Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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02.12.2012 Aufrufe

Sein ist für Lévinas kein „leerer Begriff“, sondern hat seine „eigene Dialektik“ (17). 77 Sein heißt, „sich durch das Existieren zu isolieren“ (20). Lévinas geht hinsichtlich der Differenz von Sein und Seiendem davon aus, daß es ein Sein ohne Seiendes gibt, dieses aber nicht „ist“ wie Seiendes „ist“. „Dieses Sein kann nicht schlicht und einfach behauptet werden, weil man immer nur ein Seiendes behauptet“ (23). Nach der Vernichtung aller Dinge bleibt nach Lévinas nicht reines Nichts, sondern „die Tatsache des Esgibt“ (22). Wie verhalten sich nun Sein, Seiendes und das Es-gibt? Das Seiende, das erscheint, ist Herr über das Sein, da es das Sein als Attribut trägt, „es ist Herr dieses Seins, wie das Subjekt Herr des Attributs ist“ (26). Das Existierende als erscheinendes Seiendes übernimmt sein Existieren durch die „Hypostase“ (21). Die Hypostase ereignet sich am Ort des Seins ohne Seiendes, das Lévinas das „Es-gibt“ nennt (25). Am Ort des „Es-gibt“, am Ort des Seins ohne Seiendes ereignet sich also die Hypostase, die Übernahme der Existenz durch das Existierende. In diese Ontologie zeichnet Lévinas die Zeit ein, indem er das Ereignis der Hypostase als die Gegenwart bezeichnet (27). Gegenwart existiert nicht, sondern ist ein Ereignis; „sie ist (…) ein Ereignis des Existierens, durch das etwas dazu gelangt, von sich auszugehen“ (27). Für Lévinas ist es wesentlich, „die Gegenwart an der Grenze zwischen dem Sein und dem Seienden zu erfassen, wo sie, als Funktion des Seins, sich schon ins Seiende wendet“ (27). Die Form der Beziehung, an der dieses Verständnis von Zeit aufscheint, ist die erotische. Erotik und Sprache sind für Lévinas die zwei Verhältnisse zum Anderen. „Als Fruchtbarkeit stellt der Eros eine Beziehung zur Zukunft her, die zugleich meine Zukunft ist.“ 78 In der Erotik ist für Lévinas eine vorgegenständliche Beziehung zum Anderen gegeben, und in der erotischen Fruchtbarkeit eine passive Zeit, die von der dialektischen Zeit verschieden ist. „Die erotische Zeit war der Garant für eine Wirklichkeit des Subjekts über den Tod hinaus.“ 79 Das Empfangen und Weitergeben des Lebens ist eine Aufhebung der Endlichkeit des Subjekts; die Generativität eröffnet Zukunft. Man kann diesen Gedanken verstehen im Blick auf die Weitergabe des Lebens an die nächste Generation. Man kann ihn aber auch verstehen im Blick auf das ekstatische Element des erotischen Ereignisses, bei dessen Eintreten (Raum und) Zeit verblassen, indem allein die Gegenwart dieses Ereignisses präsent ist. Da aber Gegenwart immer am Vergehen ist, wäre nach Lévinas das Vergehen „die wesensmäßige Form des Anfangs“ (27). Wird der Tod in „Die Zeit und der Andere“ aus der Dialektik der Einsamkeit des Augenblicks abgeleitet, 80 so tritt er in und Zeit. Eine Einführung in Emmanuel Lévinas’ Philosophie, Den Haag 1978, bes. 219ff; Michael Mayer, Transzendenz und Geschichte – ein Versuch am Denken Lévinas, in: Mayer/Hentschel, Lévinas 223–254, bes. Anm. 2. 77 Die Seitenangaben im Text beziehen sich im Folgenden auf „Die Zeit und der andere“. Zur Sache vgl. Wolfgang Krewani, Zeit und Transzendenz. Zur frühen Philosophie von Emmanuel Lévinas, in: Mayer/Henschel, Lévinas 85–99, bes. 92ff. 78 Krewani, Lévinas 181. 79 Krewani, Lévinas 183. 80 Der Tod ist „nicht reines Nichts, sondern nicht zu übernehmendes Geheimnis und in diesem Sinne unvorhersehbare Möglichkeit des Ereignisses (…), das im Begriffe steht, in das Selbe der Immanenz einzubrechen, die Monotonie und das Tick-Tack der vereinsamten Augenblicke zu unterbrechen – unvorhersehbare Möglichkeit des ganz anderen, der Zukunft, Zeitlichkeit der Zeit, in der die Diachronie genau das Verhältnis zu dem bezeichnet, was absolut außerhalb bleibt“ (Die Zeit und der Andere 12). Vgl. Krewani, Lévinas 183. 50

