternommen haben, heute<br />

würden wir dort auf Wohnblocks prallen. Damals aber wurden wir weiter Unterwärts auf dem<br />

Feld freundlich von kleinen Kerlen begrüßt, darunter Wolfgang Wildner und mein Vetter<br />

Dieter Stein, vielleicht auch der Stanislaus Jarosz, die sich dort eine Sprungschanze gebaut<br />

hatten und weit sprangen, dabei dramatisch aufklatschten, aber wie aus Gummi standen und<br />

es schien ihnen alles nichts auszumachen. Die Aufforderung auch zu springen lehnten wir<br />

wegen anderer Verpflichtungen ab, es drohte zu sehr Misslingen und Autoritätsverlust. Diese<br />

jüngste deutsch/polnische Generation war in sich zusammengewachsen und besuchte auch<br />

ganz normal von der 1. Klasse an die polnische Schule.<br />

Die nächste Generation unter der Obhut meiner Großmutter;<br />

Wolfgang Wildner, Sigrid Dudek, Gerlinde Fischer, Dieter Stein<br />

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Beim Spiel wurde der ältere Wildner Junge etwas durch die Aufsicht über den jüngeren<br />

Bruder gebremst. Als der Kleine für mich hörbar beim Spiel im Dorfbach einmal Hilfe wegen<br />

voller Hosen anforderte, wurde er von Dieter und Wolfgang mundartlich und prompt belehrt:<br />

„Doas musste aushaln, a enner Stunde isses horte un Du merkst nischt mih“. So war auch über<br />

spät geborene Söhne das alte Reichenau damals noch anwesend. Schwester Jutta ging ab<br />

Herbst 1956 auf das neu eingerichtete Gymnasium in Reichenau. Mit ihr von Oppelsdorf noch<br />

Franek Legażynski und Rajmund Kaminski, in der Klasse traf sie auch auf Peter Ludwig.<br />

Von meinem Schuljahr ist mir erinnerlich, dass wir an der ersten mehrtägigen Wanderung<br />

in den Ostsudeten teilnahmen, d. h. am Rande des Glatzer Kessels, die Plakette habe ich<br />

noch. Erinnerlich ist mir, dass damals in den langen Gebirgsdörfern meist nur die untersten<br />

Häuser in der Nähe der Bahnstation bewohnt waren. In leer stehenden Gehöften befand sich<br />

noch viel an zweitrangigem Mobiliar und Ausrüstung.<br />

Wenn ich in den Vorkapiteln nur die sommerliche Arbeit erwähnt habe, so ist es abschließend<br />

an der Zeit, darauf hinzuweisen, dass es für uns auch ganz herzliches gesellschaftliches<br />

Leben gab. Die Schwestern Else und Margarethe verlebten in unserer Sommerfrische<br />

den Jahresurlaub, Klaus Joschko war Ferienwochen bei mir, an den Wochenenden kamen<br />

Onkel und Tante und befreundete Familien zu Besuch, bei letzteren besonders die von Rudolf<br />

Fischer und Siegfried Domagalla. Siegfried besaß ab 56 ein neues Motorrad, 350 cm³,<br />

Zweitakt, Marke russische Ischewesk. Ich wurde aufgefordert, auf dem Feldweg damit zu<br />

fahren, unvergesslich!<br />

Als neue Person erschien in unserem Kreis Direktor Markowitzsch, der mit Siegfrieds<br />

Schwester, der verwitweten Frau Lehman, verbunden war. Er stammte aus einer jüdischen<br />

Familie in Posen. Der Vater war im 1. Weltkrieg noch treu und bewusst preußischer Offizier<br />

gewesen. Als das Gebiet zu Polen kam, achtete er auf eine gleich gelagerte gute Ausbildung<br />

seines Sohnes in Deutsch, d. h. Markowitsch stand mindestens zur Hälfte im deutschen<br />

Kulturkreis. Als polnischer Soldat kam er in sowjetrussische Gefangenschaft und nach<br />

