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Der Mann aus Dem Fegefeuer

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John Leake<br />

<strong>Der</strong> <strong>Mann</strong><br />

<strong>aus</strong> DeM<br />

FegeFeuer<br />

Das Doppelleben des<br />

Jack unterweger<br />

Aus dem Englischen<br />

von Clemens J. Setz<br />

Residenz Verlag


Bildnachweis<br />

[1] Wilhelm Schraml, [2] Polizei Wien, [3] Wilhelm Schraml, [4] Wilhelm Schraml,<br />

[5] Foto Votava, [6] Robert Newald/picturedesk.com, [7] Willi Hengstler/epo-film,<br />

[8] Nikol<strong>aus</strong> Similache/picturedesk.com, [9] Fotoatelier Gert Heide 1991,<br />

[10] Fotoatelier Gert Heide 1991, [11] Fotoatelier Gert Heide 1991, [12] Fritz Fiedler,<br />

[13] Andreas Hermann, [14] Andreas Hermann, [15] Andreas Hermann, [16] Andreas<br />

Hermann, [17] Polizei Wien, [18] Polizei Wien, [19] Polizei Wien, [20] Polizei Wien,<br />

[21] Manfred Burger/picturedesk.com, [22] Polizei Wien, [23] Polizei Wien,<br />

[24] Peter Kurz/picturedesk.com, [25] Nikol<strong>aus</strong> Similache/picturedesk.com,<br />

[26] Robert Newald/picturedesk.com, [27] Foto Votava<br />

Impressum<br />

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek<br />

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen<br />

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<br />

http://dnb.ddb.de abrufbar.<br />

www.residenzverlag.at<br />

© 2008 Residenz Verlag<br />

im Niederösterreichischen Presseh<strong>aus</strong><br />

Druck- und Verlagsgesellschaft mbH<br />

St. Pölten – Salzburg<br />

Die Original<strong>aus</strong>gabe erschien 2007 unter dem Titel<br />

»Entering Hades. The Double Life of a Serial Killer«<br />

bei Farrar, Str<strong>aus</strong> and Giroux (Sarah Crichton Books), New York.<br />

