Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

02.12.2012 Aufrufe

oder, allgemeiner formuliert, die Pluralität von Geschichten vorstellbar ist. Individualität begründet die Möglichkeit individueller Sinnentwürfe und Geschichten, da sie dasjenige ist, was die Pluralität von Deutungen bei gleichen Ausgangsbedingungen ermöglicht. 35 Auf der anderen Seite erkennen wir Geschichte nur durch Veränderung, die sich an Abgrenzbarem, das heißt an Individuellem vollzieht. Daher ist nicht nur das Subjekt als Individualität zu begreifen, sondern es muß diese Kategorie auch den vorgestellten Erkenntnisgegenständen zuschreiben. Um Veränderung als Geschichte wahrzunehmen, müssen Ereignisse als unterscheidbar benannt werden können. Sie besitzen darin eine, freilich vom als Individualität verstandenen Subjekt zugeschriebene, eigene Individualität. Gegenüber der transzendentalen Intention Franks, der mit der Kategorie der Individualität die Bedeutung der Sprache für die Konstitution des Subjekts ausheben will, scheint mir Sprache Individualität (und damit Personalität und Subjektivität) erst zu ermöglichen. 36 Wenn die Frage nach dem transzendentalen Subjekt der Moderne hier auch nicht weiter diskutiert werden kann, so lassen sich doch folgende Elemente der Verfaßtheit eines Subjekts der Geschichte festhalten. Dabei lassen sich die Momente der Frage nach dem Bewußtseinssubjekt und den leibhaften Aspekten des Subjekts nicht trennen, wohl aber unterscheiden. Um als Subjekt Geschichte wahrnehmen zu können, muß sich das Subjekt als in der Geschichte vorfindlich verstehen können. Dies setzt zunächst einmal die Bedingung der Möglichkeit der Wahrnehmung von Veränderung voraus. Wahrnehmung von Veränderung, und damit Wahrnehmung von (geschichtlicher) Wirklichkeit ist ein mehrstufiger Prozeß. Auf einer ersten Stufe erfährt und widerfährt einem Subjekt Veränderung beziehungsweise verursacht es Veränderung. Es hat damit Anteil am raumzeitlichen Geschehen, das als Geschichte erfaßt wird. Diese Anteilnahme wird auf der ersten Stufe durch vor- bzw. unbewußte Impressionen wahrgenommen. Erst auf einer zweiten Stufe ist diese Wahrnehmung ein Bewußtseinsprozeß. Dieser vollzieht sich, indem die Impressionen der ersten Stufe zueinander in Beziehung gesetzt werden bzw. ein Begriff von Veränderung, und in abstrahierter Form von Geschichte und Geschichtlichkeit gebildet wird. Eine rein auf das Bewußtsein abhebende Bestimmung des geschichtlichen Subjekts greift deshalb zu kurz. Das Subjekt der Geschichte muß daher zunächst einmal als raum-zeitlich verfaßt verstanden werden, es muß in seiner Leiblichkeit in Raum und Zeit lokalisiert sein, sonst könnte es nicht Geschichte wahrnehmen oder konstruieren. Es muß dann auch wahrnehmen können und diese Wahrnehmungen kommunizieren können. Kommunikationsfähigkeit bedeutet vor allem Sprachfähigkeit, denn erst mittels der Sprache werden Impressionen mitteilbar, kann Veränderung benannt werden. Und Veränderung ist der Indikator für Zeitlichkeit und Geschichte. Sprache ist in diesem Zusammenhang in einem umfassenden Sinn zu verstehen, denn die Impressionen von Veränderungen können auch nonverbal, etwa durch Gesten, Symbole und Riten kommuniziert werden. Wesentlich an diesen Momenten der Kommunikation ist der Aspekt der Beziehung; es geht bei der Raum-Zeitlichkeit, der Wahrnehmung und 35 Frank, Subjekt 24ff zeigt diesen Sachverhalt im Blick auf den Widerstand, den Individualität einem rigorosen Verständnis des Zeichensinns als eines instantanen und identischen, entgegenstellt, d.h. in der semantischen Diskussion um Selbst und Person. 36 Vgl. dazu unten Kap. 1.6 Sprache. 88

