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Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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konstituiert wird, ihre Darstellung aber durch die A-Reihe getragen wird. Die grundlegende<br />

B-Reihe wird durch die A-Reihe erst wahrgenommen. Beide Reihen sind linear<br />

verfaßt.<br />

Die moderne Linearisierung auf ein „Vorher-Nachher-Verhältnis“ stellt aber auch eine<br />

Reduktion der Zeit und des Verständnisses von <strong>Geschichte</strong> dar. <strong>Geschichte</strong> wird dabei<br />

wahrgenommen als Differenz von Gegenwart und Zukunft, von Gegenwart und<br />

Vergangenheit und Zukunft und Vergangenheit. Solche Eind<strong>im</strong>ensionalität wird der geschichtlichen<br />

Erfahrung nicht gerecht. Denn <strong>Geschichte</strong> ist nicht nur ein einliniger Prozeß.<br />

Das Verständnis von Zeit als einlinigem Fortschreiten war mit eine Ursache für die<br />

sich beschleunigenden Prozesse der Neuzeit, die zu der vielfach beschriebenen Krise der<br />

Moderne geführt haben. 125 Die Orientierung an der Zukunft war die treibende Kraft für<br />

die mit der technischen Entwicklung anwachsende Fähigkeit des Menschen, die ihn umgebende<br />

Welt zu gestalten. Die Technik selbst gründete sich in ihrer Methode auf einen<br />

einfachen Ursache-Wirkung-Zusammenhang, dem ein ebenso einfacher Mittel-Zweck-<br />

Zusammenhang korrespondiert; das eine basiert auf dem Modell der Newtonschen Physik,<br />

dem Weltbild der Dynamik, das andere auf dem neuzeitlichen Weltbild der Aufklärung<br />

und des Fortschritts; beides ist einem linearen Zeitpfeil verpflichtet. Außer Acht<br />

bleiben bei solchem unilinearen Denken und methodischem Weltzugang der instrumentellen<br />

Vernunft die sogenannten Nebenfolgen. 126 Eine Wurzel dieser Entwicklung<br />

liegt sicher in der eschatologisch-apokalyptischen Tradition des Christentums, aus der<br />

heraus sich die Einstellung entwickelte, die Zeit bis zu ihrem Ende zu nutzen. Dabei<br />

wurde der „Zeitnutzungs<strong>im</strong>perativ“ 127 früher apokalyptisch und nun zivilisationskritisch<br />

verwendet. Galt es früher, die knapper werdende Zeit bis zum Ende zu nutzen, so gilt es<br />

heute, sich der knapper werdenden Zeit zu entziehen. Die moderne Zivilisation wird als<br />

eine Zivilisation der Zeitenteignung kritisiert.<br />

Eine Reaktion auf die Folgen dieses linearen Zeitverständnisses ist die Rückkehr, die<br />

erneute Hinwendung zu einem zyklischen Verständnis von Zeit, in der Aufnahme mystischer<br />

und religiöser Aspekte fernöstlicher Provenienz. 128 Zum anderen wurden Untersuchungen<br />

zu einem Modell vernetzter Zeit angestellt. 129<br />

tion, nämlich das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit zu klären und die „Fülle der Zeit“ <strong>im</strong> „Augen–<br />

blick“ zu retten, läßt sich auch ohne weitere Verkomplizierung der Zeitstrukturen erreichen. Letztlich<br />

ist Deusers C-Zeit keine Zeitreihe, sondern drückt eine besondere Qualität der Gegenwart in der A-<br />

Reihe aus. Vgl. dazu unten zur Offenheit und Geschichtlichkeit der Zeit und zum Verhältnis von Zeit<br />

und Subjekt (Erfahrung).<br />

125 Eine Analyse dieser Krise unter dem Aspekt der Freiheitsthematik findet sich bei Joach<strong>im</strong> Track,<br />

Menschliche Freiheit – Zur ökologischen Problematik der neuzeitlichen Entwicklung, in: J. Moltmann<br />

(Hg.), Versöhnung mit der Natur?, München 1986, 48–93.<br />

126 A.M.K. Müller spricht in diesem Zusammenhang von der „präparierten Zeit“.<br />

127 Vgl. Hermann Lübbe, Im Zug der Zeit, Berlin 1992, 329ff.<br />

128 Manfred Sommer, Lebenswelt und Zeitbewußtsein, Frankfurt/M. 1990, 114, weist darauf hin, daß<br />

sich mystische Religiosität in zwei Typen ausprägen kann, der quietistische Typ regressiv-introvertiert<br />

als Weltflucht, der destruktive Typ aggressiv-exaltiert als Weltzerstörung. Übertragen auf das<br />

Verständnis von und das Handeln in der Zeit wird damit einer <strong>Geschichte</strong> keine Chance gegeben.<br />

129 Zu nennen wären hier unter anderem A.M.K. Müller, Die präparierte Zeit, Stuttgart 1972; R. Koselleck,<br />

<strong>Geschichte</strong>, <strong>Geschichte</strong>n und formale Zeitstrukturen, in: Reinhard Koselleck und Wolf-Dieter<br />

Stempel (Hg.), <strong>Geschichte</strong> – Ereignis und Erzählung, Poetik und Hermeneutik 5, München 1973 (PH<br />

5), 211–222. Die Konjunktur des Zeitdenkens zeigt sich an einer Vielzahl wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher<br />

Titel aus jüngerer Zeit. Ich nenne nur exemplarisch Stephen Hawking, Eine<br />

kurze <strong>Geschichte</strong> der Zeit 1988; James T. Fraser, Die Zeit. Vertraut und fremd, Basel 1988 (Litera-<br />

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