Alle Rechte, insbesondere das des <strong>aus</strong>zugsweisen Abdrucks<br />

und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.<br />

Umschlaggestaltung: Joe Wannerer<br />

Umschlagbild: Nikol<strong>aus</strong> Similache, picturedesk.com<br />

Grafische Gestaltung/Satz: Joe Wannerer<br />

Lektorat: Günther Eisenhuber<br />

Gesamtherstellung: CPI Moravia Books<br />

ISBN 978-3-7017-3101-5


[1] ein rätsel<br />

Am 11. Juli 1991 sah der Himmel über Los<br />

Angeles eine Sonnenfinsternis. Um 10 Uhr 12 begann<br />

sich der Mond vor die Sonne zu schieben und um 11 Uhr<br />

28 bedeckte er bereits 69 Prozent ihrer Fläche. An diesem<br />

Morgen fuhren ein paar Männer mit ihren Kindern die<br />

Corral Canyon Road in Malibu hinauf, um das Ereignis zu<br />

beobachten.<br />

Die Hügel von Malibu, nordwestlich der Stadt, bilden<br />

eine Landschaft von zerklüfteter Schönheit, die<br />

sich gegen alle Bemühungen menschlicher Besiedelung<br />

feindselig verhält. Die harzhaltigen Büsche, vom Santa-<br />

Ana-Wind <strong>aus</strong>gedörrt, entzünden sich leicht während<br />

der trockenen Jahreszeit, die Feuer brennen alles nieder,<br />

was ihnen in den Weg kommt. Zwei Meilen landeinwärts<br />

zweigt eine alte Feuerwehr-Zufahrtsstraße von der<br />

Corral Canyon Road ab und führt einen steilen Hügel hinauf.<br />

<strong>Der</strong> Panoramablick und die Abgeschiedenheit machen<br />

das grasige Plateau zu einem beliebten Treffpunkt<br />

für Liebespärchen, die den Kitzel von Sex unter freiem<br />

Himmel suchen. Ein paar leere Weinflaschen und herumliegende<br />

Unterwäsche zeugen davon.<br />

Die Männer und ihre Kinder wollten zum höchsten<br />

Punkt des Plate<strong>aus</strong>, um die Sonnenfinsternis zu sehen,<br />

aber als sie die Spitze erreichten, waren sie von dem, was<br />

sie vor sich auf dem Boden liegen sahen, so entsetzt, dass<br />

sie nicht mehr in den Himmel schauen konnten. Um 11<br />

Uhr 15, als sie das Büro des L.A. County Sheriffs anriefen,<br />

sprach zuerst einer der Männer, dass sie eine Leiche<br />

gefunden hätten, aber als er eine Wegbeschreibung geben<br />

sollte, verlor er die Fassung und begann zu fluchen.<br />

Einer der anderen Männer übernahm das Telefon und beschrieb<br />

den genauen Fundort der Leiche. Einige Stunden<br />

später war Deputy Sheriff Ronnie Lancaster am Tatort.<br />

Erschossene oder erstochene Menschen gehörten zu<br />

sei nem beruflichen Alltag, und wie alle guten Detectives<br />

17


hatte er sei nen Verstand darauf trainiert, sie als Beweis -<br />

mittel zu sehen und nicht als die, die sie einmal gewesen<br />

waren. Das Ein zige, an das er sich nicht gewöhnen konnte,<br />

war Ver wesung. Als ihn die Nachricht von der ermordeten<br />

Frau in der Nähe der Corral Canyon Road erreichte, fragte<br />

Lan caster nicht nach einer Beschreibung des Tatorts, er<br />

zog es vor, ihn ohne eine vorgefasste Meinung zu betreten.<br />

Aber eine Frage hatte er: »Ist die Verwesung schon<br />

eingetreten ?«<br />

»Ja.«<br />

»Ach, verdammt«, sagte er zu seinem Partner. »Sie<br />

ver west bereits. Bestimmt sind die Würmer schon dran,<br />

und das bedeutet, dass ich Albträume haben werde.«<br />

Sie kamen an der Zufahrtsstraße um 14 Uhr 45 an – die<br />

heißeste Zeit am heißesten Tag, an den er sich erinnern<br />

konnte. Schweißüberströmt erreichte er die Spitze des<br />

Plate<strong>aus</strong>. Das gesamte Areal war abgesperrt worden,<br />

Deputy Sheriffs und Park Rangers standen herum. Deputy<br />

Knudson, der als Erster am Tatort eingetroffen war, erstattete<br />

Bericht: »Ich habe den Anruf um 11 Uhr 51 erhalten<br />

und bin sofort losgefahren. Eine Hubschraubereinheit<br />

ist vor<strong>aus</strong> geflogen und hat mir die Richtung angezeigt.<br />

Die Männer, die die Leiche gefunden haben, haben das<br />

Polizei revier in Malibu angerufen, aber sie haben nicht<br />

ge sagt, wer sie sind, und sie haben auch nicht auf mich ge -<br />

wartet. <strong>Der</strong> Verwesungsprozess ist fortgeschritten, aber<br />

an den Brüsten kann man erkennen, dass es eine Frau<br />

ist.«<br />

Die übergewichtige Leiche lag auf dem Rücken, etwa<br />

zwanzig Meter westlich der Landstraße unter einem<br />

Lorbeer-Sumachstrauch. Ihr Gesicht war von Würmern<br />

bedeckt, die <strong>aus</strong> Nase, Mund, Augen und Ohren quollen.<br />

Ihr T-Shirt war bis zu den Schultern hochgezogen, ihr gedunsener<br />

Bauch und ihre Brüste lagen frei: um ihren Hals<br />

ein eng verknoteter Büstenhalter. Sonst war sie normal<br />

bekleidet. Die Taschen ihrer Jeans waren nach außen gestülpt.<br />

Keine Ausweise.<br />

18


Lancaster war zuversichtlich, dass sie den Fall lösen<br />

würden. »Das ist das Werk eines Geliebten oder des<br />

Ehemanns. Wenn wir den finden, ist der Fall erledigt.«<br />

»Was, wenn sie eine Nutte ist?«, fragte sein Partner.<br />

»Was soll eine Nutte hier oben? Die entfernen sich<br />

höchstens ein paar Blocks von dort, wo sie aufgelesen<br />

werden, bevor sie zur Sache kommen. Aber wir sind hier<br />

mindestens fünfundzwanzig Meilen vom nächsten<br />

Straßen strich entfernt.« Die Ermittler untersuchten den<br />

Tatort weiter, und um 17 Uhr 20 kam der Leichenwagen,<br />

um die tote Frau mitzunehmen.<br />

Lancaster war froh, dass die Arbeit erledigt war. Er<br />

wusste, dass er noch lange nicht fertig war – er würde die<br />

ganze Angelegenheit noch einmal mit einem Gerichtsmedi<br />

ziner durchgehen müssen, aber fürs Erste konnte er<br />

durchatmen. Er trat bis an den Rand des Hügels, wo die<br />

Zufahrts straße zur Corral Canyon Road hinabführte. Die<br />

Aussicht auf die Santa Monica Bay war atemberaubend,<br />

und zum ersten Mal an diesem Tag wurde ihm die Schönheit<br />

dieser Landschaft bewusst. <strong>Der</strong> Anblick hatte für ihn<br />

etwas Friedvolles. Es erschien ihm pervers, an einem solchen<br />

Ort ein derart entsetzliches Verbrechen zu verüben.<br />

In dieser Nacht plagten ihn Albträume und am Tag darauf,<br />

immer noch etwas mitgenommen, traf er Lieutenant<br />

Christianson vom Morddezernat.<br />

»Ich habe eben mit dem Leichenbeschauer gesprochen.<br />

Sie haben die Fingerabdrücke des Mädchens von der<br />

Corral Canyon Road untersucht und rate mal – sie ist eine<br />

Prostituierte. Gut gemacht, Lancaster.«<br />

»Du machst Witze!«<br />

»Sie ist mehrmals vorbestraft.«<br />

»Aber was hat sie da oben auf dem Hügel gemacht?«<br />

»Das ist dein Job. Fang am besten in der Gerichtsmedizin<br />

an. Die Autopsie ist morgen Früh um elf.«<br />

Autopsien machten ihm nicht allzu viel <strong>aus</strong>, obwohl<br />

es ihm manchmal unangenehm war, wenn ein Opfer ihn<br />

19


anstarrte. Die Augen eines Toten schließen sich nicht<br />

und sie können einen mit ihrem starren Blick gefangen<br />

nehmen. Aber Sherri Long hatte keine Augen mehr, mit<br />

denen sie ihn hätte anstarren können, sie waren von den<br />

Würmern weggefressen worden. An ihrer Stelle befanden<br />

sich zwei leere Höhlen. Lancaster spürte, wie seine Knie<br />

weich wurden, als Dr. Ribe ihren Schädel aufschnitt, um<br />

»eine große, schwärmende Masse <strong>aus</strong> mehreren t<strong>aus</strong>end<br />

