Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

02.12.2012 Aufrufe

2.3.4 Vernetzung der Zeiten Im Zusammenhang verschiedener Zeitmodelle ist auf das veränderte Verständnis von Zeit in den modernen Naturwissenschaften hinzuweisen. Seit Newton bemühte sich die Physik ja, zu einem zeitlosen Verständnis von Realität zu gelangen. Ilya Prigogine stellt fest, daß die Entwicklung der Naturwissenschaften im Gefolge Newtons zu einer Aufspaltung der Welt geführt hat. Zum einen stehen sich die „Faszination des Universalen“ und die „Wissenschaft vom Komplexen“ 130 gegenüber, zum andern das statische, reversible Weltbild der Dynamik und das irreversible, biologische Weltbild der Evolution. Er macht es zu seinem Programm, die Weltbilder von Philosophie und Naturwissenschaft miteinander zu vereinbaren. 131 Prigogine geht von dem Problem aus, daß es in den Wissenschaften drei verschiedene Zeitbegriffe gibt. Der eine ist der Zeitbegriff der Dynamik, der Zeit als Bewegung versteht, der andere der Zeitbegriff der Thermodynamik, der mit Irreversibilität verknüpft ist, und der dritte der Begriff von Zeit als Geschichte, wie ihn Biologie und Soziologie verstehen. Prigogine kommt es auf die Verbindung dieser verschiedenen Begriffe von Zeit an. 132 Ausgangspunkt ist für ihn das Ende der „Einfachheit“ im Bereich des Mikroskopischen. Evolution und Irreversibilität, so zeigt er, spielen eine fundamentale Rolle in der physikalischen Welt. Er will dabei die verschiedenen Ebenen physikalischer Betrachtung klar definieren und Bedingungen angeben, die es gestatten, von einer Ebene zur anderen überzugehen. Grundsätzlich lassen sich zwei Bereiche, der Makroskopische und der Mikroskopische unterscheiden. Beide sind nicht voneinander getrennt, sondern aufeinander bezogen. Die Art der Beziehung muß darstellbar sein. Mit makroskopischen Strukturen oder Systemen war der Begriff der Zeit als Bewegung verbunden. „Lebende Systeme haben … einen Sinn für die Zeitrichtung.“ 133 Die Theorie von den dissipativen Strukturen zeigt, daß diese Richtung der Zeit in den Grundlagen von Physik und Chemie verankert ist. Neben der linearen Zeit gibt es eine „zweite Zeit“, die nicht bloßer Parameter, sondern „so etwas wie ein Operator in der Quantenmechanik“ ist. 134 Wenn tur); Gernot Böhme, Zeit und Zahl. Studien zur Zeittheorie bei Platon, Aristoteles, Leibniz und Kant, Frankfurt/M. 1974; E.W. Orth (Hg.), Zeit und Zeitlichkeit bei Husserl und Heidegger, Freiburg 1982; ders. (Hg.), Studien zum Zeitproblem in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Freiburg 1982; Michael Theunissen, Negative Theologie der Zeit, Frankfurt/M. 1991; Enno Rudolph und Heinz Wissmann (Hg.), Sagen, was die Zeit ist. Analysen zur Zeitlichkeit der Sprache, Stuttgart 1992; Paul Burger, Die Einheit der Zeit und die Vielheit der Zeiten. Zur Aktualität des Zeiträtsels, Würzburg 1993; Marie-Luise von Franz, Zeit. Strömen und Stille, München 1992; Günther, Horst, Zeit der Geschichte. Welterfahrung und Zeitkategorien in der Geschichtsphilosophie, Frankfurt/M. 1993; Hans Michael Baumgartner (Hg.), Das Rätsel der Zeit. Philosophische Analysen, Freiburg/München 1993; Klaus Mainzer, Zeit. Von der Urzeit zur Computerzeit, München 1995. 130 So die Überschriften von Teil I und II des Buches von Ilya Prigogine, Isabelle Stengers, Dialog mit der Natur. Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens, München/Zürich 1986 5 (Prigogine/Stengers). 131 Vgl. dazu auch Ulrich Lüke, „Als Anfang schuf Gott …“ Bio-Theologie. Zeit, Evolution, Hominisation, Paderborn 1997. 132 Es übersteigt meine mathematischen und physikalischen Kenntnisse, die einzelnen Argumentationsschritte dieser Verbindung hier nachzuzeichnen. Ich beschränke mich daher auf die Voraussetzungen und die Ergebnisse. 133 Ilya Prigogine, Vom Sein zum Werden. Zeit und Komplexität in den Naturwissenschaften, München/Zürich 1985 4 , 16. Zur Diskussion vgl. Günter Altner (Hg.), Die Welt als offenes System. Eine Kontroverse um das Werk von Prigogine, Frankfurt/M. 1986. 134 Prigogine, Vom Sein zum Werden 16. Vgl. auch Prigogine/Stengers 259ff. 62