Sibirien. Von Hitlers Gesetzten und auch durch begangene Verbrechen am Judentum fühlte er<br />

sich sozusagen aus dem deutschen Kulturkreis ausgestoßen und kam als Offizier und Rächer<br />

mit der sowjetisch-polnischen Armee aus dem Osten. Als er aber in Oberschlesien sah, dass<br />

die deutschen Weberinnern genauso abgearbeitet und verbraucht an den Maschinen standen<br />

wie die in Posen und in der Sowjetunion, wusste er mit seiner Rache nichts mehr anzufangen.<br />

Er hätte ja Veranlassung gehabt, unsere Gesellschaft zu meiden, er fühlte sich aber eher zu<br />

uns hingezogen, tauschte und las wieder deutsche Literatur, unterhielt sich gern mit mir auf<br />

Spaziergängen in und um Oppelsdorf zu tiefgründigen Fragen. Ein eigener Sohn von ihm in<br />

geschiedener Ehe war in der Sowjetunion geblieben.<br />

Wie schon gesagt, die Gesellschaft traf sich ganz ungezwungen, jeder brachte einen Teil<br />

zu den Mahlzeiten mit,. aus Donaths Bierstube konnte man damals noch vom Fass einen Krug<br />

Bier holen, man tauschte Bücher und Ansichten darüber und erzählte sich Geschichten von<br />

Früher, denn Fernsehern gab es glücklicherweise damals noch nicht, dabei auch folgende<br />

Begebenheit, die ich weitergeben will:<br />

− Im alten Bad Oppelsdorf gab es den Taxi-Unternehmen Willi Schäfer mit einem alten<br />

offenen Phänomen. Ein kurender Herr mietet das Taxi an einem lauschigen Sommerabend,<br />

da er in Zittau das Nachleben wahrnehmen wollte. Man fuhr also voller Genuss und<br />

langsam im offenen Wagen durch die Natur, der Fahrgast in Frack und gestärktem weisen<br />

Hemd hatte sich eine Zigarre angesteckt, aber während der Fahrt kratzte er sich seltsam oft<br />

oder schlug sich mit der Hand auf den Frack. In Zittau angekommen, erhellte sich das<br />

seltsame Gebaren, denn vom gestärkten Hemd waren durch Funkenflug und Glimmbrand<br />

nur die Manschetten und der Kragen übrig geblieben.<br />

Zur Erheiterung der Gesellschaft gab es auch Hundefuhre-Schaufahren, d. h. unser<br />

Gespann, gehoben durch die Aufmerksamkeit der Gäste, gelenkt durch Jutta, paradierte<br />

geradezu die Villenstraße rauf und runter und alle Manöver klappten bestens.<br />

Was sonst noch alles unter den Tieren auf dem Hof geschah – nachfolgend:<br />

61


Die Geschichten von den lieben Tieren, die ich hier abschließend aufschreiben möchte,<br />

sind nur einige von vielen. Eines aber haben sie alle gemeinsam, nämlich, das Haus mit dem<br />

großen Garten, in dessen Bereich das alles geschah.<br />

Unser Grundstück lag am Fuße des Sudetengebirges, in dörflicher Einsamkeit, von Wald<br />

und Getreidefeldern umschlossen. Der Wald hatte sich von dem das Grundstück umgebenden<br />

Birkenholzzaun nicht ganz aufhalten lassen und hatte eine Vertreter bis in den Garten hinein<br />

und am Zaune entlang um das ganze Haus geschickt. So wuchsen denn am Zaune Bäume und<br />

Sträucher aller Arten, die es bei uns gibt. Neben das kleine schon über hundert Jahre alte Haus<br />

hatte sich eine Reihe mächtiger Tannen gestellt, die mit ihren untersten Ästen gerade noch<br />

über das Dach strichen. Sie schützten das kleine Haus vor Blitz und Nordwind. Es wäre<br />

müßig diesen Erdwinkel noch genauer zu beschreiben wie es wirklich war. Jeder male sich<br />

selbst aus, wie er sich ein solches Haus in der Einsamkeit wünschen würde und wird dann<br />

auch sicherlich das Richtige treffen. Der Garten umfasste ein kleines Reich der verschiedensten<br />

Tiere. Im Obstgarten hatten die Stare und die Bienen ihre Häuser. Im Hof befand sich die<br />

