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Trauma - Die Wunden der Gewalt - Seelische ... - ACC

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D R . M E D . S A M U E L P F E I F E RTRAUMA<strong>Die</strong> <strong>Wunden</strong> <strong>der</strong> <strong>Gewalt</strong>S E E L I S C H E T R A U M A T I S I E R U N GK O M P L E X T R A U M AP T S DU R S A C H E N — F O L G E NB E W Ä L T I G U N GP S Y C H I A T R I ES E E L S O R G ES E M I N A R H E F T


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMALeben in einer zerbrochenen WeltWir leben nicht in einer heilen Welt.Als Therapeuten und Seelsorgerinnenhören wir im Schutz unseres Sprechzimmersoft Geschichten, die uns beinahe dasHerz brechen.Menschen, die ein <strong>Trauma</strong> erlebt haben,sind oft für das ganze Leben gezeichnetund verän<strong>der</strong>t. In den Kriterien für einePosttraumatische Belastungsstörung (PT-BS) werden diese <strong>Trauma</strong>tas umschriebenmit folgenden Worten:Sexueller Missbrauch,häusliche <strong>Gewalt</strong>Unfälle, KriminalitätKrieg, FOLTER,KatastrophenArmut, hunger,verwahrlosung«<strong>Die</strong> Person erlebte, beobachtete o<strong>der</strong>war mit einem o<strong>der</strong> mehreren Ereignissenkonfrontiert, die tatsächlichen o<strong>der</strong>drohenden Tod o<strong>der</strong> ernsthafte Verletzungo<strong>der</strong> eine Gefahr <strong>der</strong> körperlichen Unversehrtheit<strong>der</strong> eigenen Person o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>erPersonen beinhalteten. <strong>Die</strong> Reaktion <strong>der</strong>Person umfasste intensive Furcht, Hilflosigkeito<strong>der</strong> Entsetzen.»Es handelt sich also nicht um die «gewöhnlichen»seelischen Verletzungen, wieLiebesenttäuschung, Scheidung o<strong>der</strong> Trauerüber den Verlust eines lieben Menschen,son<strong>der</strong>n um schwerwiegende und außergewöhnlicheErfahrungen.Dennoch hatte es die Diagnose schwer,in den Katalog anerkannter seelischerStörungen aufgenommen zu werden. Obwohldie «Schreckneurose» schon im erstenWeltkrieg beschrieben wurde, wuchs erst inden 70-er Jahren das Bewusstsein, dass esgemeinsame Symptome nach dem Durchlebeneiner <strong>der</strong>artigen Erfahrung gab. Dabeiwaren nicht nur Kriegsveteranen betroffen,son<strong>der</strong>n auch Kin<strong>der</strong> und Frauen nach sexuellenÜbergriffen, Menschen nach einemUnfall, Opfer eines Überfalls o<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>,die im Rahmen von Armut und Verwahrlosunglang dauernde seelische und körperlicheGrausamkeit erlitten.DENNOCH: Nicht alle Menschen entwickelnnach <strong>der</strong>artigen Erfahrungen einPosttraumatisches Belastungssyndrom.Auf den folgenden Seiten sollen Definitionenund Entstehungsbedingungen genauerdargestellt werden, um die langfristigenFolgen von <strong>Gewalt</strong> und <strong>Trauma</strong> besserzu verstehen.2


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMAPosttraumatische Belastungsstörung — PTBSA. <strong>Die</strong> Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, bei dem diebeiden folgenden Kriterien vorhanden waren:(1) <strong>Die</strong> Person erlebte, beobachtete o<strong>der</strong> war mit einem o<strong>der</strong> mehreren Ereignissenkonfrontiert, die tatsächlichen o<strong>der</strong> drohenden Tod o<strong>der</strong> ernsthafte Verletzungo<strong>der</strong> eine Gefahr <strong>der</strong> körperlichen Unversehrtheit <strong>der</strong> eigenen Person o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>erPersonen beinhalteten.(2) <strong>Die</strong> Reaktion <strong>der</strong> Person umfasste intensive Furcht, Hilflosigkeit o<strong>der</strong> Entsetzen.B. Wie<strong>der</strong>erleben des traumatischen Ereignisses in folgen<strong>der</strong> Weise (mind. 1):(1) Wie<strong>der</strong>kehrende und eindringliche belastende Erinnerungen an das Ereignis, dieBil<strong>der</strong>, Gedanken o<strong>der</strong> Wahrnehmungen umfassen können.(2) Wie<strong>der</strong>kehrende, belastende Träume von dem Ereignis.(3) Handeln o<strong>der</strong> Fühlen, als ob das traumatische Ereignis wie<strong>der</strong>kehrt.(4) Intensive psychische Belastung bei <strong>der</strong> Konfrontation mit internalen o<strong>der</strong> externalenHinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisiereno<strong>der</strong> an Aspekte desselben erinnern.(5) Körperliche Reaktionen bei <strong>der</strong> Konfrontation mit internalen o<strong>der</strong> externalen Hinweisreizen.C. Anhaltende Vermeidung von Reizen, die mit dem <strong>Trauma</strong> verbunden sind, o<strong>der</strong>eine Abflachung <strong>der</strong> allgemeinen Reagibilität (mind. 3 Symptome):(1) Bewusstes Vermeiden von Gedanken, Gefühlen o<strong>der</strong> Gesprächen, die mit dem<strong>Trauma</strong> in Verbindung stehen.(2) Bewusstes Vermeiden von Aktivitäten, Orten o<strong>der</strong> Menschen, die Erinnerungenan das <strong>Trauma</strong> wachrufen.(3) Unfähigkeit, einen wichtigen Aspekt des <strong>Trauma</strong>s zu erinnern.(4) Deutlich vermin<strong>der</strong>tes Interesse o<strong>der</strong> vermin<strong>der</strong>te Teilnahme an wichtigen Aktivitäten.(5) Gefühl <strong>der</strong> Losgelöstheit und Fremdheit von an<strong>der</strong>en.(6) Eingeschränkte Bandbreite des Affekts (z.B. Unfähigkeit, zärtliche Gefühle zuempfinden).(7) Gefühl einer eingeschränkten Zukunft (z.B. erwartet nicht, Karriere, Ehe, Kin<strong>der</strong>o<strong>der</strong> normal langes Leben zu haben).D. Anhaltende Symptome erhöhter Anspannung (vor dem <strong>Trauma</strong> nicht vorhanden).Mindestens zwei <strong>der</strong> folgenden Symptome liegen vor:(1) Schwierigkeiten, ein- o<strong>der</strong> durchzuschlafen.(2) Reizbarkeit o<strong>der</strong> Wutausbrüche.(3) Konzentrationsschwierigkeiten.(4) Übermäßige Wachsamkeit (Hypervigilanz).(5) Übertriebene Schreckreaktionen.(in Anlehnung an das DSM-IV *)* DSM-IV = Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen<strong>der</strong> American Psychiatric Association, 4. Revision.4


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMAFolgen von lang dauerndem ExtremstressManchmal ist es nicht ein einzelnesErlebnis, das einen Menschen traumatisiert.Vielmehr müssen manche Menschenjahrelang unter schwersten Bedingungenleben, die ihnen dauernde seelischeSchäden zufügen. <strong>Die</strong>se <strong>Trauma</strong>folgen bezeichnetman als DESNOS = «Disor<strong>der</strong>s ofextreme stress, not otherwise specified»o<strong>der</strong> als «Komplexe posttraumatische Belastungsstörung».Hier sind in verkürzter Form die diagnostischenKriterien:1. Der Patient war über einen längerenZeitraum totalitärer Herrschaft ausgeliefert,wie zum Beispiel Geiseln, Kriegsgefangene,Überlebende von Konzentrationslagerno<strong>der</strong> Aussteiger aus religiösenSekten, aber auch lang dauern<strong>der</strong>sexueller Missbrauch o<strong>der</strong> schwere seelischeo<strong>der</strong> körperliche Misshandlung,sei es in <strong>der</strong> Familie o<strong>der</strong> Ausbeutungdurch organisierte Banden.2. Störungen <strong>der</strong> Gefühle, darunter anhaltendeVerstimmung, chronische Suizidgedanken,Selbstverletzung, aufbrausendeo<strong>der</strong> extrem unterdrückte Wut,zwanghafte o<strong>der</strong> extrem gehemmte Sexualität(eventuell alternierend).4. Gestörte Selbstwahrnehmung, darunterOhnmachtsgefühle, Lähmung jeglicherInitiative, Scham und Schuldgefühle,Selbstbezichtigung, Gefühl <strong>der</strong>Beschmutzung und Stigmatisierung;Gefühl, niemand könne ihn versteheno<strong>der</strong> sie sei «mutterseelenallein».5. Gestörte Wahrnehmung des Täters, ständigesNachdenken über die Beziehungzum Täter (auch Rachegedanken); unrealistischeEinschätzung des Täters, <strong>der</strong>für allmächtig gehalten wird; Idealisierungo<strong>der</strong> paradoxe Dankbarkeit; Gefühleiner beson<strong>der</strong>en o<strong>der</strong> übernatürlichenBeziehung; Übernahme des Überzeugungssystemsdes Täters.6. Beziehungsprobleme, darunter Isolationund Rückzug, gestörte Intimbeziehungen,wie<strong>der</strong>holte Suche nach einemRetter, anhaltendes Misstrauen, wie<strong>der</strong>holterfahrene Unfähigkeit zumSelbstschutz.7. Verän<strong>der</strong>ung des Wertesystems, Verlustfester Glaubensinhalte, Gefühl <strong>der</strong> Hoffnungslosigkeitund Verzweiflung.3. Bewußtseinsverän<strong>der</strong>ungen, darunterGedächtnisverlust (Amnesie) o<strong>der</strong>überscharfe Erinnerungen (Hypermnesie)an die Ereignisse, zeitweilig dissoziativePhasen, Depersonalisation/Derealisation,intrusive Symptome <strong>der</strong>posttraumatischen Belastungsstörungo<strong>der</strong> ständige grüblerische Beschäftigungmit dem Erlebten.BILD: aus einer Aufklärungsschrift gegen Kin<strong>der</strong>prostitutionin Kambodscha (World Vision).5


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMAHäufigkeit von PTBSZur Häufigkeit einer PTBS gibt es unterschiedlicheZahlen. So fand eine Studiein den USA (Kessler et al. 1995) über das ganzeLeben eine Häufigkeit von 7,8 Prozent,was nahe an die Erkrankungszahlen vonDepression und Angststörungen kommt.Eine Studie in Deutschland (Maercker etal. 2008) fand innerhalb des Zeitraums voneinem Monat deutlich niedrigere Werte:2,3% <strong>der</strong> Befragten zeigten ein PTBS-Vollbild,2,7% ein Teil-Syndrom. Männer undFrauen waren etwa gleich häufig betroffen.Allerdings gab es erstaunliche Unterschiedeje nach Altersgruppe: Am häu-figsten war in Deutschland eine PTBS beiMenschen über 60 (3,4%). Am niedrigstenwar die Rate bei jungen Menschen zwischen14 und 29 (1,3%). Etwa dazwischen liegendie 30 bis 59-Jährigen mit 1,9%. Als Erklärungergibt sich die Geschichte des ZweitenWeltkrieges, <strong>der</strong> in den Seelen <strong>der</strong> älterenGeneration tiefe <strong>Wunden</strong> hinterlassen hat.Ganz an<strong>der</strong>s würde eine solche Statistikin einem Land aussehen, das erst kürzlichdurch einen Krieg o<strong>der</strong> eine Katastrophegegangen ist.Letztlich können aber nackte Statistikenniemals das Leid einzelner Menschen wie<strong>der</strong>geben.Verzögertes Auftreten im Alter<strong>Die</strong> Kin<strong>der</strong>, die den 2. Weltkrieg miterlebthatten, waren sicher schwertraumatisiert. Aber nach Kriegsende ginges einfach ums Überleben. Erst viele Jahrespäter traten typische Symptome einer<strong>Trauma</strong>tisierung auf – Flashbacks vonBil<strong>der</strong>n und Gerüchen, nächtliche Panik,Schlaflosigkeit. Je<strong>der</strong> 20. Deutsche über 63leidet gemäß einer Studie an einer PTBS.Der Gehirnforscher Markowitsch erklärtdies wie folgt: Das Gehirn verliert im Altertäglich 85'000 Nervenzellen. <strong>Die</strong>s zieht dienormalen Folgen des Alters nach sich: Manbewegt sich langsamer, denkt langsamerund braucht mehr Zeit, um den Alltag zubewältigen. Aber das Gedächtnis verliertauch seine «neuronale Sicherung» – dasGehirn kann weniger gut verdrängen. «Geschiehtdann etwas Grausames, dringendie früheren grausamen Erlebnisse ungebremstins Bewusstsein.»(nach einem Artikel im SPIEGEL 12/2008)Ein Mann, <strong>der</strong> als Junge flüchten musste,suchte lange nach den Ursachen für seineTraurigkeit. «Anfangs hielt ich das nichtfür normal», sagt er. «Ohne ersichtlichenGrund laufen mir Tränen über das Gesicht.Seit ich weiß, womit das zusammenhängt,kann ich besser damit leben.»Ein Soldat hatte dem kleinen Jungen auf<strong>der</strong> Flucht den Teddy weggenommen, daseinzige Spielzeug, das ihn begleitete. Als erweinte, lachte <strong>der</strong> Soldat ihn aus, und dieMutter schlug ihren Sohn mit <strong>der</strong> Handauf den Mund.«Es klingt noch ungewohnt, wenn ichals Mann sage: Es ist das Kind in mir, dasweint», sagt er. «Aber es ist so.»(nach einem Buch von Gertrude Ennulat: Kriegskin<strong>der</strong>.Wie die <strong>Wunden</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit heilen.Klet-Cotta.7


