Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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02.12.2012 Aufrufe

enheiten, die sich der normalen oder idealen Raison seines Handelns nicht fügten und störend intervenierten. Genau diese eine normale oder ideale Handlungsraison alterierende Intervention von Umständen, die nicht Regelumstände sind, macht aus der fraglichen Handlung eine Geschichte, die als solche von der Handlung selbst wohl zu unterscheiden ist, weil zu ihr mehr gehört als das, was einer wollte, nämlich das, was er darüber hinaus übersah oder in Kauf nahm. Schon der Zusammenhang dessen, worauf wir uns zur Entschuldigung für eine Handlung berufen, mit dieser Handlung selbst wird nicht als Zusammenhang einer Handlung hergestellt, vielmehr als der Zusammenhang einer Geschichte.“ Lübbe geht in diesem Zusammenhang dann auch auf die Möglichkeit und den Sinn der Rede vom Handeln Gottes ein. „Der Rekurs auf das Handeln Gottes erfüllt traditionellerweise die Funktion, die Ableitbarkeit von Geschichten aus der autarken Subjektivität handelnder Individuen oder Institutionen zu dementieren.“ 54 So auch noch bei Hegel, dessen Philosophie der Weltgeschichte 55 die zentrale These besitzt, daß „die Vernunft die Welt beherrscht“, nämlich „die göttliche Vernunft“, und das bedeutet eben „nicht die Vernunft eines besonderen Subjekts“. Wie dann diese göttliche Vernunft durch das Handeln der besonderen Subjekte handelt, ist eine noch zu behandelnde Frage. Jedenfalls schreibt Hegel „den weltgeschichtlichen Progress nicht einem Handlungssubjekt“ zu, „wenn anders wir uns darauf beschränken wollen, Individuen, Gruppen und Institutionen diesen Charakter eines Subjekts von Handlungen zuzuschreiben“ 56 . Es gibt also Handlungsvorgänge, aber diese machen für sich noch keine Geschichte. Geschichte entsteht durch die – gelegentlich kontingente – Verknüpfung von Handlungen und ihren Nebenfolgen. Deshalb kann man im strengen Sinn auch nicht von einem Handlungssubjekt der Geschichte sprechen. 57 4.3.2 Das Subjekt der Geschichte als Referenzsubjekt Unberührt davon bleibt, daß jede Geschichte ihr Referenzsubjekt hat. Wolf-Dieter Stempel hat das die „Referenzidentität des Subjekts“ genannt. 58 Lübbe stimmt dem zu: „Es gibt keine Geschichte, von der nicht gesagt werden könnte, wessen Geschichte sie 54 Lübbe, Geschichtsbegriff 72f. 55 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, Fünfte, abermals verbesserte Auflage. Hg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1955, 28f. 56 Lübbe, Geschichtsbegriff 74. 57 „Das, was Handlungsvorgänge zu Geschichten macht, tut man also nicht, sondern es ereignet sich, es passiert. (…) Was erzählt wird, um zu erklären, wieso sich der Zustand dessen, wovon etwas erzählt wird, geändert hat, ohne daß diese Änderung gemäß bekannten Zustandsänderungsregeln aus dem primären Zustand abgeleitet werden könnte, ist eben das, was sich ‚ereignet‘.“ „Der Unterschied zwischen einer Handlung und einem durch die Raison von Handlungen verfügten Handlungszusammenhang einerseits und einer Geschichte andererseits beruht also auf dem Unterschied zwischen dem, was man tut, und dem, was passiert, und durch das, was passiert, wird aus dem, was man tut, eine Geschichte. Geschichten seien Vorgänge ohne Handlungssubjekt – dieser Satz hat insofern nur den schlichten, aber weitreichenden Sinn, dass wir nicht Handlungssubjekte dessen sind, was uns passiert“ (Lübbe, Geschichtsbegriff 75). 58 Wolf-Dieter Stempel, Erzählung, Beschreibung und der historische Diskurs, in: PH 5, 325–346, hier 92 329.