Hochburg des Tierreiches, nämlich der Stall. Dieser war ursprünglich ein Schuppen gewesen<br />

und mit der Zunahme derer die ihn bewohnen wollten immer größer ausgebaut worden. Die<br />

markantesten Persönlichkeiten im Stall waren Frau Ziege, ungefähr 6 Hühner, ein einsamer<br />

Erpel und eine Kaninchenfamilie. Nachts kamen noch drei pflichtvergessene Katzen, angeblich<br />

um Mäuse zu fangen, in Wirklichkeit aber um zu schlafen. Für die Sicherheit der<br />

Bewohner sorgten drei Hunde, die eine Hundehütte an den Stall angebaut hatten. In einem<br />

Separatstall befanden sich die Raben Jakob und Johann.<br />

Die Tiere besaßen eine weitgehende Selbstverwaltung. Das Amt der Polizei und des<br />

Abwehrdienstes übten die Hunde aus. Sie verjagten die Hühner aus dem Gemüsegarten und<br />

bissen manches Wiesel tot. Die Katzen, denen die Schädlingsbekämpfung oblag, waren faul<br />

und pflichtvergessen; sie führten das Leben einer Rentnerschicht. Die Mäuse mehrten sich in<br />

Haus und Garten. Im Heuschuppen schliefen die Katzen nicht mehr, weil sie dort angeblich<br />

von den Mäusen gestört wurden. Nur während der Zeit der großen Katzenhochzeiten schrien<br />

und kreischten sie so furchtbar und greulich, dass die Mäuse von selbst in den Wald<br />

auswanderten. Einen Teil dessen, was ich in dieser Tiergemeinschaft beobachtete will ich<br />

nachfolgend erzählen.<br />

August der Starke<br />

August war ein Kaninchenherr. Er hatte eine unter seinesgleichen seltene Kraft und Größe.<br />

Schließlich war er als letzter seines Stammes übrig geblieben, aber keiner wollte ihn ob seiner<br />

Schönheit schlachten. Er bekam eine Art Gnadenbrot, jedoch behagte August das einsame<br />

Rentnerdasein hinter Gittern nicht besonders. Eines schönen Tages war er jedenfalls ausgebrochen.<br />

Das erste, was in einem solchen Fall zu tun war – die Hunde, drei an der Zahl, hinter<br />

Schloss und Riegel zu setzen. Danach wurden die Nachforschungen nach dem Verbleib<br />

Augusts aufgenommen. Aber alles Rufen und mit Stöcken an die Bäume schlagen führte zu<br />

keinem Erfolg. August erschien nicht. Schließlich wurde ein Hund zum Suchen zur Hilfe<br />

geholt. Dieser erhielt vorher eine Predigt, dass er August auf keine Fall beißen oder fressen<br />

dürfe, sondern nur suchen solle. Der Hund wedelte mit dem Schwanz und spielte scheinheilig<br />

den Braven. Dann wurde er auf die Spur gesetzt und fegte sogleich wie verrückt in der<br />

Gegend umher und hatte nur noch Mord im Sinne. Vor einem Ziegelhaufen verhielt er, bellte<br />

wie toll und versuchte die Steine wegzuräumen. Während man noch überlegte, wie August<br />

unter den Ziegeln vorzuholen sei, geschah das Unerwartete. Plötzlich fuhr August wie ein<br />

Blitz unter den Steinen vor, stürzte sich auf den Hund und ohrfeigte ihn wie rasend. Der Hund<br />

machte das dümmste Gesicht, das ein Hund machen kann und dachte überhaupt nicht an<br />

Gegenwehr. Ein um sich schlagender Hase war für ihn etwas, für was er einfach kein<br />

Programm hatte. August wurde wieder eingefangen, aber die Freiheit, die er einmal gekostet<br />

hatte, konnte er nicht mehr entbehren. Er brach immer wieder aus, verließ aber dabei nie das<br />

Gebiet des Gartens. Sämtliche Hunde, die sich ihm näherten, wurden in Flucht geschlagen.<br />

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Am Ende war es soweit, dass oftmals ein Hund mit aller Kraft um die Hausecken sauste und<br />

hinterher der streitbare Hase. Angesichts solcher Tatsachen wurde August freigesprochen.<br />

