Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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02.12.2012 Aufrufe

3.2 Zum Begriff Handlung Die Rede von Geschichte bezieht sich auf Ereignisse, denen Ursachen zugrunde liegen. Ereignisse werden als solche erkannt, indem sie sich von vorhergehenden Zuständen unterscheiden bzw. Unterschiede zu vorhergehenden Zuständen herbeiführen. Neben dem zeitlichen Aspekt ist dabei die Kategorie der Kausalität entscheidend. Kausalität bezeichnet dabei ein bestimmtes Verhältnis verschiedener Ereignisse zueinander, das als Ursache und Wirkung bezeichnet wird. 3 Dieser Zusammenhang von Ursache und Wirkung bedarf jedoch der Differenzierung. Man kann ihn verstehen als verursacht durch unwandelbare Naturgesetze (Kant) oder, weitergehend, als Interpretationen dessen, was wir als Regelmäßigkeiten beobachten (Hume). 4 Ich gehe nun davon aus, daß Kausalität immer die Interpretation eines Verhältnisses verschiedener Ereignisse ist. 5 Dabei kann man zwei Ebenen des Verständnisses von Kausalität unterscheiden. Zum einen die epistemologische Ebene. Auf ihr wird das Verhältnis von zwei Ereignissen als kausales erkannt. Zum anderen die performative Ebene. Auf ihr wird das Verhältnis zwischen zwei Ereignissen durch das Formulieren des kausalen Zusammenhangs vollzogen oder konstituiert. Darin ist Kausalität auch mehr als pure Interpretation, insofern durch die Vorstellung von Kausalität Handlungen hervorgerufen werden, die auf Veränderung zielen. Durch Interventionen können Veränderungen erreicht werden. Eine Sorte von Ursachen sind Handlungen. 6 In der wissenschaftstheoretischen Diskussion stellte sich heraus, daß Handeln einen Mehrfachcharakter hat, der mindestens dreifach strukturiert ist. Zum einen hat Handeln einen theoretisch-wissenschaftlichen Aspekt, der auf die Erklärung von Handlungen ausgerichtet ist. Zum zweiten besitzt Handeln einen praktisch-normativen Aspekt, der sich auf die dem Handeln zugrundeliegenden Normen, Ziele oder Gesetzmäßigkeiten bezieht. Da das Erkennen und Deuten selbst Handlungen sind, wurde noch der transzendentale Aspekt des Handelns eingeführt, der sich darauf bezieht, daß der Mensch sein eigenes Erkennen und Denken als ein Handeln reflektieren kann und demgemäß in metawissenschaftliche, philosophische Überlegungen einzubetten hat. 7 Es gibt bislang 3 Die aristotelische Unterscheidung der vier causae (causa formalis, causa materialis, causa efficiens, causa finalis) wurde neuzeitlich reduziert auf die causa efficiens, da die ontologischen Grundlagen der anderen causae entfallen sind. Vgl. dazu Carl Friedrich von Weizsäcker, Art. Kausalität I. In der Natur, in: RGG 3 Bd. 3, 1228–1230 sowie Hans-Georg Gadamer, Art. Kausalität II. In der Geschichte, in: RGG 3 Bd. 3, 1230–1232. 4 Das gesteht zwar auch Kant zu, unterscheidet sich von Hume jedoch darin, daß diese Interpretation in dem Sinn a priori ist, als allein durch sie so etwas wie Erfahrung von Natur erst möglich wird. 5 Zum Begriff der Kausalität und des Zufalls in der Geschichtswissenschaft vgl. Karl-Georg Faber, Theorie der Geschichtswissenschaft, München 1982 5 , 66ff. 6 Andererseits haben Handlungen, in einem bestimmten Sinn verstanden, selbst Ursachen; in einem anderen Sinn verstanden haben sie Gründe. Auf die Unterscheidung von Gründen und Ursachen werde ich noch zurückkommen. Vgl. dazu insgesamt Ansgar Beckermann (Hg.), Analytische Handlungstheorie Bd. 2, Handlungserklärungen, Frankfurt/M. 1977 sowie Bernhard Giesen / Michael Schmid (Hg.), Theorie, Handeln und Geschichte, Hamburg 1975. Außer Acht lasse ich vorerst Ereignisse, die der Geschichte der Natur zuzuordnen sind. Inwieweit man im Blick auf Naturgeschichte von Handlungen sprechen kann, müßte erst geklärt werden. Sicher ist aber, daß menschliche Handlungen in die Natur eingreifen. 7 Besondere Bedeutung hat dieser Aspekt der transzendentalphilosophischen Bedeutung von Handeln im ethischen Diskurs gewonnen. Dabei wurde in der Tradition der kritischen Kantrezeption die Vorstellung einer Begründung von Handlungen über ein transzendentales Subjekt zugunsten einer intersubjektiven Verständigung über die Normen des Handelns abgelöst. Vgl. dazu Michael Kuch, Wis- 72