„Totalität und Unendlichkeit“ 81 in Gestalt des Anderen an das Subjekt heran. Zugleich wird die Subjektivität durch den Anderen begründet. Das Verhältnis zum anderen ist aber nicht nur ein erotisches Verhältnis, sondern auch ein ethisches. 82 Wird das Subjektivität begründende Verhältnis zum Anderen nun weniger erotisch und mehr ethisch gefaßt, so muß die vorphänomenale Zeit auch als ethische Zeit verstanden werden. Auf der Suche nach einer vorphänomenalen Zeit 83 trägt die Erotik also die Last der Begründung, auch wenn das Gewicht von der Erotik, so in „Die Zeit und der Andere“, auf die Ethik, wie in „Totalität und Unendlichkeit“, verlagert wird. Die erotische Zeit bleibt dasjenige Element, das die Transzendenz trägt. An dieser Stelle läßt sich als erster Merkposten für unseren Zusammenhang festhalten, daß Lévinas hinter die phänomenale Zeit, die sich als intentional beschreiben läßt, zurückfragt nach einer transzendentalen Zeit. Beide Begriffe von Zeit sind relational bestimmt. Zeit setzt in ein Verhältnis, ist Bedingung der Möglichkeit, Verhältnisse einzugehen; die herausragenden Relationen sind für Lévinas die ethische und die erotische: die erotische Beziehung deshalb, weil in ihr durch die Fruchtbarkeit Zukunft eröffnet wird; die ethische Beziehung, weil in ihr Subjektivität ermöglicht wird. Subjektivität wird dabei verstanden als Ereignis des Unendlichen, das sich nur ethisch, in der Verantwortung gegenüber dem Anderen ereignet. Zum anderen legt Lévinas Wert auf die Bestimmung der Gegenwart als eines Ereignisses, in dem sich eine Beziehung zum anderen, auch zu mir selbst, erst realisiert. In seiner meta-ontologischen Phase 84 akzentuiert Lévinas seine Bestimmung der Zeit anders. Lévinas geht davon aus, daß wir das Sein nicht anders denn als Seiendes ansprechen können. Das Sein ist nur im Seienden oder als Seiendes zu fassen. Daß sich das Sein als solches entzieht, liegt darin, „daß das bloße Sein reine Bewegung, Strom, verfließende Zeit ist“ 85 . Wie ist es aber nun möglich, daß das Sein als Seiendes auftritt? Das liegt an der amphibologischen Struktur des Seins. Sein wird verstanden als der Prozeß, „der strömend sich selbst zur Einheit und zu Einheiten bildet. Wenn das Sein zeitlich ist, dann muß die amphibologische Struktur des Seins auch die Struktur der Zeit sein. Auch die Zeit vollzieht sich als die Amphibologie von Sein und Seiendem, näm- 81 Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg/München 1987 (frz. 1980). 82 Lévinas schließt nach „Totalität und Unendlichkeit“ die Erotik aus der Beziehung zum anderen zunehmend aus, und dies als Ergebnis einer radikaleren Fassung des Anderen, die sich von der Gegenseitigkeit der Beziehung zum Anderen ablöst; die Beziehung zum Anderen ist nun durch Passivität geprägt, Liebe wird als Verantwortung für den Anderen verstanden. Belege für diese Entwicklung bei Krewani 180ff. 83 Lévinas will, so Krewani 178 unter Bezugnahme auf „Totalität und Unendlichkeit“ (dort 364), auf das primäre Phänomen der Zeit zurückgehen. Dieses kann nicht eine Zeit sein, die auf das Vermögen des Subjektes zurückgeht, da sie durch die Endlichkeit des Subjekts begrenzt wird. Sie kann das ethische Verhältnis nicht tragen. „Der Verzicht des ethischen Subjekts auf das Können bedeutet das Ende der Intentionalität und der intentionalen Zeit“ (Krewani, Lévinas 178). Die andere Zeit, die das ethische Leben zu tragen vermag, ereignet sich als die Fruchtbarkeit des Subjekts. 84 Damit bezeichnet Krewani die Veränderungen, die sich in „Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht“ feststellen lassen. Emmanuel Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/München 1992 (frz. 1978). 85 Krewani, Lévinas 189. Er zitiert Lévinas (DEHH 76): „Die Zeit ist kein Seiendes, sondern das Sein.“ 51

