Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

02.12.2012 Aufrufe

5 Ereignis und Struktur in der Geschichte 5.1 Einleitung Da gibt es irgendwo im Kopf desjenigen, der die Geschichte erzählt, diese weit voneinander entfernten Punkte, und er weiß noch gar nicht, daß sie überhaupt zusammengehören. Aber dann nimmt einer dieser Punkte plötzlich Kontakt mit einem anderen auf, stellt eine Beziehung her, die vorher völlig unbekannt war, und löst dann eine Kettenreaktion aus, bis alle Punkte … Klaus Modick, Der Mann im Mast Habe ich bisher konstituierende Faktoren der Geschichte in den Blick genommen, so wende ich mich nun der Frage zu, wie Geschichte, die Raum und Zeit, Subjekte und Veränderungen zu ihren Gegebenheiten zählt, wahrgenommen werden kann. Veränderung wurde als Indikator von Zeitlichkeit festgestellt. Auch Wahrnehmung von Geschichte ist zunächst Wahrnehmung von Veränderung. Um eine Veränderung feststellen zu können, muß die Möglichkeit bestehen, Identität und Differenz zu unterscheiden. 1 Denn um eine Differenz zu erkennen, muß es zwischen den zu vergleichenden Dingen etwas Identisches geben, oder, allgemeiner gesagt, etwas beiden Gemeinsames. Und um Identisches in der Geschichte zu erkennen, müssen sich die in Frage stehenden Dinge (oder Sachverhalte oder Ereignisse oder Strukturen) in mindestens einem Punkt unterscheiden. In der Geschichtswissenschaft und -theorie wird das unter den Fragen nach dem Individuellen und Allgemeinen (5.2), nach Kausalität und Zufall (5.3) und nach Typus und Struktur 2 in der Geschichte verhandelt. Letzteres nehme ich unter der Überschrift Zeitaspekt und sprachliche Darstellung (5.4) auf, bevor ich zusammenfasse (5.5). 5.2 Individuelles und Allgemeines In der deutschen Geschichtswissenschaft hat es eine lange Tradition, das Individuelle und nicht das Allgemeine als Gegenstand und Ziel zu bestimmen; dies wirkt sich auch auf das Erkenntnisverfahren aus. 3 Individuelles wird dabei als raumzeitlich relativ konkret lokalisierbar verstanden, wobei eine zeitliche Kontinuität notwendig ist, eine räumliche nicht unbedingt. 4 Individuelles kann für die Geschichtswissenschaft sehr vieles sein: ein sich über einen längeren Zeitraum erstreckendes Ereignis wie etwa die Franzö- 1 Es geht hier nicht um Identität im strengen Sinn, sondern um die Frage, inwiefern und wodurch man in der Geschichte Ereignisse, Sachverhalte oder Strukturen vergleichen, ordnen und zueinander in Beziehung setzen kann. 2 Karl-Georg Faber, Theorie der Geschichtswissenschaft, München 1982 5 . Vgl. auch Hans-Jürgen Goertz, Umgang mit Geschichte. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Reinbek 1995. 3 Belege bei Faber, Theorie 45ff. 4 Zur Frage der Kontinuität vgl. Hans Michael Baumgartner, Kontinuität als Paradigma historischer Konstruktion, in: PhJ 79/1972, 254–268 und ders., Kontinuität und Geschichte, Frankfurt/M. 1972. 99

5 Ereignis und Struktur in der <strong>Geschichte</strong><br />

5.1 Einleitung<br />

Da gibt es irgendwo <strong>im</strong> Kopf desjenigen, der die <strong>Geschichte</strong> erzählt,<br />

diese weit voneinander entfernten Punkte, und er weiß noch gar nicht,<br />

daß sie überhaupt zusammengehören. Aber dann n<strong>im</strong>mt einer dieser<br />

Punkte plötzlich Kontakt mit einem anderen auf, stellt eine Beziehung<br />

her, die vorher völlig unbekannt war, und löst dann eine<br />

Kettenreaktion aus, bis alle Punkte …<br />

Klaus Modick, Der Mann <strong>im</strong> Mast<br />

Habe ich bisher konstituierende Faktoren der <strong>Geschichte</strong> in den Blick genommen, so<br />

wende ich mich nun der Frage zu, wie <strong>Geschichte</strong>, die Raum und Zeit, Subjekte und<br />

Veränderungen zu ihren Gegebenheiten zählt, wahrgenommen werden kann. Veränderung<br />

wurde als Indikator von Zeitlichkeit festgestellt. Auch Wahrnehmung von <strong>Geschichte</strong><br />

ist zunächst Wahrnehmung von Veränderung. Um eine Veränderung feststellen<br />

zu können, muß die Möglichkeit bestehen, Identität und Differenz zu unterscheiden. 1<br />

Denn um eine Differenz zu erkennen, muß es zwischen den zu vergleichenden Dingen<br />

etwas Identisches geben, oder, allgemeiner gesagt, etwas beiden Gemeinsames. Und um<br />

Identisches in der <strong>Geschichte</strong> zu erkennen, müssen sich die in Frage stehenden Dinge<br />

(oder Sachverhalte oder Ereignisse oder Strukturen) in mindestens einem Punkt unterscheiden.<br />

In der Geschichtswissenschaft und -theorie wird das unter den Fragen nach dem Individuellen<br />

und Allgemeinen (5.2), nach Kausalität und Zufall (5.3) und nach Typus und<br />

Struktur 2 in der <strong>Geschichte</strong> verhandelt. Letzteres nehme ich unter der Überschrift<br />

Zeitaspekt und sprachliche Darstellung (5.4) auf, bevor ich zusammenfasse (5.5).<br />

5.2 Individuelles und Allgemeines<br />

In der deutschen Geschichtswissenschaft hat es eine lange Tradition, das Individuelle<br />

und nicht das Allgemeine als Gegenstand und Ziel zu best<strong>im</strong>men; dies wirkt sich auch<br />

auf das Erkenntnisverfahren aus. 3 Individuelles wird dabei als raumzeitlich relativ konkret<br />

lokalisierbar verstanden, wobei eine zeitliche Kontinuität notwendig ist, eine räumliche<br />

nicht unbedingt. 4 Individuelles kann für die Geschichtswissenschaft sehr vieles<br />

sein: ein sich über einen längeren Zeitraum erstreckendes Ereignis wie etwa die Franzö-<br />

1 Es geht hier nicht um Identität <strong>im</strong> strengen Sinn, sondern um die Frage, inwiefern und wodurch man<br />

in der <strong>Geschichte</strong> Ereignisse, Sachverhalte oder Strukturen vergleichen, ordnen und zueinander in<br />

Beziehung setzen kann.<br />

2 Karl-Georg Faber, Theorie der Geschichtswissenschaft, München 1982 5 . Vgl. auch Hans-Jürgen<br />

Goertz, Umgang mit <strong>Geschichte</strong>. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Reinbek 1995.<br />

3 Belege bei Faber, Theorie 45ff.<br />

4 Zur Frage der Kontinuität vgl. Hans Michael Baumgartner, Kontinuität als Paradigma historischer<br />

Konstruktion, in: PhJ 79/1972, 254–268 und ders., Kontinuität und <strong>Geschichte</strong>, Frankfurt/M. 1972.<br />

99

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!