Würmern, die meisten davon ziemlich groß«, freizulegen.<br />

Sie hatten den größten Teil ihres Gehirns aufgefressen,<br />

bis auf »50 ml fahlgraue Suppe«, die für die Toxikologie<br />

abgezapft wurde, zusammen mit einigen Proben von<br />

lebenden Würmerlarven. Anhand der Spezies und der<br />

Länge der Würmer konnte ein Gerichtsmediziner ablesen,<br />

wie lange das Opfer schon an seinem Fundort lag und ob<br />

es sich zuerst irgendwo anders befunden hatte.<br />

Nach Dr. Ribes Schätzung war das Opfer vier bis sieben<br />

Tage tot. »Aufgrund der anatomischen Gegebenheiten und<br />

der Anamnese« kam er zu dem Ergebnis, dass es sich um<br />

einen »Erstickungstod durch oder als Folgeerscheinung<br />

von Strangulation« handelte.<br />

Am Tag darauf las Lancaster einen LAPD-Bericht über<br />

Prostituierte, die auf ähnliche Weise ermordet worden<br />

waren. Lancaster kontaktierte Detective Fred Miller vom<br />

LAPD-Morddezernat. Als Miller die Geschichte über das<br />

in Malibu getötete Mädchen hörte, schloss er sofort, dass<br />

der Mörder, hinter dem er her war, wieder zugeschlagen<br />

hatte.<br />

Das erste Mal hatte der Mörder in der Nacht des 19. Juni<br />

1991 zugeschlagen. Die zweiundzwanzigjährige Shannon<br />

Exley war bei Truckern sehr beliebt, die Nahrungsmittel<br />

in den Bezirk über die Seventh Street nach Downtown<br />

L.A. lieferten. Sie mochten ihr blondes Haar und ihr jugendliches<br />

Aussehen. Trucker zu bedienen war harte und<br />

schmutzige Arbeit, aber sie brauchte das Geld, um ihre<br />

Crack-Sucht zu finanzieren. Am Abend des 19. Juni 1991<br />

20


ief sie ihren Vater an, bevor sie zur Arbeit ging, und erzählte<br />

ihm, dass sie versuchen wolle, ihr Leben auf die<br />

Reihe zu bekommen.<br />

Ihr letzter Kunde gabelte sie auf der Seventh Street auf,<br />

kurz nach Mitternacht, und fuhr mit ihr ostwärts, über<br />

den L.A. River zum Pfadfinderinnenzentrum an der Ecke<br />

Seventh und Fickett. Auf dem leeren Grundstück hinter<br />

dem Gebäude, der von Eukalyptusbäumen umstanden<br />

war, konnte man weder sein Auto sehen noch Shannon<br />

Exleys Schreie hören; der Mörder hatte so viel Zeit wie er<br />

brauchte.<br />

Die Wahl des Tatorts war ein Hinweis darauf, dass er<br />

den Mord geplant hatte, denn es war keiner der Orte, wo<br />

Huren ihre Geschäfte abwickelten. Normalerweise fuhren<br />

sie mit ihren Kunden nur ein, zwei Blocks weit und<br />

parkten irgendwo im angrenzenden Warehouse District.<br />

Shannon hätte von sich <strong>aus</strong> nie vorgeschlagen, an einen<br />

abgeschiedenen Ort zu fahren, der meilenweit von ihrer<br />

Stammecke entfernt war. <strong>Der</strong> Mörder musste die Stelle<br />

vorher <strong>aus</strong>gewählt haben, da sie ihm mitten in der Nacht<br />

nicht aufgefallen wäre. Zum Zeitpunkt, da sie in seinen<br />

Wagen stieg, wusste er, wohin es gehen würde und wann<br />

er langsamer werden musste, um rechts in die schmale,<br />

von Bäumen abgeschirmte Sackgasse abzubiegen.<br />

<strong>Der</strong> Mörder hatte sie mit ihrem eigenen BH erdrosselt.<br />

Detective Miller wusste von Prostituierten, die erwürgt,<br />

erschlagen, erschossen oder erstochen worden waren,<br />

aber niemals hatte er davon gehört, dass eine mit ihrem<br />

eigenen BH erdrosselt worden war, der dann eng verknotet<br />

um ihren Hals zurückgelassen wurde. Nicht nur, dass<br />

es auf eine gewisse Art obszön war, der Täter schien auch<br />

einige Übung darin zu haben. Miller vermutete, dass der<br />

Mörder von Shannon Exley zuvor möglicherweise schon<br />

andere Frauen ermordet hatte und es wahrscheinlich<br />

auch wieder tun würde.<br />

Beim städtischen Raub- und Morddezernat hatte Miller<br />

mit legendären Detectives wie John »Jigsaw John« St. John<br />

21


gearbeitet, der die Polizeimarke mit der Nummer 1 trug.<br />

Bis zum Sommer 1991 hatte er so viele Serienmorde untersucht<br />

und mitverfolgt wie kein anderer Polizist im Land.<br />

Über die Jahre hatte er sein Wissen darüber mit einschlägiger<br />

Literatur <strong>aus</strong> dem FBI ergänzt und Seminare besucht.<br />

Was man von den Experten in Quantico lernen konnte,<br />

war folgendes: Ein guter Beamter wartet nicht erst darauf,<br />

dass sich ein bestimmtes Muster ergibt, das beweist, dass<br />

verschiedene Morde das Werk eines Einzeltäters sind, er<br />

achtet auf Hinweise, ob ein Mord das Werk eines <strong>Mann</strong>es<br />

ist, der wieder zuschlagen wird. Wer diese Hinweise erkannte<br />

und mit den Polizeieinheiten der ganzen Stadt<br />

ständig in Kontakt blieb, konnte einem Mörder schneller<br />

auf die Spur kommen.<br />

Im Juni 1991 war Miller Chef der Sonderabteilung des<br />

Morddezernats geworden, die deshalb so genannt wurde,<br />

weil sie komplexe Fälle bearbeitete, die möglicherweise<br />

sehr lange Zeit in Anspruch nehmen würden. Morgen<br />

für Morgen betrat er sein Büro im dritten Stock des LAPD<br />

Parker Center und las sich Telex-Berichte von Morden <strong>aus</strong><br />

dem gesamten Bundesgebiet durch. Am Morgen des 24.<br />

Juni 1991, einem Montag, las er den Bericht über den Mord<br />

an Shannon Exley. Nachdem sie am vorhergehenden<br />

Donnerstag gefunden worden war, untersuchten nun die<br />

Beamten der Polizeieinheit in dem östlich der Innenstadt<br />

gelegenen Hollenbeck den Fall. Miller kontaktierte sie,<br />

um mehr zu erfahren.<br />

Am Morgen des 20. Juni fanden ein paar Mädchen, die<br />

auf dem leeren Grundstück hinter dem Pfad fin derinnenzentrum<br />

Gerümpel aufsammelten, die Leiche. Sie lag auf<br />

dem Bauch, nackt bis auf das T-Shirt, das über ihre Brüste<br />

hochgezogen war, und einem Paar blauer Socken. Die<br />

restliche Kleidung fehlte. Es konnte kein Ausweis gefunden<br />

werden, aber <strong>aus</strong> ihren Finger abdrücken ergaben sich<br />

ihre Identität und ihr Vorstrafen register als Prostituierte.<br />

Sie war an der Ecke Seventh und Towne auf den Strich<br />

gegangen .<br />

22


Miller erzählte den Beamten von Hollenbeck von seiner<br />

Vermutung, dass der Mörder von Shannon Exley ein<br />

<strong>Mann</strong> war, der noch einmal zuschlagen könnte. Also<br />

würden sie ihn möglicherweise nicht in Exleys sozialem<br />

Umfeld finden. Vielleicht war der Mörder auch schon<br />

früher einer ihrer Kunden gewesen, aber es war eher unwahrscheinlich,<br />

dass sie ihn kannte. Die Untersuchung<br />

von Morden an Huren war schwierig: 1991 besaß die Stadt<br />

4,5 Millionen männliche Einwohner, dazu noch t<strong>aus</strong>ende<br />

Touristen und die LKW-Fahrer, die die Stadt von überall<br />

her belieferten. Shannon Exley hätte in der Nacht ihres<br />

Todes zu fünfzehn verschiedenen Fremden ins Auto steigen<br />

können.<br />

Eine Woche später las Miller den Bericht über ein totes<br />

Mädchen, das auf dem Parkplatz einer Frachtfirma in der<br />

Myers Street in Hollenbeck gefunden worden war, und rief<br />

sofort die Beamten, die den Exley-Fall untersuchten. Ein<br />

Obdachloser, der im Industriegebiet entlang des L.A. River<br />

nach Feuerholz gesucht hatte, war auf eine Leiche gestoßen.<br />

Sie lag auf dem Rücken unter einem LKW-Anhänger,<br />

um ihren Hals ein eng verknoteter BH. <strong>Der</strong> Großteil ihrer<br />

Kleider fehlte, die einzigen Dinge, die man in der Nähe<br />

der Leiche fand, waren eine Socke, ein T-Shirt und eine<br />

Spritze. Fingerabdrücke und weitere Untersuchungen ergaben<br />

ihre Geschichte.<br />

Irene Rodriguez war dreiunddreißig Jahre alt und im<br />

April 1991 in einem Bus <strong>aus</strong> El Paso, Texas, wo sie mit ihrem<br />

