Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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02.12.2012 Aufrufe

die erinnerte oder erwartete Zeit durchaus verschieden sein kann. Im linearen Zeitmodell wird Zeit nicht als Kreislauf, sondern als Ablauf verstanden. Sie besitzt eine absolute Chronologie, hat einen fixen Anfang und ein fixes Ende. Zyklische Momente sind dabei nicht ausgeschlossen, beziehen sich aber nur auf begrenzte Teile der ablaufenden Zeit, nicht die Zeit an sich. Werden und Vergehen ist hier keine Eigenschaft der Zeit an sich, sondern eine Form der Wahrnehmung von Zeit. Die Rede von der Wiederkehr des immer Gleichen ist eine Interpretation dieser Wahrnehmung. Ein weitergehendes Strukturmodell der Zeit, welches die bisher genannten Zeitmodelle integriert, haben Achtner/Kunz/Walter vorgeschlagen. 149 Sie entwickeln ein tripolares Zeitgefüge, dessen Pole aus der endogenen Zeit, der exogenen Zeit und der transzendenten Zeit bestehen. Die Tripolarität leitet sich aus einem anthropologischen Beziehungsgefüge her, das aus dem Selbstbezug, dem Weltbezug und dem religiösen Bezug des Menschen besteht. Die endogene Zeit wird in Stufen differenziert, und zwar in mythische Zeiterfahrung, rational-lineare Zeiterfahrung, die vor allem im Abendland lokalisiert wird, und mystische Zeiterfahrung, die „eine seltene menschliche Spitzenerfahrung“ 150 ist. Problematisch erscheint an diesem Modell, daß durch die Interpretation als Stufen gewisse Zeiterfahrungen als defizitär abgewertet werden. Positiv ist jedoch zu vermerken, daß durch dieses Strukturmodell Einseitigkeiten des Zeitbewußtseins, die lebensweltlich sich negativ für Mensch und Umwelt auswirken, durch den Verweis auf die anderen Dimensionen der Zeit korrigiert werden können. 2.4 Geschichtlichkeit der Zeit Die hier angedeutete Geschichte der Entwicklung des Zeitbegriffs und des Zeitverständnisses zeigt bereits, daß die Zeit selbst der Geschichte unterworfen ist, obwohl sie zugleich Geschichte erst möglich macht. 151 Auch Zeiterfahrung ist geschichtliche Erfahrung. 152 Das gilt in einem grundsätzlichen Sinn. Zeit kann verstanden werden als 149 Wolfgang Achtner / Stefan Kunz / Thomas Walter, Dimensionen der Zeit. Die Zeitstrukturen Gottes, der Welt und des Menschen, Darmstadt 1998. 150 Achtner/Kunz/Walter 107. 151 Zur Frage der Zeit in der Geschichtstheorie vgl. Hans-Jürgen Goertz, Umgang mit Geschichte. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Reinbek 1995, 168ff. 152 Darauf weist insbesondere R. Koselleck hin: „Schon der Singular einer einzigen geschichtlichen Zeit, die sich von der meßbaren Naturzeit unterscheiden soll, läßt sich in Zweifel ziehen. Denn geschichtliche Zeit, wenn der Begriff einen eigenen Sinn hat, ist an soziale und politische Handlungseinheiten gebunden, an konkrete handelnde und leidende Menschen, an ihre Institutionen und Organisationen. Alle haben bestimmte, ihnen innewohnende Vollzugsweisen mit je eigenem zeitlichen Rhythmus. Man denke nur, um in der Alltagswelt zu bleiben, an die verschiedenen Festkalender, die das gesellschaftliche Leben gliedern, an den Wechsel der Arbeitszeiten und ihrer Dauer, die die Abfolge des Lebens bestimmt haben und täglich bestimmen.“ Koselleck geht deshalb davon aus, „nicht von einer geschichtlichen Zeit zu sprechen, sondern von vielen, sich einander überlagernden Zeiten“. Reinhard Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1992 2 , 10. Auf die Relativität der Zeit weist auch Manfred Riedel, Historischer, metaphysischer und transzendentaler Zeitbegriff. Zum Verhältnis von Geschichte und Chronologie im 18. Jahrhundert, in: Reinhard Koselleck (Hg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977, 300–316, hin, wenn er schreibt: „Die historische Zeit ist die erfahrene Zeit eines geschichtlichen „Wir“ in einer bestimmten geschichtlichen Situation, die immer schon zeitlich vorverstanden und in Zeitbegriffen ausgelegt oder interpretiert wird“ (304). Implizit ist damit im theologischen Sprachspiel auch ausgesagt, daß wir Zeit als mit der Schöpfung geschaffen verstehen. Inwiefern damit die Rede von einer Zeit 66