die westliche Zivilisation zeitorientiert ist, dann „mußte die ‚zeitlose‘ Konzeption der klassischen Physik mit den metaphysischen Konzeptionen des Abendlandes zusammenstoßen“. 135 Diesen Gegensatz versucht Prigogine zu überwinden, indem er von der empirisch erfahrbaren Zeitgerichtetheit biologischer Prozesse ausgeht und auf der Theorieebene den Zweiten Thermodynamischen Hauptsatz (das Gesetz der Entropiezunahme) als „grundlegendes Postulat“ einführt. 136 Damit wird erreicht, daß „die Zeit als irreversible Größe“ in Verbindung mit dem Evolutionsparadigma den Menschen nicht mehr von der übrigen Naturbeschreibung trennt. 137 Ausgangspunkt der Argumentation ist also die klassische Dynamik. Diese geht vom symmetrischen Charakter von Zuständen aus. Nach Prigogine tritt sowohl in der klassischen als auch in der quantentheoretischen oder relativistischen Dynamik „die Zeit nur als ein äußerer Parameter auf, der keine bevorzugte Richtung aufweist“ 138 . Mit der Entwicklung der Thermodynamik wird aber eine physikalische Größe eingeführt, nämlich die Entropie, „welche die Zeit mit einer bevorzugten Richtung ausstattet, mit dem ‚Zeitpfeil‘“ 139 . Der Gewinn der Arbeit Prigogines besteht darin, daß die lebensweltlich erfahrene gerichtete Zeit nicht im Widerspruch zur physikalischen Zeit stehen muß, sondern ein einheitlicher, differenzierter Zeitbegriff möglich wird. Darüber hinaus kann die Einführung einer „inneren Zeit“ als Operator mit der Vorstellung einer Eigenzeit, die aus der Zeitlichkeit als hartem Kern der Zeit (Heidegger) abgeleitet werden kann, verbunden werden. A.M.K. Müller geht über die Fragestellung Prigogines hinaus, indem er danach fragt, wie sich auch die nicht dem objektivierbaren (physikalischen) Wissen unterworfene Wirklichkeit in der Zeit vorfindet. 140 Er geht dabei von der Zeitphilosophie Georg Pichts 141 aus. Als drei zentrale Aspekte dieser Zeitphilosophie nennt Müller: „1. Die Zeit ist selbst das Sein. 2. Alles, was ist, ist in der Zeit. Alles, was gewesen ist, ist in der Zeit gewesen. Alles, was sein wird, wird in der Zeit sein. 3. Wir erfahren die Zeit in den Verschränkungen ihrer Modi.“ 142 Aus diesen Aspekten ergeben sich zum einen die grundsätzlichen Modi Vergangenheit (V), Gegenwart (G) und Zukunft (Z), die selbst wieder nur in der Zeit erscheinen. Damit gelangt man zu einer Matrix von zweistelligen Zeitmodiverschränkungen, die man weiter auf sich selbst iterieren kann und somit zu dreistelligen Verschränkungen kommt. 135 Prigogine, Vom Sein zum Werden 17. 136 Prigogine, Vom Sein zum Werden 22. 137 138 139 Prigogine, Vom Sein zum Werden 24. Prigogine, Vom Sein zum Werden 225. Prigogine, Vom Sein zum Werden 226. 140 141 Müller, Das unbekannte Land 210ff. Georg Picht, Hier und Jetzt – Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima, Bd. 1, Stuttgart 1980; Bd. 2 1981. 142 Müller, Das unbekannte Land 210. 63

die westliche Zivilisation zeitorientiert ist, dann „mußte die ‚zeitlose‘ Konzeption der<br />

klassischen Physik mit den metaphysischen Konzeptionen des Abendlandes zusammenstoßen“.<br />