Partner und ihren vier Kindern lebte, angekommen. Die<br />

Mutterschaft konnte ihrer mädchenhaften Figur nichts<br />

anhaben – vielleicht trug ihre Heroinsucht dazu bei, dass<br />

sie dünn blieb. Ihr Gesicht war fein geschnitten, sie hatte<br />

große, weit <strong>aus</strong>einanderliegende Augen. Kurz vor dem<br />

Muttertag fuhr sie zu ihren Eltern nach L.A., aber anstatt<br />

zu ihrem <strong>Mann</strong> und ihren Kindern nach El Paso zurückzukehren,<br />

blieb sie in der Stadt und ging auf den Strich,<br />

um ihre Sucht zu finanzieren. Ihre Zimmergenossin sah<br />

sie zum letzten Mal am Freitag, den 28. Juni, um vier Uhr<br />

23


nachmittags, wie sie das Apartment verließ, um auf der<br />

Seventh mit ihrer Arbeit zu beginnen.<br />

»Er hat zum zweiten Mal zugeschlagen«, sagte Miller<br />

zu den Beamten in Hollenbeck. »Und ich wäre nicht überrascht,<br />

wenn er am 4.-Juli-Wochenende wieder zuschlägt.<br />

Behaltet euren Bezirk im Auge. Wir stellen die Seventh<br />

Street unter Überwachung.«<br />

Am Abend des 3. Juli ging Sherri Long ihrem Geschäft<br />

auf dem Sunset Boulevard in Hollywood nach, zirka sieben<br />

Meilen von der Seventh Street entfernt. Wie viele<br />

Mädchen <strong>aus</strong> dem Mittleren Westen war sie nach L.A. gekommen,<br />

weil sie sich ein aufregenderes Leben erhoffte.<br />

Bald musste sie allerdings erkennen, dass einen eine<br />

Grundschul<strong>aus</strong>bildung und ein paar hundert Dollar in<br />

der Stadt der Engel nicht sehr weit brachten. Sie kam mit<br />

den falschen Leuten in Berührung, nahm Drogen, sie war<br />

auf dem Weg nach unten.<br />

Touristen <strong>aus</strong> aller Welt unternehmen Pilgerreisen<br />

nach Hollywood, als wäre es ein mythischer Ort. Sie<br />

kommen an den »Walk of Fame« auf dem Hollywood<br />

Boulevard und Vine Street und gehen dann Richtung<br />

Sunset Boulevard weiter. Gute Beobachter bemerken vielleicht<br />

die Schilder zwischen den Querstraßen: ABBIEGEN<br />

ZWISCHEN 23:00 UND 7:00 VERBOTEN. Kümmert euch<br />

nicht um die Mädchen, die auf der gegenüberliegenden<br />

Straßenseite an der Ecke herumstehen, fahrt einfach weiter.<br />

Heutzutage ist es schwer, Prostituierte von modisch<br />

gekleideten Teenagern zu unterscheiden, aber im Sommer<br />

1991 war es offensichtlich: der Sunset Boulevard zwischen<br />

La Brea und Fairfax war der größte Straßenstrich in ganz<br />

Amerika.<br />

Von Hollywood <strong>aus</strong> verläuft der Sunset Boulevard<br />

etwa siebzehn Meilen nach Westen, durch Beverly Hills<br />

und Brentwood bis zum Pazifik. Vom Ende des Sunset<br />

Boulevard führt der Pacific Coast Highway entlang der<br />

Küste von Malibu, zur Linken der Strand, zur Rechten<br />

24


die Hügel der Santa Monica Mountains, weiter westwärts.<br />

Nach zwölf Meilen trifft der Highway schließlich auf die<br />

Corral Canyon Road, die zu dem Plateau führt, auf dem<br />

sich Pärchen mit Vorliebe treffen.<br />

Nach Sonnenuntergang, wenn die Sterne zu sehen<br />

sind, wirkt die Landschaft mit den zackigen Silhouetten<br />

der Hügelrücken im Nachthimmel um vieles archaischer.<br />

Das Mondlicht wird vom trockenen Gras reflektiert und<br />

erhellt die ganze Szenerie, als würden für einen Film<br />

Nachtaufnahmen gedreht. Hinter den Bergspitzen im<br />

Südosten ist ein himmelwärts aufsteigendes Glühen der<br />

einzige Hinweis darauf, dass dort eine der größten Städte<br />

der Erde liegt. Das Plateau ist so friedlich, dass man die<br />

Natur, die sonst im Lärm der Maschinen und Menschen<br />

untergeht, hören kann. Wäre irgendjemand zufällig in<br />

der Nähe gewesen, um Mitternacht am 3. Juli 1991, hätte<br />

er Sherri Longs Schrei gehört, der sich über das entfernte<br />

Meeresr<strong>aus</strong>chen und das Plätschern des nahen Solstice<br />

Creek erhob.<br />

Nachdem ihr Körper acht Tage später gefunden worden<br />

war, trafen sich Lancaster und Miller am 15. Juli mit<br />

Beamten <strong>aus</strong> Hollenbeck und Long Beach in der Zentrale<br />

in Hollenbeck. Die Beamten <strong>aus</strong> Long Beach untersuchten<br />

den Mord an einer schwarzen Prostituierten namens<br />

Alice Duval, die am 10. Juni in einem Feld erdrosselt aufgefunden<br />

worden war. Es schien durch<strong>aus</strong> möglich, dass<br />

ihr Fall Teil der ganzen Mordserie war, obwohl ihr Mörder<br />

sie mit seinen Händen erwürgt und nicht mit ihrem BH<br />

erdrosselt hatte. Jeder der Beamten hatte schon einmal<br />

zu Tode strangulierte Frauen gesehen, doch meistens benutzten<br />

die Täter ihre Hände, nie den BH des Opfers, den<br />

sie dann auch noch um seinen Hals zurücklassen. Die jeweils<br />

verwendeten Knoten glichen einander, obwohl nur<br />

das Kriminallabor dazu eine genauere Auskunft geben<br />

konnte. Es war ein Job für »die Boa«.<br />

Dr. Lynne Herold vom Kriminallabor des L.A. County<br />

Sheriff’s Department wurde in einem der größten fo-<br />

25


ensischen Laboratorien der Welt <strong>aus</strong>gebildet, dem Los<br />

Angeles County Department of Coroner, »zuständig für<br />

die Untersuchung und Bestimmung von Ursache und Art<br />

jedes plötzlichen, gewaltsamen oder ungewöhnlichen<br />

Todesfalles im gesamten County«. Stirbt ein Einwohner<br />

von L.A. County, ohne dass er von einem Arzt in den vorangehenden<br />

zwanzig Tagen untersucht worden wäre,<br />

muss er von einem Leichenbeschauer begutachtet werden.<br />

Das waren ungefähr 18.000 Fälle pro Jahr.<br />

Von 1982 bis 1989, während der Zeit, da Dr. Herold im<br />

Department arbeitete, hatte sie rund 3000 potentielle<br />

Mordopfer pro Jahr. Ihr Job war, her<strong>aus</strong>zufinden, wer ermordet<br />