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMAKomorbidität — zusätzliche Probleme<strong>Trauma</strong>tisierte Patienten erklären häufignicht sofort den Hintergrund ihrerProbleme. <strong>Die</strong>s führt dazu, dass <strong>der</strong>Arzt mit einer Vielzahl von Symptomenkonfrontiert wird, die ganz unterschiedlichenStörungen bzw. Diagnosen zugeordnetwerden können.Gerade das schambesetzte Erlebeneines sexuellen Missbrauchs führt oftdazu, dass die betroffenen Frauen zuerstmit Klagen über körperliche Beschwerden,Ängste o<strong>der</strong> Beziehungsprobleme indie Sprechstunde kommen, bevor sie etwasvon den Hintergründen des <strong>Trauma</strong>spreisgeben.SymptomatikIntrusion, VermeidungsverhaltenSoziale Ängste, PhobienSuizidalität, HoffnungslosigkeitErschöpfung, Schmerzsyndrome, erhöhtesvegetatives ErregungsniveauAmnesien, Depersonalisation, DerealisationBeziehungsstörungen, Misstrauen, Impulsivität,Selbstverletzen, Scham und SchuldgefühleAlkohol- und MedikamentenmissbrauchWasch- und ReinigungszwängeKlinische diagnosePTBSAngststörungenDepressive StörungSomatoforme StörungenDissoziative StörungenPersönlichkeitsstörungenSuchterkrankungenZwangsstörungen(modifiziert nach M. Sack)Abbildung 8-1: Manche Autoren unterscheiden zwischen «Plus-Symptomatik» nacheinem <strong>Trauma</strong> und «Minus-Symptomatik», die sich jeweils unterschiedlichen Diagnosenzuordnen lassen.8


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMAVerlaufDer amerikanische <strong>Trauma</strong>forscher Bonannounterscheidet vier Formen desVerlaufs nach einem traumatischen Ereignis.Maßstab ist dabei die Einschränkungdes normalen Funktionierens im Alltag.1. Chronische PTBS: Das Ereignis erschüttertdie Person massiv, die Symptomatiksetzt kurz nach dem <strong>Trauma</strong> ein, und sieberuhigt sich auch nach mehreren Jahrennicht nennenswert. <strong>Die</strong>se Entwicklung beobachtetman oft nach sehr schweren <strong>Trauma</strong>ta,wie z.B. nach schwerer Folter, die einenMenschen total zerbrechen kann (vgl.Seite 30).2. Erholung (Recovery): Nach einer erstenPhase <strong>der</strong> typischen Symptome kommt esallmählich zu einer Beruhigung und zueinem Verblassen <strong>der</strong> Erinnerung. <strong>Die</strong> betroffenePerson baut ein neues Leben auf,findet Sicherheit und Stabilität.3. Verzögertes Auftreten einer PTBS:Manche Personen, die ein <strong>Trauma</strong> überlebthaben, sind zu Beginn <strong>der</strong>art damit beschäftigt,dass sie ihr Leben wie<strong>der</strong> in Ordnungbringen, dass sie äußerlich keine Einschränkungenzeigen. Wenn es dann aberruhiger wird, kann plötzlich die Erschöpfungeinsetzen, die die Abwehrkräfte gegendas Erlebte schwächt. Erst jetzt – Monateund sogar Jahre später – treten die typischenPTBS-Symptome auf (vgl. Seite 7).4. Resilienz: Nicht wenige Menschen habeneine erstaunliche Wi<strong>der</strong>standskraft imUmgang mit traumatischen Erlebnissen.<strong>Die</strong> Faktoren, die zu dieser positiven Verarbeitungführen, werden auf Seite 38 näherbeleuchtet.Weitere Informationen:Bonanno G.A. (2004). Loss, trauma, and human resilience.American Psychologist 59:20-28.9


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMAWie<strong>der</strong>erleben – AuslöserHinweisreize — Trigger — Schlüsselreize:Bei einem <strong>Trauma</strong> werden massiv Stresshormoneausgeschüttet, und Wahrnehmungenbrennen sich wie Blitzbil<strong>der</strong> indie Erinnerung ein, ohne zu unterscheiden,ob sie wichtig sind o<strong>der</strong> nicht. Geräuscheo<strong>der</strong> Gerüche signalisieren fortan «Gefahr!»Treten sie wie<strong>der</strong> auf, so wecken sie die Erinnerungenso intensiv, als ob diese Erfahrungjetzt noch einmal neu gemacht würde– plötzlich und mit enormer Wucht.<strong>Die</strong> damaligen Gefühle werden unmittelbarerlebt (Flashback). <strong>Die</strong> reale aktuelleSituation kann dann von <strong>der</strong> betroffenenPerson oft nicht mehr wahrgenommen werden.Sie reagiert oft so, als würde sie sichwie<strong>der</strong> in Gefahr befinden.<strong>Die</strong>se Reaktion erfor<strong>der</strong>t viel Verständnisvon den Angehörigen und Freunden.Menschen mit einer PTBS leiden an <strong>der</strong>ständigen Wie<strong>der</strong>kehr des traumatischenEreignisses (vgl. Seite 4). Das obigeBild wurde von einem kurdischen Manngemalt, <strong>der</strong> gefoltert wurde. «<strong>Die</strong> Gedankendrehen sich ständig in meinem Kopf,»sagte er, «und nachts wache ich schreiendauf, weil ich wie<strong>der</strong> im Verhör bin.»Es ist als würde eine Person plötzlichin einen an<strong>der</strong>en Zustand versetzt, ohnedass die an<strong>der</strong>n den Grund verstehen.Zwei Phänomene sind für den Aussenstehendenbeson<strong>der</strong>s schwer zu verstehen:1. Handeln o<strong>der</strong> Fühlen, als ob das traumatischeEreignis wie<strong>der</strong>kehrt.2. Intensive Reaktionen bei <strong>der</strong> Konfrontationmit inneren o<strong>der</strong> äußeren Hinweisreizen,die einen Aspekt des traumatischenEreignisses symbolisiereno<strong>der</strong> an Aspekte desselben erinnern.«Letzthin war ich in <strong>der</strong> S-Bahn unterwegs.Ich war angespannt und hatte einenschweren Tag hinter mir. Da plötzlichging ein Mann an mir vorbei. Ichblickte nicht auf, aber da war dieser Geruch,dieses Rasierwasser. Er ging vorbeiund tat mir überhaupt nichts – aber inmir stieg plötzlich Panik hoch. Ich hieltes nicht mehr aus – bei <strong>der</strong> nächsten Stationstürzte ich hinaus. Mein Atem gingschnell, mein Puls war auf 120 – ich hattenur noch einen Gedanken: schnell nachHause, in die Sicherheit meiner Wohnung.Plötzlich war die Erinnerung an dieVergewaltigung vor zwei Jahren wie<strong>der</strong> da.Ich brauchte lange, bis ich endlich gegenMorgen einschlafen konnte.»(eine 24-jährige Betroffene)10


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMAVegetative Symptome – HypervigilanzEin <strong>Trauma</strong> kann auch die körperlichen Reaktionennachhaltig durcheinan<strong>der</strong>bringen.Jede Nervenfaser ist auf Wachsamkeitund Überleben eingestellt. <strong>Die</strong>se Hypervigilanz(= übermäßige Wachsamkeit) kanndas ganze Leben dominieren. Hinter je<strong>der</strong>Ecke lauert Gefahr, man ist immer daraufeingestellt, zu flüchten o<strong>der</strong> zu kämpfen.Ständig wird die Umgebung darauf hinabgecheckt, ob sich etwas Verdächtigeszeigt, und in <strong>der</strong> Tasche führt man einenPfefferspray sowie ein Mobiltelefon, das dieNummer <strong>der</strong> Polizei einprogrammiert hat.Manche unserer Patienten wagen nichteinzuschlafen, weil sie dann hilflos ausgeliefertwären. An<strong>der</strong>e zucken beim kleinstenGeräusch zusammen, als wäre eine Explosiongeschehen (übermäßige Schreckreaktion).Doch diese ständige Wachsamkeit for<strong>der</strong>tihren Preis: Oft ist man nicht bei <strong>der</strong>Sache — kann sich also nicht konzentrierenund wirkt abwesend. Der Schlafmangelund die ständige Anspannung führenzu unangemessenen Reaktionen, Reizbarkeitund Wutausbrüchen. Indirekt gibt mandamit auch ein Signal: Komm mir nicht zunah! Aber für die Angehörigen und Freundewirkt dieses Verhalten abson<strong>der</strong>lich, abstoßendund entfremdend.Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhangauch die Hypervigilanz nach innen:Man hört auch viel stärker auf Warnsymptomedes Körpers: Schmerz, Herzklopfen,normalerweise leichte Symptome erhaltenplötzlich eine an<strong>der</strong>e Bedeutung −sie wecken Erinnerungen o<strong>der</strong> signalisierenneue Gefahr.Vermeidungsverhalten – Isolation, RückzugFür einen traumatisierten Menschenwird das ganze Leben unsicher, gespicktmit Gefahren und neuen Bedrohungen.Menschen mit einer PTBS ziehen sich deshalboft von an<strong>der</strong>n Menschen zurück.Das hat mehrere Gründe:1. Abstand: Sie möchten sich nicht in Gesprächeo<strong>der</strong> Begegnungen einlassen, diesie an das <strong>Trauma</strong> erinnern. So kann <strong>der</strong>Park, wo ein Überfall stattfand, plötzlichnicht mehr ein Ort <strong>der</strong> Entspannung sein,son<strong>der</strong>n ein Hinterhalt <strong>der</strong> Gefahr.2. Depressive Grundstimmung: Ein <strong>Trauma</strong>nimmt einem Menschen die Lebensfreudeund kann eine richtige Depressionauslösen. Teil dieses depressiven Syndromsist <strong>der</strong> Rückzug von Aktivitäten, die frühermit Freude verbunden waren. Hierzu gehörtauch die Einschränkung <strong>der</strong> Bandbreite <strong>der</strong>Gefühle (z.B. Unfähigkeit, zärtliche Gefühlezu empfinden).3. Verkürzte Lebensperspektive: Nacheinem <strong>Trauma</strong> verliert alles seinen Glanzund seinen Sinn. <strong>Die</strong> Motivation, etwas zuerreichen o<strong>der</strong> eine Beziehung aufzubauenhat ihr Fundament verloren − «Es hat ohnehinkeinen Sinn!»4. <strong>Trauma</strong>spezifische Störungen <strong>der</strong> Erinnerungen:Bei manchen Opfern ergibtsich so etwas wie ein «Filmriss» − sie wissen,dass sie etwas Schlimmes erlebt haben,aber das Gedächtnis verweigert ihnendie Details. Das ist einerseits ein Schutz,aber auch eine Last.5. Dissoziatives Erleben: Nach einem<strong>Trauma</strong> entwickeln manche Opfer ein Gefühl<strong>der</strong> Losgelöstheit und Fremdheit vonan<strong>der</strong>en. Menschen, die schon als Kin<strong>der</strong>massive <strong>Gewalt</strong> erlebt haben, können unterStress in einen Zustand verfallen, indem sie von außen nicht erreichbar sind(vgl. Seite 23).11


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMABiologische Verän<strong>der</strong>ungen im GehirnDas Gefühl <strong>der</strong> Geborgenheit und desUrvertrauens findet seine neurobiologischeEntsprechung im Gehirn.Das psychische Gleichgewicht ist abhängigdavon, dass die neuronalen und hormonalenWarnsysteme auf «Grün» stehen.<strong>Die</strong> neurobiologischen Netzwerke <strong>der</strong>Persönlichkeit festigen sich mit jedem Lebensjahrund erhöhen die Wi<strong>der</strong>standsfähigkeitbei traumatischen Ereignissen.Eine wichtige Rolle spielt die HPA-Achse— die Hormon-Kaskade ausgehend vomZentrum <strong>der</strong> Gefühle, dem Hypothalamus(H), die sich überträgt in die Hormonsprache<strong>der</strong> Hypophyse (pituitary = P) und dieschließlich die Stresshormone in <strong>der</strong> Nebenniereaktiviert (adrenal cortex = A). Bisheute verstehen die Forscher nicht genau,was wirklich vor sich geht, wenn einMensch durch ein schweres <strong>Trauma</strong> geht.Somit sind es eher die indirekten Beobachtungen,die uns allmählich ein Bild von denneurobiologischen Verän<strong>der</strong>ungen nacheinem <strong>Trauma</strong> geben.Elemente des vertrauens> Grundbedürfnisse erfüllt(nach Maslow) − Obdach, Wärme,Kleidung − äußere Sicherheit − Wertschätzung− Liebe, Annahme − Selbständigkeit,Freiheit.> Positive Kontrollüberzeugung«Wenn ich brav bin; wenn ich meinePflichten erfülle etc. − dann stößtmir nichts Böses zu.»> Vertrauensvolle Beziehungen− zur primären Bezugsperson.− zu sich selbst − zu an<strong>der</strong>en.− zu Gott.> Verdrängung des Bösen«Mich trifft es nicht!»<strong>Trauma</strong>-Auswirkungen> Grundbedürfnisse verletztWehrlos ausgeliefert − körperlichund seelisch verletzt − Entwertung.> Infragestellung von WertenSchuldgefühle − existenzielle Fragen− «Wo ist Gott?» − «Was ist <strong>der</strong>Sinn des Lebens?»> Beziehungen unsicherStändige Wachsamkeit − Misstrauen− Angst vor neuer Verletzung.<strong>Die</strong>se Verletzung <strong>der</strong> Grundannahmen(Kognitionen) ist Teil <strong>der</strong> posttraumatischenReaktion.Weitere Informationen:Charney D.S. (2004). Psychobiological mechanisms ofresilience and vulnerability: Implications for successfuladaptation to extreme stress. American Journal ofPsychiatry 161:195—216.12