„diejenige kognitive Organisation, mit der wir in der Dauer des Universums dessen Wechsel erfassen“ 153 . Damit ist vorausgesetzt, daß das Universum seine eigene Zeit in Form von Dauer hat, die an der Dynamik, an den sich verändernden Zuständlichkeiten erkannt wird. Dux geht aufgrund seiner Untersuchungen davon aus, daß die Art, in der in der Wahrnehmung „der Dauer der zuständlichen Dynamik des Universums dessen Zeit mit in Bezug zu nehmen“ ist, „von dem Entwicklungsstand der Zeit als einer kognitiven Organisation abhängig“ ist. 154 Seine These lautet also, daß es in der Geschichte der Menschheit auch eine Geschichte der Zeit, genauer: der Konstruktion der Zeit als einer kognitiven Organisationsform gibt. Er sieht dabei Entsprechungen von Ontogenese und Phylogenese des Menschen. Die Geschichte des Menschen impliziert also die Geschichte der Zeit. Während Dux eine Geschichte der Zeit mit der Entwicklungsgeschichte der Menschheit verbindet und „Geschichte der Zeit“ eher epistemologisch versteht, geht A.M.K. Müller einen Schritt weiter. Er entwirft mit seiner Theorie des offenen Systems und der Wahrheitsplateaus eine Kosmologie, in der die Zeitmodi dreistellig (und möglicherweise noch komplexer) verschränkt sind und sich daraus eine Evolution der Zeit selbst ableiten läßt. 155 Man kann, vereinfacht und verallgemeinert, die Entwicklung des Zeitbewußtseins also folgendermaßen rekonstruieren: Auf eine zyklische Phase, die lineare Elemente in sich einschloß, folgte eine lineare Phase, die zyklische Elemente einschloß. Diese wurde abgelöst durch eine Phase, die Zyklizität und Linearität in ihrer gegenseitigen Vernetzung wahrnimmt. Gegenwärtig wird diese Vernetzung abstrahiert und eine Theorie der offenen Zeit entworfen. Die unterschiedlichen Phasen des Zeitverständnisses tragen je unterschiedliche Bestimmungen dessen mit sich, was Geschichte sein könnte. Ein lineares Zeitverständnis impliziert eine lineare Geschichte, die möglicherweise von einer die Gegenwart bestimmenden Zeit des Mythos begleitet wird. Ein zyklisches Verständnis der Zeit impliziert ein Verständnis von Geschichte, die die Wiederkehr des ewig Gleichen beinhaltet, das möglicherweise von einem Mythos bestimmt wird. Das Verständnis einer vernetzten Zeit ermöglicht die Integration (und den Widerstreit) von linearer und zyklischer Zeit und impliziert dadurch sowohl die Gestaltung von Geschichte als auch die Möglichkeit des unerwartet Neuen; dieses Neue kann sich evolutionär einstellen, aber auch durch einen Sprung, ein „Es geschieht“, eine Offenbarung. 2.5 Zusammenfassung 1. Zeit, so haben wir gesehen, muß verstanden und begriffen werden als ein grundlegendes Element für das Verstehen und Begreifen von Geschichte, auch im Blick auf deren theoretische Betrachtung. Alles Wahrnehmen, Erkennen, Nachdenken und Handeln vollzieht sich in der Zeit. Es gibt keinen archimedischen Punkt außerhalb der Zeit. Zeit Gottes und von Ewigkeit zu vereinbaren ist, wird noch zu klären sein (vgl. unten zu Pannenberg und Moltmann sowie die Überlegungen unter 3.2). 153 So die Bestimmung von Dux, Zeit 36. 154 Dux, Zeit 36f. Vgl. auch Fraser, Zeit 23. 155 Müller, Das unbekannte Land 226ff. 67

die erinnerte oder erwartete Zeit durchaus verschieden sein kann. Im linearen Zeitmodell<br />

wird Zeit nicht als Kreislauf, sondern als Ablauf verstanden. Sie besitzt eine absolute<br />

Chronologie, hat einen fixen Anfang und ein fixes Ende. Zyklische Momente sind dabei<br />

nicht ausgeschlossen, beziehen sich aber nur auf begrenzte Teile der ablaufenden Zeit,<br />

nicht die Zeit an sich. Werden und Vergehen ist hier keine Eigenschaft der Zeit an sich,<br />

sondern eine Form der Wahrnehmung von Zeit. Die Rede von der Wiederkehr des <strong>im</strong>mer<br />