Abends suchte er selbst seinen Stall wieder auf. Er erhielt den Beinamen „der Starke“.<br />

Die Raben Jakob und Johann<br />

Letzte glückliche Zeit in Oppelsdorf<br />

An sie erinnere ich mich besonders gern. Jakob und Johann stammten aus einem Nest. Jakob<br />

war herausgefallen und hatte sich verletzt. Er fand bei uns seine Pflege. Johann rettete ich vor<br />

einem blutigen Ende. Bevor ich ihn bekam, musste ich erst einer Waldohreule nachjagen, die<br />

ihn mit sich schleppte. Die beiden Raben gewöhnten sich rasch an ihre Umgebung. Sehr bald<br />

waren sie voll ausgewachsen und hatten ein gewichtiges Wort im Garten mitzureden. Es lag<br />

wohl in ihrem Charakter, dass sie für die anderen bald der böse Geist Mephisto wurden. Sie<br />

hielten mit ihren Streichen alles in Bewegung und Aufregung. Bei diesem teuflischen Werk<br />

kamen ihnen ihre großen, spitzen Schnäbel sehr zustatten. Wie jeder ordentliche Teufel, so<br />

hatte auch jeder von ihnen einen versteckten Schatz. Alles was blinkte und glitzerte, wurde<br />

gestohlen. Beim Aufsuchen des Schatzes wurde strengste Vorsicht gewahrt. Glaubten sie sich<br />

schließlich unbelauscht, so breiteten sie wohl ihre Schätze in der Sonne aus, betrachteten sie<br />

von allen Seiten, sortierten und verstecken sie wieder beim leisesten Geräusch. Aber nicht nur<br />

solche Schätze wurden gelagert, auch Futter, Fleischstückchen, welche sie nicht mehr verschlingen<br />

konnten, wurden vergraben. Allerdings bezeigten unsere Hunde für diese fressbaren<br />

Schätze reges Interesse. Oft konnte man beobachten, wie ein Rabe zu seinem Versteck eilte,<br />

während ein Hund, von ihm ungesehen sich hinterher schlich. Nachdem der Rabe sein<br />

Vorratsmagazin verlassen hatte, fraß der Hund alles weg. Der Ärger des Raben, wenn er seine<br />

leere, verwüstete Vorratskammer bemerkte, ist unbeschreiblich. Er setzte sich ungefähr fünf<br />

Minuten an den Rand der Grube und dachte angestrengt nach, wer der Täter sein konnte. Den<br />

Rest des Tages verbrachte er unbeweglich vor sich hin brütend auf einem Baum. Die Wut in<br />

ihm musste schrecklich toben. Eine Menschenhand, die ihn streicheln wollte, bekam sofort<br />

einen fürchterlichen Schnabelhieb. Aber dann erhellte sich seine Miene, er hatte ein Objekt<br />

seiner Rache erspäht!<br />

Die Katzen bekamen ihre Milch in einer Schüssel auf einem Steinpflaster. Beim Milchtrinken<br />

haben sie die Gewohnheit den Schwanz lang auf der Erde auszustrecken. Während die<br />

Katze im Genuss ihrer Milch schwelgte, schlich sich der Rabe auf den Zehenspitzen von<br />

63


hinten an. Beim Katzenschwanz machte er halt. Wie ein Holzfäller seine Axt, so hob er seinen<br />

spitzen, fingerlangen Schnabel zum furchtbaren Hieb. Das harte Steinpflaster machte den<br />

Hieb noch schmerzhafter. Die Katze schrie so furchtbar, wie selbst auf den höchsten<br />

Katzenhochzeiten nicht geschrien wird. Dabei sprang sie mit allen vier Beinen steif in die<br />

Luft und fiel in ihre Milch, die natürlich „für die Katz“ war. Der schwarze Teufel wusste nun<br />

nicht, was er vor Freude anstellen sollte. Er krächzte, schlug mit den Flügeln und tanzte von<br />

einem Bein auf das andere. Die Katze raste inzwischen halb irrsinnig vor Schmerz und<br />