ist. Ihr Referenzsubjekt ist das, wovon eine Geschichte erzählt wird.“ 59 Und auch Danto betont die Notwendigkeit eines Referenzsubjektes: „Es ist diese implizite Beziehung auf ein kontinuierliches Subjekt, die einer historischen Erzählung ein gewisses Maß von Einheitlichkeit verleiht.“ 60 Ohne ein derartiges Referenzsubjekt ist es untunlich, eine Erzählung noch eine Geschichte zu nennen. Danto unterscheidet, aus Unbehagen an der Metaphysik, die möglichen Referenzsubjekte nicht weiter, während Lübbe das tut, um das Verständnis des Satzes, Geschichten seien Vorgänge ohne Handlungssubjekt, noch zu schärfen. Der kategoriale Status von Referenzsubjekten kann höchst unterschiedlich sein: Natürliches und Gemachtes, Belebtes und Unbelebtes, Substanzen und Akzidenzen, Kategorien, Probleme und Topoi. Auch Handlungssubjekte fehlen dabei nicht (Biographien und Autobiographien), ebensowenig Institutionen, Werkzeuge, technische Systeme, Theorien, Weltanschauungen und Religionen. „Geschichten von Begriffen werden erzählt und von Sprachen. Dabei lassen sich Begriffe, zumal wenn sie im Kontext von Klassifikation oder von Theoriebildung explizit eingeführt werden, noch durchaus als Handlungsresultate interpretieren, aber eine Sprache gewiß nicht mehr – wie alles nicht, was sich, wie man zu sagen pflegt, der Arbeit von Generationen verdankt, und was seiner Totalität nach nie zur Disposition eines identifizierbaren, handelnden Subjekts steht.“ 61 Komplexe Systeme haben den Charakter, geworden zu sein, sind nur genetisch erklärbar, wenngleich einzelne Elemente durchaus der Raison von Handlungen unterworfen sein können. Hier wird bei Lübbe noch einmal der Kontingenzcharakter im Begriff der Geschichte deutlich. „Die Genesis ist dabei das, was nicht zur Disposition eines Handlungssubjekts steht, wobei es gleichgültig ist, ob die Genesis bekannten Zustandsänderungsfolgeregeln gehorcht oder ob sie eine aus solchen Regeln unableitbare Geschichte bildet.“ 62 Man kann nach Lübbe auch der Natur oder der Erde „Geschichte“ zuschreiben, sofern man sich dabei auf die Begriffs- und Wortgebrauchsgeschichte von „Geschichte“ und „Historie“ bezieht und dabei klar wird, daß nicht zweifelhaft sein kann, daß die Handlungskompetenz der Referenzsubjekte einer Geschichte für die Anwendbarkeit des Prädikators „Geschichte“ irrelevant ist. Im vertrauten Wortgebrauch spiegelt sich, daß zu Geschichten strukturell ein Referenzsubjekt gehört – nicht ein Handlungssubjekt. Nun kann man daraus eine gewisse Ohnmacht gegenüber diesen komplexen Systemen wie der Geschichte heraushören, die die Signatur des Ausgeliefertseins gegenüber dem Schicksal trägt. Allerdings ist das Kontingente als das Zufällige durchaus differenzierbar und ermöglicht dadurch Freiheit. Marquard unterscheidet etwa zwischen dem Beliebigkeitszufälligen, das änderbar ist, und dem Schicksalszufälligen, dem man nicht oder 59 Lübbe, Geschichtsbegriff 75. 60 Arthur C. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt/M. 1980, 375. 61 Lübbe, Geschichtsbegriff 76. 62 Lübbe, Geschichtsbegriff 77. 93

enheiten, die sich der normalen oder idealen Raison seines Handelns nicht fügten und<br />

störend intervenierten. Genau diese eine normale oder ideale Handlungsraison alterierende<br />

Intervention von Umständen, die nicht Regelumstände sind, macht aus der fraglichen<br />