allerdings keine einheitliche Handlungstheorie, da die verschiedensten Disziplinen mit dem Begriff des Handelns befaßt sind und eine Integration äußerst schwierig ist. Mit der Erfassung, Beschreibung, Erklärung, Rechtfertigung und Voraussage von Handlungen sind WissenschaftlerInnen der verschiedensten Bereiche, von der Psychologin über den Soziologen bis zur Philosophin, vom Ökonomen über die Stadtplanerin bis zum Neurologen, um nur willkürlich Beispiele zu nennen, befaßt. Jürgen Habermas 8 etwa unterscheidet vier Grundbegriffe des Handelns, die in sozialwissenschaftlichen Theorien meist implizit verwendet werden. Es sind dies erstens der teleologische Handlungsbegriff, der zum strategischen Handlungsmodell ausgeweitet werden kann. Er richtet sein Interesse auf die Verwirklichung eines Zweckes bzw. eines erwünschten Zustandes; strategisch wird das so verstandene Handeln, wenn erwartete Entscheidungen eines zweiten Aktors in die Überlegungen mit einbezogen werden. Zweitens der Begriff des normenregulierten Handelns, der auf das Handeln in einer sozialen Gruppe abhebt, deren Mitglieder ihr Handeln an gemeinsamen Werten orientieren. Drittens nennt Habermas den Begriff des dramaturgischen Handelns, der sich vor allem auf die Darstellung der eigenen Subjektivität vor einem Publikum bezieht. Der Begriff des kommunikativen Handelns schließlich bezieht sich auf die Interaktion von Aktoren, die eine Verständigung über die Handlungssituation suchen, um ihre Handlungspläne und damit ihre Handlungen einvernehmlich zu koordinieren. Für unseren Zusammenhang können wir uns darauf beschränken, eine möglichst allgemeine Theorie des Handelns zum Bezugspunkt zu nehmen, da wir von der Voraussetzung ausgehen, daß Handeln in irgendeiner Form Geschichte mit konstituiert und – in Aufnahme von Gedanken aus dem vorherigen Abschnitt – Zeit immer Handlungszeit ist. 9 Prinzipiell lassen sich zwei Erklärungsweisen von Handlungen unterscheiden. Die erste geht davon aus, daß Handlungen sich unter Verwendung von generellen Gesetzen erklären lassen. Man kann diese Erklärungsweise nomologisch-naturalistisch nennen. Der Begriff des Gesetzes kann sich dabei auf einen logisch-mathematischen oder einen empirischen Gebrauch beziehen. Davon zu unterscheiden ist das Modell der intentionalen oder teleologischen Erklärung, die auf ein spezifisches Rationalitätsprinzip für Handlungen abhebt. Eine Integration dieser Erklärungsansätze versuchte Churchland, indem er ein allgemeines Handlungsgesetz für Erklärungen von Handlungsaussagen folgendermaßen skizzierte: „Für alle Personen (Handlungssubjekt) x, für alle Einsetzungsinstanzen in Handlungsnamenvariable A und für alle Zielumstände Ψ gilt: Wenn 1.) x Ψ wünscht und wenn 2.) x glaubt, daß A tun einen Weg für ihn darstellt, unter den obwaltenden Bedingungen Ψ herbeizuführen, und sen – Freiheit – Macht. Kategoriale, dogmatische und (sozial-)ethische Bestimmungen zur begrifflichen Struktur des Handelns, Marburg 1991 (Marburger Theologische Studien 31), 20ff. 8 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns Bd. 1, Frankfurt/M. 1985 3 , 126ff. 9 „Wo immer wir die Zeit in ihrer naturwüchsigen Form antreffen werden, in der Ontogenese wie in der Geschichte, treffen wir sie in materialer Weise gebunden an die Handlung an. Alle naturwüchsige Zeit ist Handlungszeit“, so Günter Dux, Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit, Frankfurt/M. 1992, 49. 73

allerdings keine einheitliche Handlungstheorie, da die verschiedensten Disziplinen mit<br />

dem Begriff des Handelns befaßt sind und eine Integration äußerst schwierig ist. Mit der<br />