Schreck im Garten umher. Der Schwanz war dick geworden und an der Hiebstelle hatte sich<br />

ein Knoten gebildet. Erst nach stundenlangem Lecken ging die Geschwulst wieder weg. Nach<br />

einer solchen Genugtuung, hatte der Rabe sein seelisches Gleichgewicht wiedergewonnen. Es<br />

gab für die Raben auch noch eine andere Art Tierquälerei. Sie bemerkten einen Hund, der mit<br />

sich und der Welt zufrieden, an einem Knochen knabberte. Einer der Raben postierte sich vor<br />

dem Knochen, der andere nahm am Schwanz Aufstellung. Sobald die Plätze eingenommen<br />

waren, begann der eine Rabe die Offensive, indem er dem Hund auf bekannte Art in den<br />

Schwanz hackte. Der Hund fuhr wutschnaubend herum und bekam sofort einen zweiten Hieb<br />

auf die Nase. Während der Hund laut heulte und sich mit der Pfote die Nase massierte,<br />

schleppten die Attentäter den Knochen mit vereinten Kräften bis aufs Schuppendach. Sobald<br />

der Hund zu sich gekommen war und den Verlust entdeckt hatte, geriet er in rasend Wut. Er<br />

versuchte die Schuppenwand hochzuklettern, was den Beiden auf dem Dach die größte<br />

Freude machte. Allmählich beruhigte sich der Hund und versuchte es auf die andere Art,<br />

indem er sich hinsetzte und „schön“ machte, was aber die beiden Gauner nicht beeindrucken<br />

konnte. Sie nahmen den Knochen und rollten ihn hin und her. Der Hund sauste dementsprechend<br />

immer um den Schuppen herum. Diese Belustigung wurde stundenlang getrieben.<br />

Meist siegte aber die Gerechtigkeit, weil nämlich die beiden Raben oft untereinender in Streit<br />

gerieten und das Streitobjekt zu dem rechtmäßigen Besitzer entglitt. Die Raben zeigten auch<br />

einen schädlichen Ehrgeiz. Der eine hatte sich in den Kopf gesetzt, dass nur jede fünfte<br />

Steckzwiebel stehen dürfe. Den Rest zerrte er, sooft sie auch wieder eingesetzt wurde, heraus.<br />

Eines Tages wurde ein Teil der Stangenbohnen geerntet. Die Raben halfen beim Pflücken<br />

eifrig mit. So schön, so gut. Aber, die beiden hörten nicht auf zu arbeiten, pflückten zwei<br />

Tage hintereinander, bis auch die letzte Bohne auf der Erde lag.<br />

Wurde im Garten umgegraben, so verschlangen die Raben eine Unmenge Regenwürmer.<br />

War der Kropf voll, dass die Regenwürmer wieder zum Schnabel heraus krochen und sich<br />

nicht mehr schlucken ließen, so wurde sehr klug eine Vorratskammer gegraben. Die Regenwürmer<br />

wurden aufgelesen und hineingeworfen. Dann wurde ein Blatt darüber gedeckt und<br />

darauf Erde gescharrt. Das Ganze wurde schön fest getreten. Nach zwei, drei Tagen wurde<br />

dann die Vorratskammer geöffnet. Natürlich war sie leer. Der Zorn war groß, der Rabe hatte<br />

die Hunde im Verdacht uns sann auf Rache.<br />

Damit beginnt eigentlich diese Geschichte von neuem.<br />

19. Januar, Februar und März 1957<br />

Das Vorjahr hatte in Ungarn einen Aufstand gegen die sowjetische Vorherrschaft gebracht<br />

und auch in Polen zu Lockerungen geführt. Die Generation der älteren Deutschen war mit<br />

dem Verbleib in einer polnisch dominierten Welt in eine Sackgasse geraten, in deren bescheidenen<br />

wirtschaftlichen Verhältnissen sie in der Regel aufgrund der Sprachbarriere zusätzlich<br />

zurückgesetzt waren, gleichzeitig lief die Lebenszeit ab und man konnte sich ausrechnen, dass<br />

man in Deutschland sich wieder ganz unten einreihen muss.<br />

Aus diesem Grunde wurde die von polnischer Seite neu eröffnete Möglichkeit zu Ausreise<br />

von allen (dabei Dominoeffekt) angenommen. Ein einfacher Grenzverkehr zum wechselseitigen<br />