worden war. Als sie 1989 zum Kriminallabor überwechselte,<br />

hatte sie rund 12.000 Menschen untersucht,<br />

die erschossen, erstochen, erwürgt oder erschlagen worden<br />

waren.<br />

Im Kriminallabor, wo ungefähr 20.000 Fälle pro Jahr<br />

landeten, analysierte sie Beweismaterial von verschiedensten<br />

Verbrechen. Sie hatte einen speziellen Instinkt<br />

dafür entwickelt, und die Beamten vom LAPD und dem<br />

Büro des Sheriffs waren häufig auf ihre Hilfe angewiesen,<br />

wenn es darum ging, eine neue Spur zu finden. Hinter<br />

ihrem Rücken nannte man sie »die Boa«. <strong>Der</strong> Ursprung<br />

dieses Namens blieb ein Geheimnis. Vielleicht hatte es<br />

etwas mit ihrem H<strong>aus</strong>tier, dem Python Penelope, zu tun,<br />

die manche mit einer Boa Constrictor verwechselten.<br />

Pythons und Boas überwältigen ihre Beute, indem<br />

sie sich mit ihrem Körper wie eine Fessel um sie wickeln.<br />

Mörder gehen manchmal ähnlich vor, sie wickeln<br />

Dinge um die Hände, Glieder oder Hälse ihrer Opfer. Dr.<br />

Herold hatte unzählige Varianten von Fesseln, Knebeln<br />

und Stranguliervorrichtungen gesehen. In vielen Fällen<br />

konnte einen das dabei verwendete Material zum Täter<br />

führen, so wie im Fall einer Frau, die in Orange County auf<br />

einem Parkplatz gefunden worden war. Ihr Körper war in<br />

Plastik eingewickelt, mit Isolierband verschnürt. Keines<br />

der großen Geschäfte führte dieses Isolierband, außer die<br />

26


Gepäckabteilung des Flughafens, wo ihr Ehemann arbeitete.<br />

Er war, was Dr. Herold »felony dumb« (»verbrechensblöd«)<br />

nannte.<br />

In manchen Fällen verwenden Mörder ungewöhnliche<br />

Materialien auf unübliche Weise; so wie im Fall eines<br />

ermordeten Mädchens, das man in einer Allee gefunden<br />

hatte, eingewickelt in eine Zeltplane, die durch eine<br />

Vorrichtung <strong>aus</strong> Kleiderhaken zusammengehalten wurde.<br />

<strong>Der</strong> Mörder hatte die Metallhaken aufgedreht, ineinander<br />

gesteckt und wieder zusammengedreht, sodass sie nun<br />

eine Kette ergaben. Die Haken schauten alle in dieselbe<br />

Richtung, bis auf die zwei an den Enden der Kette. Eine<br />

seltsame Art, eine Zeltplane einzuwickeln – zeitaufwändiger<br />

und mühsamer als mit einer Rolle Klebeband oder<br />

Draht. Die Suche im ViCAP, einer Datenbank des FBI, in<br />

der alle Informationen über aufgeklärte und unaufgeklärte<br />

Serien-Mordfälle zusammenlaufen, ergab, dass<br />

in Louisiana ein Opfer auf dieselbe Art ermordet worden<br />

war. Zufälligerweise befand sich der Freund der Mutter<br />

des Mädchens, der bereits unter Mordverdacht stand, zur<br />

Tatzeit in derselben Gegend in Louisiana, wo er seinen<br />

Onkel besuchte.<br />

Die Kleiderbügel-Kette musste eine symbolische<br />

Bedeutung für den Mörder haben, weil es für ihre Verwendung<br />

keinerlei praktische Gründe gab. In den meisten<br />

Fällen, in denen Fesseln im Spiel sind, dienen sie<br />

dazu, das Opfer ruhig zu stellen oder seinen Körper zu<br />

verbergen. Im Fall der Kleiderbügel-Kette war die Art der<br />

Fesselung an sich Zweck genug. Die Kette hatte eine besondere<br />

Bedeutung für den Mörder. Es war die merkwürdige<br />

Signatur einer merkwürdigen Idee, die den Fall von<br />

t<strong>aus</strong>enden anderen Fällen, in denen Schnüre oder Seile<br />

verwendet worden waren, unterschied.<br />

Dr. Herold hatte auf Opfer gesehen, die auf alle erdenklichen<br />

Arten gefesselt worden waren: mit Klebeband,<br />

Seilen, Verlängerungskabeln, Lautsprecher kabeln, Telefon<br />

leitungen und elektrischen Drähten. Meistens wickelt<br />

27


der Mörder das Seil einfach um den Körper des Opfers und<br />

fixiert es mit ein paar Überhandknoten. Dieser Knoten,<br />

der von manchen indianischen Stämmen »der Knoten,<br />

der sich selbst knüpft«, genannt wird, weil er in Netzen<br />

und anderen Leinen von selbst Schlingen bildet, ist bei<br />

einfacher Anwendung besonders effektiv und auch leicht<br />

zu knüpfen. <strong>Der</strong> Knoten ist deshalb sehr geläufig; dagegen<br />

kann ein komplizierter Knoten in einem Verbrechen oft<br />

ein Hinweis auf den Täter sein.<br />

Am 16. Juli 1991 brachte ein Stellvertreter des Sheriffs<br />

die drei BHs vom Leichenbeschauer zu Dr. Herold ins<br />

Kriminallabor. Sie öffnete die drei braunen Papiertaschen<br />

(Plastik, das Feuchtigkeit anzieht und Bakterien<br />

züchtet, wird nur in Filmen verwendet) und legte die<br />

BHs auf ihren Tisch. Seltsam: Keiner der drei BHs besaß<br />

drahtverstärkte Körbchen, sie hätten also als Ganzes<br />

als Strangulationswerkzeug verwendet werden können.<br />

<strong>Der</strong> Mörder hätte beide Enden des BHs nehmen, ihn<br />

einmal um den Hals der Frau schlingen und dann zuziehen<br />

können. Die dünnen elastischen Bänder in einem<br />

BH machen dar<strong>aus</strong> eine recht effektive Adernpresse<br />

und drücken die Halsschlagader schon bei geringer<br />

Kraftanwendung ab. Aus jedem einzelnen BH der Opfer<br />

