Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

02.12.2012 Aufrufe

Redewendungen wie „segnen“, „warnen“, „bitten“. 23 Bei derartigen Äußerungen wird mit dem Sprechen zugleich die entsprechende Handlung vollzogen. Dieser Sachverhalt ist für das Reden und Erzählen von Geschichte von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Im Kapitel über Sprache und Geschichte werde ich darauf näher eingehen. Will man die verschiedenen Aspekte des Handlungsbegriffs im Zusammenhang darstellen, so ergibt sich ein komplexes Geflecht von einander bedingenden Faktoren. Zum einen kann man analytisch unterscheiden zwischen Handlungsbeschreibung und Handlungserklärung. 24 Zum anderen kann man unterscheiden zwischen Motivation und Gründen für eine Handlung, den Vollzug (Akt) der Handlung, der Bedeutung der Handlung und der (oder den) Wirkung(en) der Handlung. Letztere Unterscheidung kann vollzogen werden im Blick auf den Handelnden selbst und die Beobachter oder Betroffenen einer Handlung. In einer Matrix läßt sich dieser Sachverhalt folgendermaßen darstellen: 78 Akteur Beobachter Ursachen Motivation Gründe Handlung / Akt Bewegung Wahrnehmung einer Veränderung Deutung Interpretation Interpretation Wirkung Intention / Ziel Bedeutung Dabei können Akteur und Beobachter in einer Person zusammenfallen. Die Feststellung einer Handlung ist ein sprachlich vermittelter Vorgang, eine Interpretation, die konstitutiv für die Qualifikation einer Bewegung als Handlung ist. Dieser Hinweis mag genügen, um den Handlungsbegriff über den Interpretationsaspekt hinaus für die Dimension der Sprache zu öffnen. Nach dieser Näherbestimmung dessen, was Handlung meint, ist es im Blick auf den Begriff von Geschichte angebracht, den Phänomenkomplex von Handeln, Ereignis und Geschehen genauer zu betrachten. Ich habe bereits angedeutet, daß Handlungen selbst als Ereignis verstanden werden können; damit ist der Akt des Handelns gemeint. Die Handlung des einen stellt für einen anderen ein Ereignis dar. Dieses Ereignis kann näherhin als Widerfahrnis gekennzeichnet werden. 25 Für den Handelnden selbst kann aber erst die Folge einer Handlung den Charakter eines Ereignisses haben. Darüber hinaus lassen sich aber auch Ereignisse feststellen, die weder Handlungen sind noch durch Handlungen initialisiert wurden. Das Ereignis eines Gewitters ist nicht durch eine feststellbare handelnde Instanz verursacht, obgleich sich meteorologische Ursachen dafür namhaft machen lassen. Der in diesem Fall benennbare kausale Zusammenhang von 23 Zum Segen vgl. Dorothea Greiner, Segen und Segnen. Eine systematisch-theologische Grundlegung, Stuttgart 1999 2 . 24 Vgl. oben. 25 Wilhelm Kamlah, Philosophische Anthropologie, Mannheim 1973, 34–30 macht darauf aufmerksam, daß Handlungen und Widerfahrnisse immer ineinandergreifen.

Ursache und Wirkung beruht aber nicht auf dem Eingreifen eines Subjektes, sondern auf natürlichen Gegebenheiten, die sich unter Umständen als Naturgesetze beschreiben lassen. Unter Gegebenheiten verstehe ich Sachverhalte, die sich dem Einfluß handelnder Instanzen entziehen, sei es, daß eine Einflußnahme nicht im Bereich der kreatürlichen Fähigkeiten dieser handelnden Instanzen liegt, sei es, daß der Komplex der in Frage stehenden Sachverhalte die Identifizierung einer Einflußnahme nicht erlaubt; letzteres gilt für hochkomplexe interdependente Ereigniszusammenhänge wie z.B. das Wetter. Mir scheint, daß auch die Chaosforschung hier im wesentlichen über die Feststellung des „daß“ dieser Zusammenhänge nicht hinauskommt. Aber auch diese Fragestellung wird hier nur angedeutet und im Kapitel über Ereignis und Struktur genauer analysiert. 3.3 Geschichte als Aufgabe und Gegebenheit Vor der Aufklärung hatte Geschichte im wesentlichen Gegebenheitscharakter. 26 Sie wurde nicht gemacht, sondern war dem Menschen gegeben und aufgegeben. Die Menschen, Männer und Frauen, fanden sich in einem Geflecht von Strukturen und Beziehungen, Ordnungen und Abhängigkeiten vor. Dazu muß man die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten zählen. Akteur innerhalb dieser Gegebenheiten, und damit innerhalb der Geschichte, konnte der Mensch nur in einem sehr eingeschränkten Sinn sein. Er hatte Handlungsmöglichkeiten in seiner konkreten Umgebung, seinem Beruf, seinem sozialen Umfeld. Wenn bei herausragenden Individuen deren Handlungen die Entwicklung der Geschichte im größerem Umfang beeinflußte, so wurde das verstanden als Teil des Planes Gottes in und mit der Geschichte. Insofern herrschte ein gewisses „deterministisches“ Verständnis von Geschichte vor. 27 Als Aufgabe wurde es verstanden, innerhalb der gegebenen Ordnungen dem Willen Gottes entsprechend sich zu verhalten. Die Geschichte selbst war nicht als gestaltungsfähig im Blick. 28 Dies änderte sich vor allem im Gefolge der Aufklärung und des wissenschaftlich-technischen Zugriffs auf die Welt. Die Gestaltungsmöglichkeiten des Menschen, sowohl des einzelnen als auch des Kollektivs der Menschheit, nahmen ungeahnte Ausmaße an. Sowohl im wirtschaftlichen als auch im politischen Bereich wurde der Fortschritt zum Leitmotiv der Neuzeit. Geschichte konnte gemacht werden vermittels der Einflußnahme auf die Gestaltung der Gesellschaft als auch des Verhältnisses der Staaten zueinander. 29 Erschüttert wurde dieser Optimismus durch die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts und die ökologischen Katastrophenszenarien am Ausgang dieses Jahrhunderts. Die gegenwärtige Situation ist nun dadurch gekennzeichnet, daß der Gegebenheitscharakter und die Machbarkeitsvorstellung von Geschichte zugleich virulent sind. 26 Vgl. hierzu R. Koselleck, Über die Verfügbarkeit der Geschichte, in: ders., Vergangene Zukunft 260ff. 27 Auf das Problem der Freiheit Gottes und der Freiheit des Menschen in der Geschichte gehe ich unten 3.3 und 3.4 ein. 28 Nur einige wenige Gruppen, etwa aus dem linken Flügel der Reformation, wollten die Geschichte selbst gestalten. 29 Vgl. oben 1.1. 79