Besuch von Verwandten und Freunden und zur Arbeitsaufnahme in Deutschland trat<br />

erst 1972 ein und war damals bei der Beweglichkeit des sozialistischen Lagers nicht zu<br />

erwarten.<br />

64


Mutter mit Raben und Hund Foxine<br />

65<br />

Mutter mit Frau Sznajder und?,<br />

sowie Hund Tarzan


Nicht in der damaligen Sicht war auch die später eingetretene Möglichkeit des BRD-<br />

Doppelpasses für Schlesier, was Arbeit in der BRD und Wohnen in der schlesischen Heimat<br />

ermöglichte. Ich wäre wahrscheinlich blind auf letztere Möglichkeit zu gesteuert, wenn ich<br />

einige Jahre älter gewesen wäre und dann eine feste Bindung an ein polnisches Mädchen<br />

gehabt hätte. Mit und ohne Eltern im Lande wäre bei unserem geringen Einkommen für mich<br />

nur Erwerbsarbeit und ein Fernstudium in Frage gekommen. Als mich 56 erste Aufforderungen<br />

trafen, an einer Disko teilzunehmen, musste ich ablehne, denn ich hatte weder Halbschuhe<br />

noch Jacke und Hose, ich ging immer noch in Kleidung, die meine Mutter aus einem<br />

warmen Deckenstoff nähte, trug im Sommerhalbjahr selbst gemachte Sandalen oder Tennisschuhe<br />

und im Winterhalbjahr ein Paar hohe Arbeitsschuhe. Oberkleidung war, auch in der<br />

kalten Jahreszeit, ein blauer, innen gummierter Regenmantel. Ich habe unter dieser Bescheidenheit<br />

aber nicht gelitten, sonder fand das ganz normal und auskömmlich. Aber wie gesagt,<br />

eine andere Welt mit höheren Anforderungen klopfte schon an.<br />

Ich hatte also aufgrund meiner Jugend keine Handhabe, um meine Eltern von der<br />

Ausreise abzuhalten oder um selbst einen anderen Weg zu gehen, aber ich war innerlich<br />

entsetzt und verzweifelt, wie alles was wir uns erhalten und aufgebaut hatte, aufgegeben<br />

wurde.<br />

1. Mai 1950<br />

Ab Februar verpackte ich in zweiwöchiger Arbeit die Wohnungseinrichtung von Frau<br />

Lehmann, dann fing im März bei uns die gleiche Arbeit an, Rudolf Fischer schrieb auf die<br />

zerlegten Sachen mit schwarzer Farbe unsere neue Adresse in Deutschland. In Reichenau bei<br />

Onkel und Tante und Großmutter Preibisch geschah das Selbe. Als alles in Türchau in einen<br />

Waggon verladen war, übernachteten wir irgendwo. Am nächsten Tag musste ich noch einmal<br />

nach Oppelsdorf zurückgehen, um mich am Gemeindeamt abzumelden, dann war noch etwas<br />

bei unseren Nachmietern abzugeben. Als ich auf dem Hofe war, krachte es hinter mir und<br />

unsere Ziege steckte den Kopf durch das Schuppenfenster. Tarzan lag an der Kette und<br />

winselte mich an (die beiden Hündinnen lebten nicht mehr). Ich musste gehen und dann auch<br />

das Gartentor von außen aus der Hand lassen.<br />

Tod unglücklich und gebeugt ging ich von Oppelsdorf fort.<br />

66


1. Mai 1955<br />

67<br />

Die kühne Irene ca. 1955


Bei Familie Joschko mit oben die med. Schwestern, links Else dann Margarete<br />

Manfred Horn bestand 1957 in Zgorzelec sein<br />

Abitur mit „Sehr gut”; es wurde aber im<br />

Westen nicht anerkannt und er mußte die<br />

Prüfung wiederholen.<br />

ENDE<br />

Ich werde später aufschreiben, wo und wie ich diese Prüfung bestanden habe...<br />