hatte der Täter allerdings ein Mordinstrument gebaut,<br />

dessen Komplexität die Anforderungen einfacher<br />

Strangulation weit überstieg .<br />

Er hatte dazu sogar ein Werkzeug verwendet. Mit einer<br />

scharfen Klinge, möglicherweise einem Messer, hatte<br />

er einen der Träger vom Körbchen abgeschnitten, dann<br />

schnitt er eine Öffnung in die Seite des BHs und steckte<br />

den Träger durch. <strong>Der</strong> Einschnitt an der Seite teilte das<br />

obere Band vom unteren. Nun, da der Träger zwischen<br />

diesen beiden Bändern verlief, konnte er von drei Seiten<br />

gleichzeitig Kraft <strong>aus</strong>üben, bei geringer Reibung zwischen<br />

den Einzelteilen. Er hatte den BH nicht zerschnitten, er<br />

hätte ja nur einen zur Verfügung gehabt. Die Verschiebevorrichtung<br />

erlaubte es ihm, den Grad der Verengung zu<br />

28


variieren. <strong>Der</strong> letzte Knoten, der das Band zusammenhielt,<br />

schien auf eine komplizierte Weise verflochten, man<br />

hätte ihn lockern müssen, um die genaue Kombination<br />

der Schleifen sehen zu können.<br />

Jeder der drei BHs war mit ungeheurem Druck verknotet<br />

worden. <strong>Der</strong> Hals der zierlich gebauten Irene Rodriguez<br />

war zu einem Umfang von fünfzehn Zentimetern zu sammen<br />

gezogen worden, der von Shannon Exley zu sieb zehn<br />

und der von Sherri Long zu zwanzig. Dass der Mörder viel<br />

mehr Druck aufgewendet hatte als nötig (1 Kilo gramm pro<br />

Quadratzentimeter reicht schon <strong>aus</strong>, um die Halsschlagader<br />

abzuklemmen), war nicht ungewöhnlich. Auffallend<br />

war dagegen, mit welcher Sorgfalt er die Schlin gen immer<br />

enger gezogen und dass er sie so belassen hatte, anstatt sie<br />

zu lockern, nachdem die Frau bewusstlos geworden war.<br />

Die Strangulationswerkzeuge wiesen folgende Gemeinsam<br />

keiten auf:<br />

1. Jedes war von einem intimen Kleidungsstück der<br />

Frau gefertigt worden.<br />

2. Jedes war mit einem Hilfsmittel bearbeitet worden,<br />

obwohl es auch ohne diese Vorbereitung als<br />

Mordwerkzeug hätte gebraucht werden können.<br />

3. Jedes wies Einschnitte an denselben Stellen auf.<br />

4. Jedes wurde am Hals des Opfers zurückgelassen und<br />

war so eng verknotet wie möglich.<br />

5. Jedes besaß einen Knoten, der die Schlingen zusammenhielt<br />

und komplizierter war als normale<br />

Überhandknoten.<br />

Es war von großer Bedeutung, dass der Mörder etwa<br />

anstelle einer Schnur die BHs der Frauen verwendet hatte.<br />

Er hatte ja auch ein Schneidewerkzeug mitgebracht, gen<strong>aus</strong>o<br />

gut hätte er gleich eine Schnur mitbringen können.<br />

Man könnte meinen, dass Büstenhalter ein häufiges<br />

Werkzeug bei Strangulation darstellen, doch unter den<br />

hunderten von Fällen, in denen Frauen von Männern<br />

29


erwürgt worden waren, waren diese die ersten, die Dr.<br />

Herold je ge sehen hatte.<br />

Sie spekulierte nicht über die möglichen Gründe für<br />

das Vorgehen des Mörders. Sie kam nur zu dem Ergebnis,<br />

dass die Verknotung der drei BHs unter all den Fällen von<br />

Strangulation, die sie in ihrem Leben untersucht hatte,<br />

einzigartig war. Trotzdem lag es nahe anzunehmen, dass<br />

der Mörder einige Erfahrung besaß. Ein unerfahrener<br />

Täter hätte möglicherweise Schwierigkeiten gehabt, den<br />

Tod seines Opfers festzustellen, und hätte vielleicht überrascht<br />

reagiert, wenn die Frau wieder zu Bewusstsein gekommen<br />

wäre, nachdem er den Druck verringert hatte.<br />

Es gab Fälle, in denen ein Mörder an den Tatort zurückgekehrt<br />

war, um zu überprüfen, ob sein Opfer auch wirklich<br />

tot war. <strong>Der</strong> Mörder dieser drei Prostituierten hatte<br />

eine Methode entwickelt, um sicherzustellen, dass sie das<br />

Bewusstsein nicht mehr wiedererlangten. Das konnte<br />

ein Hinweis darauf sein, dass er in der Vergangenheit<br />

Schwierigkeiten mit einem Opfer gehabt hatte, das überlebte<br />

und sich an die Polizei wendete.<br />

»Was denkst du?«, fragten Detective Miller und sein<br />

Part ner James Harper Dr. Lynne Herold ein paar Tage<br />

später.<br />

»Ich glaube, ihr solltet in allen drei Fällen nach demselben<br />

<strong>Mann</strong> suchen«, sagte sie und bestätigte damit<br />

den Verdacht von Detective Miller. Er und Harper besuchten<br />

mit den Beamten <strong>aus</strong> Hollenbeck noch einmal<br />

alle Tatorte, sie gingen jedes Detail durch. <strong>Der</strong> Mörder<br />

traf die erste Frau, Shannon Exley, auf der Seventh Street<br />

und fuhr mit ihr zwei Meilen den L.A. River entlang nach<br />

Boyle Heights. An der Fickett Street, einer Sackgasse, bog<br />

er rechts ab. Nach etwa 25 Metern endet die enge Fickett<br />

Street vor einer steilen Böschung zum Pomona Highway.<br />

Auf der linken Seite der Sackgasse gibt es ein vergittertes<br />

Tor, durch das man auf das leere Grundstück hinter dem<br />

Pfad finderinnen zentrum gelangen kann. <strong>Der</strong> Mörder erdrosselte<br />

