DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMAAuswirkungen auf das Gottesbild«Wie kann ein allmächtiger lieben<strong>der</strong>Gott das Leid auf dieser Welt zulassen?»<strong>Die</strong>se Frage hat die Menschen seit Urzeitenbeschäftigt. In <strong>der</strong> Fachsprache wird sieals «Theodizee-Frage» bezeichnet. ImGespräch mit gläubigen Menschen begegnenmir zwei unterschiedliche Formen dieserFrage:a) <strong>Die</strong> theologisch-philosophische Fragenach Gottes Wirken in dieser Welt.b) Das persönliche Ringen mit dem Gott,<strong>der</strong> angeblich Liebe ist und doch Böseszulässt.Theologische AspekteIn diesem Seminarheft fehlt <strong>der</strong> Raum,diese Diskussion auch nur annähernd zuerörtern. Eine Frage ist aber auch für diepersönliche Verarbeitung wichtig: Muss dieGüte Gottes darin bestehen, dafür zu sorgen,dass es einem gut geht? Erfährt mannur dann Gottes Liebe, wenn man gesund,erfolgreich, unversehrt und glücklich ist?Das persönliche RingenIn manchen christlichen Kreisen wirdein idealisiertes, fast romantisches Vaterbildkultiviert, das nur selten <strong>der</strong> realenVatererfahrung entspricht. Schlechtes Ergehenwird oft mit Gottesferne gleichgesetzt,wohlige Geborgenheit mit <strong>der</strong> Heimkehrzum Vater, wie sie in Rembrandts Gemäldedargestellt wird.<strong>Seelische</strong>s <strong>Trauma</strong> for<strong>der</strong>t ein Umdenken.Der leidende Christus solidarisiert sichmit den <strong>Trauma</strong>tisierten. <strong>Trauma</strong>verarbeitungbedeutet auch Trauern über Leid undSchmerz als Teil des Lebens. Im Ringen mitGott kann eine neue vertiefte Gottesbeziehungentstehen, wie sie Paulus im Brief andie Römer ausspricht: Wer kann uns trennenvon <strong>der</strong> Liebe Gottes — auch in dendunkelsten Stunden des Lebens?«In einem christlichen Buch las ich denBericht über den Film ‹Billy Eliott›.Da hiess es: ‹Und sie schlägt zu — hautihm voll eine herunter. Der Knall dieserOhrfeige schallt durch den Kinosaal ...›An dieser Stelle bekam ich spontaneinen heftigen Flashback plus Übertragung.Vor meinem Auge stand mein brutalerVater, <strong>der</strong> mich zuweilen so heftigohrfeigte und mit Fausthieben malträtierte,dass beide Kiefergelenke dauerhaftgeschädigt sind. Und ich bin meinemVater nicht dankbar in den Arm gefallen,son<strong>der</strong>n habe das Weite gesucht, damit ermich nicht totschlug — wenn ich nochkonnte und nicht ohnmächtig wurde.<strong>Die</strong> Übertragung fand ebenso spontanstatt, dass Gott «Vater» vor mir steht undmich ohrfeigt, weil ich das verdient habe!Und ich bedanke mich natürlich noch beiGott ... Was ich hier an dieser Stelle desBriefes denke, kann man nicht veröffentlichen,deshalb behalte ich es für michFest steht, dass ich nach meiner Bekehrungjahrelang gebraucht habe, um meinenleiblichen Vater und Gott Vater zutrennen. Langsam, ganz langsam konnteich es zulassen, dass Gott mein Vater seinwill, <strong>der</strong> mich liebt und liebevoll mit mirumgeht. Nun aber liege ich zitternd undaufgelöst im Bett und es ist fast vier Uhrmorgens. Und morgen früh ist Gottesdienst,dort will ich hin ... und soll Gott-Vater anbeten. Ich habe keine Ahnung,ob das gelingt o<strong>der</strong> ob ich noch einmalJahre brauchen werde, mich dem VaterherzGottes zu nähern.»aus einem Leserbrief <strong>der</strong> Zeitschrift AUFATMEN33
DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMA<strong>Die</strong> Frage nach dem BösenDas Leiden unserer Patienten wirft auchexistentiell die Frage nach dem Bösenauf. Wie sind Gräueltaten wie <strong>der</strong> Holocausto<strong>der</strong> <strong>der</strong> Völkermord in Kambodschao<strong>der</strong> die KZs in Bosnien möglich? Wie sindsadomasochistische Quälereien von Kin<strong>der</strong>nvor laufen<strong>der</strong> Kamera möglich? C.G.Jung sprach nach dem Ende des zweitenWeltkriegs von den «Dämonen» des Hitler-Regimes.Wer mit schwerst traumatisierten Menschenarbeitet, für den wird die Existenzdes Bösen so real, dass humanistische Verharmlosungennicht mehr greifen. <strong>Die</strong> Folgen:a) Wut, Ohnmacht, bis hin zum Kampfgegen das Böse auf eigene Faust.b) Persönliches Gefühl des Bedrücktseinsund <strong>der</strong> Bedrohung durch Kräfte desBösen, denen man sich ausgeliefertfühlt. (Cave: Symptom <strong>der</strong> Überfor<strong>der</strong>ung!!)c) Erschütterung des Weltbildes.Erschütterung des WeltbildesIngrid Bétancourt schrieb an ihre Mutter:«Mamita, ich bin des Leidens müde.Ich habe versucht, stark zu sein. <strong>Die</strong>se fastsechs Jahre Gefangenschaft haben mir gezeigt,dass ich we<strong>der</strong> so wi<strong>der</strong>standsfähignoch so mutig, intelligent und stark bin,wie ich dachte … Es geht mir körperlichschlecht. Ich esse nicht mehr, ich habe denAppetit verloren, mir fallen die Haare inBüscheln aus. Ich habe auf nichts Lust. Ichglaube, das ist das einzig Gute: auf nichtsmehr Lust zu haben. Denn hier in diesemDschungel lautet die einzige Antwort aufalles ‹Nein›. Deshalb ist es besser, nichtszu wollen, um wenigstens frei von Wünschenzu sein.»Verarbeitung im GebetIm folgenden gebe ich Texte einer seitKindheit schwerst traumatisierten Frau wi<strong>der</strong>,die mich sehr berührt haben. In den Gesprächenmit mir versuchte sie das Grauenin Worte zu fassen, das sie erlebt hatte.Oft blieb nichts an<strong>der</strong>es übrig, als Schweigen.Manchmal war sie so beschämt, dasssie sich in eine Ecke meines Sprechzimmersstellte, und dort zur Wand redete.Wir sprachen von ihrem Leiden, von ihremHass auf den Onkel, <strong>der</strong> sie jahrelang missbrauchtund dabei gefilmt hatte, aber auchvon ihrem Ringen mit Gott, <strong>der</strong> oft so abwesendschien. In diesem Ringen verfasstesie folgende Worte:BEACHTE: Das Gebet führt nicht immerzum harmonischen Ende des seelischenSchmerzes, aber es gibt dem Unaussprechlichenwenigstens Worte und damit tröstlicheKraft.34