68<br />

Klaus Joschko machte sein Abitur 1960 in<br />

Berlin


Stellungnahme<br />

Als ich gehen musste, war ich schon ein politischer junger Mensch, der sich einordnen<br />

konnte. Ich sagte mir, wenn die Welt so ist, dass man entweder vertreibt (bei Hitlers Sieg<br />

wäre ich gewiss irgendwo in Uniform zum Vertreiber geworden) oder vertrieben wird, so ist<br />

mir besser getan, wenn ich Vertriebener bin.<br />

Später habe ich klar gesehen, dass die strategischen Vertreiber nicht die Polen waren,<br />

sondern die großen Siegermächte:<br />

− Die Amerikaner waren es gewohnt, dass sie den verzweifelten Tausenderlei der einst 15<br />

Millionen Indianer die Heimat nahmen und die Unterlegenen tausende Kilometer weiter in<br />

unfruchtbare Reservate warfen.<br />

− Der Stalinismus verfuhr mit verdächtigen Völkerschaften nicht anders im Riesenreich<br />

Sowjetunion.<br />

− Die englische Politik wollte schon nach dem ersten Weltkrieg Deutschland im Osten stark<br />

reduzieren, so einfach aus Ansichtssache, obwohl nie ein Deutscher Englands zum Teil<br />

blutigen Herrschaftsbereich in Frage stellte.<br />

Heute sehe ich, dass auch eine Zwischenlösung unter polnischer Verwaltung der Deutschen<br />

Ostgebiete möglich gewesen wäre. Wir konnten, ca. 9 Millionen die wir waren, die im<br />

Osten vertriebenen ca. 1,6 Millionen Polen unter uns aufnehmen. Man konnte für sie Siedlungen<br />

bauen, viele unser Bauernhöfe wurden frei, da alle Söhne gefallen waren, auch Wohnungen<br />

und Arbeitsplätze wurden so frei. Der polnische Staat wäre zudem als Garant anwesend<br />

gewesen. Ganz von selbst hat sich, in meinen <strong>Erinnerungen</strong> nachlesbar, eine Vielzahl von<br />

sofort eingetretenen deutsch/polnischen Liebesbündnissen ergeben, die zu lebenslangen Ehen<br />

wurden. Wenn ich zudem auf die letzten ca. 150 Jahre Deutscher Geschichte blicke, so sehe<br />

ich Deutschland historisch bei unseren großen Städten und im Ruhrgebiet, auch auf dem<br />

flachen Land, mit wahrscheinlich Millionen ethnisch polnischer Familien aufgesiedelt. Auch<br />

in den letzte 50 Jahren weilten ständig ca. 2 Millionen Polen in Deutschland, von denen viele<br />

auf angenehme Weise durch zwischenmenschliche Beziehungen festgehalten bei uns bleiben,<br />

was ein ganz selbstverständlicher Vorgang ist und für uns beste Staatsbürger ergibt. Für eine<br />

interne Deutsch/Polnische Sühnelösung in den Deutschen Ostgebieten ohne neue Ungerechtigkeit<br />

war aber die Zeit noch nicht reif. Der Ostblock als Reich des proletarischen Internationalismus<br />

befand sich in einer totalen Verkrampfung. Lockere zukunftsweisende Lösungen<br />

waren nicht vorstellbar.<br />

Auch sollten wir im Rückblick sehen, dass man uns in Schlesien, Ostbrandenburg, Pommern<br />

und Ostpreußen zwar alles nehmen konnte, im Nachgang noch unter der Erde nach von<br />

uns versteckten Sachen suchte, dass man aber das wertvollste geistige Gut, was über diesem<br />

preußischen Land lag, nicht wahrgenommen hat, so dass unsere ca. 250 Jahre lange (1685 –<br />

1933) preußische Tradition von Toleranz und gewissenhafter Pflichterfüllung in der Solidargemeinschaft<br />

des Staates, bei uns geblieben ist. Dieses wertvolle Erbe sollten wir jeder für<br />

sich erwerben, um es für Deutschland zu nutzen.<br />

Die jetzt in unserer Heimat leben, sie sollen gut leben!<br />

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