Ursache und Wirkung beruht aber nicht auf dem Eingreifen eines Subjektes, sondern auf<br />

natürlichen Gegebenheiten, die sich unter Umständen als Naturgesetze beschreiben lassen.<br />

Unter Gegebenheiten verstehe ich Sachverhalte, die sich dem Einfluß handelnder<br />

Instanzen entziehen, sei es, daß eine Einflußnahme nicht <strong>im</strong> Bereich der kreatürlichen<br />

Fähigkeiten dieser handelnden Instanzen liegt, sei es, daß der Komplex der in Frage stehenden<br />

Sachverhalte die Identifizierung einer Einflußnahme nicht erlaubt; letzteres gilt<br />

für hochkomplexe interdependente Ereigniszusammenhänge wie z.B. das Wetter. Mir<br />

scheint, daß auch die Chaosforschung hier <strong>im</strong> wesentlichen über die Feststellung des<br />

„daß“ dieser Zusammenhänge nicht hinauskommt. Aber auch diese Fragestellung wird<br />

hier nur angedeutet und <strong>im</strong> Kapitel über Ereignis und Struktur genauer analysiert.<br />

3.3 <strong>Geschichte</strong> als Aufgabe und Gegebenheit<br />

Vor der Aufklärung hatte <strong>Geschichte</strong> <strong>im</strong> wesentlichen Gegebenheitscharakter. 26 Sie<br />

wurde nicht gemacht, sondern war dem Menschen gegeben und aufgegeben. Die Menschen,<br />

Männer und Frauen, fanden sich in einem Geflecht von Strukturen und Beziehungen,<br />

Ordnungen und Abhängigkeiten vor. Dazu muß man die sozialen, politischen<br />

und wirtschaftlichen Gegebenheiten zählen. Akteur innerhalb dieser Gegebenheiten, und<br />

damit innerhalb der <strong>Geschichte</strong>, konnte der Mensch nur in einem sehr eingeschränkten<br />

Sinn sein. Er hatte Handlungsmöglichkeiten in seiner konkreten Umgebung, seinem Beruf,<br />

seinem sozialen Umfeld. Wenn bei herausragenden Individuen deren Handlungen<br />

die Entwicklung der <strong>Geschichte</strong> <strong>im</strong> größerem Umfang beeinflußte, so wurde das verstanden<br />

als Teil des Planes Gottes in und mit der <strong>Geschichte</strong>. Insofern herrschte ein gewisses<br />

„deterministisches“ Verständnis von <strong>Geschichte</strong> vor. 27 Als Aufgabe wurde es<br />

verstanden, innerhalb der gegebenen Ordnungen dem Willen Gottes entsprechend sich<br />

zu verhalten. Die <strong>Geschichte</strong> selbst war nicht als gestaltungsfähig <strong>im</strong> Blick. 28<br />

Dies änderte sich vor allem <strong>im</strong> Gefolge der Aufklärung und des wissenschaftlich-technischen<br />

Zugriffs auf die Welt. Die Gestaltungsmöglichkeiten des Menschen, sowohl des<br />

einzelnen als auch des Kollektivs der Menschheit, nahmen ungeahnte Ausmaße an. Sowohl<br />

<strong>im</strong> wirtschaftlichen als auch <strong>im</strong> politischen Bereich wurde der Fortschritt zum<br />

Leitmotiv der Neuzeit. <strong>Geschichte</strong> konnte gemacht werden vermittels der Einflußnahme<br />

auf die Gestaltung der Gesellschaft als auch des Verhältnisses der Staaten zueinander. 29<br />

Erschüttert wurde dieser Opt<strong>im</strong>ismus durch die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts<br />

und die ökologischen Katastrophenszenarien am Ausgang dieses Jahrhunderts. Die gegenwärtige<br />

Situation ist nun dadurch gekennzeichnet, daß der Gegebenheitscharakter<br />

und die Machbarkeitsvorstellung von <strong>Geschichte</strong> zugleich virulent sind.<br />

26<br />

Vgl. hierzu R. Koselleck, Über die Verfügbarkeit der <strong>Geschichte</strong>, in: ders., Vergangene Zukunft<br />

260ff.<br />

27<br />

Auf das Problem der Freiheit Gottes und der Freiheit des Menschen in der <strong>Geschichte</strong> gehe ich unten<br />

3.3 und 3.4 ein.<br />

28<br />

Nur einige wenige Gruppen, etwa aus dem linken Flügel der Reformation, wollten die <strong>Geschichte</strong><br />

selbst gestalten.<br />

29 Vgl. oben 1.1.<br />

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