Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau
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einzubegeben und sie anzunehmen. Ein Ausbrechen aus dem geschlossenen Zeitlauf ist<br />
kaum möglich, 116 und wenn, dann nur zu großen persönlichen und sozialen Preisen. Die<br />
Reflexion auf Zeitlichkeit gelangt demgegenüber zu einer Differenzierung der Zeit.<br />
2.3.3 Lineares Zeitmodell<br />
Bezugspunkt für das lineare Zeitmodell und die in ihm ermöglichten Erfahrungen ist<br />
<strong>im</strong>mer wieder die Erörterung, die Augustin <strong>im</strong> XI. Kapitel seiner „Confessiones“ geboten<br />
hat. 117 Augustin geht dabei davon aus, daß das Bewußtsein als memoria die Zeiterfahrung<br />
konstituiert und daß der Mensch ein zeitliches Wesen <strong>im</strong> Gegenüber zu einer<br />
ewigen Wahrheit ist. Wichtig ist dabei, daß die D<strong>im</strong>ension der Zeitlichkeit vom Kosmos<br />
in die Innerlichkeit des Menschen überführt wird, also zu etwas Subjektivem wird. Betrachtet<br />
man die Zeit nämlich objektiv, so zerfällt sie in einzelne, getrennte Zeitpunkte.<br />
Denn das Vergangene ist nicht mehr, das Zukünftige noch nicht, und die Gegenwart reduziert<br />
sich auf den winzigen Punkt des Übergangs von Vergangenheit zur Zukunft.<br />
Trotzdem gibt es für Menschen die Erfahrung von Dauer, besitzen Menschen Zeitmaßstäbe.<br />
118 Daß dies möglich ist, setzt be<strong>im</strong> Menschen die Fähigkeit des Bewußtseins voraus,<br />
die flüchtigen Spuren des Sinneseindrucks <strong>im</strong> Gedächtnis zu bewahren und ihnen<br />
Dauer zu verleihen. Augustin spricht hier von Bildern, deren Art der Vergegenwärtigung<br />
die drei Zeitd<strong>im</strong>ensionen kennzeichnet. Es gibt die Gegenwart von Vergangenem,<br />
nämlich Erinnerung; die Gegenwart von Gegenwärtigem, nämlich Augenschein; die<br />
Gegenwart von Künftigem, nämlich Erwartung. 119 Gegenwärtig in strengem Sinn ist<br />
daher nur das Gegenwartserlebnis; Vergangenheit und Zukunft sind <strong>im</strong> eigentlichen<br />
Sinn nicht, sie sind nur als vergegenwärtigte. An den Rändern der vergegenwärtigenden<br />
Ausdehnung in Vergangenheit und Zukunft verschwinden deren Bilder zunehmend <strong>im</strong><br />
Dunkel. Da die Zeitd<strong>im</strong>ensionen also durch den Geist des Menschen hervorgebracht<br />
werden, ist das Innere des Menschen zersplittert in ständige Erwartung, Vollzug und<br />
Erinnerung. Diese Erfahrung der Zeitlichkeit verweist den Menschen nach Augustin auf<br />
das Unvergängliche. In der Sammlung auf den ewigen Gott hin erweist sich der Mensch<br />
als teilhaftig der Ewigkeit.<br />
116 Vgl. dazu die Ausführungen Mbitis über Tod und Unsterblichkeit a.a.O. 32ff und 187ff.<br />
117 Um nur eine zentrale Stelle zu zitieren: „Weder das Zukünftige ist noch das Vergangene, und man<br />
kann auch von Rechts wegen nicht sagen, es gebe drei Zeiten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.<br />
Vielleicht sollte man richtiger sagen: es gibt drei Zeiten, Gegenwart des Vergangenen, Gegenwart<br />
des Gegenwärtigen und Gegenwart des Zukünftigen. Denn diese drei sind in der Seele, und anderswo<br />
sehe ich sie nicht. Gegenwart des Vergangenen ist die Erinnerung, Gegenwart des Gegenwärtigen<br />
die Anschauung, Gegenwart des Zukünftigen die Erwartung.“ Aurelius Augustinus,<br />
Bekenntnisse Buch 11, zitiert nach der Übertragung von Wilhelm Th<strong>im</strong>me, München 1986 4 , 318.<br />
Vgl. die ausführliche Erörterung der Zeitlehre Augustins bei Manzke, Ewigkeit 259–365 sowie Kersting,<br />
Selbstbewußtsein, bes. 58f, 70ff. Vgl. auch Kurt Flasch, Was ist Zeit? Augustinus von Hippo.<br />
Das XI. Buch der Confessiones. Historisch–philosophische Studie. Text – Übersetzung –<br />
Kommentar, Frankfurt/M. 1993.<br />
118 Über die Entstehung der christlichen Zeitrechnung und ihre <strong>Geschichte</strong> informiert Hans Maier, Die<br />
christliche Zeitrechnung, Freiburg/Breisgau 1991.<br />
119 Dieses Schema hat eine lange Wirkungsgeschichte. Unter anderem ist es reformuliert und in Aufnahme<br />
der jüngeren Diskussion differenziert worden von Jürgen Moltmann, Verschränkte Zeiten der<br />
<strong>Geschichte</strong>, in: EvTh 44/1984, 213–227; vermutlich durch ein Druckversehen wird dort (217) als<br />
Belegstelle Lib. IX der Confessiones angegeben.<br />
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