Erfassung, Beschreibung, Erklärung, Rechtfertigung und Voraussage von Handlungen<br />

sind WissenschaftlerInnen der verschiedensten Bereiche, von der Psychologin über den<br />

Soziologen bis zur Philosophin, vom Ökonomen über die Stadtplanerin bis zum Neurologen,<br />

um nur willkürlich Beispiele zu nennen, befaßt. Jürgen Habermas 8 etwa unterscheidet<br />

vier Grundbegriffe des Handelns, die in sozialwissenschaftlichen Theorien<br />

meist <strong>im</strong>plizit verwendet werden. Es sind dies erstens der teleologische Handlungsbegriff,<br />

der zum strategischen Handlungsmodell ausgeweitet werden kann. Er richtet sein<br />

Interesse auf die Verwirklichung eines Zweckes bzw. eines erwünschten Zustandes;<br />

strategisch wird das so verstandene Handeln, wenn erwartete Entscheidungen eines<br />

zweiten Aktors in die Überlegungen mit einbezogen werden. Zweitens der Begriff des<br />

normenregulierten Handelns, der auf das Handeln in einer sozialen Gruppe abhebt, deren<br />

Mitglieder ihr Handeln an gemeinsamen Werten orientieren. Drittens nennt Habermas<br />

den Begriff des dramaturgischen Handelns, der sich vor allem auf die Darstellung<br />

der eigenen Subjektivität vor einem Publikum bezieht. Der Begriff des kommunikativen<br />

Handelns schließlich bezieht sich auf die Interaktion von Aktoren, die eine Verständigung<br />

über die Handlungssituation suchen, um ihre Handlungspläne und damit ihre<br />

Handlungen einvernehmlich zu koordinieren. Für unseren Zusammenhang können wir<br />

uns darauf beschränken, eine möglichst allgemeine Theorie des Handelns zum Bezugspunkt<br />

zu nehmen, da wir von der Voraussetzung ausgehen, daß Handeln in irgendeiner<br />

Form <strong>Geschichte</strong> mit konstituiert und – in Aufnahme von Gedanken aus dem vorherigen<br />

Abschnitt – Zeit <strong>im</strong>mer Handlungszeit ist. 9<br />

Prinzipiell lassen sich zwei Erklärungsweisen von Handlungen unterscheiden. Die erste<br />

geht davon aus, daß Handlungen sich unter Verwendung von generellen Gesetzen erklären<br />

lassen. Man kann diese Erklärungsweise nomologisch-naturalistisch nennen. Der<br />

Begriff des Gesetzes kann sich dabei auf einen logisch-mathematischen oder einen<br />

empirischen Gebrauch beziehen.<br />

Davon zu unterscheiden ist das Modell der intentionalen oder teleologischen Erklärung,<br />

die auf ein spezifisches Rationalitätsprinzip für Handlungen abhebt. Eine Integration<br />

dieser Erklärungsansätze versuchte Churchland, indem er ein allgemeines Handlungsgesetz<br />

für Erklärungen von Handlungsaussagen folgendermaßen skizzierte:<br />

„Für alle Personen (Handlungssubjekt) x, für alle Einsetzungsinstanzen in Handlungsnamenvariable<br />

A und für alle Zielumstände Ψ gilt:<br />

Wenn 1.) x Ψ wünscht und<br />

wenn 2.) x glaubt, daß A tun einen Weg für ihn darstellt, unter den obwaltenden Bedingungen<br />

Ψ herbeizuführen, und<br />

sen – Freiheit – Macht. Kategoriale, dogmatische und (sozial-)ethische Best<strong>im</strong>mungen zur begrifflichen<br />

Struktur des Handelns, Marburg 1991 (Marburger Theologische Studien 31), 20ff.<br />

8 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns Bd. 1, Frankfurt/M. 1985 3 , 126ff.<br />

9 „Wo <strong>im</strong>mer wir die Zeit in ihrer naturwüchsigen Form antreffen werden, in der Ontogenese wie in<br />

der <strong>Geschichte</strong>, treffen wir sie in materialer Weise gebunden an die Handlung an. Alle naturwüchsige<br />

Zeit ist Handlungszeit“, so Günter Dux, Die Zeit in der <strong>Geschichte</strong>. Ihre Entwicklungslogik vom<br />

Mythos zur Weltzeit, Frankfurt/M. 1992, 49.<br />

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