die Frau im Auto oder auf einem Parkplatz, der<br />

30


an das von Bäumen umstandene leere Grundstück grenzt.<br />

Eine Spur im Gras zeigte an, dass er ihren Körper sechs<br />

Meter weit bis unter einen Eukalyptusbaum gezerrt hatte<br />

– eine Verschwen dung von Zeit und Energie, wenn man<br />

bedenkt, dass er sonst nichts unternahm, um die Leiche<br />

zu verbergen.<br />

Mit der zweiten Frau, Irene Rodriguez, verfuhr er ähnlich.<br />

Er gabelte sie auf der Seventh Street auf und fuhr<br />

darauf weiter bis über die Brücke. Aber anstatt bis nach<br />

Boyle Heights zu fahren, bog er links in die Myers Street<br />

ab, östlich des Flusses. Durch die Asphaltlandschaft der<br />

städtischen Lagerhallen fuhr er weiter bis zur Kreuzung<br />

Mission und Myers Street, wo er links auf den Parkplatz<br />

neben dem Fluss abbog. <strong>Der</strong> Ablauf war der Gleiche: Er<br />

erdrosselte die Frau, entweder im oder neben dem Auto,<br />

dann zerrte er ihren Körper unter etwas, das in der Nähe<br />

war, in diesem Fall ein LKW-Anhänger. Wieder hatte er<br />

die Leiche nicht wirklich zu verbergen versucht.<br />

Alles passte zusammen, nur eine Sache machte Miller<br />

stutzig: Warum hatte der Mörder für die zweite Frau genau<br />

diesen Parkplatz <strong>aus</strong>gewählt? Im ersten Fall war das von<br />

Bäumen umgebene Grundstück einfach besser geeignet<br />

als andere Orte in der Umgebung, aber der Parkplatz hinter<br />

dem Ladedock bot keinerlei Vorteil gegenüber vielen<br />

anderen schlecht beleuchteten Stellen zwischen den Lagerhallen;<br />

viele davon wären sogar näher an der Seventh<br />

Street gelegen gewesen. Es war eigenartig, dass er so weit<br />

nach Norden gefahren war, fast bis zur First Street Bridge.<br />

In einer Nacht fuhren Miller und Harper die Route des<br />

Mörders nach und besahen sich die Plätze, die er hätte<br />

<strong>aus</strong>suchen können. Sie wollten her<strong>aus</strong>finden, was diese<br />

Plätze von den Orten unterschied, die er für sein Ritual<br />

<strong>aus</strong>gewählt hatte. Vielleicht fühlten sich diese Orte für<br />

ihn einfach richtig an. Oder besaß der Parkplatz neben<br />

dem Fluss irgendeine Besonderheit?<br />

Miller und Harper verbrachten Stunden in der Gegend<br />

um die Seventh Street und Gladys Street. Sie notierten sich<br />

31


Nummernschilder und sprachen mit den Prostituierten.<br />

Die Frauen sahen bald ein, dass die Männer nicht gekommen<br />

waren, um sie zu verhaften, sondern um die<br />

Morde aufzuklären. Einige Frauen wollten sogar mit<br />

ihnen über ihre traumatischen Erfahrungen sprechen.<br />

Manche begannen bei der Erwähnung ihrer ermordeten<br />

Freundinnen zu weinen.<br />

»Shannon war so ein nettes Mädchen«, sagte eine Frau<br />

mit Tränen in den Augen. »Warum sollte ihr jemand so etwas<br />

antun?« Miller fragte sich dasselbe. Was ihn an den<br />

Erzählungen der Prostituierten besonders deprimierte,<br />

war die Beschreibung der Bösartigkeit ihrer Kunden<br />

– manche Männer verprügelten sie oder zwangen sie zu<br />

entwürdigenden Diensten. Viele Mädchen hielt die Macht<br />

der Drogen in diesem Gewerbe. Im Jargon des LAPD hießen<br />

Frauen, die ihren Körper für Geld verkauften, das sie<br />

sofort für Drogen <strong>aus</strong>gaben, »Strawberries«. Miller fragte<br />

sich, wo dieser Name herkommen mochte. Vielleicht<br />

von den rötlichen Einstichspuren, die an die Haut einer<br />

Erdbeere erinnerten. Beide ermordeten Frauen waren<br />

Strawberries gewesen – Exley hatte Kokain genommen,<br />

Rodriguez Heroin.<br />

Miller dachte, dass der Mörder raffinierter sein musste<br />

als andere Männer, die Mädchen überfielen. Er war methodisch<br />

und kontrolliert vorgegangen. Möglicherweise<br />

hatte er die Frauen an die von ihm <strong>aus</strong>gewählten Orte gebracht,<br />

ohne dass sie sich gewehrt hatten, und genoss die<br />

Macht, die er mit der teuflischen Schlinge ihrer BHs über<br />

sie gewann.<br />

War er ein Trucker? Die meisten Freier rund um Seventh<br />

Street und Gladys Street waren welche. Sie kamen von<br />

überall <strong>aus</strong> dem ganzen Land, parkten ihre LKWs bei<br />

den Docks und gingen, während die Fracht <strong>aus</strong>geladen<br />

wurde, im Taxi auf die Suche nach Mädchen. Zudem verwenden<br />

Trucker Seile und Knoten, um ihre Ladungen zu<br />

fixieren. Ein Fernfahrer, der dabei beobachtet worden<br />

war, wie er Mädchen auf der Seventh Street auflas, war als<br />

32


Sexualstraftäter registriert. Miller und Harper suchten<br />

die Firma auf, bei der er arbeitete, und sahen seine<br />

Fahrtenbücher durch. Aus den Zeitangaben, die sich<br />

aufgrund der Aufzeichnungen an den Wiegestationen<br />

ergaben, konnten sie schließen, dass er an den Tagen der<br />

Morde gar nicht in Los Angeles gewesen war.<br />

Die Trucker-Hypothese war Deputy Lancaster schon<br />

von Anfang an fragwürdig vorgekommen, da sie sich auf<br />

wenig mehr als die Fundorte der ersten beiden Leichen<br />

stützte. Wenn jemand einen Trucker zur Tatzeit in dieser<br />

Gegend gesehen hätte, konnte dieser immer noch<br />

wegen seines Jobs da gewesen sein. Aber was war mit<br />

dem dritten Mord? Warum sollte ein Trucker sein drittes<br />

Opfer den ganzen Weg bis nach Malibu mitschleppen,<br />

wenn er die ersten beiden Morde gleich in der Nähe<br />

seines Arbeitsplatzes begangen hatte? Und noch etwas:<br />

Ein paar Tage nach der Autopsie von Sherri Long<br />

trieb Lancaster ihren Bruder in Michigan auf, mit dem<br />

sie vor ihrem Verschwinden Kontakt gehabt hatte. Sie<br />

hatte mehrere R-Gespräche mit ihm geführt, auf seiner<br />

Telefon rechnung standen einige Nummern <strong>aus</strong><br />

Hollywood. Wenn der Mörder ein Trucker war, der das<br />

Gebiet bevorzugte, das ihm von seiner Arbeit gut bekannt<br />

war, warum sollte er dann für sein drittes Opfer<br />

bis nach Hollywood fahren?<br />

Nach einem Monat spürte Lancaster Sherris Exfreund<br />

auf. Er weigerte sich, in die Polizeiwache zu kommen,<br />

stimmte aber einem Treffen in einem Restaurant zu, vor<strong>aus</strong>gesetzt,<br />