135 Diesen Gegensatz versucht Prigogine zu überwinden, indem er von der empirisch<br />

erfahrbaren Zeitgerichtetheit biologischer Prozesse ausgeht und auf der Theorieebene<br />

den Zweiten Thermodynamischen Hauptsatz (das Gesetz der Entropiezunahme)<br />

als „grundlegendes Postulat“ einführt. 136 Damit wird erreicht, daß „die Zeit als<br />

irreversible Größe“ in Verbindung mit dem Evolutionsparadigma den Menschen nicht<br />

mehr von der übrigen Naturbeschreibung trennt. 137<br />

Ausgangspunkt der Argumentation ist also die klassische Dynamik. Diese geht vom<br />

symmetrischen Charakter von Zuständen aus. Nach Prigogine tritt sowohl in der klassischen<br />

als auch in der quantentheoretischen oder relativistischen Dynamik „die Zeit nur<br />

als ein äußerer Parameter auf, der keine bevorzugte Richtung aufweist“ 138 . Mit der Entwicklung<br />

der Thermodynamik wird aber eine physikalische Größe eingeführt, nämlich<br />

die Entropie, „welche die Zeit mit einer bevorzugten Richtung ausstattet, mit dem<br />

‚Zeitpfeil‘“ 139 .<br />

Der Gewinn der Arbeit Prigogines besteht darin, daß die lebensweltlich erfahrene gerichtete<br />

Zeit nicht <strong>im</strong> Widerspruch zur physikalischen Zeit stehen muß, sondern ein einheitlicher,<br />

differenzierter Zeitbegriff möglich wird. Darüber hinaus kann die Einführung<br />

einer „inneren Zeit“ als Operator mit der Vorstellung einer Eigenzeit, die aus der Zeitlichkeit<br />

als hartem Kern der Zeit (Heidegger) abgeleitet werden kann, verbunden werden.<br />

A.M.K. Müller geht über die Fragestellung Prigogines hinaus, indem er danach fragt,<br />

wie sich auch die nicht dem objektivierbaren (physikalischen) Wissen unterworfene<br />

Wirklichkeit in der Zeit vorfindet. 140 Er geht dabei von der Zeitphilosophie Georg<br />

Pichts 141 aus. Als drei zentrale Aspekte dieser Zeitphilosophie nennt Müller: „1. Die<br />

Zeit ist selbst das Sein. 2. Alles, was ist, ist in der Zeit. Alles, was gewesen ist, ist in der<br />

Zeit gewesen. Alles, was sein wird, wird in der Zeit sein. 3. Wir erfahren die Zeit in den<br />

Verschränkungen ihrer Modi.“ 142 Aus diesen Aspekten ergeben sich zum einen die<br />

grundsätzlichen Modi Vergangenheit (V), Gegenwart (G) und Zukunft (Z), die selbst<br />

wieder nur in der Zeit erscheinen. Damit gelangt man zu einer Matrix von zweistelligen<br />

Zeitmodiverschränkungen, die man weiter auf sich selbst iterieren kann und somit zu<br />

dreistelligen Verschränkungen kommt.<br />

135<br />

Prigogine, Vom Sein zum Werden 17.<br />

136<br />

Prigogine, Vom Sein zum Werden 22.<br />

137<br />

138<br />

139<br />

Prigogine, Vom Sein zum Werden 24.<br />

Prigogine, Vom Sein zum Werden 225.<br />

Prigogine, Vom Sein zum Werden 226.<br />

140<br />

141<br />

Müller, Das unbekannte Land 210ff.<br />

Georg Picht, Hier und Jetzt – Philosophieren nach Auschwitz und Hirosh<strong>im</strong>a, Bd. 1, Stuttgart 1980;<br />

Bd. 2 1981.<br />

142<br />

Müller, Das unbekannte Land 210.<br />

63

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!