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMAGrundtemperamentVerletzlichkeitÄngstlichkeitbiolog. RhythmenAmygdala:Gefühle,insbeson<strong>der</strong>e AngstHippocampusGedächtnisprägungBil<strong>der</strong>, Gerüche,GeräuscheFest steht: <strong>Trauma</strong>tische Erfahrungenkönnen im Gehirn bleibende Schädigungenhervorrufen, die sich in den psychischenSymptomen <strong>der</strong> post-traumatischen Reaktionen(Intrusion – Vermeidung – vegetativeLabilität) äußern.Bei einem <strong>Trauma</strong> werden massiv Stresshormoneausgeschüttet: Körper und Gehirnwerden überschwemmt von Cortisolund Adrenalin. Wahrnehmungen brennensich in die Erinnerung ein, aber sie sindnicht geordnet verbunden mit dem Wissenund den Worten um die Erklärung <strong>der</strong>Gefühle und Bil<strong>der</strong>. <strong>Die</strong> Erinnerung wirdgleichsam abgekapselt, bricht aber nachtsin Albträumen o<strong>der</strong> tagsüber bei Schlüsselreizenunvermittelt in das Erleben ein.Lebenslange SensibilisierungOft kommt es zu einer lebenslangen Vermin<strong>der</strong>ung<strong>der</strong> Stresstoleranz. Das Alarmsystemim limbischen System reagiertschneller und heftiger auf jeden Reiz, <strong>der</strong>sich während des <strong>Trauma</strong>s eingebrannt hat.<strong>Die</strong>se ständige Alarmbereitschaft kostetviel Kraft — Kraft, die es verunmöglicht,unbeschwert das Leben zu genießeno<strong>der</strong> eine Beziehung aufzubauen. Beispiel:Eine Frau wird auch Jahre nach einem se-xuellen <strong>Trauma</strong> jede Situation, die sexuelleReize enthält, unwillkürlich als Bedrohungerleben. <strong>Die</strong>ses Muster kann den Aufbaueiner Beziehung zu einem Mann empfindlichstören.<strong>Die</strong>se Reaktionsmuster sind nicht nur«psychisch», son<strong>der</strong>n sie sind biologisch imGehirn durch spezifische Verän<strong>der</strong>ungenverankert:— Neurotransmitter bilden ein hochsensiblesMobile. Kleinste Verän<strong>der</strong>ungen<strong>der</strong> Ausschüttung verän<strong>der</strong>n das biologische(und psychische) Gleichgewicht.— Synapsen: werden vermehrt, wo rascheresAnsprechen nötig ist und vermin<strong>der</strong>t,wo soziale Aktivität zu neuenGefahren führen könnte.— Genetische Muster <strong>der</strong> Bereitstellungvon Botenstoffen werden langfristigverän<strong>der</strong>t.Neuroplastizität und Heilung<strong>Die</strong> Forschung <strong>der</strong> letzten Jahre hat gezeigt,dass selbst biologische Verän<strong>der</strong>ungennicht unweigerlich fixiert sind. Dasmenschliche Gehirn ist erstaunlich erholungsfähig— dank <strong>der</strong> Fähigkeit, neuronaleVerschaltungen zu verän<strong>der</strong>n.13


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMASensibilität als Disposition für <strong>Trauma</strong>Genvarianten und AngstVieles deutet darauf hin, dass sensibleMenschen stärker traumatisiert werdenals Menschen mit einer höheren seelischenWi<strong>der</strong>standskraft. Das Wachs ihrer Seele istweicher, <strong>Gewalt</strong> und Unrecht reissen tiefere<strong>Wunden</strong>. Was zuerst nur in psychologischenStudien an Kleinkin<strong>der</strong>n gezeigt werdenkonnte, wird heute zunehmend durch Hirnforschungund Gentechnik bestätigt.In <strong>der</strong> Temperamentsforschung habensich folgende Eigenschaften bereits beikleinen Kin<strong>der</strong>n gezeigt, die auch spätereine höhere Anfälligkeit für seelische Verletzungenergaben:1. Zurückhaltung bei spontanen Äußerungengegenüber unbekannten Kin<strong>der</strong>nund Erwachsenen.2. Mangel an spontanem Lächeln gegenüberunbekannten Leuten.3. Relativ lange Zeit notwendig um sichin neuen Situationen zu entspannen.4. Beeinträchtigung <strong>der</strong> Erinnerung nachStress.5. Zurückhaltung, Risiken einzugehenund vorsichtiges Verhalten in Situa-In einer Studie über posttraumatischeAngst bei den Opfern <strong>der</strong> ICE-Katastrophevon Eschede zeigte sich, dass Menschen,die eine bleibende Angst entwickelt hatten,häufiger eine spezielle Variante des COMT-Gens aufwiesen. <strong>Die</strong>se verringert den Abbauvon Dopamin im Gehirn.Der Forscher Christian Montag (Bonn) erklärt:«Nicht je<strong>der</strong> von ihnen ist ein ängstlicherMensch. Aber je stärker Ängstlichkeitals Eigenschaft bei einem Menschen ausgeprägtist, desto wahrscheinlicher wird erTräger dieser Genvariante sein. Und wenndiesem Menschen etwas Schlimmes zustößt,hat er ein höheres Risiko, eine Angststörungzu entwickeln.»Quelle: Montag et. al. Behavioral Neuroscience 2008.— Bericht im Spiegel 33/2008, S. 125.tionen, die eine Entscheidung verlangen.6. Stärkere seelische Reaktion bei bedrohlichenWorten im Stroop Test.7. Ungewöhnliche Ängste und Phobien.8. Starker Pulsanstieg bei Stress undbeim Aufstehen.9. Starke Pupillenerweiterung bei Stress.10. Erhöhte Muskelanspannung11. Größere kortikale Aktivierungim rechten Stirnhirnbereich.13. Mehr Allergien.14. Hellblaue Augen häufiger.(nach Forschungen von Kagan et al.)14


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMASexueller Missbrauch im KindesalterAuswirkungenLangzeitfolgenTherapeutische MöglichkeitenPräventionDer sexuelle Missbrauch von Kin<strong>der</strong>n istwohl das häufigste <strong>Trauma</strong> mit nachgewiesenenLangzeitfolgen in unserer Gesellschaft.Als <strong>Trauma</strong> ist es am meisten beschriebenund am besten erforscht — unddennoch ereignet es sich täglich neu. <strong>Die</strong>Umstände, die Langzeitfolgen und die therapeutischenAnsätze sind dabei an<strong>der</strong>s alsbei den an<strong>der</strong>n <strong>Trauma</strong>ta, von denen in diesemSeminarheft die Rede sein muss. Ausdiesem Grunde wird hier ein beson<strong>der</strong>erAbschnitt eingefügt (Seiten 15 — 29), <strong>der</strong>sich ausschließlich mit dieser Thematik beschäftigt.15


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMASexueller MissbrauchDefinitionDer Begriff «sexueller Missbrauch» umfaßtein weites Feld von sexuellen Handlungen.Sexueller Missbrauch liegt dannvor, wenn einem Min<strong>der</strong>jährigen o<strong>der</strong> einerabhängigen Person eine sexuelle Handlungaufgezwungen wird, die diese nicht will, fürdie sie nicht reif ist und die in erster Linie<strong>der</strong> Bedürfnisbefriedigung des Täters o<strong>der</strong><strong>der</strong> Täterin dient.Finden diese innerhalb <strong>der</strong> Familie statt,so spricht man auch von Inzest («Blutschande»).Juristisch gesehen handelt essich bei Inzest um den Straftatbestandvon sexuellen Handlungen zwischen Verwandtenund Verschwägerten in auf- undabsteigen<strong>der</strong> Linie und zwischen Geschwistern.Heute wird <strong>der</strong> Begriff allerdings weitergefaßt: Man erweitert den Täterkreisauf alle, zu denen emotionale Abhängigkeitenbestehen – unabhängig von <strong>der</strong> biologischenBeziehung (Eltern, Stief-, Pflege-,Adoptiveltern, Großeltern, Geschwister<strong>der</strong> Eltern, Geschwister, die mindestensfünf Jahre älter sind, Erzieher, Leh-Bild: www.fotolia.comrer, Gruppenleiter, Therapeuten, u.a.) – undden Opferkreis auf Erwachsene in abhängigenBeziehungen (z.B. geistig Behin<strong>der</strong>teo<strong>der</strong> Erwachsene in einer therapeutischenWohngemeinschaft).Folgende Handlungen werden dazugezählt:Beischlaf, Masturbation, hand-genitalerund oral-genitaler Kontakt, Streichelnmit dem Ziel sexueller Erregung, Entblößen(Exhibition) o<strong>der</strong> gemeinsames Betrachtenvon Porno-DVDs.<strong>Die</strong> Abgrenzung vom gesunden und erfor<strong>der</strong>lichenKörperkontakt zwischen Erwachsenenund Kin<strong>der</strong>n liegt dort, wo dasBedürfnis des Erwachsenen, nicht das desKindes befriedigt wird; wo es sich um pervertierte,kalte o<strong>der</strong> ritualisierte Kontaktehandelt, gegen die sich das Kind nicht wehrendarf o<strong>der</strong> die geheim bleiben müssen,o<strong>der</strong> Kontakte, die den Erwachsenen sexuellerregen und dann nicht beendet werden.Von Kin<strong>der</strong>n werden <strong>der</strong>artige Kontakteals «merkwürdig» o<strong>der</strong> unangenehmwahrgenommen und auf Nachfragen auchso benannt.Was macht sexuellen Missbrauchtraumatisch?1. Machtmissbrauch: Intime Handlungenwerden aufgezwungen, um den Täterzu befriedigen, ohne Rücksicht auf Gefühledes Opfers.2. Erleben <strong>der</strong> Ohnmacht: <strong>Die</strong> betroffenePerson ist ausgeliefert; Gegenwehrführt zu Drohungen, Schmerz und weiterer<strong>Gewalt</strong>.3. Reduktion zum Sexualobjekt: Das Mädchenwird nicht mehr als Person in seinerGanzheit ernst genommen, son<strong>der</strong>n nurals Lustobjekt. Es fühlt sich schmutzig,abgewertet, und kann eine gestörte Be-16


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMAziehung zu seiner natürlichen Sexualitätentwickeln.4. Geheimhaltung: Das Kind kann mit niemandemüber das Vorgefallene reden,was zusätzliche Hilflosigkeit erzeugtund das Kind in die Isolation treibt.5. Schutzlosigkeit: Weil <strong>der</strong> Täter oft im engenUmfeld ist, gibt es keinen Schutz.Ehefrauen / Partnerinnen von Täternsind oft selbst in Abhängigkeit und wagenes nicht, gegen ihn aufzutreten.6. Eigene Scham- und Schuldgefühle: Täter(vgl. Täterprofil, S. 19) neigen oft dazu,dem Opfer die Schuld zuzuschieben: «Duhast mich so aufreizend angeschaut!Du wolltest es doch auch!» etc. Opferschämen sich und neigen dazu, dieseTäterperspektive zu übernehmen undhaben Mühe, sich abzugrenzen. Nur ein«böses Kind», so die falsche Logik, kanneine solche Behandlung verdienen.Zu betonen ist auch, dass es sich NIEum eine Handlung im Einverständnismit dem Kind handeln kann, da diessexuelle Handlungen we<strong>der</strong> verstehennoch in ihren Folgen erfassen kann.HäufigkeitSexueller Missbrauch ist häufig, allerdingswegen <strong>der</strong> verständlichen Dunkelziffernur im ungefähren Ausmaß zu erfassen.Man geht heute davon aus, dass ca. 5 – 10Prozent <strong>der</strong> Frauen in ihrer Kindheit Opfereines sexuellen Übergriffs im engerenSinne wurden. Auch wenn an<strong>der</strong>e Publikationendramatischere Szenarien nennen, soscheinen die in <strong>der</strong> Zeitschrift «Psychologieheute» veröffentlichten Zahlen realistisch:«Über sexuelle Missbrauchserfahrungenmit Körperkontakt im Alter bis zu 14 Jahrenberichten fünf bis acht Prozent <strong>der</strong>Frauen (Männer: 1,4 bis 3,5 Prozent). <strong>Die</strong>«Nach <strong>der</strong> Schule wagte ich mich kaummehr heim. Oft schlich ich mich dann indie katholische Kirche in unserem Dorf.Ich schlüpfte unter dem Altar durch undblickte nach oben zum unbeweglichen,blutüberströmten Gesicht des gekreuzigtenChristus. ‹Du verstehst wenigstens,Jesus, was ich gelitten habe!› flüsterte ich,und irgendwie wurde ich ruhiger in seinerGegenwart. – Wie konnte mir das meinVater antun? Und warum sagte meineMutter nichts, obwohl sie es doch sichergemerkt haben muß! Noch heute bin ichhin- und hergerissen: Manchmal möchteich ihn am liebsten umbringen. Aber ichhabe ihn doch noch gern! Und manchmalfrage ich mich, ob ich nicht selber schuldan allem war. Wenn ich nur einmal zurRuhe kommen könnte!»(eine 26-jährige Frau)Täter waren nach Angaben <strong>der</strong> befragtenMänner und Frauen in über 90 Prozent<strong>der</strong> Fälle Männer. Bei den Mädchen unter14 Jahren waren in 21 Prozent <strong>der</strong> FälleVäter o<strong>der</strong> Stiefväter die Täter. Doch <strong>der</strong>häufigste Missbrauch fand mit 47,5 Prozent<strong>der</strong> Fälle durch Bekannte außerhalb<strong>der</strong> Familie statt. Bei den Jungen warenVäter o<strong>der</strong> Stiefväter seltener Täter, hierist <strong>der</strong> soziale Nahbereich <strong>der</strong> Bekanntenmit 54,8 Prozent <strong>der</strong> entscheidende.»Frauen als Täterinnen machen eine Min<strong>der</strong>heitvon ca. 10 Prozent aller Fälle aus.Oft handelt es sich um geschiedene Frauen,die sich in ihrer Sehnsucht nach Nähe anihren Söhnen vergreifen. Nur ein kleinerTeil dieser sexuellen Übergriffe wird zurAnzeige gebracht und noch weniger werdenschließlich durch eine Verurteilunggeahndet.17