der Kommunikation ja immer um Relationen. Eine Geschichte ist in jedem Fall auch ein Geflecht von Beziehungen, und zwar von Beziehungen zu einem Außen, einer „Welt“, zu Anderen und zu mir selbst. Eine Geschichte ist, wie auch das Subjekt von Geschich- te, verstrickt in Geschichten. 37 Ein Subjekt ist als geschichtliches Individuum Teil einer Vielzahl von Geschichte, es partizipiert an einer Pluralität von Geschichte. 38 Zugleich muß sich ein Subjekt, das sich seiner Lokalisierung in einer Pluralität von Geschichte bewußt ist, sowohl zu den einzelnen Geschichten als auch deren Verbindungen verhalten. Es ist darauf angewiesen, eine gewisse Korrespondenz der einzelnen Geschichten und eine gewisse Kohärenz der Pluralität der Geschichte zu erkennen oder zu konstruieren. Die Korrespondenz wird dadurch ermöglicht, daß Geschichten als solche bewußt und gewußt werden und sich für das Subjekt miteinander verknüpfen lassen bzw. sich verknüpfen. Sie können korrespondieren, weil sie von gleicher Art sind. Die Kohärenz wird dadurch ermöglicht, daß sich unterschiedliche Geschichten (kontingent) verknüpfen bzw. verknüpft werden, sich dadurch gegenseitig erhellen und dem Subjekt sich die einzelnen Geschichten bzw. deren Verknüpfung neu erschließen. Wie sich ein derart relational und sprachlich konstituiertes Subjekt für die Geschichte namhaft machen lassen kann, soll mich im Folgenden beschäftigen. 4.3 Das Subjekt von Geschichte(n) Bevor Menschen Geschichte(n) machen, erleiden sie immer schon Geschichte(n). 39 Dies ist die Folge des Geworfenseins ins Dasein, der anthropologischen Grundgegebenheit des Menschen. Es ist auch ein Implikat der Zeitlichkeit und der räumlichen Existenz. Menschen finden sich immer schon vor in familiären, gesellschaftlichen, politischen Zusammenhängen. Sie leben in bestimmten Räumen, Landschaften und Kulturen und haben sich diese Orte – zunächst und in der Regel – nicht selbst ausgesucht. Menschen sind geprägt durch Familiengeschichten, Volksgeschichten und Nationalgeschichten. 40 Daß Menschen Herkunft nicht nur haben, sondern auch brauchen, um Zukunft zu haben, ist ein Grunddatum des Menschseins. 41 Auf den Begriff gebracht wurde diese Stellung des Menschen der Welt und sich selbst gegenüber mit dem Ausdruck Schicksal 37 Vgl. Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Wiesbaden 1976 2 . Schapp vollzieht darin eine „fällige Überwindung der Beschränkungen der Bewußtseinsphänomenologie“, so Hermann Lübbe im Vorwort der zweiten Auflage, S. VI. 38 Leicht verdeutlichen läßt sich das, wenn ein geschichtliches Individuum hinsichtlich seiner sozialen Rollen betrachtet wird. Als Mitarbeiter an der Augustana-Hochschule partizipiere ich an deren Geschichte, als Bürger von Neuendettelsau an der Geschichte dieser Gemeinde, als Ehemann und Vater an verschiedenen Familiengeschichten und so fort. 39 Die Schreibweise „Geschichte(n)“ soll hier darauf hinweisen, daß es nicht nur um Geschichte im umfassenden, gleichsam universalen Sinn geht, sondern auch um singuläre, partikulare, individuelle Geschichten. 40 Auf die Prägung durch Familiengeschichten weist, neben der Psychologie, besonders die systemische Familientherapie hin; die Prägung durch Volksgeschichten und Nationalgeschichten lassen sich an Deutschen (Nationalsozialismus) und US-Amerikanern (Mythos des go west) studieren. 41 Vgl. Odo Marquard, Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen, in: ders., Apologie des Zufälligen, Stuttgart 1986, 117–139. 89

oder, allgemeiner formuliert, die Pluralität von <strong>Geschichte</strong>n vorstellbar ist. Individualität<br />

begründet die Möglichkeit individueller Sinnentwürfe und <strong>Geschichte</strong>n, da sie dasjenige<br />

ist, was die Pluralität von Deutungen bei gleichen Ausgangsbedingungen ermöglicht. 35<br />

