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Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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scheinen und das Erscheinende; das Identische muß sich trennen. Diese Trennung vollzieht<br />

sich als Zeit. „Die Manifestation kann unmöglich als ein Aufblitzen erfolgen, in<br />

dem die Totalität des Seins sich für die Totalität des Seins zeigt, denn dieses ‚sich zeigen<br />

für‘ deutet auf eine Phasenverschiebung, die nichts anderes ist als die Zeit, jener<br />

erstaunliche Abstand des Identischen zu sich selbst.“ 94 Die Zeit ist also „der Vorgang,<br />

durch den das Sein vor sich selbst erscheint“ 95 . Damit ergeben sich zwei Probleme. Zum<br />

einen, wie kann, da sich das Sein trennt in Erscheinen und Erscheinendes, ein Teil das<br />

Ganze darstellen? Darauf antwortet die Phänomenologie: Indem ein Teil das Ganze<br />

spiegelt. „Das sich in einem Teil spiegelnde Ganze ist Bild. Die Wahrheit würde sich<br />

also in den Bildern des Seins ereignen.“ 96 Zum anderen stellt sich die Frage, wie der<br />

Teil der Zeit zum Bild des Ganzen werden kann. Diese Frage kann mit dem retentionalen<br />

Charakter der Zeit beantwortet werden. 97 Damit ist die Zeit das Wesen des Seins nur<br />

<strong>im</strong> Sinne des Prozesses, oder anders ausgedrückt: „Das Sein ‚west‘ als Zeit.“ 98 Zeit ist<br />

also Bedingung der Möglichkeit und Modus des Erscheinens von Sein in einem.<br />

Lévinas versteht die Zeit als eine Relation mit konstitutiver Funktion für das Erscheinen<br />

und Verstehen von Sein sowie die Möglichkeit der Ethik. Indem er die Gegenwart als<br />

Ereignis an der Grenze von Sein und Seiendem herausarbeitet, präzisiert er den Ort, der<br />

der Zeit fundamentalontologisch zukommt. Zeit ist gewissermaßen zu verstehen als<br />

notwendige Bedingung der Möglichkeit des Erscheinens des Seins als Seiendem. Zeit<br />

hat darin eine ontologische Notwendigkeit, sie partizipiert am Sein. Andererseits wird<br />

Zeit erst durch den Vorgang des Erscheinens des Seins als Seiendem; das Erscheinen<br />

des Seins als Seiendem ist die Bedingung der Möglichkeit von Zeit. In dieser gegenseitigen<br />

Verschränkung von Sein und Zeit besteht die amphibologische Struktur der Zeit.<br />

Auch in seiner Analyse der Zeit als Bedingung und Modus des Erscheinens von Sein<br />

geht er über Heidegger hinaus. Während bei Heidegger Zeit als Sinn des Seins gewissermaßen<br />

noch starr und statisch erscheint, n<strong>im</strong>mt Lévinas den dynamischen Zug der<br />

Zeit deutlicher wahr. Durch seine relationale Ontologie gelingt es ihm, die amphibologische<br />

Struktur der Zeit herauszuarbeiten. Indem Zeit als Möglichkeitsbedingung des Seienden<br />

verstanden wird, wird auch die Möglichkeit der Gestaltung des Seienden, also<br />

geschichtliche Existenz eröffnet. Nur angedeutet bleibt freilich, wie man sich diese Gestaltung<br />

vorstellen kann. Der Verweis auf Ethik und Erotik ist dabei ein Aspekt, die Bedeutung<br />

der Sprache ein anderer. Den ersten Aspekt verfolge ich hier nicht weiter, weil<br />

er über die Absicht dieses Kapitels hinausführen wird. Den zweiten Aspekt nehme ich<br />

auf, indem ich mich Jean-François Lyotard zuwende.<br />

94 Lévinas, Jenseits des Seins 75.<br />

95 Krewani, Lévinas 204.<br />

96 Lévinas, Jenseits des Seins 76f.<br />

97 „Reell <strong>im</strong> Sinne Husserls ist nur die Ur<strong>im</strong>pression, die unmittelbare Gegenwart. Aber diese unmittelbare<br />

Gegenwart kann nicht erscheinen. Sie kann erst erscheinen, wenn sie min<strong>im</strong>al vergangen ist,<br />

wenn eine neue Gegenwart eingetreten ist, zu der die erste einen min<strong>im</strong>alen Abstand hat. Dann ist die<br />

neue unmittelbare Gegenwart die Erscheinung oder das Bild der vergangenen; die vergangene wird<br />

<strong>im</strong> Bild festgehalten. Da die vergangene ihrerseits Bild war, setzt sich der Bildzusammenhang endlos<br />

fort und bildet schließlich das, was in der Phänomenologie Horizont heißt. Der Horizont ist das<br />

Ganze des Seienden. Alles Seiende ist nur Seiendes <strong>im</strong> Horizont, das meint: Es wird durch das Ganze<br />

best<strong>im</strong>mt, von dem es ein Moment ist und das sich in ihm abbildet. Der Horizont als das Ganze beruht<br />

aber allein auf dem bildenden oder repräsentativen Charakter der Zeit.“ Krewani, Lévinas 205.<br />

98 Krewani, Lévinas 206.<br />

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