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMASCHWEREGRAD eines sexuellenMissbrauchsVerschiedene Faktoren prägen denSchweregrad eines sexuellen Missbrauchs:Alter und Entwicklungsstand, das Verhältniszum Täter (fremde Person o<strong>der</strong> Vertrauensperson),die Dauer des Missbrauchs (einmaligo<strong>der</strong> wie<strong>der</strong>holt), sowie die Art <strong>der</strong>sexuellen Aktivität. Wesentlich ist aberauch die Reaktion <strong>der</strong> Menschen, die dasKind anzusprechen versucht: Erfährt esTrost und Schutz, so wirkt dies lin<strong>der</strong>nd.Fühlt es sich aber schutzlos ausgeliefert,konstant bedroht und unter <strong>der</strong> Last einesschrecklichen Geheimnisses, so frisst sichdas <strong>Trauma</strong> immer tiefer in die kindlicheSeele.Lange nicht alle Opfer von sexueller <strong>Gewalt</strong>entwickeln eine PTBS. Gemäß einerStudie zeigten selbst nach einer Vergewaltigung54 Prozent keine PTBS.Auswirkung sexueller AusbeutungMissbrauch und DepressionDaten einer australischen Studie:— Rund 27 % aller depressiven Frauenhaben einen sexuellen Missbrauch in<strong>der</strong> Kindheit erlebt, ca. 10 % in schwererForm.— Bei missbrauchten Frauen kommt eshäufiger zu Suizidversuchen, Selbstverletzungund Panikstörungen. <strong>Die</strong> Depressiontrat früher im Leben auf, unddie Frauen lebten häufiger erneut inBeziehungen mit <strong>Gewalt</strong>.(Gladstone 2004)www.dunkelziffer.de — Hilfe und Schutzfür sexuell missbrauchte Kin<strong>der</strong>.www.sexuellermissbrauch.ch — Informationenvon betroffenen Frauen.Zusammengefasst wirkt das Erlebnis <strong>der</strong>sexuellen Ausbeutung durch einen Erwachsenenauf vier Arten traumatisch:1. Beziehungen werden sexualisiert, esentstehen falsche Normen, Liebe undSex werden verwechselt und sexuelleAktivität mit negativen Gefühlserinnerungengekoppelt.2. Das Kind erlebt sich stigmatisiert undist zur Geheimhaltung gezwungen; esleidet unter Scham und Schuldgefühlen.3. Das Kind fühlt sich verraten und inseinem Vertrauen betrogen. In <strong>der</strong> lebensnotwendigenAbhängigkeit erlebtes sich missbraucht und manipuliert.4. Das Kind erfährt sich ohnmächtig durchdas Überschreiten <strong>der</strong> Körpergrenzengegen seinen Willen, es gerät in Hilflosigkeitund gelangt zur Überzeugung<strong>der</strong> eigenen Wirkungslosigkeit mit demSelbstbild als Opfer.<strong>Die</strong> Persönlichkeit wird zentral in ihrenÜberzeugungen und Werten auf fünfEbenen getroffen und zeigt sich beeinträchtigt:1. Auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Sicherheit, in dem sieimmer wie<strong>der</strong> Opfer wird und in gefährlicheSituationen gerät.2. Auf <strong>der</strong> Ebene des Vertrauens, indemsie von Angst, Misstrauen, Übervorsichtund Entscheidungsunfähigkeit geprägtist.3. Auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Kontrolle, indem siesich ausgeliefert fühlt, unter Sinnlosigkeitleidet und sich selbst schädigt.4. Auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Wertschätzung, indemsie meint, schlecht zu sein, undauch die Wertschätzung für an<strong>der</strong>e verliert.5. Auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Intimität, indem siesich einsam und leer fühlt und im Miteinan<strong>der</strong>keine Sinnerfüllung findet.18


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMAEin typisches Täterprofil<strong>Trauma</strong>tisierte Menschen haben oft großeAngst vor dem Täter. <strong>Die</strong>s hängt oft auchmit dem allgemeinen Verhalten des Täterszusammen.Täterstrategien— Ans Opfer gelangen («Grooming»).— Opfer für die Tat gefügig machen.— Unentdeckt bleiben.— Nicht zur Verantwortung gezogenwerden.— Ausbeutung beliebig fortsetzen können.Nach <strong>der</strong> EntdeckungNach <strong>der</strong> Entdeckung mögen sie sich fürihre Tat schämen, doch sie umgeben sichmit einem dicken Panzer — nach innen gepolstert,nach außen abwehrbereit, sobalddas Fehlverhalten angesprochen wird. FolgendeEigenschaften finden sich bei vielenTätern:— Wenig Einsicht in sein Verhalten.— Wenig Verständnis für die Bedürfnisse<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en.— Selbstmitleid als Drohung: «Denk daran,was das für mich bedeutet, wenndu mich anzeigst!»— Starke Verdrängung <strong>der</strong> Tat.— Gibt nur zu, was ihm nachgewiesenwird («Kann sein, dass da etwaswar.»).— Wurden oft selbst missbraucht.— Teenager: tiefes Selbstwertgefühl,isoliert, wenig gleichaltrige Freunde,netter Junge (Babysitter); hat Mühe inBeziehungen mit Erwachsenen.Das äußere positive Gesicht des Täters— Höflich, zuvorkommend, angesehen.— Guter Versorger.— Familienmann.— Sozial / politisch / religiös engagiert.— Großzügig (nach außen / für sich).Immer wie<strong>der</strong> sind Nachbarn einesSexualtäters schockiert und überraschtüber das Doppelgesicht des Täters.Nachdem in den USA ein Mann nachschwersten Delikten an seiner Familiefestgenommen wurde, waren dieNachbarn in dem etwa 100 Häuserzählenden Wohnpark entsetzt. «Wirhatten keine Ahnung. Ich wusstenicht einmal, dass dort Kin<strong>der</strong> leben»,erklärte eine Bewohnerin. «Er war sehrangesehen, sehr freundlich und seriös»,beschrieb Parkmanagerin Alma M. denFestgenommenen. «Man hätte sich niemalsvorstellen können, dass er so etwastun würde.»(aus einer Zeitungsmeldung)Das heimliche negative Gesicht des Täters— Egoistisch.— Manipulatives Zurückhalten von Geld.— Wenig Zeit für Familie.— Wenig Ausleben <strong>der</strong> Werte.Gefühlsmäßige Reaktion des Opfers— Am Anfang sieht das Opfer die gutenSeiten des Täters als Stärke <strong>der</strong> Beziehung.— Wenn <strong>der</strong> Täter mit seinen Kontrollmethodenreagiert, klammert es sichan die positiven Seiten.— Wenn <strong>der</strong> Druck wächst, erscheintauch das Positive hohl.— <strong>Die</strong>ses Doppelleben führt zu einer Vertrauenskrise,die das Selbstwertgefühldes Opfers zerstören kann.Weitere Informationen:Anita Heiliger:Täterstrategien und Prävention. München 200019


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMAAufdecken und vorbeugenPrävention erfolgt fortlaufend durch Erziehungund Öffentlichkeitsarbeit. Leitlinienfür die Information <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>:– Dem Alter und Entwicklungsstand <strong>der</strong>Kin<strong>der</strong> angepasst.– Selbständigkeit und Selbstbewusstseinför<strong>der</strong>nd.– In Sexualerziehung und in Leitlinienfür eine liebevolle Beziehung eingebettet.Präventive Erziehung– Über deinen Körper bestimmst du allein.– Deine Gefühle sind wichtig.– Es gibt angenehme und unangenehmeBerührungen.– Du hast das Recht NEIN zu sagen.– Es gibt gute und schlechte Geheimnisse.– Sprich darüber und suche Hilfe.– Du bist nicht schuld!www.dunkelziffer.deDEN TÄTER ANZEIGEN?Wie soll man bei Verdacht auf sexuellenMissbrauch vorgehen?– Ruhig bleiben, das Gespräch mit demKind suchen.– Dem Kind glauben, was es erzählt.– Dem Kind nicht die Schuld geben.– Hilfe suchen für sich und das Kind.– Das Kind vor weiterem Missbrauchschützen.– Den Täter anzeigen, wenn eine weitereGefährdung besteht.– Der Täter hat ein Recht auf Persönlichkeitsschutz.Beratungsstellen (Opferhilfe) geben gerneAuskunft, wie man weiter vorgehen kann.– Nie allein handeln!– Kin<strong>der</strong>schutz hat oberste Priorität!Auswirkungen auf die PaarbeziehungDas <strong>Trauma</strong> eines Ehepartners (oft ist dieFrau von einem sexuellen Missbrauchbetroffen) bleibt nicht ohne Auswirkungauf eine spätere Paarbeziehung. Der Weg zueiner partnerschaftlichen Sexualität kannoftmals länger dauern und von unerwartetenReaktionen geprägt sein.Wichtig ist es für den Partner, die Auswirkungenzu kennen — Flashbacks, körperlicheSymptome und Vermeidensverhalten.Für die Frau braucht es viel Überwindung,ihm die Gründe für ihre Reaktionenzu erklären. Wichtig ist dann aberauch, dass sie ihm sagt, wie er auf ihre Bedürfnisseund Hemmungen eingehen kann— was sie gern hat und was traumatischeErinnerungen auslöst.20


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMAPhasen <strong>der</strong> Therapie bei sexuellem MissbrauchSexueller Missbrauch führt zu einer tiefenVertrauenskrise − zum Täter, zu an<strong>der</strong>nMenschen, zu sich selbst. Alle Gefühlesind in Aufruhr, in ständigem innerenWi<strong>der</strong>streit. Auch <strong>der</strong> Körper ist nichtmehr verlässlich. Wie soll man da in eineTherapie eintreten und Heilung erfahren?Erfahrene Therapeutinnen betonen daheran erster Stelle nicht Aufarbeitung son<strong>der</strong>nStabilität.1. Stabilisierung. «Es ist o.k., nicht o.k.zu sein!» Das Opfer muss spüren, dassman ihm glaubt und vertraut; dassman seine seelischen und körperlichenSchmerzen ernst nimmt; dass manseine Instabilität akzeptiert. Darausergibt sich <strong>der</strong> Aufbau einer therapeutischenArbeitsbeziehung, in <strong>der</strong> sichdie Person frei fühlt, ihre Erlebnisse zuerzählen und Wege zur Bewältigungzu suchen. Oft kann man zu Beginnnur mit dem Opfer trauern und versuchen,es zu trösten.2. Strukturierende, unterstützende Interventionen:Wie kann die Person ihrLeben in den Griff bekommen, ohneständig von den seelischen Schmerzenüberwältigt und aus <strong>der</strong> Bahn geworfenzu werden?3. Imaginationsübungen: Wenn traumatischeErinnerungen wie<strong>der</strong> lebhaftpräsent sind, lernt die Person sich innereSchutzräume vorzustellen, einen«sicheren Ort», wo das Böse sie nichterreicht. O<strong>der</strong> sie stellt sich jemandvor, <strong>der</strong> an ihrer Seite steht und dieBedrohung abwehrt («innere Helfer»).4. Ressourcen-Aktivierung: Je<strong>der</strong> Menschentdeckt Wege, die ihm helfen, dasLeben besser zu bewältigen. So wirdbesprochen, was bisher geholfen hat,um zu überleben. Achtsamkeit aufdie kleinen Dinge des Alltags: Was tutSYMPTOME SEX. MISSBRAUCHKin<strong>der</strong>: Schmerzen in <strong>der</strong> Vagina, Blaseninfektion,Schmerzen beim Stuhlgang,Angst, Weigerung jemanden zu besuchen,Verän<strong>der</strong>ung im Lernverhalten, Verweigerungvon Körperkontakt, nicht alterskonformesSexualverhalten.Teenager: Essstörungen, Rückzug, Isolation,Selbstverletzung, Weglaufen, Misstrauen,mangelnde sexuelle Intimität.Erwachsene: sehr vielgestaltig, gehäuftsexuelle Dysfunktion, Unterleibsbeschwerden,vermehrte Schmerzsyndrome,Depression und Angst, Selbstverletzungen- starke Schwankungen im Befinden.gut, was lenkt die Gedanken ab; wasgibt ein Gefühl <strong>der</strong> Sicherheit und<strong>der</strong> Normalität, was vermittelt kleineGlücksgefühle?5. Klärung <strong>der</strong> aktuellen Lebenssituation:Hat die Person allenfalls noch immerKontakt zum Täter? Wie kann sie sichdistanzieren und schützen? WelchenEinfluss haben solche Begegnungenauf das Befinden?6. Langfristige Ziele <strong>der</strong> <strong>Trauma</strong>therapie:Integration des <strong>Trauma</strong>s in die Biographie,Gestaltung des aktuellen Lebensund <strong>der</strong> Zukunft. Entwicklung einerNicht-Opfer-Identität. Entwicklungvon neuen Interessen, Plänen und Aufgaben.7. Behandlungsbedürftigkeit von Begleiterkrankungenklären (z.B. Angststörungen,Persönlichkeitsstörungen).Evtl. Medikation einsetzen.21


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMASpezifische <strong>Trauma</strong>-TherapiemethodenPITT<strong>Die</strong> Psychodynamisch Imaginative <strong>Trauma</strong>Therapie (PITT) nach Luise Reddemannist eine Kurzzeit-Therapie, die inDeutschland aus <strong>der</strong> klinischen Erfahrungmit traumatisierten Bor<strong>der</strong>line-Patientenim Rahmen eines kurzen stationären Aufenthaltesentstand. Drei Phasen:— Stabilisierung (primäre Aufgabe)— <strong>Trauma</strong>konfrontation (evtl. bei guterStabilisierung nicht mehr nötig)— Integration.Im Vor<strong>der</strong>grund steht <strong>der</strong> Aufbau einertragenden therapeutischen Beziehung undeine Stabilisierung des psychischen Zustandes.Hier geht es um Ich-Stärkung,Symptomreduktion und um die Mobilisierungvon Ressourcen. Ein wesentliches Elementist die Imagination: <strong>Die</strong> Vorstellungberuhigen<strong>der</strong> Bil<strong>der</strong> (ein Gegengewicht zuden Schreckensbil<strong>der</strong>n) soll mithelfen, dieGefühle besser zu kontrollieren. <strong>Die</strong> Patientinlernt bewusst, sich von angst-auslösendenReizen und Vorstellungen zu distanzieren— sie wendet quasi eine schützende,positive Dissoziation an.<strong>Die</strong>ser Schutz erlaubt bei Bedarf dieKonfrontation mit dem <strong>Trauma</strong>. <strong>Die</strong>Betroffene nimmt eine distanzierte Beobachterrolleein und bestimmt, was auf<strong>der</strong> «inneren Bühne» abläuft. Sie sieht nichtnur den bedrohlichen Täter, son<strong>der</strong>n auchhilfreiche Personen, etwa ein starkes erwachsenesIch o<strong>der</strong> «ideale Eltern» o<strong>der</strong>«innere Helfer».<strong>Die</strong>se verän<strong>der</strong>te Sicht ermöglicht eineIntegration des Geschehenen in die Lebensgeschichte,ein bewusstes Trauern un<strong>der</strong>mu tigt zum Neubeginn.<strong>Die</strong> Therapieform hat eine breite Akzeptanzerlangt und überzeugt durch die einfühlsame,kreative und doch realistischeGrundhaltung.EMDR<strong>Die</strong> Abkürzung steht für «Eye MovementDesensitization and Reprocessing», zudeutsch «Desensibilisierung und Neuverarbeitungdurch Augenbewegungen». Dabeigeht man von <strong>der</strong> Annahme aus, dass traumatischeErlebnisse in Verbindung zu körperlichenbzw. Gehirnfunktionen stehen.Bei Wikipedia ist dies wie folgt beschrieben:«Nach einem <strong>Trauma</strong> kann es zum sogenannten‹Sprachlosen Entsetzen› (speechlessterror) kommen, das heißt, in <strong>der</strong>rechten Hirnhälfte werden Bil<strong>der</strong> prozessiert,die <strong>der</strong> Patient vor Augen hat, währenddas Sprachzentrum aktiv unterdrücktwird. Der Patient kann das Geschehene sonicht in Worte fassen, wodurch nachfolgendeine Verarbeitung des Erlebten erschwertwird.»Es wird angenommen, dass durch diebeidseitige Stimulation mittels bestimmterAugenbewegungen (o<strong>der</strong> auch akustischeo<strong>der</strong> Berührungsreize) eine Synchronisation<strong>der</strong> Hirnhälften stattfindet,die bei <strong>der</strong> PTBS gestört ist. Erklärend wirdBezug genommen auf die REM-Phase imSchlaf, bei <strong>der</strong> auch starke Augenbewegungenstattfinden und zugleich eine erhöhteVerarbeitung des im Alltag Erlebtenvermutet wird.Erzählt also ein Patient seine <strong>Trauma</strong>-Erfahrung und bewegt dabei gleichzeitigseine Augen hin und her, so soll es zu einerdeutlichen Abnahme <strong>der</strong> posttraumatischenReaktion kommen.Das Konzept ist nicht unumstritten. Insbeson<strong>der</strong>ewird die Methode bei komplexen<strong>Trauma</strong>ta als zu «simpel» erachtet. <strong>Die</strong> Augenbewegungenseien zudem nicht spezifisch(also nicht wirklich notwendig) für dieAbnahme post-traumatischer Emotionen.22