Auf der anderen Seite erkennen wir <strong>Geschichte</strong> nur durch Veränderung, die sich an Abgrenzbarem,<br />

das heißt an Individuellem vollzieht. Daher ist nicht nur das Subjekt als<br />

Individualität zu begreifen, sondern es muß diese Kategorie auch den vorgestellten Erkenntnisgegenständen<br />

zuschreiben. Um Veränderung als <strong>Geschichte</strong> wahrzunehmen,<br />

müssen Ereignisse als unterscheidbar benannt werden können. Sie besitzen darin eine,<br />

freilich vom als Individualität verstandenen Subjekt zugeschriebene, eigene Individualität.<br />

Gegenüber der transzendentalen Intention Franks, der mit der Kategorie der Individualität<br />

die Bedeutung der Sprache für die Konstitution des Subjekts ausheben will,<br />

scheint mir Sprache Individualität (und damit Personalität und Subjektivität) erst zu ermöglichen.<br />

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Wenn die Frage nach dem transzendentalen Subjekt der Moderne hier auch nicht weiter<br />

diskutiert werden kann, so lassen sich doch folgende Elemente der Verfaßtheit eines<br />

Subjekts der <strong>Geschichte</strong> festhalten. Dabei lassen sich die Momente der Frage nach dem<br />

Bewußtseinssubjekt und den leibhaften Aspekten des Subjekts nicht trennen, wohl aber<br />

unterscheiden. Um als Subjekt <strong>Geschichte</strong> wahrnehmen zu können, muß sich das Subjekt<br />

als in der <strong>Geschichte</strong> vorfindlich verstehen können. Dies setzt zunächst einmal die<br />

Bedingung der Möglichkeit der Wahrnehmung von Veränderung voraus. Wahrnehmung<br />

von Veränderung, und damit Wahrnehmung von (geschichtlicher) Wirklichkeit ist ein<br />

mehrstufiger Prozeß. Auf einer ersten Stufe erfährt und widerfährt einem Subjekt Veränderung<br />

beziehungsweise verursacht es Veränderung. Es hat damit Anteil am raumzeitlichen<br />

Geschehen, das als <strong>Geschichte</strong> erfaßt wird. Diese Anteilnahme wird auf der<br />

ersten Stufe durch vor- bzw. unbewußte Impressionen wahrgenommen. Erst auf einer<br />

zweiten Stufe ist diese Wahrnehmung ein Bewußtseinsprozeß. Dieser vollzieht sich,<br />

indem die Impressionen der ersten Stufe zueinander in Beziehung gesetzt werden bzw.<br />

ein Begriff von Veränderung, und in abstrahierter Form von <strong>Geschichte</strong> und Geschichtlichkeit<br />

gebildet wird. Eine rein auf das Bewußtsein abhebende Best<strong>im</strong>mung des geschichtlichen<br />

Subjekts greift deshalb zu kurz. Das Subjekt der <strong>Geschichte</strong> muß daher<br />

zunächst einmal als raum-zeitlich verfaßt verstanden werden, es muß in seiner Leiblichkeit<br />

in Raum und Zeit lokalisiert sein, sonst könnte es nicht <strong>Geschichte</strong> wahrnehmen<br />

oder konstruieren. Es muß dann auch wahrnehmen können und diese Wahrnehmungen<br />

kommunizieren können. Kommunikationsfähigkeit bedeutet vor allem Sprachfähigkeit,<br />

denn erst mittels der Sprache werden Impressionen mitteilbar, kann Veränderung benannt<br />

werden. Und Veränderung ist der Indikator für Zeitlichkeit und <strong>Geschichte</strong>. Sprache<br />

ist in diesem Zusammenhang in einem umfassenden Sinn zu verstehen, denn die<br />

Impressionen von Veränderungen können auch nonverbal, etwa durch Gesten, Symbole<br />

und Riten kommuniziert werden. Wesentlich an diesen Momenten der Kommunikation<br />

ist der Aspekt der Beziehung; es geht bei der Raum-Zeitlichkeit, der Wahrnehmung und<br />

35 Frank, Subjekt 24ff zeigt diesen Sachverhalt <strong>im</strong> Blick auf den Widerstand, den Individualität einem<br />

rigorosen Verständnis des Zeichensinns als eines instantanen und identischen, entgegenstellt, d.h. in<br />

der semantischen Diskussion um Selbst und Person.<br />

36 Vgl. dazu unten Kap. 1.6 Sprache.<br />

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