Handlung eine <strong>Geschichte</strong>, die als solche von der Handlung selbst wohl zu unterscheiden<br />

ist, weil zu ihr mehr gehört als das, was einer wollte, nämlich das, was er darüber<br />

hinaus übersah oder in Kauf nahm. Schon der Zusammenhang dessen, worauf wir<br />

uns zur Entschuldigung für eine Handlung berufen, mit dieser Handlung selbst wird<br />

nicht als Zusammenhang einer Handlung hergestellt, vielmehr als der Zusammenhang<br />

einer <strong>Geschichte</strong>.“ Lübbe geht in diesem Zusammenhang dann auch auf die Möglichkeit<br />

und den Sinn der Rede vom Handeln Gottes ein. „Der Rekurs auf das Handeln Gottes<br />

erfüllt traditionellerweise die Funktion, die Ableitbarkeit von <strong>Geschichte</strong>n aus der<br />

autarken Subjektivität handelnder Individuen oder Institutionen zu dementieren.“ 54<br />

So auch noch bei Hegel, dessen Philosophie der Weltgeschichte 55 die zentrale These<br />

besitzt, daß „die Vernunft die Welt beherrscht“, nämlich „die göttliche Vernunft“, und<br />

das bedeutet eben „nicht die Vernunft eines besonderen Subjekts“. Wie dann diese göttliche<br />

Vernunft durch das Handeln der besonderen Subjekte handelt, ist eine noch zu behandelnde<br />

Frage. Jedenfalls schreibt Hegel „den weltgeschichtlichen Progress nicht<br />

einem Handlungssubjekt“ zu, „wenn anders wir uns darauf beschränken wollen, Individuen,<br />

Gruppen und Institutionen diesen Charakter eines Subjekts von Handlungen<br />

zuzuschreiben“ 56 .<br />

Es gibt also Handlungsvorgänge, aber diese machen für sich noch keine <strong>Geschichte</strong>.<br />

<strong>Geschichte</strong> entsteht durch die – gelegentlich kontingente – Verknüpfung von Handlungen<br />

und ihren Nebenfolgen. Deshalb kann man <strong>im</strong> strengen Sinn auch nicht von<br />

einem Handlungssubjekt der <strong>Geschichte</strong> sprechen. 57<br />

4.3.2 Das Subjekt der <strong>Geschichte</strong> als Referenzsubjekt<br />

Unberührt davon bleibt, daß jede <strong>Geschichte</strong> ihr Referenzsubjekt hat. Wolf-Dieter<br />

Stempel hat das die „Referenzidentität des Subjekts“ genannt. 58 Lübbe st<strong>im</strong>mt dem zu:<br />

„Es gibt keine <strong>Geschichte</strong>, von der nicht gesagt werden könnte, wessen <strong>Geschichte</strong> sie<br />

54 Lübbe, Geschichtsbegriff 72f.<br />

55 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Die Vernunft in der <strong>Geschichte</strong>, Fünfte, abermals verbesserte Auflage.<br />

Hg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1955, 28f.<br />

56 Lübbe, Geschichtsbegriff 74.<br />

57 „Das, was Handlungsvorgänge zu <strong>Geschichte</strong>n macht, tut man also nicht, sondern es ereignet sich, es<br />

passiert. (…) Was erzählt wird, um zu erklären, wieso sich der Zustand dessen, wovon etwas erzählt<br />

wird, geändert hat, ohne daß diese Änderung gemäß bekannten Zustandsänderungsregeln aus dem<br />

pr<strong>im</strong>ären Zustand abgeleitet werden könnte, ist eben das, was sich ‚ereignet‘.“ „Der Unterschied zwischen<br />

einer Handlung und einem durch die Raison von Handlungen verfügten Handlungszusammenhang<br />

einerseits und einer <strong>Geschichte</strong> andererseits beruht also auf dem Unterschied zwischen dem,<br />

was man tut, und dem, was passiert, und durch das, was passiert, wird aus dem, was man tut, eine <strong>Geschichte</strong>.<br />

<strong>Geschichte</strong>n seien Vorgänge ohne Handlungssubjekt – dieser Satz hat insofern nur den<br />

schlichten, aber weitreichenden Sinn, dass wir nicht Handlungssubjekte dessen sind, was uns passiert“<br />

(Lübbe, Geschichtsbegriff 75).<br />

58 Wolf-Dieter Stempel, Erzählung, Beschreibung und der historische Diskurs, in: PH 5, 325–346, hier<br />

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