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Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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kaum entrinnen kann. 63 Marquard argumentiert weiter, wenn die Wirklichkeit des Menschen<br />

überwiegend das Zufällige ist, das auch anders sein kann, dann <strong>im</strong>pliziert das eine<br />

Buntheit, die gerade die menschliche Freiheitschance ist.<br />

Lübbes These, daß <strong>Geschichte</strong>n nicht Handlungen sind und <strong>Geschichte</strong>n erzählt werden,<br />

nicht Handlungsabläufe 64 , ist von W.-D. Stempel widersprochen worden, der geltend<br />

macht, daß „Vorgänge des Herstellens und Machens“ „sogar am leichtesten erzählbar“<br />

seien, „weil sie die Konsistenz ihrer Abfolge gleichsam in sich selber tragen“ 65 .<br />

Lübbe gesteht zu, daß bei Handlungsvorgängen, die interventionsfrei, ungestört, ablaufen,<br />

in der Beschreibung dieser Vorgänge Referenzsubjekt und Handlungssubjekt zusammenfallen,<br />

wie man sofort sieht, wenn man das Referenzsubjekt einer Erzählung –<br />

zum Beispiel Brotbacken – personalisiert – zum Beispiel zum Bäcker, der Brot backt. In<br />

einem solchen Bericht wären die ‚rekurrenten syntaktischen Signale‘ „der erzählenden<br />

Tempora“ gegeben und möglicherweise auch andere (etwa backtechnische Begründungen<br />

für die erzählten Verrichtungen, die dann keine erzählenden Texte mehr wären).<br />

Der gesamte Text wäre also eine Gemengelage aus Elementen, die teils der „erzählten“,<br />

teils der „besprochenen“ Welt zugehören. 66 Solcherart gemischte Texte lassen sich aber<br />

in Rezepte überführen. Eine solche Transformation ist bei erzählten <strong>Geschichte</strong>n eben<br />

nicht möglich.<br />

Denn „wie man aus bekannten und generell geltenden Regeln eines Sprachkodes nicht<br />

für alle möglichen Sprechsituationen ableiten kann, was einer in ihnen sagen wird, so<br />

läßt sich auch umgekehrt das, was man in einer nicht-standardisierten Handlungssituation<br />

wirklich tat, nicht auf eine für künftige Fälle nutzbare Regel bringen. In beiden<br />

Fällen fehlt es an der entscheidenden Bedingung tatsächlicher Ableitbarkeit der speziellen<br />

Entscheidungen aus generellen Regeln des Handelns –: es fehlt die Identität der<br />

Bedingungen zwischen der generell unterstellten und der tatsächlich gegebenen Handlungssituation.“<br />

Wo anders das gewährleistet ist, kann man in der Tat aus dem, was geschieht, die Regel<br />

ableiten, nach der es geschieht: Wer genau erzählt, wie der Bäcker Brot buk, liefert <strong>im</strong>plizit<br />

ein Brotbackrezept.<br />

„<strong>Geschichte</strong>n sind demgegenüber Handlungsabläufe in nicht-standardisierten, nicht beherrschten<br />

und entsprechend nicht gemäß standardisierten Regeln kalkulierbaren Situationen,<br />

so daß nutzbare Handlungsregeln aus ihnen insoweit nicht zu gewinnen sind.<br />

Diese pragmatische Sinnlosigkeit der grammatikalisch möglichen Transformation einer<br />

<strong>Geschichte</strong> zu der Vorschrift, in analoger Situation abermals so zu handeln, gleicht<br />

strukturell vollkommen der von William Dray analysierten Unmöglichkeit, aus der kausalen<br />

Erklärung eines geschichtlichen Ereignisses ein brauchbares ‚Gesetz‘ zu gewinnen,<br />

das uns in künftigen Fällen erlaubte, den Eintritt des Ereignisses vorherzusagen.“ 67<br />

63 Marquard, Apologie des Zufälligen 128ff.<br />

64 Hermann Lübbe, Was heißt: „Das kann man nur historisch erklären“?, in: PH 5, 542–554, hier 545.<br />

65 Wolf-Dieter Stempel, Multa, non multum, in: PH 5, 586–589, hier 587. Der Streit ging pr<strong>im</strong>är<br />

darum, worauf sich Erzählung als spezifische Sprachform der <strong>Geschichte</strong> beziehen kann.<br />

66 Dazu genauer: Harald Weinrich, Tempus – Besprochene und erzählte Welt, Stuttgart 1971 2 .<br />

67 Lübbe, Geschichtsbegriff 80. Angesichts dieser Erkenntnisse ist hier nach der Möglichkeit und Begründbarkeit<br />

ethischen Handelns zu fragen, sowie nach der Möglichkeit von Normen.<br />

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