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMADissoziationDer psychologische Begriff »Dissoziation«bedeutet im weitesten Sinne Trennung,Auflösung, Entflechtung. Dissoziationstellt eine unwillkürliche Reaktion desMenschen auf belastende o<strong>der</strong> traumatischeErfahrungen dar, die zu einer Verän<strong>der</strong>ungbzw. einem Rückzug vom Bewusstseinführt. <strong>Die</strong> Psyche wird dadurch vor denüberwältigenden Reizen und den existenzbedrohendenEmotionen geschützt. Für denaußenstehenden Beobachter wirkt es, alsob die Person mit den Gedanken weit wegwäre. Der Blick wird leer, die Person verstummt,vielleicht läuft sie ziellos davono<strong>der</strong> bleibt verloren in einer Ecke stehen.Was um sie herum vorgeht, und was ihr angetanwird, kommt nicht mehr an sie heran.Dissoziation ist also ein wichtigerSchutzmechanismus für Menschen intraumatischen Situationen. Es ist jedochgleichzeitig ein sehr drastischer Notmechanismus,<strong>der</strong> nachhaltige Schäden in Formvon post-traumatischen Symptomen hinterlassenkann.Kommt es zu wie<strong>der</strong>holten und längeranhaltenden <strong>Trauma</strong>tisierungen, so kanndies gerade bei Kin<strong>der</strong>n zu einem Musterwerden, in schwierigen Situationen einfach«wegzutreten». <strong>Die</strong> integrative Funktiondes Bewusstseins wird nachhaltig gestört.Gedächtnis und Wahrnehmung werden unterbrochen,die Person nimmt sich und dieUmwelt nicht mehr wahr (Depersonalisationo<strong>der</strong> Derealisation). Im schwersten Fallekann es zu einer tief greifenden Identitätsstörungkommen (vgl. Seite 24 — 25).Therapeutische DissoziationIm positiven Sinn wird Dissoziation genutzt,um sich im therapeutischen Kontextdurch Imagination von den traumatischenErinnerungen zu distanzieren (vgl. PITT, Seite22). Allerdings geschieht <strong>der</strong> Mechanis-Interview mit einer jungen Frau, die alsKind von zwei arbeitslosen Männernpraktisch jeden Tag sexuell missbrauchtwurde. Mit tonloser Stimme berichtetsie von diesen Ereignissen.Frage: «Wie konnten Sie das nur aushalten?»Antwort: «Ich bin in die Tapete gegangen.Da hat es nicht mehr weh getan.Ich bin erst viel später wie<strong>der</strong> aufgewacht.»mus hier bewusst. Ergänzt wird er durchKörper übungen, in denen sich die Personwie<strong>der</strong> spüren lernt und sich mit mehr Sicherheitund Lebensfreude ins reale Lebeneingibt.23


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMAMultiple Persönlichkeit (MPD) o<strong>der</strong>Dissoziative Identitätsstörung (DID)<strong>Die</strong> Störung mit multipler Persönlichkeit(MPD = Multiple Personality Disor<strong>der</strong>)ist eine sehr seltene Störung <strong>der</strong> Persönlichkeits-Identität.Nach <strong>der</strong> Klassifikation<strong>der</strong> DSM-IV wird sie heute als DissoziativeIdentitätsstörung (DID) bezeichnet.Zur Diagnose <strong>der</strong> DID sind zwei Voraussetzungenwichtig: <strong>Die</strong> erste beschreibtdie Existenz von zwei o<strong>der</strong> mehr Personeno<strong>der</strong> Persönlichkeitszuständen innerhalbeiner Person (jede mit einem eigenen, relativüberdauernden Muster, die Umgebungund sich selbst wahrzunehmen, sich aufsie zu beziehen und sich gedanklich mitihnen auseinan<strong>der</strong>zusetzen). <strong>Die</strong> zweiteVoraussetzung for<strong>der</strong>t, dass mindestenszwei dieser Persönlichkeiten o<strong>der</strong> Persönlichkeitszuständewie<strong>der</strong>holt volle Kontrolleüber das Verhalten des Individuumsübernehmen.<strong>Die</strong>se Phänomene führen dazu, dass eine«Person» (bzw. ihr Körper) gelegentlichetwas sagt, fühlt o<strong>der</strong> macht, das sieselbst nie tun würde. Häufig besteht fürden Zeitraum <strong>der</strong> Kontrolle durch eine an<strong>der</strong>e«Person» o<strong>der</strong> einen Persönlichkeitsanteileine völlige o<strong>der</strong> teilweise Erinnerungslücke.<strong>Die</strong> Diagnose <strong>der</strong> Störung wirdkompliziert durch die Mannigfaltigkeit <strong>der</strong>Symptome ,die auch körperliche Beschwerdenmiteinschließen. <strong>Die</strong> Instabilität desPersönlichkeitsausdrucks ist eine beson<strong>der</strong>sdramatische Auspräg ung <strong>der</strong> Phänomene,die bei <strong>der</strong> Bor<strong>der</strong>line-Persönlichkeitbeobachtet werden.Als Ursache dieser Identitätsstörungwird heute eine langandauernde überwältigendepsychische und physische<strong>Trauma</strong>tisierung (z.B. schwerer sexuellerMissbrauch) mit Beginn in <strong>der</strong> frühenKindheit angenommen. Es kommt zur Abspaltung(Dissoziation) dieser unerträglichenErlebnisse in weniger zugänglicheBewusstseinsbereiche.Wer bin ich?«Ich bin eine begabte Pianistin, ich lesegern und viel, ich bin jemand, die Kuscheltiereliebt, die gerne kocht,ABER bin ich auch diejenige, die8000.— Euro Schulden hat, ja, die aufden Strich geht? Vielleicht drogenabhängig?Ich bin diejenige, die behauptet, dass ihreEltern schreckliche Sachen mit ihrenKin<strong>der</strong>n tun, aber ich bin auch diejenige,die behauptet, dass nichts passiertist. Wer bin ich?» (eine junge Frau)<strong>Die</strong> Therapie<strong>Die</strong> Therapie erstreckt sich gewöhnlichüber viele Jahre, das Ziel ist die Reintegrationo<strong>der</strong> bessere Kooperation <strong>der</strong> «Personen»bzw. Persönlichkeitsanteile. Therapieerfolgewerden von den unterschiedlichstenTherapierichtungen beschrieben.Für christliche Therapeuten liegt eineGefahr in <strong>der</strong> Überinterpretation (z.B. zuschnelle okkult-dämonische Zuordnung)<strong>der</strong> eindrücklichen Phänomene.24


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMAEin Modell <strong>der</strong> Entstehungvon abgespaltenen «Personen»Abbildung aus: Pfeifer et al (1994). Störung mit multipler Persönlichkeit. Darstellungvon zwei Fällen und Entstehungsmodell. Nervenarzt 65:623-627.Weiterführende Literatur:– Huber M.: Multiple Persönlichkeiten. Fischer.– Pfeifer S.: Multiple Persönlichkeitsstörung. Kapitel 7, in «<strong>Die</strong> zerrissene Seele. Bor<strong>der</strong>line und Seelsorge»,Brockhaus Verlag.– Friesen J.G.: Uncovering the mystery of MPD. Here is Life Publishers.25


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMAFalsche Anwendung des <strong>Trauma</strong>konzeptesWelche Gedanken kommen Ihnen beimBetrachten des Bildes auf dieser Seite?a) ein Kind auf regennasser Strasse, verzweifelt,seelisch verletzt, allein?b) ein müdes Kind in Begleitung seiner(kaum sichtbaren) Mutter, auf demHeimweg in sein geborgenes Zuhause?Wenn wir ehrlich sind, können wirnichts über den Seelenzustand des Kindesaussagen, ohne Genaueres über seinenHintergrund zu wissen.Ein <strong>Trauma</strong> ist schlimm, aber auch einefalsche Anklage wegen Kindesmissbrauchist schlimm für die Angehörigen. Therapeutinnenund Berater müssen deshalbausserordentlich vorsichtig in <strong>der</strong> Interpretationdes seelischen Zustandes einesMenschen sein.In <strong>der</strong> Folge sollen einige Fallen im Umgangmit dem <strong>Trauma</strong>konzept beschriebenwerden.Falle 1: Ausweitung auf jedeschwierige erfahrung im LebenTherapeuten, die beispielsweise von <strong>der</strong>Primärtherapie o<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Autorin AliceMiller geprägt sind, neigen dazu, auch dienormalsten Erfahrungen auf dem Weg insErwachsenenleben als «<strong>Trauma</strong>» zu deuten,das fortan die Gründe für spätere Problemedarstellen soll.Da wird vom Geburtstrauma gesprochen,dieser schrecklichen Erfahrung, ausdem warmen Mutterschoss in gleißendesLicht und kalte Luft herauspresst zu werden.Später soll dann in einer «körper-orientiertenTherapie» diese schreckliche Erfahrungnochmals durchlebt werden, umdas «<strong>Trauma</strong>» zu verarbeiten.<strong>Seelische</strong> Verletzung einersensiblen Persono<strong>der</strong> echtes <strong>Trauma</strong>?Wenn in <strong>der</strong> Tiefenpsychologie von «Verletzungen»die Rede ist, werden nicht nurschwerste Kindheitserfahrungen gemeint,wie Vernachlässigung, Misshandlung, sexuellerMissbrauch o<strong>der</strong> die innere Zerrissenheitals Folge einer Scheidung. <strong>Die</strong> Belastungdurch solche schweren Erfahrungen«MISSBRAUCH»Ein vielschichtiger BegriffIn <strong>der</strong> therapeutischen Sprache gibt esmindestens vier Formen des englischenBegriffes «ABUSE»:— Emotional Abuse = Emotionale Vernachlässigungund Verletzung.— Physical Abuse = Körperliche Misshandlungund Vernachlässigung.— Sexual Abuse = Sexueller Missbrauchin vielfältigen Schweregraden.— Spiritual Abuse = Geistlicher Missbrauch(vgl. Seite 35).26


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMAist allgemein erkennbar und unbestritten.Vielmehr sollen es ganz alltägliche Enttäuschungenund Ängste des Kindes sein,die zum späteren Lebensproblem führen.Beispiele:— Reinlichkeitserziehung.— Festlegen von festen Zeiten im Alltag(Essen, Schlafen).— Tadel / kleine Strafen für Fehlverhalten.— Mangelnde Bewun<strong>der</strong>ung für einselbst gemaltes Bild etc.Oft werden Mütter <strong>der</strong> «Misshandlung»bezichtigt, obwohl sie nur das Beste für ihrKind wollten und es zu keiner Zeit bewusstböse behandelten. Daraus folgt fälschlicherweise:«<strong>Die</strong> Mutter ist schuld!»Falle 2:Deutung seelischer Probleme alsFolge von psychischem <strong>Trauma</strong>.Therapeuten und Seelsorgerinnen, dieeinseitig vom <strong>Trauma</strong>begriff geprägt sind,können sich kaum an<strong>der</strong>e Gründe für psychischeAuffälligkeiten vorstellen. «Könntehinter depressivem Erleben ein <strong>Trauma</strong>stehen?» — «Derartige Wahnideen müssendoch einen traumatischen Ursprunghaben!»Sie beharren auf einer <strong>Trauma</strong>-Deutung,selbst wenn die Patientin / <strong>der</strong> Patient sichan kein Ereignis erinnern kann, das <strong>der</strong> allgemeinenDefinition eines <strong>Trauma</strong>s entspricht.Oft wirken sie dadurch realitätsfernund erzeugen erhebliche Spannungenbei den betroffenen Menschen.Falle 3:Einreden von <strong>Trauma</strong> aufgrundvon Träumen, Körpermissempfindungeno<strong>der</strong> geistlichen Eindrücken.Alice Miller (*) schreibt einmal: «Ich hättefrüher heftig protestiert, wenn man mirgesagt hätte, dass ich ein misshandeltes* www.alice-miller.comPARADOX— Nicht jede seelische Verletzung in <strong>der</strong>Kindheit führt auch zu psychischenProblemen im Erwachsenenalter.— Psychische Probleme im Erwachsenenlebenlassen sich nicht immer aufseelische Verletzungen in <strong>der</strong> Kindheitzurückführen.Kind gewesen war. Erst jetzt weiß ich mitBestimmtheit, dank Träume, meiner Malereiund nicht zuletzt dank <strong>der</strong> Botschaftenmeines Körpers, dass ich als Kind überJahre seelische Verletzungen hinnehmenmusste, aber dies als Erwachsene sehr langenicht wahrhaben wollte.»<strong>Die</strong> klinische Erfahrung zeigt, dass genaudiese drei Quellen <strong>der</strong> Wahrnehmungäußerst unzuverlässig sind, um «Wahrheit»zu rekonstruieren. Wenn es nicht zusätzlicheInformationen gibt, sollte man mit Interpretationensehr vorsichtig sein.In <strong>der</strong> Seelsorge kommt noch <strong>der</strong> Faktor<strong>der</strong> «geistlichen Eingebungen» o<strong>der</strong> «Bil<strong>der</strong>»hinzu. Speziell Frauen, die für sich einen«prophetischen <strong>Die</strong>nst» beanspruchen,stehen in <strong>der</strong> Gefahr, «<strong>Trauma</strong>ta» in das Lebenvon Ratsuchenden hineinzulesen, diediese in tiefe Verwirrung stürzen können.Falle 4:Abbruch <strong>der</strong> Beziehungzu den ElternManche Therapeuten raten Betroffenen,den Kontakt mit den Eltern radikal abzubrechen.Keine Besuche mehr, keine Telefonate,kein Familienfest, kein Vorstellen<strong>der</strong> Enkelkin<strong>der</strong>.Ein solcher Beziehungsabbruch trägt insich zwei Gefahren: a) eine unreife Pseudolösungdurch völliges Ausblenden <strong>der</strong>Beziehung ohne Gesprächsbereitschaft. b)Der Verlust von tragenden Beziehungenund heilsamen neuen Erfahrungen.27


