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Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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„Wenn man also mit Stempel davon ausgeht, daß Handlungen wie <strong>Geschichte</strong>n erzählt<br />

werden können, so liegt der Unterschied dieser beiden Erzählsorten darin, daß die erste<br />

in anwendbare Handlungsregeln transformierbar ist, dagegen die zweite nicht, und das<br />

ist nur eine andere Version der Feststellung, daß das Referenzsubjekt von <strong>Geschichte</strong>n,<br />

selbst wenn es den Status einer handlungsfähigen Person oder Institution hat, nie ein<br />

Subjekt von Handlungen ist, aus deren Raison die <strong>Geschichte</strong> ableitbar wäre. Das Resultat<br />

einer <strong>Geschichte</strong>, der Zustand, zu dem sie führte, hat nicht Produktcharakter.“ 68<br />

Lübbe weist also pointiert darauf hin, daß <strong>Geschichte</strong>n ein Referenzsubjekt, aber kein –<br />

in strengem Sinn – Handlungssubjekt haben. Problematisch an der Argumentation Lübbes<br />

ist allerdings, daß er Handeln mit Machen gleichsetzt. Wie wir gesehen haben, ist<br />

der Handlungsbegriff aber ungleich differenzierter. Das Handlungssubjekt einer <strong>Geschichte</strong><br />

ist – <strong>im</strong> strengen Sinn – die Erzählerin oder der Schreiber. Die in einer <strong>Geschichte</strong><br />

vorkommenden Personen (oder Ideen) sind die Referenzsubjekte. Dieser Sachverhalt<br />

zeigt, daß es sowohl <strong>im</strong> Blick auf die Referenzsubjekte eine prinzipiell unendliche<br />

Zahl von <strong>Geschichte</strong>n geben kann, und zwar nicht nur hinsichtlich der Zahl der<br />

möglicherweise vorkommenden Referenzsubjekte, sondern auch hinsichtlich der Handlungssubjekte,<br />

die <strong>Geschichte</strong> aus prinzipiell unendlichen Perspektiven erzählen oder<br />

konstruieren. Diese Vielfalt erst ermöglicht in und gegenüber <strong>Geschichte</strong> Freiheit.<br />

Im Blick auf die mißverständliche Rede vom Handlungssubjekt einer <strong>Geschichte</strong><br />

möchte ich den Vorschlag machen, hier zu unterscheiden zwischen einem internen<br />

Handlungssubjekt (HSi), mit dem die handelnden Instanzen in einer <strong>Geschichte</strong> bezeichnet<br />

werden, ohne daß sie zugleich das Referenzsubjekt dieser <strong>Geschichte</strong> <strong>im</strong> strengen<br />

Sinn sind, und einem externen Handlungssubjekt (HSe), das diese <strong>Geschichte</strong> erzählt<br />

oder konstruiert. So könnte man die <strong>Geschichte</strong> des Dreißigjährigen Krieges erzählen,<br />

wobei der Krieg das Referenzsubjekt wäre, interne Handlungssubjekte z.B. Tilly<br />

oder Wallenstein, externes Handlungssubjekt z.B. Friedrich von Schiller.<br />

4.4 Universalsubjekt und Multiversalsubjekt der <strong>Geschichte</strong> 69<br />

Mit dem Ende oder zumindest der Strittigkeit eines einheitlichen Subjekts ist <strong>im</strong> Blick<br />

auf die <strong>Geschichte</strong> die Situation eingetreten, daß auch das Subjekt der <strong>Geschichte</strong> differenziert<br />

gesehen werden muß. Ein einheitliches Handlungssubjekt HSi läßt sich in keiner<br />

<strong>Geschichte</strong> namhaft machen. HSi muß <strong>im</strong>mer <strong>im</strong> Plural gedacht werden, weil sich<br />

für eine <strong>Geschichte</strong>, die Handlungen und ihre Folgen erzählt, kein monokausaler Zusammenhang<br />

herstellen läßt. Es läßt sich aber auch nicht auf ein singuläres, einheitliches<br />

HSe rekurrieren, weil jedes Ereignis perspektivisch gesehen wird und damit auch anders<br />

gesehen werden kann. Im Blick auf Geschehnisse, die <strong>Geschichte</strong>n werden, stehen wir<br />

68 Lübbe, Geschichtsbegriff 81. Abschließend meint Lübbe, „wir sind Referenzsubjekt, aber nicht<br />

Handlungssubjekt unserer Lebensgeschichte, und es empfiehlt sich, mit Hilfe dieser Unterscheidung<br />

den in der Forschungsgruppe ‚Poetik und Hermeneutik‘ 1970 auf der Reichenau geführten Streit über<br />

das Subjekt in der <strong>Geschichte</strong>, nämlich der <strong>Geschichte</strong> schlechthin, zu schlichten“ (81). Vgl. zu<br />

diesem Streit insgesamt PH 5, 463–517: II A.2; ferner 535–589: II.B.2.<br />

69 Ich habe mich hier in der Begrifflichkeit von Odo Marquard, Universalgeschichte und Multiversalgeschichte,<br />

in: ders., Apologie des Zufälligen 54–75 inspirieren lassen, ohne sein Konzept insgesamt zu<br />

übernehmen.<br />

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