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Sprachparcours

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Materialien<br />

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TRAININGSPLÄTZE FÜR SPRACHMECHANIKER: LESETEXT<br />

«Selbstoffenbarungsangst» gepaart mit Konsumismus<br />

Daniela Kuhn (gekürzt übernommen aus: Weltwoche, 3. Mai 1990, S. 85)<br />

• In den Zeilen 51 bis 59 fehlen die Satzzeichen. (Vgl. Aufgabe 17.)<br />

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Die einen schauen zum Fenster: draussen ein sonniger Frühlingstag, blauer Himmel. Die anderen<br />

kritzeln auf die Bank. Abwesendes Vor-sich-hin-Starren und unbeteiligtes Ausharren spiegelt sich<br />

in den Gesichtern. Nein, dies ist nicht die Stille in einer schweizerischen Bahnhofswartehalle, auch<br />

nicht die Atmosphäre in einem Zürcher Tram, sondern der alltägliche Alptraum unzähliger Mittelschüler<br />

und Lehrer.<br />

Gequält sitzen die Parteien (Lehrer und Schüler) einander gegenüber und harren der erlösenden<br />

Pausenglocke, die mit ihrem Schrillen die Stille durchbrechen möge.<br />

Verzweifelt versucht der Französischlehrer eine Spur von Interesse, einen Hauch von Begeisterung<br />

in die Klasse zu bringen, auf dass ein Fünkchen zünde – vergebens. Jeder Versuch einer Diskussion<br />

scheitert jämmerlich am passiven Widerstand, am Schweigen der Klasse. Die träge Masse lässt<br />

sich nicht aus der Reserve locken. (...)<br />

Sie mauscheln vor sich hin, das ist ihnen völlig egal<br />

Dieselben Schüler, die für eine Mathearbeit fünf Stunden lernen, inszenieren einen volksaufstand -<br />

ähnlichen Tumult, wenn sie etwa fünfzig Seiten lesen sollten. Die zeitgemässen Einwände lauten:<br />

«Wann sollte ich neben dem Schulstress auch noch Zeit zum Lesen haben?» Eine zwanzigjährige<br />

Studentin bekennt, in ihrer gesamten Mittelschulzeit vor der Matura einen einzigen Roman gelesen<br />

zu haben. (...)<br />

Im mündlichen Unterricht fallen diese «Schwarzleser» nicht auf. Sie sitzen ebenso stumm und<br />

schweigend da wie diejenigen, die ihre Pflichtlektüre hinter sich gebracht haben. (...)<br />

Längst schlagen sich die Schüler nicht mehr mit veralteten, trockenen Lehrmitteln herum. (...)<br />

Doch nichts scheint die Schüler – jedenfalls nicht in Regie des Lehrers – zu interessieren. Das neue<br />

Leiden der Lehrer scheint eine Jugend ohne Sprache zu sein. (...)<br />

Ein Deutschlehrer hatte ein besonderes Erlebnis mit einer «stummen Klasse». Nachdem die Klasse<br />

die «Odyssee» (= griechisches Heldengedicht!) gelesen hatte, sollten die Schüler eine kurze Notiz<br />

zu denjenigen fünf Punkten machen, die sie am meisten betroffen oder interessiert hatten. Das Resultat<br />

innerhalb der Klasse fiel ausserordentlich spannend und an originellen Gedanken reich aus.<br />

Die Schüler hatten die wesentlichen und wichtigsten Punkte der «Odyssee» überraschend gut verstanden<br />

und wiedergeben können. Der begeisterte Lehrer forderte die Schüler in der nächsten Stunde<br />

auf, ihre Gedanken auszutauschen und darüber in der Klasse zu diskutieren. Dieselben Schüler,<br />

welche zuvor zum Teil brillante schriftliche Notizen abgegeben hatten, sassen schweigend in ihren<br />

Bänken. Kaum brachte der Lehrer ein Wort aus seinen Schülern heraus. (...)<br />

Deutschstunde als willkommene Erholung vom Schulstress<br />

Besonders schwierig ist es für Mittelschüler, einen literarischen Text (abgesehen von dessen<br />

Schwierigkeit oder Leichtigkeit) zu interpretieren. Eine Schwellenangst, die mit dem möglichen<br />

Verfehlen der «richtigen» Antwort zusammenhängt, lähmt die Schüler. Ist diese Lähmung erst einmal<br />

fortgeschritten, nimmt sie erschreckende Ausmasse an. Auf die einfachste Frage, deren Antwort<br />

im Text stünde, bleiben die zwanzig jungen Leute wie stumme Fische sitzen. (...)<br />

Und freiwillig läuft im mündlichen Unterricht nichts. Die Schüler schwanken zwischen Über- und<br />

Unterforderung, da sich der Lehrer nur schwer ein Bild vom Niveau der Klasse machen kann. Freiwilligkeit<br />

heisst die jedem selbst überlassene Beteiligung am Unterricht. Diese Freiheit stellt im<br />

Schulsystem eine Seltenheit dar. Es kommt je länger, je mehr vor, dass ein Schüler mit dieser Freiheit<br />

nicht umgehen kann. Nur mehr mit Druck lässt sich Beteiligung erzeugen. Ohne Zwang kein<br />

Echo: welch trauriges Fazit der Leistungsgesellschaft!

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