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMASensibilität und das Leiden an <strong>der</strong> KindheitSensible und dramatische Persönlichkeitenverarbeiten vergleichsweise geringeVerletzungen als «<strong>Trauma</strong>».Sensible Menschen haben meist einerecht normale Jugend hinter sich, ohnefassbare Grausamkeiten und überdurchschnittlicheVerluste. Sie kommen oftmalsaus normalen Familien, die versuchten, ihrenKin<strong>der</strong>n das Beste zu geben. Nicht sel-ten sind an<strong>der</strong>e Geschwister seelisch gesund.Wie kommt es dann, dass ängstliche unddepressive Menschen sosehr unter ihrerKindheit leiden? Antworten ergeben sichaus <strong>der</strong> Sensibilitätsforschung (vgl. Seite14). <strong>Die</strong> untenstehende Tabelle fasst einigeGrundthesen zusammen.Tabelle 28-1:Zehn Grundthesen zur Bedeutung <strong>der</strong> Kindheit für die persönliche Entwicklung1. Kin<strong>der</strong> sind von ihrer genetischen Anlage her unterschiedlich begabt und temperamentvoll.2. Schwangerschaft und Geburt sind natürliche Ereignisse und führen als Erlebnis alleinnicht zu seelischen Störungen. Problematisch können aber minimale Gehirnschädigungensein, die zu späteren Lern- und Verhaltensstörungen führen können.3. <strong>Die</strong> frühkindliche Entwicklung ist weitgehend unabhängig von <strong>der</strong> Form <strong>der</strong> Erziehung(Mutterbrust o<strong>der</strong> Flasche, heile Kleinfamilie o<strong>der</strong> Kibbutz-Kin<strong>der</strong>hort), solange das Kindeine feste Bezugsperson hat, die ihm Vertrauen und Sicherheit gibt.4. Das Temperament des Kindes prägt auch den Beziehungs- und Erziehungsstil seinerEltern. Unruhige Kin<strong>der</strong> brauchen z.B. viel mehr elterliche Ermahnungen und erlebendaher mehr Frustration.5. Einzelne schmerzliche Ereignisse prägen weniger als eine langdauernde negative Gesamt-Atmosphäre.6. Es gilt zu unterscheiden zwischen schweren Problemen (z.B. Alkoholismus o<strong>der</strong> psychischeKrankheit <strong>der</strong> Eltern, Scheidungsstreß) und leichteren Beson<strong>der</strong>heiten desErziehungsstils (z.B. freiheitlich o<strong>der</strong> behütend, unbewußte Erwartungen und Ängste<strong>der</strong> Mutter).7. Erinnerungen an die Kindheit werden durch die Stimmungslage und die Persönlichkeitdes Erwachsenen gefärbt.8. Kin<strong>der</strong> haben Bewältigungsmöglichkeiten, die ihnen auch bei schlechter Ausgangslageeine gute Entwicklung ermöglichen. Zwei Faktoren sind wichtig: Eine stabile Anlage unddie Umwelt (z.B. stabile Schulsituation, verlässliche Freunde).9. <strong>Die</strong> Nöte sensibler Menschen sind nicht nur auf die äußeren Umstände <strong>der</strong> Kindheitzurückzuführen, son<strong>der</strong>n vielmehr auf ihre übersensible Verarbeitung von Erfahrungenin Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter.10. Wenn sich objektiv und im breiten Vergleich die Kindheit nicht als Schicksal erweist,so muss man doch die persönliche Verarbeitung von Erfahrungen in <strong>der</strong> Kindheit ernstnehmen und den Betroffenen helfen, diese in einer reifen Form zu verarbeiten.28


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMA«False Memory Syndrome»Das menschliche Gedächtnis ist lei<strong>der</strong>nicht so zuverlässig, wie man sichdas wünschen würde. Gerade bei traumatischenErfahrungen kann es im Rahmen<strong>der</strong> Dissoziation zum völligen Ausblenden<strong>der</strong> schrecklichen Ereignisse kommen. Ofttauchen die Erinnerungen erst sehr vielspäter in zersplitterter und verzerrter Formwie<strong>der</strong> auf.missempfindungen,Bil<strong>der</strong>, TräumeAuf dieser Grundlage haben mancheTherapeuten die These aufgestellt, ein sexuellerMissbrauch könne auch dann vorliegen,wenn die Person keine Erinnerungdaran hat. In fragwürdiger Weise wurdemanchmal durch stark suggestive Fragenein «recovered memory» (wie<strong>der</strong>entdeckteErinnerung) erzeugt. Vage Eindrücke, Bil<strong>der</strong>und Träume wurden zur Grundlage, einen«Missbrauch» zu diagnostizieren. Manchegingen so weit, ihre Eltern wegen dieserEindrücke anzuzeigen. Dabei wurdenz.T. groteske Anschuldigungen (Babyleichenim Garten) gemacht, die sich auch inaufwendigen Untersuchungen nicht beweisenliessen.Offenbar handelte es sich um ein «FalseMemory Syndrome». <strong>Die</strong>s wird definiertals «ein Zustand, in dem die Identität unddie persönlichen Beziehungen einer Personum die Erinnerung an eine traumatischeErfahrung kreisen, die objektiv zwarfalsch ist, aber an die die betroffene Personfest glaubt.»kENNZEICHEN<strong>Die</strong> amerikanische Psychologie-ProfessorinElizabeth Loftus arbeitete einigeKennzeichen <strong>der</strong>art falscher Gedächtnisinhalteheraus:— Es handelt sich oftmals um sehr ungewöhnlicheInhalte, etwa satanischeRituale mit Menschenopfern.— <strong>Die</strong> Betroffenen waren damals noch soklein, dass das Gedächtnis noch nichtso detailliert entwickelt war.— Es gibt typischerweise keine unabhängigenHinweise auf die Ereignisse.— <strong>Die</strong> Therapeuten haben ihrerseits fixeIdeen über die allgegenwärtige Bedeutungvon sexuellem Missbrauch.— <strong>Die</strong> Therapeuten benutzen umstritteneMethoden (wie etwa Hypnoseo<strong>der</strong> Imagination), um «Erinnerungenheraufzuholen».SchlussfolgerungenNach <strong>der</strong> sorgfältigen Prüfung <strong>der</strong> Literaturkommt <strong>der</strong> englische Psychologie-Professor C. Brewin zu folgenden Schlüssen:— Falsche Erinnerungen sind eine Möglichkeit,die immer berücksichtigt werdensollte. Aber nicht alle später auftauchendenErinnerungen sind falsch.Es gibt Beispiele, wo insbeson<strong>der</strong>e diegewöhnlichen Formen sexuellen Missbrauchserst viel später wie<strong>der</strong> erinnertwerden.— <strong>Trauma</strong>tisierte Patienten sind sehr suggestibel.Neben wirklich erfahrenen<strong>Trauma</strong>ta stehen sie in <strong>der</strong> Gefahr, unterDruck falsche Berichte über nichtselbst erlebte <strong>Trauma</strong>ta zu produzieren.<strong>Die</strong>se können sehr lebhaft ausgestaltetwerden und dennoch nicht den Tatsachenentsprechen.29


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMAVerfolgung, Folter und MigrationMenschen, die aus ihrem Heimatlandflüchten müssen, erleben etwa zehnmalso viel Stress wie <strong>der</strong> Durchschnitt imfriedlichen Gastland. Staatliche Verfolgungund Terror erzeugen eine massive und kumulativeBelastungssituation, welche inverschiedenen traumatischen Abschnittenverläuft.Nach vorsichtigen Schätzungen leidenmindestens 5% <strong>der</strong> in Deutschland lebendenAsylbewerber unter Foltererlebnissen.Folter hinterläßt bei ihren Opfern fast immerein tiefes und lebenslanges <strong>Trauma</strong>.Der Schrecken endet nicht mit <strong>der</strong> Ankunftim sicheren Hafen des Westens. Vielmehrbedeutet <strong>der</strong> Asylprozess eine «Insti-Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert.Unauslöschlich ist die Folter in ihneingebrannt, auch dann,wenn keine klinisch-objektiven Spurennachzuweisen sind.Jean Amérytutionalisierung <strong>der</strong> Ohnmacht». BeengteUnterkünfte, Arbeitsverbot, unsichere Aufenthaltsbedingungen,gekoppelt an diepermanente Bedrohung, abgeschoben zuwerden, sowie die Ablehnung im Gastlandbegünstigen die Entstehung einer chronifizierten<strong>Trauma</strong>-Symptomatik.Körperliche Folgen <strong>der</strong> FolterStändige Kopfschmerzen, Herzbeschwerden,Atemnot, Schwindel, Schlafstörungen,Albträume, Überwachheit bishin zur «nervigen» Übererregbarkeit. NebenVerletzungsfolgen findet sich oft aucheine chronisch erhöhte Verspannung mitentsprechenden Schmerzen und Muskel-Hartspann.Auch wenn sich keinerlei nachweisbareSpuren finden, so wird <strong>der</strong> erlebte Schmerzdoch zur «verkörperten Erinnerung».Zwischenmenschliche Folgen«Als er nach Hause kam, starrten seineAugen ins Leere, er lächelte nicht und redetenicht, und er hatte keine Fingernägelmehr», berichtete die Frau eines kurdischenFolteropfers. Oftmals hört man die Aussage:«Nichts ist mehr, wie es war!»Gefolterte Menschen können selbst fürihre eigene Familie sehr schwierige Mitmenschenwerden. Einige Punkte:— Dauernde matte Traurigkeit, Unfähigkeitzu Frohsinn und Lebensgenuss.— Ständiges Haften an den Demütigungenund Quälereien.— Eine eigentümliche Schreckhaftigkeit,selbst auf harmlose Geräusche.— Flashback-artige, sich aufdrängendeBil<strong>der</strong> und Gedanken aus früherenFoltersituationen, manchmal so plastisch,als würde sich das überstandene<strong>Trauma</strong> wirklich wie<strong>der</strong>holen,begleitet von Zittern und Schweißausbrüchen.— Angst vor <strong>der</strong> Hausglocke («Werde ichwie<strong>der</strong> verhaftet?»).— Vermeidung von größeren Menschenansammlungen,von Kino- o<strong>der</strong> Theater-Besuchen;ständige Absicherung.— Reizbare Verstimmbarkeit mit schwerbeherrschbaren Gemütsschwankungenund aggressiven Durchbrüchen, oftaber wie geistesabwesend.Weitere Informationen:Eine hervorragende Übersicht zum Thema findet sichauf <strong>der</strong> Website von Prof. Volker Faust: www.psychosoziale-gesundheit.net/psychiatrie/folter.htmlEbenfalls informativ: www.torturevictims.ch30


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMANationales <strong>Trauma</strong> und Versöhnung<strong>der</strong> selbst in den Verliessen des Regimesgeschmachtet hatte.Manchmal geht ein ganzes Volk durchein Massentrauma. <strong>Die</strong> Schreckensherrschaftdes Pol Pot Regimes löschteein Viertel des kambodschanischen Volkesaus — bis heute kann man die Schädel <strong>der</strong>«Killing Fields» besichtigen. In Ruanda hatdas Massaker <strong>der</strong> Hutus an den Tutsi einenhun<strong>der</strong>ttausendfachen Tribut gefor<strong>der</strong>t— auch hier zeugen die Totenschädelvon den schrecklichen Ereignissen. Srebrenica,Darfur, und wie die Orte schwersterMenschenrechtsverletzungen heissenmögen, haben sich in unser Gedächtniseingebrannt.Auch Südafrika ging in den Jahren <strong>der</strong>Apartheid-Herrschaft durch ein nationales<strong>Trauma</strong>. Der Hass gegen die Weissen wurdezum explosiven Gemisch, das je<strong>der</strong>zeit ineiner schreckliche Katastrophe hätte endenkönnen. Doch dann standen einige mutigeMänner auf, allen voran Nelson Mandela,Wahrheit und VersöhnungIn Südafrika wurden «Truth and ReconciliationCommissions» (TRC) gegründet,zu deutsch «Wahrheits- und Versöhnungskommission».Ihr Ziel war es, Opfer und Täter in einen«Dialog» zu bringen und somit eine Grundlagefür die Versöhnung <strong>der</strong> zerstrittenenBevölkerungsgruppen zu schaffen. Vorrangighierbei war die Anhörung bzw. die Wahrnehmungdes Erlebens des jeweils an<strong>der</strong>en.<strong>Die</strong> Ideale Gandhis, <strong>der</strong> über zwei Jahrzehntein Südafrika gelebt und gewirkt hatte,finden sich in den Grundsätzen <strong>der</strong> TRCwie<strong>der</strong>. Nicht die Konfrontation, son<strong>der</strong>ndie Wahrnehmung des «An<strong>der</strong>en» standim Vor<strong>der</strong>grund.Den Angeklagten wurde Amnestie zugesagt,wenn sie ihre Taten zugaben, denOpfern wurde finanzielle Hilfe versprochen.Ziel war die Versöhnung mit denTätern sowie ein möglichst vollständigesBild von den Verbrechen, die während <strong>der</strong>Apartheid verübt wurden. Sämtliche Anhörungenwaren deshalb öffentlich (Textnach Wikipedia).Vergebung statt Rache<strong>Die</strong> Bereitschaft zur Vergebung führtezu einem friedlichen Übergang statt zueinem Blutbad. <strong>Die</strong> Begnadigung weißerund schwarzer Täter hat vermieden, dasstausende unschuldiger Menschen neuesUnrecht, Tod und erneute <strong>Trauma</strong>tisierungerlebt hätten.Weitere Informationen:Wikipedia: Wahrheits- und Versöhnungskommission31