seine Mutter und seine Schwester durften<br />

dabei sein. Er sagte, er könne Sherri Long nicht ermordet<br />

haben, er sei gerade erst <strong>aus</strong> dem Gefängnis entlassen<br />

worden. Lancaster fragte, weswegen. Er habe Sherri<br />

ver prügelt, antwortete der <strong>Mann</strong>. Gutes Alibi, dachte<br />

Lancaster.<br />

»Vor ein paar Monaten haben wir im Peppertree Motel<br />

in Hollywood gewohnt. Ihre Drogensucht und die Prostitution,<br />

das ist mir auf die Nerven gegangen, deshalb hab<br />

33


ich sie verprügelt. Ich hab sie nicht mehr gesehen, seit ich<br />

in den Knast gegangen bin.« Die Aussage seiner Schwester<br />

war etwas hilfreicher. Sie hatte sich mit Sherri angefreundet<br />

und ihr, kurz bevor sie verschwunden war, ein paar<br />

Kleider ins Hollywood Vine Hotel gebracht.<br />

Im Sommer 1991 war das Vine Hotel bei den Huren<br />

von Hollywood recht beliebt: Es war ein Stundenhotel<br />

und eine Prostituierte konnte in einer Nacht mehrere<br />

Male ein- und <strong>aus</strong>checken. Wenn sie auf ihren Standplatz<br />

am Sunset Boulevard zurückkehrte, konnte sie auf dem<br />

Hügel den berühmten HOLLYWOOD-Schriftzug sehen.<br />

Lancaster fuhr zum Hotel und zeigte dem Manager ein<br />

Bild von Sherri Long, er erkannte sie. Sie sei eine häufige<br />

Kundin gewesen, erklärte er, aber nun habe er sie schon<br />

einen Monat nicht mehr gesehen. Aus dem Gästebuch<br />

ging hervor, dass sie zum letzten Mal am 3. Juli um elf Uhr<br />

nachts <strong>aus</strong>gecheckt hatte.<br />

Lancaster versuchte sich den Verlauf der Ereignisse<br />

vorzustellen. Nachdem der Mörder Sherri Long mitgenommen<br />

hatte, fuhr er möglicherweise gerade<strong>aus</strong> weiter,<br />

den Sunset Boulevard hinunter bis zum Pacific Coast<br />

Highway, wo er rechts Richtung Malibu Coast abbog. Was<br />

hatte er der Frau wohl gesagt, als sie lieber wieder zum<br />

Vine Hotel zurück wollte? Möglicherweise, dass er zu einer<br />

Party in Malibu musste und dafür eine Begleiterin<br />

brauchte. Was immer er ihr erzählt hatte, es musste sie beruhigt<br />

haben. Es ist eine sehr lange Fahrt von Hollywood<br />

bis zur Corral Canyon Road, mit vielen Ampeln, an denen<br />

sie <strong>aus</strong> dem Wagen hätte springen können. Seltsam, dass<br />

er so weit gefahren war.<br />

Noch seltsamer war, dass er mit dem Morden plötzlich<br />

aufgehört hatte. Eine Daumenregel besagt, dass<br />

Serienmörder nicht einfach so aufhören. Dass sie anfangs<br />

ungestraft davonkommen, spornt sie meist noch<br />

an. Zuerst dachten Miller und Lancaster daran, dass er<br />

vielleicht in eine andere Stadt gezogen war, doch eine landesweite<br />

Suche in der ViCAP-Datenbank des FBI brachte<br />

34


keine Ergebnisse. In den Wochen nach dem 3. Juli berichtete<br />

keine Stelle zur Verbrechensbekämpfung in den USA<br />

von einem einzigen vergleichbaren Fall – ein weiteres<br />

Argument gegen die Trucker-Hypothese. <strong>Der</strong> Mörder<br />

schlug in L.A. innerhalb von vierzehn Tagen dreimal zu,<br />

neun Tage zwischen erstem und zweitem; fünf Tage zwischen<br />

zweitem und drittem Mord. Die Beamten richteten<br />

sich auf einen vierten Mord ein, aber nichts geschah.<br />

So wie es <strong>aus</strong>sah, war im Juni 1991 ein Mörder <strong>aus</strong><br />

dem Nichts aufgetaucht, hatte in kürzer werdenden<br />

Abständen drei Prostituierte in einem <strong>aus</strong>geklügelten<br />

Modus Operandi ermordet – und hörte dann einfach damit<br />

auf. Als der Sommer in den Herbst überging, lag der<br />

Fall bereits auf Eis, nur Detective Miller vergaß ihn nicht.<br />

Er musste oft an die drei erdrosselten Frauen denken und<br />

fragte sich, wer sie wohl ermordet hatte.<br />

[2] Kein offensichtliches Motiv<br />

Unter allen Verbrechern ist der Serien mörder<br />

der rätselhafteste und verschlagenste. Kein offensichtliches<br />

Motiv bestimmt seine Handlungen. Er tötet Fremde, was<br />

ihn von den meisten anderen Mördern unterscheidet, die irgendeine<br />

Art von Beziehung zu ihren Opfern haben (in vielen<br />

Fällen ergibt sich das Motiv erst <strong>aus</strong> dieser Beziehung).<br />

Da der Serienmörder in erster Linie fremde Menschen ermordet,<br />

bieten sich den Polizeibeamten auch keine Spuren<br />

an, die sich <strong>aus</strong> dem Bekanntenkreis des Opfers ergeben.<br />

<strong>Der</strong> Serienmörder gewinnt weder etwas durch seine<br />

Morde (abgesehen von kurzzeitiger sexueller Befriedigung),<br />

noch rächt er sich für ein erlittenes Unrecht oder eliminiert<br />

einen Widersacher. Sein Motiv ist der innere Drang,<br />

jemanden zu attackieren, sexuell zu missbrauchen und<br />

zu töten, begleitet und genährt von überbordenden<br />

Phantasien. Einige Serienvergewaltiger und -mörder ha-<br />

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