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Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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(µοιρα). 42 Im jüdisch-christlichen Traditionszusammenhang wurde die Macht des<br />

Schicksals auf Gott übertragen. Die Ohnmacht des Menschen war aufgehoben in der<br />

Allmacht Gottes. 43 Bis in die beginnende Neuzeit galt damit Gott als das Subjekt der<br />

<strong>Geschichte</strong>. Die Emanzipationsprozesse der Aufklärung haben Gott abgesetzt und das<br />

Bewußtsein freigesetzt, daß Menschen, Institutionen und Ideen an dessen Stelle getreten<br />

sind. Geschichtlich wirksam werden die instrumentelle Vernunft, die Wissenschaft, die<br />

Politik, <strong>im</strong>mer vermittelt über die Aktivität von Personen und Institutionen. Das Ende<br />

Gottes als Subjekt der <strong>Geschichte</strong> führte zum menschlichen Machzwang. Der Kollektivsingular<br />

der <strong>Geschichte</strong> allerdings verlangte nach einem einheitlichen Subjekt, das als<br />

Plan der Natur (Kant 44 ), Weltgeist (Hegel 45 ) oder Proletariat (Marx) benannt werden<br />

konnte. Die oben skizzierte <strong>Geschichte</strong> des Subjektbegriffs führte aber zu einer derartigen<br />

Umstrittenheit, wenn nicht Auflösung eines einheitlichen Subjektes, daß es sich<br />

empfiehlt, <strong>im</strong> Blick auf die <strong>Geschichte</strong> ein eher schwaches Subjekt anzunehmen. 46 Ein<br />

derart schwaches Subjekt der <strong>Geschichte</strong> schält sich bei der Differenzierung von Handlungs-<br />

und Referenzsubjekt heraus.<br />

4.3.1 Das Subjekt der <strong>Geschichte</strong> als Handlungssubjekt<br />

Der Ausdruck Handlungssubjekt bezeichnet ein Subjekt, das eine Handlung mit intendierten<br />

Resultaten vollzieht. In diesem Sinne wurde meist vom Subjekt der <strong>Geschichte</strong><br />

gesprochen. Denn <strong>Geschichte</strong> wird, neuzeitlich und alltagssprachlich, durch Handlungen<br />

gemacht. Genau dieser Zusammenhang von Subjekt, Handlung und <strong>Geschichte</strong> ist aber<br />

<strong>im</strong> Kern nicht zutreffend. Denn <strong>Geschichte</strong>n werden in der Regel dann erzählt, wenn<br />

eine Handlung und ihre Wirkung ungewöhnlich sind, den Rahmen des Normalen, Üblichen,<br />

Absehbaren verlassen. Oder: „Aus Handlungsabläufen werden <strong>Geschichte</strong>n durch<br />

Handlungsinterferenzen, durch Heterogonie der Zwecke, durch Widerfahrnisse, durch<br />

Zufälle.“ 47 Dieser Satz soll für Lübbe nur eine methodisch-definitorisch begrenzte Bedeutung<br />

und keine materiell-geschichtsphilosophische Nebenbedeutung haben. Der<br />

Übergang zu einer nicht mehr narrativen Historie ist für ihn nur mit Unterscheidungsmängeln<br />

begründet; so wenn die Menschheit und nicht einzelne Staatsmänner das Subjekt<br />

der faktischen historischen Entwicklung seien; 48 ebenso „wenn der als Gemeinplatz<br />

zulässigen Rede, ‚daß die Menschen ihre <strong>Geschichte</strong>n selbst machen‘, der theoretische<br />

Rang einer Behauptung von ‚objektiver Wahrheit‘ zugesprochen wird, mit der sich zugleich,<br />

neuzeitlich, ‚die Einsicht in die menschliche Subjektfunktion‘ und ‚die bewußte<br />

42 Vgl. zum Folgenden Odo Marquard, Ende des Schicksals? Einige Bemerkungen über die Unvermeidlichkeit<br />

des Unverfügbaren, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, 67–90.<br />

43 „Diese Berufung auf Gott – auf kreatürliche Kontingenz und göttliche Omnipotenz – beendet die<br />

Karriere des Fatums: der eine allmächtige Gott ist das Ende des Schicksals. Und die moderne Welt –<br />

scheint es – vollstreckt nur dieses <strong>im</strong> Grunde schon frühe Ende des Schicksals“, so Marquard, Abschied<br />

vom Prinzipiellen 72.<br />

44 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen <strong>Geschichte</strong> in weltbürgerlicher Absicht, Satz 8 und 9. In:<br />

Kant. Werke in 10 Bänden, hg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1983, Bd. 9.<br />

45 Siehe dazu Gans, Subjekt 115ff.<br />

46 Wenn man nicht doch Marquards „Einweggedanken“ von der Wiederermächtigung des Schicksals<br />

ernst nehmen will. Vgl. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen 76ff; 86.<br />

47 Hermann Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, Basel/Stuttgart 1977, 69.<br />

48 Vgl. Peter Szondi, Für eine nicht mehr narrative Historie, in: PH 5, 540–542, hier 541.<br />

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