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMASeelsorge: Wo ist Gott?zwischen Anklage und zaghaftem Rufennach Hilfe.Lie<strong>der</strong> und geistliche Musik können Gefühlein ganz beson<strong>der</strong>er Weise ausdrücken— etwa Haendels Oratorium vom leidendenChristus o<strong>der</strong> Bachs Kantaten. Aber auchdas neue Genre <strong>der</strong> «Praise Music» enthältviele Texte und Melodien <strong>der</strong> Klage unddes Vertrauens.<strong>Die</strong>se verstörenden Zeilen wurden voneinem 18-jährigen Mädchen geschrieben,bei dem die Erinnerung an das <strong>Trauma</strong> einerVergewaltigung nach einem halben Jahrnochmals mit voller Wucht hochgekommenwar.Seelsorge in dieser Phase erfor<strong>der</strong>t vielFeingefühl. Da helfen we<strong>der</strong> Plattitüdennoch theologische Diskussionen. Es machtgar nichts, wenn auch die helfende Personkeine Worte findet, und einfach nur da ist,ohne viel zu sagen.<strong>Die</strong> äußere Stabilisierung steht vor <strong>der</strong>inneren Verarbeitung. <strong>Die</strong> traumatisiertePerson muss sich sicher fühlen können —Geborgenheit, Wärme, ein gutes Essen, einwohliger Ort zum Schlafen — all das kanndazu gehören.Gläubige Menschen gehen durch unterschiedlichePhasen in <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzungmit dem <strong>Trauma</strong>. Sie entdecken oftdie Psalmen, die Klagelie<strong>der</strong> o<strong>der</strong> das BuchHiob. Ihre Gebete sind seltsam zerrissenIst Vergebung möglich?«Vergeben und vergessen» — so einfachist es für traumatisierte Menschen nicht.Sie brauchen Zeit zur Verarbeitung, unddieser Weg kann auch in <strong>der</strong> Seelsorge nichtabgekürzt werden. Irgendwann kann manvielleicht das Geschehene «Gott zurücklegen»,und den Täter «seiner Rache übergeben».<strong>Die</strong>ses Abgeben hat reinigendeWirkung und entlastet von <strong>der</strong> Bürde desGrolls. In <strong>der</strong> Seelsorge mehr einzufor<strong>der</strong>n,wäre vermessen, doch gibt es oft ganz unvermutetepositive Entwicklungen.«Feindpsalmen»Dem UnaussprechlichenWorte geben<strong>Trauma</strong> macht sprachlos. Es gibt keineWorte, das Grauen zu fassen. Aber irgendwannkann die Wut hochkommen,auch beim gläubigen Menschen.In den Psalmen werden Gefühle ohnefalsche Frömmigkeit in unverblümter, authentischerForm ausgesprochen, geseufzt,herausgeschrieen. Mit ungewohnterHeftigkeit werden Rachewünsche undVernichtungsphantasien geäußert, wirdgegen <strong>Gewalt</strong> geklagt und nach Vergeltunggerufen. <strong>Die</strong>se Texte werden in <strong>der</strong>theologischen Fachsprache als Klagepsalmeno<strong>der</strong> Feindpsalmen bezeichnet.32


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMAAuswirkungen auf das Gottesbild«Wie kann ein allmächtiger lieben<strong>der</strong>Gott das Leid auf dieser Welt zulassen?»<strong>Die</strong>se Frage hat die Menschen seit Urzeitenbeschäftigt. In <strong>der</strong> Fachsprache wird sieals «Theodizee-Frage» bezeichnet. ImGespräch mit gläubigen Menschen begegnenmir zwei unterschiedliche Formen dieserFrage:a) <strong>Die</strong> theologisch-philosophische Fragenach Gottes Wirken in dieser Welt.b) Das persönliche Ringen mit dem Gott,<strong>der</strong> angeblich Liebe ist und doch Böseszulässt.Theologische AspekteIn diesem Seminarheft fehlt <strong>der</strong> Raum,diese Diskussion auch nur annähernd zuerörtern. Eine Frage ist aber auch für diepersönliche Verarbeitung wichtig: Muss dieGüte Gottes darin bestehen, dafür zu sorgen,dass es einem gut geht? Erfährt mannur dann Gottes Liebe, wenn man gesund,erfolgreich, unversehrt und glücklich ist?Das persönliche RingenIn manchen christlichen Kreisen wirdein idealisiertes, fast romantisches Vaterbildkultiviert, das nur selten <strong>der</strong> realenVatererfahrung entspricht. Schlechtes Ergehenwird oft mit Gottesferne gleichgesetzt,wohlige Geborgenheit mit <strong>der</strong> Heimkehrzum Vater, wie sie in Rembrandts Gemäldedargestellt wird.<strong>Seelische</strong>s <strong>Trauma</strong> for<strong>der</strong>t ein Umdenken.Der leidende Christus solidarisiert sichmit den <strong>Trauma</strong>tisierten. <strong>Trauma</strong>verarbeitungbedeutet auch Trauern über Leid undSchmerz als Teil des Lebens. Im Ringen mitGott kann eine neue vertiefte Gottesbeziehungentstehen, wie sie Paulus im Brief andie Römer ausspricht: Wer kann uns trennenvon <strong>der</strong> Liebe Gottes — auch in dendunkelsten Stunden des Lebens?«In einem christlichen Buch las ich denBericht über den Film ‹Billy Eliott›.Da hiess es: ‹Und sie schlägt zu — hautihm voll eine herunter. Der Knall dieserOhrfeige schallt durch den Kinosaal ...›An dieser Stelle bekam ich spontaneinen heftigen Flashback plus Übertragung.Vor meinem Auge stand mein brutalerVater, <strong>der</strong> mich zuweilen so heftigohrfeigte und mit Fausthieben malträtierte,dass beide Kiefergelenke dauerhaftgeschädigt sind. Und ich bin meinemVater nicht dankbar in den Arm gefallen,son<strong>der</strong>n habe das Weite gesucht, damit ermich nicht totschlug — wenn ich nochkonnte und nicht ohnmächtig wurde.<strong>Die</strong> Übertragung fand ebenso spontanstatt, dass Gott «Vater» vor mir steht undmich ohrfeigt, weil ich das verdient habe!Und ich bedanke mich natürlich noch beiGott ... Was ich hier an dieser Stelle desBriefes denke, kann man nicht veröffentlichen,deshalb behalte ich es für michFest steht, dass ich nach meiner Bekehrungjahrelang gebraucht habe, um meinenleiblichen Vater und Gott Vater zutrennen. Langsam, ganz langsam konnteich es zulassen, dass Gott mein Vater seinwill, <strong>der</strong> mich liebt und liebevoll mit mirumgeht. Nun aber liege ich zitternd undaufgelöst im Bett und es ist fast vier Uhrmorgens. Und morgen früh ist Gottesdienst,dort will ich hin ... und soll Gott-Vater anbeten. Ich habe keine Ahnung,ob das gelingt o<strong>der</strong> ob ich noch einmalJahre brauchen werde, mich dem VaterherzGottes zu nähern.»aus einem Leserbrief <strong>der</strong> Zeitschrift AUFATMEN33


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMA<strong>Die</strong> Frage nach dem BösenDas Leiden unserer Patienten wirft auchexistentiell die Frage nach dem Bösenauf. Wie sind Gräueltaten wie <strong>der</strong> Holocausto<strong>der</strong> <strong>der</strong> Völkermord in Kambodschao<strong>der</strong> die KZs in Bosnien möglich? Wie sindsadomasochistische Quälereien von Kin<strong>der</strong>nvor laufen<strong>der</strong> Kamera möglich? C.G.Jung sprach nach dem Ende des zweitenWeltkriegs von den «Dämonen» des Hitler-Regimes.Wer mit schwerst traumatisierten Menschenarbeitet, für den wird die Existenzdes Bösen so real, dass humanistische Verharmlosungennicht mehr greifen. <strong>Die</strong> Folgen:a) Wut, Ohnmacht, bis hin zum Kampfgegen das Böse auf eigene Faust.b) Persönliches Gefühl des Bedrücktseinsund <strong>der</strong> Bedrohung durch Kräfte desBösen, denen man sich ausgeliefertfühlt. (Cave: Symptom <strong>der</strong> Überfor<strong>der</strong>ung!!)c) Erschütterung des Weltbildes.Erschütterung des WeltbildesIngrid Bétancourt schrieb an ihre Mutter:«Mamita, ich bin des Leidens müde.Ich habe versucht, stark zu sein. <strong>Die</strong>se fastsechs Jahre Gefangenschaft haben mir gezeigt,dass ich we<strong>der</strong> so wi<strong>der</strong>standsfähignoch so mutig, intelligent und stark bin,wie ich dachte … Es geht mir körperlichschlecht. Ich esse nicht mehr, ich habe denAppetit verloren, mir fallen die Haare inBüscheln aus. Ich habe auf nichts Lust. Ichglaube, das ist das einzig Gute: auf nichtsmehr Lust zu haben. Denn hier in diesemDschungel lautet die einzige Antwort aufalles ‹Nein›. Deshalb ist es besser, nichtszu wollen, um wenigstens frei von Wünschenzu sein.»Verarbeitung im GebetIm folgenden gebe ich Texte einer seitKindheit schwerst traumatisierten Frau wi<strong>der</strong>,die mich sehr berührt haben. In den Gesprächenmit mir versuchte sie das Grauenin Worte zu fassen, das sie erlebt hatte.Oft blieb nichts an<strong>der</strong>es übrig, als Schweigen.Manchmal war sie so beschämt, dasssie sich in eine Ecke meines Sprechzimmersstellte, und dort zur Wand redete.Wir sprachen von ihrem Leiden, von ihremHass auf den Onkel, <strong>der</strong> sie jahrelang missbrauchtund dabei gefilmt hatte, aber auchvon ihrem Ringen mit Gott, <strong>der</strong> oft so abwesendschien. In diesem Ringen verfasstesie folgende Worte:BEACHTE: Das Gebet führt nicht immerzum harmonischen Ende des seelischenSchmerzes, aber es gibt dem Unaussprechlichenwenigstens Worte und damit tröstlicheKraft.34


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMAGeistlicher MissbrauchDEFINITION«Geistlicher Missbrauch ist <strong>der</strong> falscheUmgang mit einem Menschen, <strong>der</strong> Hilfe,Unterstützung o<strong>der</strong> geistliche Stärkungbraucht, mit dem Ergebnis, dass dieserin seinem geistlichen Leben geschwächtund behin<strong>der</strong>t wird.» [...] «Geistlicher Missbrauchist Manipulieren, Kontrollieren undBeherrschen im Rahmen eines geistlichenAmtes, das jemand ausübt. Dabei kann dieserMissbrauch absichtlich o<strong>der</strong> unabsichtlicherfolgen. Der geistliche Missbrauchdient dem Erreichen <strong>der</strong> eigenen Absichten,nicht dem Erreichen <strong>der</strong> Absichten Gottes.»Weitere Informationen:David Johnson & Jeff VanVon<strong>der</strong>een: Geistlicher Missbrauch— die zerstörende Kraft <strong>der</strong> frommen <strong>Gewalt</strong>. ProjektionJ.Ken Blue: Geistlichen Missbrauch heilen. Brunnen.Erkennungsmerkmale— Manipulation: z.B. «Gott hat mir gesagtdass du...» — Erzeugung einerextremen Abhängigkeit von einemLeiter, mit <strong>der</strong> Auflage, alle Entscheidungenmit ihm abzusprechen.— Tabuthemen, die nicht angesprochenwerden dürfen. Bestrafung, Verfluchungund Ausgrenzung bei Zuwi<strong>der</strong>handlung.— Machtanspruch: «Ich bin Leiter, alsomusst du mir gehorchen!» o<strong>der</strong> «Tasteden Gesalbten des Herrn nicht an.» —Ein Hinterfragen wird als «Rebellion»angesehen.— Lügen des Leiters werden von ihm als«Missverständnisse» abgetan.— Unangemessene For<strong>der</strong>ungen bezüglichZeit, Geld, Verzicht und Einsatz in <strong>der</strong>Gruppe, ohne Rücksicht auf die Bedürfnissedes einzelnen und seiner Familie.— Erzeugung von Schuldgefühlen, wennman den For<strong>der</strong>ungen eines Leiters nichtgehorcht.— Verleugnung von eigenen Gefühlen undBedürfnissen, wenn diese nicht den Vorgaben<strong>der</strong> Gruppe o<strong>der</strong> des Leiters entsprechen.— Sexuelle Übergriffe unter religiösenVorzeichen. (Beispiele: Missbrauch vonKnaben in <strong>der</strong> katholischen Kirche, aberauch vereinzelte Berichte von sexuellemMissbrauch in freikirchlichen Splittergruppen).— Dämonisierung von psychischen Problemenmit z.T. lautstarken rituellen «Befreiungsgebeten».— <strong>Die</strong> meisten Fälle von geistlichem Missbrauchtreten in kleinen Gruppierungenauf, die von isolierten Leitern (und ihrerEntourage) geführt werden.<strong>Die</strong> Betroffene hat ohne Erlaubnis des Pastors eineTupperware-Party durchgeführt. Sie wird autoritär«vermahnt».«Meine Ohren verweigern ihren <strong>Die</strong>nstund mein Gehirn blockt irgendwie allesab. Nach einer viertel Stunde sindsie fertig und ich darf nach Hause gehen.Als ich im Auto sitze, wird mir solangsam bewusst, was da gerade abgelaufenist. Ich kann es nicht fassen, unddie Tränen bahnen sich so langsam denWeg nach oben. Tränen <strong>der</strong> Wut und<strong>der</strong> Verzweiflung, ich fühle mich beschmutztund missbraucht. Aber wassoll ich dagegen tun? Wer hilft mirdenn?»Bericht auf <strong>der</strong> Website www.cleansed.de35