Gleichen ist eine Interpretation dieser Wahrnehmung.<br />

Ein weitergehendes Strukturmodell der Zeit, welches die bisher genannten Zeitmodelle<br />

integriert, haben Achtner/Kunz/Walter vorgeschlagen. 149 Sie entwickeln ein tripolares<br />

Zeitgefüge, dessen Pole aus der endogenen Zeit, der exogenen Zeit und der transzendenten<br />

Zeit bestehen. Die Tripolarität leitet sich aus einem anthropologischen Beziehungsgefüge<br />

her, das aus dem Selbstbezug, dem Weltbezug und dem religiösen Bezug<br />

des Menschen besteht. Die endogene Zeit wird in Stufen differenziert, und zwar in mythische<br />

Zeiterfahrung, rational-lineare Zeiterfahrung, die vor allem <strong>im</strong> Abendland lokalisiert<br />

wird, und mystische Zeiterfahrung, die „eine seltene menschliche Spitzenerfahrung“<br />

150 ist. Problematisch erscheint an diesem Modell, daß durch die Interpretation als<br />

Stufen gewisse Zeiterfahrungen als defizitär abgewertet werden. Positiv ist jedoch zu<br />

vermerken, daß durch dieses Strukturmodell Einseitigkeiten des Zeitbewußtseins, die<br />

lebensweltlich sich negativ für Mensch und Umwelt auswirken, durch den Verweis auf<br />

die anderen D<strong>im</strong>ensionen der Zeit korrigiert werden können.<br />

2.4 Geschichtlichkeit der Zeit<br />

Die hier angedeutete <strong>Geschichte</strong> der Entwicklung des Zeitbegriffs und des Zeitverständnisses<br />

zeigt bereits, daß die Zeit selbst der <strong>Geschichte</strong> unterworfen ist, obwohl sie<br />

zugleich <strong>Geschichte</strong> erst möglich macht. 151 Auch Zeiterfahrung ist geschichtliche Erfahrung.<br />

152 Das gilt in einem grundsätzlichen Sinn. Zeit kann verstanden werden als<br />

149 Wolfgang Achtner / Stefan Kunz / Thomas Walter, D<strong>im</strong>ensionen der Zeit. Die Zeitstrukturen Gottes,<br />

der Welt und des Menschen, Darmstadt 1998.<br />

150 Achtner/Kunz/Walter 107.<br />

151 Zur Frage der Zeit in der Geschichtstheorie vgl. Hans-Jürgen Goertz, Umgang mit <strong>Geschichte</strong>. Eine<br />

Einführung in die Geschichtstheorie, Reinbek 1995, 168ff.<br />

152 Darauf weist insbesondere R. Koselleck hin: „Schon der Singular einer einzigen geschichtlichen Zeit,<br />

die sich von der meßbaren Naturzeit unterscheiden soll, läßt sich in Zweifel ziehen. Denn geschichtliche<br />

Zeit, wenn der Begriff einen eigenen Sinn hat, ist an soziale und politische Handlungseinheiten<br />

gebunden, an konkrete handelnde und leidende Menschen, an ihre Institutionen und Organisationen.<br />

Alle haben best<strong>im</strong>mte, ihnen innewohnende Vollzugsweisen mit je eigenem zeitlichen Rhythmus.<br />

Man denke nur, um in der Alltagswelt zu bleiben, an die verschiedenen Festkalender, die das gesellschaftliche<br />

Leben gliedern, an den Wechsel der Arbeitszeiten und ihrer Dauer, die die Abfolge des<br />

Lebens best<strong>im</strong>mt haben und täglich best<strong>im</strong>men.“ Koselleck geht deshalb davon aus, „nicht von einer<br />

geschichtlichen Zeit zu sprechen, sondern von vielen, sich einander überlagernden Zeiten“. Reinhard<br />

Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1992 2 , 10. Auf<br />

die Relativität der Zeit weist auch Manfred Riedel, Historischer, metaphysischer und transzendentaler<br />

Zeitbegriff. Zum Verhältnis von <strong>Geschichte</strong> und Chronologie <strong>im</strong> 18. Jahrhundert, in:<br />

Reinhard Koselleck (Hg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977, 300–316, hin,<br />

wenn er schreibt: „Die historische Zeit ist die erfahrene Zeit eines geschichtlichen „Wir“ in einer best<strong>im</strong>mten<br />

geschichtlichen Situation, die <strong>im</strong>mer schon zeitlich vorverstanden und in Zeitbegriffen ausgelegt<br />

oder interpretiert wird“ (304). Implizit ist damit <strong>im</strong> theologischen Sprachspiel auch ausgesagt,<br />

daß wir Zeit als mit der Schöpfung geschaffen verstehen. Inwiefern damit die Rede von einer Zeit<br />

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