Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau
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Zugleich bleiben aber noch Fragen offen. Wie ist Zeit über die erkenntnistheoretischen,<br />
anthropologischen und ontologischen Implikationen ihres Begriffes hinaus vorstellbar?<br />
Dazu werde ich mich <strong>im</strong> Folgenden mit verschiedenen Zeitmodellen befassen. Weiter<br />
stellt sich die Frage, wie Zeit sich realisiert. Die Bedeutung der Sprache zur Konstruktion<br />
von Zeit ist bereits angedeutet worden und wird unten <strong>im</strong> Kapitel über Sprache und<br />
<strong>Geschichte</strong> weiter verfolgt werden. Daß Zeit auch als Handlungszeit verstanden werden<br />
kann, als Bedingung der Möglichkeit von Verhalten überhaupt, wird <strong>im</strong> Kapitel über<br />
Handlung und <strong>Geschichte</strong> zu thematisieren sein. Zunächst aber zu den verschiedenen<br />
Zeitmodellen.<br />
2.3 Zeitmodelle<br />
2.3.1 Einleitung<br />
Um sachgemäß über die Zeit sprechen zu können, bedarf es einiger Unterscheidungen<br />
hinsichtlich der Zeitstrukturen über die vorigen Überlegungen hinaus. Eine erste grundlegende<br />
Unterscheidung <strong>im</strong> Blick auf die Zeit ist die zwischen linearer und zyklischer<br />
Zeitvorstellung. Beide sind bereits in der griechischen Philosophie zu finden. 110<br />
2.3.2 Zyklisches Zeitmodell<br />
Zyklische Vorstellungen finden sich häufig in an<strong>im</strong>istischen bzw. von Stammesreligionen<br />
geprägten Weltanschauungen. Prägend sind dabei die Wahrnehmung von Werden<br />
und Vergehen, Geboren-werden und Sterben, die <strong>im</strong>mer wiederkehrenden Jahreszeiten,<br />
kurz zyklische Abläufe <strong>im</strong> Lauf der Zeit. Zeit wird dabei <strong>im</strong> großen und ganzen als<br />
110 Der Begriff „zyklisch“ darf hier nur als Hinweis auf eine Tendenz verstanden werden. Genauer<br />
müßte man unterscheiden zwischen Chronos, der <strong>im</strong>mer weiterlaufenden Zeit, und dem Kairos, der<br />
erfüllten Zeit. Ebenso müßte unterschieden werden hinsichtlich der philosophischen Begründungszusammenhänge<br />
<strong>im</strong> Blick auf die Zeit. Dabei läßt sich eine Grundkontroverse zwischen Heraklit, der<br />
<strong>im</strong> Fließen und beständigen Werden und Vergehen das Wesen der Wirklichkeit zu erkennen meinte,<br />
und Parmenides und Zeno feststellen, die das Sein und die Beständigkeit jenseits des zeitlichen Wandels<br />
für das Wesen der Wirklichkeit hielten. Plato versuchte mit seiner Unterscheidung zwischen Urbild<br />
und Abbild zu unterscheiden; die zeitliche Wirklichkeit stellte sich ihm dar als das „bewegte<br />
Bild“ der ewigen Formen (T<strong>im</strong>aios, 17). Aristoteles Begriff der Zeit als einer Zahl der Bewegung<br />
hinsichtlich eines „vorher“ und „nachher“, als einem Maß für die Veränderung, ist weithin best<strong>im</strong>mend<br />
geblieben (Physik, 219b). Vgl. auch Fraser, Zeit 40ff; Lyotard, Der Widerstreit, Aristotelesexkurs<br />
128ff und Michael von Brück, Zeitlichkeit und mystische Einheitserfahrung, in: EvTh<br />
49/1989, 142–160. W. Krewani, Zeit und Transzendenz. Zur frühen Philosophie von Emmanuel<br />
Lévinas, in: Parabel Bd. 12, Lévinas, Gießen 1990, 85–99, schreibt dazu: „Das Bewußtsein der Fesselung<br />
an das Sein findet seinen ersten dramatischen Ausdruck bei den Griechen, insbesondere in der<br />
griechischen Tragödie. Hier artikuliert der Grieche seine Ohnmacht gegenüber der Zeit. Zwar erlebt<br />
der Mensch des Alltags die Zeit als ständig erneuerte Gegenwart; für den tieferen Blick aber bewegt<br />
sich nichts, in Wahrheit bleibt die Vergangenheit gegenwärtig, die Zeit tritt auf der Stelle. Die Erfahrung<br />
der Geschichtlichkeit des Menschen – der Fesselung an die Vergangenheit – drückt sich aus<br />
<strong>im</strong> Bewußtsein der tragischen Verfassung des Lebens. Die <strong>Geschichte</strong> läßt den Menschen nicht los;<br />
sie ist vielmehr die unaufhörliche Wiederholung dessen, was einmal gewesen ist“ (86). Auch Karl<br />
Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart 1963 3 betont, daß die griechische Geschichtsschreibung<br />
bis hin zu Polybios auf dem Boden des zyklischen Zeitverständnisse bleibt (16).<br />
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