Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau
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ist. Ihr Referenzsubjekt ist das, wovon eine <strong>Geschichte</strong> erzählt wird.“ 59 Und auch Danto<br />
betont die Notwendigkeit eines Referenzsubjektes: „Es ist diese <strong>im</strong>plizite Beziehung auf<br />
ein kontinuierliches Subjekt, die einer historischen Erzählung ein gewisses Maß von<br />
Einheitlichkeit verleiht.“ 60<br />
Ohne ein derartiges Referenzsubjekt ist es untunlich, eine Erzählung noch eine <strong>Geschichte</strong><br />
zu nennen. Danto unterscheidet, aus Unbehagen an der Metaphysik, die möglichen<br />
Referenzsubjekte nicht weiter, während Lübbe das tut, um das Verständnis des<br />
Satzes, <strong>Geschichte</strong>n seien Vorgänge ohne Handlungssubjekt, noch zu schärfen.<br />
Der kategoriale Status von Referenzsubjekten kann höchst unterschiedlich sein: Natürliches<br />
und Gemachtes, Belebtes und Unbelebtes, Substanzen und Akzidenzen, Kategorien,<br />
Probleme und Topoi. Auch Handlungssubjekte fehlen dabei nicht (Biographien<br />
und Autobiographien), ebensowenig Institutionen, Werkzeuge, technische Systeme,<br />
Theorien, Weltanschauungen und Religionen.<br />
„<strong>Geschichte</strong>n von Begriffen werden erzählt und von Sprachen. Dabei lassen sich Begriffe,<br />
zumal wenn sie <strong>im</strong> Kontext von Klassifikation oder von Theoriebildung explizit<br />
eingeführt werden, noch durchaus als Handlungsresultate interpretieren, aber eine Sprache<br />
gewiß nicht mehr – wie alles nicht, was sich, wie man zu sagen pflegt, der Arbeit<br />
von Generationen verdankt, und was seiner Totalität nach nie zur Disposition eines<br />
identifizierbaren, handelnden Subjekts steht.“ 61<br />
Komplexe Systeme haben den Charakter, geworden zu sein, sind nur genetisch erklärbar,<br />
wenngleich einzelne Elemente durchaus der Raison von Handlungen unterworfen<br />
sein können. Hier wird bei Lübbe noch einmal der Kontingenzcharakter <strong>im</strong> Begriff der<br />
<strong>Geschichte</strong> deutlich. „Die Genesis ist dabei das, was nicht zur Disposition eines Handlungssubjekts<br />
steht, wobei es gleichgültig ist, ob die Genesis bekannten Zustandsänderungsfolgeregeln<br />
gehorcht oder ob sie eine aus solchen Regeln unableitbare <strong>Geschichte</strong><br />
bildet.“ 62<br />
Man kann nach Lübbe auch der Natur oder der Erde „<strong>Geschichte</strong>“ zuschreiben, sofern<br />
man sich dabei auf die Begriffs- und Wortgebrauchsgeschichte von „<strong>Geschichte</strong>“ und<br />
„Historie“ bezieht und dabei klar wird, daß nicht zweifelhaft sein kann, daß die Handlungskompetenz<br />
der Referenzsubjekte einer <strong>Geschichte</strong> für die Anwendbarkeit des Prädikators<br />
„<strong>Geschichte</strong>“ irrelevant ist. Im vertrauten Wortgebrauch spiegelt sich, daß zu<br />
<strong>Geschichte</strong>n strukturell ein Referenzsubjekt gehört – nicht ein Handlungssubjekt.<br />
Nun kann man daraus eine gewisse Ohnmacht gegenüber diesen komplexen Systemen<br />
wie der <strong>Geschichte</strong> heraushören, die die Signatur des Ausgeliefertseins gegenüber dem<br />
Schicksal trägt. Allerdings ist das Kontingente als das Zufällige durchaus differenzierbar<br />
und ermöglicht dadurch Freiheit. Marquard unterscheidet etwa zwischen dem Beliebigkeitszufälligen,<br />
das änderbar ist, und dem Schicksalszufälligen, dem man nicht oder<br />
59 Lübbe, Geschichtsbegriff 75.<br />
60 Arthur C. Danto, Analytische Philosophie der <strong>Geschichte</strong>, Frankfurt/M. 1980, 375.<br />
61 Lübbe, Geschichtsbegriff 76.<br />
62 Lübbe, Geschichtsbegriff 77.<br />
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