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Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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lich als der wechselseitige Umschlag von Ruhe und Bewegung.“ 86 Lévinas geht aber<br />

noch weiter, und zeigt, daß auch die Sprache dieser amphibologischen Struktur unterliegt.<br />

In der Rekonstruktion Krewanis heißt das, daß die Ontologie „die Darstellung des<br />

amphibologischen Charakters des Seins in den Gestalten der Zeit und der Sprache“ ist. 87<br />

Sind nun Zeit und Sprache als Gestalten des Seins festgestellt, so gilt es, daß Verhältnis<br />

von Zeit und Sprache zu klären. Dabei folgt Lévinas zwei unterschiedlichen Wegen.<br />

Zum einen versucht er in der Phase vor „Jenseits des Seins“ 88 , von der Sprache zu der<br />

ihr zugrundeliegenden Zeit vorzudringen; dabei folgt er vor allem Husserl. In „Jenseits<br />

des Seins“ verfolgt er den umgekehrten Weg von der Zeit zur Sprache und folgt darin<br />

Heidegger. 89 Auf dem ersten Weg geht Lévinas davon aus, daß die Konstruktion der<br />

Welt durch das intentionale Bewußtsein sich als Sprache vollzieht. Die Empfindung als<br />

Abschattung der Gegenstände wird dabei „als“ etwas gedeutet. In ihrer Unmittelbarkeit<br />

würde die Empfindung mit dem Jetzt zusammenfallen. Um aber nicht nur Geschehen<br />

des Bewußtseins, sondern Bewußtsein von Geschehen zu sein, muß das Jetzt einen min<strong>im</strong>alen<br />

Abstand zu sich haben, der die Empfindung möglich macht. „Die Gegenwart<br />

des Bewußtseins muß Bewußtsein der Gegenwart werden.“ 90 Dies ist nur möglich, wenn<br />

der Augenblick bereits Vergangenheit geworden ist. Lévinas redet hier von einer Ur<strong>im</strong>pression,<br />

die auf einer absoluten Präsenz beruht, die freilich keine Präsenz für das Bewußtsein<br />

ist, und der Präsentation dieser Präsenz, in der die absolute Präsenz schon vergangen<br />

ist. Diese Präsentation der Präsenz ist <strong>im</strong> strengen Sinn eine Repräsentation,<br />

oder in der Sprache Husserls, eine Retention. Diese Struktur läßt sich nun ins Unendliche<br />

ausweiten. Der gegenwärtige Augenblick wird zur Abschattung des Vergangenen,<br />

der in ihm erscheint wie der Gegenstand in der Empfindung. Diese Struktur gilt sowohl<br />

<strong>im</strong> Blick auf die Retention als auch <strong>im</strong> Blick auf die Protention. „In der Gegenwart ist<br />

die ganze Zeit abschattungsweise gegenwärtig, aber in einer stillen Bewegung, die das<br />

beständige Fortschreiten der Gegenwart ist und damit das beständige Vorrücken der<br />

ganzen Zeit.“ 91 Von der vergehenden Gegenwart aus erschließen sich also Vergangenheit<br />

und Zukunft.<br />

In „Jenseits des Seins“ geht Lévinas den Weg von der Zeit zur Sprache zum Sein. 92 Das<br />

Sein stellt sich <strong>im</strong> Subjekt oder <strong>im</strong> Bewußtsein dar. Das Verstehen macht das Sein des<br />

Bewußtseins aus. „Die Seele lebte allein für die Enthüllung des Seins, durch das sie entsteht<br />

oder hervorgerufen wird, sie wäre ein Moment <strong>im</strong> Leben des Geistes, das heißt der<br />

Seinstotalität, die nichts außerhalb ihrer läßt, Selbes, das sich zu Selbem gesellt.“ 93 Damit<br />

das Sein aber vor sich selbst erscheinen kann, muß es auseinandertreten in das Er-<br />

86 Krewani, Lévinas 189. In diesem Zusammenhang zeigt Krewani, daß Amphibologie der zentrale<br />

Begriff der Ontologie Lévinas’ ist. Der Begriff der Amphibologie bezieht sich auf die drei D<strong>im</strong>ensionen<br />

von Sein, Zeit und Sprache. Sein, Zeit und Sprache gehören in die Ontologie. Vgl. ebd. 190.<br />

87 Krewani, Lévinas 191.<br />

88 Es geht hier vor allem um „Die Zeit und der Andere“ und „Totalität und Unendlichkeit“.<br />

89 Ich folge hier <strong>im</strong> wesentlichen der Rekonstruktion und Darstellung von Krewani, Lévinas 191ff.<br />

90 Krewani, Lévinas 199. Damit wird das gleiche Problem angezeigt, von dem schon Kersting <strong>im</strong> Blick<br />

auf empiristische Zeittheorien gesprochen hat (s.o. Anm. 21).<br />

91 Krewani, Lévinas 200.<br />

92 Es kann in unserem Zusammenhang nicht darum gehen, auf das Hauptinteresse Lévinas’ einzugehen,<br />

nämlich auf die ontologische Grundbedingung des Anderen und deren Implikationen zu reflektieren.<br />

Ich möchte nur darauf abheben, was Lévinas in „Jenseits des Seins“ zur Zeitstruktur zu sagen hat.<br />

Auf die Sprachstruktur gehe ich <strong>im</strong> Kapitel über Sprache und <strong>Geschichte</strong> (1.6) ein.<br />

93 Lévinas, Jenseits des Seins 75.<br />

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