„Totalität und Unendlichkeit“ 81 in Gestalt des Anderen an das Subjekt heran. Zugleich<br />

wird die Subjektivität durch den Anderen begründet. Das Verhältnis zum anderen ist<br />

aber nicht nur ein erotisches Verhältnis, sondern auch ein ethisches. 82 Wird das Subjektivität<br />

begründende Verhältnis zum Anderen nun weniger erotisch und mehr ethisch<br />

gefaßt, so muß die vorphänomenale Zeit auch als ethische Zeit verstanden werden. Auf<br />

der Suche nach einer vorphänomenalen Zeit 83 trägt die Erotik also die Last der Begründung,<br />

auch wenn das Gewicht von der Erotik, so in „Die Zeit und der Andere“, auf die<br />

Ethik, wie in „Totalität und Unendlichkeit“, verlagert wird. Die erotische Zeit bleibt<br />

dasjenige Element, das die Transzendenz trägt.<br />

An dieser Stelle läßt sich als erster Merkposten für unseren Zusammenhang festhalten,<br />

daß Lévinas hinter die phänomenale Zeit, die sich als intentional beschreiben läßt, zurückfragt<br />

nach einer transzendentalen Zeit. Beide Begriffe von Zeit sind relational best<strong>im</strong>mt.<br />

Zeit setzt in ein Verhältnis, ist Bedingung der Möglichkeit, Verhältnisse einzugehen;<br />

die herausragenden Relationen sind für Lévinas die ethische und die erotische:<br />

die erotische Beziehung deshalb, weil in ihr durch die Fruchtbarkeit Zukunft eröffnet<br />

wird; die ethische Beziehung, weil in ihr Subjektivität ermöglicht wird. Subjektivität<br />

wird dabei verstanden als Ereignis des Unendlichen, das sich nur ethisch, in der Verantwortung<br />

gegenüber dem Anderen ereignet. Zum anderen legt Lévinas Wert auf die<br />

Best<strong>im</strong>mung der Gegenwart als eines Ereignisses, in dem sich eine Beziehung zum anderen,<br />

auch zu mir selbst, erst realisiert.<br />

In seiner meta-ontologischen Phase 84 akzentuiert Lévinas seine Best<strong>im</strong>mung der Zeit<br />

anders. Lévinas geht davon aus, daß wir das Sein nicht anders denn als Seiendes ansprechen<br />

können. Das Sein ist nur <strong>im</strong> Seienden oder als Seiendes zu fassen. Daß sich das<br />

Sein als solches entzieht, liegt darin, „daß das bloße Sein reine Bewegung, Strom, verfließende<br />

Zeit ist“ 85 . Wie ist es aber nun möglich, daß das Sein als Seiendes auftritt?<br />

Das liegt an der amphibologischen Struktur des Seins. Sein wird verstanden als der Prozeß,<br />

„der strömend sich selbst zur Einheit und zu Einheiten bildet. Wenn das Sein zeitlich<br />

ist, dann muß die amphibologische Struktur des Seins auch die Struktur der Zeit<br />

sein. Auch die Zeit vollzieht sich als die Amphibologie von Sein und Seiendem, näm-<br />

81<br />

Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg/München<br />

1987 (frz. 1980).<br />

82<br />

Lévinas schließt nach „Totalität und Unendlichkeit“ die Erotik aus der Beziehung zum anderen zunehmend<br />

aus, und dies als Ergebnis einer radikaleren Fassung des Anderen, die sich von der Gegenseitigkeit<br />

der Beziehung zum Anderen ablöst; die Beziehung zum Anderen ist nun durch Passivität<br />

geprägt, Liebe wird als Verantwortung für den Anderen verstanden. Belege für diese Entwicklung bei<br />

Krewani 180ff.<br />

83<br />

Lévinas will, so Krewani 178 unter Bezugnahme auf „Totalität und Unendlichkeit“ (dort 364), auf<br />

das pr<strong>im</strong>äre Phänomen der Zeit zurückgehen. Dieses kann nicht eine Zeit sein, die auf das Vermögen<br />

des Subjektes zurückgeht, da sie durch die Endlichkeit des Subjekts begrenzt wird. Sie kann das ethische<br />

Verhältnis nicht tragen. „Der Verzicht des ethischen Subjekts auf das Können bedeutet das Ende<br />

der Intentionalität und der intentionalen Zeit“ (Krewani, Lévinas 178). Die andere Zeit, die das<br />

ethische Leben zu tragen vermag, ereignet sich als die Fruchtbarkeit des Subjekts.<br />

84<br />

Damit bezeichnet Krewani die Veränderungen, die sich in „Jenseits des Seins oder anders als Sein<br />

geschieht“ feststellen lassen. Emmanuel Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht,<br />

Freiburg/München 1992 (frz. 1978).<br />

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Krewani, Lévinas 189. Er zitiert Lévinas (DEHH 76): „Die Zeit ist kein Seiendes, sondern das Sein.“<br />

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