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMACompassion Fatigue – SekundärtraumaLeiden an <strong>der</strong> Not <strong>der</strong> an<strong>der</strong>n«Als ich die Stelle im Frauenhausangetreten hatte, war ichdarauf vorbereitet gewesen, <strong>der</strong>dunkelsten Seite des Lebens zubegegnen. Schon auf dem Sozialamt hatteich alle denkbaren Arten von Elend erlebt, Ichdachte, ich wäre abgehärtet und trotzdem nochweich genug für meinen neuen Job. Aber ichkonnte mich nicht an die blauen Flecken und ausgeschlagenenZähne gewöhnen, an die verängstigtenKin<strong>der</strong>, die seit Wochen nicht mehr richtiggeschlafen hatten, an die Frauen, die gelernthatten, sich selbst für so schlecht zu halten, dassman sie verprügeln durfte...»Zitat aus dem Krimi von Leena Lehtolainen:Zeit zu sterben. Rowohlt, S. 38.In den letzten Jahren wurde vermehrt dasAugenmerk auf die Befindlichkeit <strong>der</strong>jenigenHelferinnen und Helfer gelegt, die inKriegs- und Katastrophengebieten im Einsatzsind — Entwicklungshelfer, UNO-Beobachter,Ärzte, Psychologen, Pflegende,— um nur einige Beispiele zu nennen. Siesehen menschliches Leid in seiner extremstenForm, nicht als seltene Ausnahme imfriedlichen Alltag, son<strong>der</strong>n als «täglichenWahnsinn».<strong>Die</strong> Unterstützung von Mitarbeitern inHumanitären Projekten, Hilfsorganisationenund in <strong>der</strong> Mission wird heute als«Member Care» bezeichnet und entwickeltsich zu einem eigenständigen Fachgebiet.<strong>Trauma</strong> ist ansteckend. Das Anhörenvon traumatischen Erlebnissen o<strong>der</strong>das Mitfühlen mit Opfern traumatischerErfahrungen führt zu ähnlichen Reaktionenwie beim direkt betroffenen Opfer selbst.— Vegetative (körperliche) Übererregung— Intrusion (Sich-Aufdrängen von Bil<strong>der</strong>n,Gefühlen, Ängsten, Tagträumen,Albträumen etc.)— Konstriktion (Rückzug von Beziehungen,Aktivitäten, Freuden des Lebens).Mögliche Auswirkungen— Das Erzählte weckt eigene Erinnerungen.— Das Gehörte löst Bil<strong>der</strong> aus (in Tago<strong>der</strong>Nachtträumen).— Man wird sich <strong>der</strong> eigenen Verwundbarkeitbewusst.— Es erschüttert das eigene Grundvertrauenin das Gute; Vorwürfe anGott?— Man hat Gefühle <strong>der</strong> Wut, <strong>der</strong> Verzweiflung.Vorwürfe an die Polizei,die schlechte Regierung, an alle möglichen«verantwortlichen Leute».Gefahren für die BetreuungVermeidungsverhalten des Therapeuten:Er/sie will nicht mehr von den<strong>Trauma</strong>ta hören, obwohl die betroffenePerson darüber reden möchte.Intrusion: Der Therapeut beharrt aufDetails des <strong>Trauma</strong>s, obwohl die betroffenePerson jetzt nicht darüber sprechenwill.Allgemeiner Rückzug: Weil <strong>der</strong> Therapeutunter Schlafstörungen und Albträumenleidet, ist er für Anliegen <strong>der</strong> betroffenenPerson nicht mehr offen.36


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMABild: Iris Africa Malawi - mit freundlicher Genehmigung<strong>Die</strong> folgenden Symptome wurden vonBetreuern zusammengestellt, die inSüdafrika mit freigelassenen Gefangenenin einer speziellen Abteilungfür Psychotrauma arbeiteten.Gefühle— Ohnmacht, Hilflosigkeit— Angst— Schuld / Überlebensschuld— Zorn / Wut— Abkapselung, Gefühlstaubheit— Traurigkeit, Depression— Stimmungsschwankungen— Erschöpfung— Übermäßige SensibilitätDenken— Vermin<strong>der</strong>te Konzentration, Apathieund Zerstreutheit— Vermin<strong>der</strong>tes Selbstwertgefühl— Perfektionismus, Rigidität— Bagatellisieren— Ständige Beschäftigung mit <strong>Trauma</strong>— Gedanken, sich selbst o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>n etwaszu Leide zu tunVerhalten— Ungeduld, Reizbarkeit,Launenhaftigkeit— Rückzug— Schlafstörungen, Alpträume— Appetitverän<strong>der</strong>ung— Überwachheit, Schreckhaftigkeit— Verlegen von Dingen (Zerstreutheit)Spiritualität— Infragestellung des Lebenssinnes— Sinnverlust— Verlust <strong>der</strong> inneren Gelassenheit— Durchgehende Hoffnungslosigkeit— Zorn auf Gott— Verlust des Glaubens an eine höhereMacht, die uns schütztBeziehungen— Rückzug, Isolation, Einsamkeit— Weniger Interesse an Zärtlichkeit /Sex— Misstrauen— Überbehütendes Verhalten gegenüberden Kin<strong>der</strong>n.— Projektion von Zorn und Schuldzuweisung,Intoleranz— Vermehrte KonflikteKörpersymptome— Schwitzen, Herzklopfen— Atembeklemmung, Schwindel— Schmerzen— Vermehrte KrankheitsanfälligkeitArbeit— Wenig Antrieb und Motivation— Vermeiden von Aufgaben— Beharren auf Details— Negativismus— Mangel an Wertschätzung— Mangelndes Engagement— Teamkonflikte / Reizbarkeit— Vermehrte Abwesenheit— Rückzug von KolleginnenGekürzt nach Pelkovitz, zitiert bei C. Figley.37


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMAResilienz entwickeln nach einem <strong>Trauma</strong>Resilienz bedeutet Wi<strong>der</strong>standskraftund Durchhaltevermögen in schwierigenSituationen, in Schicksalsschlägen,Bedrohungen und Beziehungsproblemen.Je<strong>der</strong> Mensch hat in sich Faktoren, die ihn«resilient» machen — <strong>der</strong> eine mehr, <strong>der</strong>an<strong>der</strong>e weniger.Doch Resilienz kann bewusst aufgebautund entwickelt werden. <strong>Die</strong>s bedeutetnicht ein problemfreies Leben. Oftmalssind es gerade seelische Schmerzen undVerlusterlebnisse, die eine Person in ihrerLebensbewältigung stärker machen können.Ein ganzes Bündel von Faktoren bestimmt,wie Misserfolge und Lebenskrisenverarbeitet werden. <strong>Die</strong> neuere Forschungzeigt deutlich, dass <strong>der</strong> wesentlichste Faktorgute und tragfähige Beziehungen (Familie,Freunde) sind. Dazu kommt natürlichdie eigene Grundhaltung, Problemlöseverhaltenund ein gutes Selbstvertrauen.Hier sind zehn Wege zum Aufbau vonResilienz (*).1. Pflegen Sie BeziehungenGute Beziehungen mit Familie undFreunden sind wichtig. Wer Hilfe und Unterstützungvon Menschen annimmt, diesich um ihn kümmern und ihm zuhören,wird dadurch gestärkt. Jugendgruppe,Hauskreis und an<strong>der</strong>e Gruppen können einegroße Hilfe sein. Wer an<strong>der</strong>n hilft, erlebtauch selbst Unterstützung.2. Krisen sind nicht unüberwindbarAuch wenn Sie einen Schicksalsschlagnicht verhin<strong>der</strong>n können, so können Siedoch beeinflussen, wie Sie die Ereignisseeinordnen und damit umgehen. Krisen werdennicht als unüberwindliches Hin<strong>der</strong>nisgesehen. Der Glaube kann dabei eine wichtigeHilfe sein (Beispiel Hiob). Schauen Sieüber die Gegenwart hinaus.3. Verän<strong>der</strong>ung gehört zum LebenSchwere Erfahrungen gehören zu unseremLeben. Auch resiliente Menschensind vor <strong>der</strong> Opferrolle nicht gefeit. Nacheiner gewissen Zeit gelingt es ihnen jedoch,an<strong>der</strong>s über die Situation zu denken.Nehmen Sie die neue Lebenssituation an.Indem man das Unverän<strong>der</strong>liche loslässt,kann man sich auf diejenigen Dinge konzentrieren,die sich än<strong>der</strong>n lassen.4. Setzen Sie sich ZieleEntwickeln Sie kleine, aber realistischeZiele für jeden Tag. Halten Sie einen geordnetenTagesablauf ein. Streben Sie nichtnach grossen Zielen, son<strong>der</strong>n fragen Siesich: «Was kann ich heute tun, das michin die Richtung führt, die ich erreichenmöchte?»5. Mutig handelnPacken Sie das an, was zu tun ist. LassenSie sich nicht gehen, in <strong>der</strong> Annahme,die Dinge lösten sich von allein. Überlegtesund mutiges Handeln gibt Ihnen das Gefühlzurück, wie<strong>der</strong> selbst am Ru<strong>der</strong> zu sein undin die Zukunft zu schauen.6. Was kann ich aus <strong>der</strong> Situation lernen?Viele Menschen haben erlebt, dass siegerade in schweren Ereignissen innerlichgewachsen sind. Sie berichten, dass sie bessereBeziehungen entwickelten, ein größeresSelbstvertrauen, eine vertiefte Spiritualitätund eine neue Wertschätzungfür das Leben.7. Trauen Sie sich etwas zu!Entwickeln Sie ein positives Selbstvertrauen:Sie können Probleme lösen und dürfenIhrem Instinkt vertrauen – das stärktdie Resilienz.38


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMA8. Bewahren Sie die richtige Perspektive!Auch wenn Sie durch sehr schwere Erfahrungengehen, so versuchen Sie das Ereignisin einem breiteren Zusammenhang zusehen. Welchen Platz hat es in Bezug aufIhre gesamte Lebenssituation und auf langeSicht? Vermeiden Sie, ein Ereignis übermäßigzu gewichten.9. Geben Sie die Hoffnung nicht auf!Eine optimistische Lebenseinstellungstärkt die Resilienz entscheidend. Es wirdauch in Ihrem Leben wie<strong>der</strong> bessere Zeitengeben. Leben Sie nicht unter dem DiktatIhrer Ängste, son<strong>der</strong>n setzen Sie sich neueZiele.10. Achten Sie auf sich selbst!Spüren Sie, was Ihnen gut tut. NehmenSie Ihre Bedürfnisse und Ihre Gefühle ernst.Machen Sie Dinge, die Ihnen Freude bereitenund zur Entspannung beitragen. BewegenSie sich und gehen Sie an die frischeLuft. Wenn Sie im guten Sinne fürsich selbst sorgen, so bleiben Körper undGeist fit und können besser mit den Situationenumgehen, die Durchhaltevermögenund Wi<strong>der</strong>standskraft brauchen – eben:Resilienz.Der Glaube als Kraftquelle <strong>der</strong> Resilienz<strong>Die</strong> eben aufgeführten zehn Punkte zurBildung einer gesunden Resilienz lassensich nicht aus eigener Kraft erreichen. <strong>Die</strong>psychotherapeutische Erfahrung zeigt,dass Menschen mit einer tiefen Glaubensbeziehungzusätzliche Kräfte entwickeln.Für gläubige Menschen sind Optimismus,Hoffnung und Perspektive eingebettetin den Glauben. Ihr Selbstvertrauenwächst durch Gottvertrauen und Gebet.Das bewahrt sie nicht vor Zweifelnund Konflikten – aber gerade im Ringenmit Gott kann eine Resilienz heranwachsen,die tiefer greift als jede oberflächlicheSelbstsuggestion.Post-traumatic Growth<strong>Die</strong>ser neue Begriff umschreibt «seelischeReifung nach einem traumatischenEreignis». Inneres Wachstum nacheinem <strong>Trauma</strong> bedeutet einen Wie<strong>der</strong>aufbauvon neuen Grundannahmen. <strong>Die</strong>se werdennicht mehr so unbeschwert sein wieim Leben vor dem <strong>Trauma</strong>, aber sie werdentiefer, reifer und nachhaltiger sein. Menschenmit dieser Form <strong>der</strong> Resilienz zeigenfolgende Eigenschaften:— Mehr Mitgefühl und Empathie für an<strong>der</strong>e,die durch ein <strong>Trauma</strong> o<strong>der</strong> einenVerlust gehen.— Vermehrte psychologische und emotionaleReife im Vergleich zu Gleichaltrigen.— Erhöhte Resilienz gegenüber Schicksalsschlägen.— Mehr Wertschätzung für das Leben imVergleich zu Gleichaltrigen.— Vertieftes Verständnis für die eigenenWerte, Lebenszweck und Lebenssinn.— Mehr Wertschätzung persönlicher Beziehungen.Weitere Informationen:R. Welter-En<strong>der</strong>lin: Resilienz. Gedeihen trotz widrigerUmstände. Carl-Auer.M. Rampe: Der R-Faktor. Das Geheimnis unserer innerenStärke. Eichborn.L. Reddemann: Überlebenskunst. Von Johann SebastianBach lernen und Selbstheilungskräfte entwickeln. Klett-Cotta.Pia Andreatta: <strong>Die</strong> Erschütterung des Selbst- und Weltverständnissesdurch <strong>Trauma</strong>ta. Asanger.39


DR. SAMUEL PFEIFER: SEELISCHES TRAUMACopyright: Dr. med. Samuel Pfeifer 2012ISBN: 978-3-905709-22-3SEMINARHEFTE für TABLET-PCBewährte Inhalte für neue Medien! Unterfolgendem Link finden Sie mehr Infoszum Download von iPad-optimierten PD-Fs <strong>der</strong> Reihe PSYCHIATRIE & SEELSORGE:www.seminare-ps.net/ipad/Bezugsquelle für gedruckte hefte:Schweiz:Psychiatrische Klinik SonnenhaldeGänshaldenweg 28CH-4125 Riehen - SchweizTel. (+41) 061 645 46 46Fax (+41) 061 645 46 00ONLINE-Bestellung: www.seminare-ps.netE-Mail: seminare@sonnenhalde.chDeutschland / EU:Alpha BuchhandlungMarktplatz 9D-79539 LörrachTel. +49 (0) 7621 10303Fax +49 (0) 7821 821502

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