Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau
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der ursprünglichen und eigentlichen Zeitlichkeit einen Vorrang ein, weil diese Zeitlichkeit<br />
aus der eigentlichen Zukunft zeitigt, und zwar so, daß „sie zukünftig gewesen allererst<br />
die Gegenwart weckt. Das pr<strong>im</strong>äre Phänomen der ursprünglichen und eigentlichen<br />
Zeitlichkeit ist die Zukunft.“ 60 Da die Sorge das Sein zum Tode ist, das Dasein endlich<br />
existiert, enthüllt sich auch die eigentliche Zukunft, die die Zeitlichkeit zeitigt, als endliche.<br />
Damit aber ergibt sich, daß die unendliche Zeit des vulgären Zeitverständnisses<br />
eine abgeleitete Form der ursprünglichen, endlichen Zeitlichkeit ist. 61 Der sachlichen,<br />
nicht der erkenntnismäßigen Ordnung nach ist für Heidegger also die endliche Zeitlichkeit<br />
der Ausgangspunkt und die Zukunft das entscheidende Moment, die Zielperspektive.<br />
Da nach Heideggers Rekonstruktion das Dasein erst Zeitlichkeit zeitigt, werden ein<br />
Großteil der aus der traditionellen Trennung von Zeit und Mensch entstehenden Probleme<br />
umgangen; denn eine Frage nach der Zeit, ihrem Wesen oder ihrer „Existenz“<br />
hinter dem Dasein des Menschen verbietet sich damit von selbst. Zielpunkt der Überlegungen<br />
Heideggers ist dabei sein Entwurf des eigentlichen Daseins als eines eigentlichen<br />
Seins zum Tode, daß durch die Best<strong>im</strong>mungen der Zeitlichkeit als Zeitlichkeit<br />
nach vorn, der Zeitlichkeit als Zukünftigkeit und Endlichkeit abgestützt wird. Diese Best<strong>im</strong>mungen<br />
der ursprünglichen Zeit als endlich, der Zukunft als das pr<strong>im</strong>äre Phänomen<br />
der ursprünglichen Zeit erfüllen nun eine Funktion hinsichtlich der Formalstrukturen<br />
und der angemessenen praktischen Lebenshaltung des Heideggerschen Verständnisses<br />
von Dasein. 62 Um den Sinn des Seins zu ergründen sind diese Best<strong>im</strong>mungen nur hilfreich,<br />
wenn entweder das Sein des Daseins, das sich als Zeitlichkeit zeitigt, identisch ist<br />
mit dem Sein überhaupt oder sich in der Zeitlichkeit, <strong>im</strong> Dasein sich Seinsenthüllendes<br />
ereignet.<br />
Heidegger verfolgt jedoch diese Spuren nicht weiter, 63 sondern geht in eine andere<br />
Richtung 64 und bezeichnet die Zeit als den Sinn des Seins selbst. Dies ergibt sich aus<br />
dem Zusammenhang, genauer: der „Struktur der Einheit und Differenz von Sein, Seiendem<br />
und Dasein“. Denn das Seiende hat seine Sinnhaftigkeit „aus einer Art von zeitlosem<br />
Geschehen und Zu-eignung, die Heidegger später das ‚Ereignis‘ oder auch das<br />
(verbal zu hörende) „Wesen“ des Seins oder auch die Lichtung des Seins nennt“ 65 . Mit<br />
60 Heidegger, SZ 436.<br />
61 „Nur weil die ursprüngliche Zeit endlich ist, kann sich die »abgeleitete« als un-endliche zeitigen. In<br />
der Ordnung der verstehenden Erfassung wird die Endlichkeit der Zeit erst dann völlig sichtbar,<br />
wenn die »endlose Zeit« herausgestellt ist, um ihr gegenübergestellt zu werden.“ Heidegger, SZ 437f.<br />
62 Man darf Heidegger aber nicht so verstehen, als würde sich aus der Endlichkeit der ursprünglichen<br />
Zeit und der Zukunft als ihrem pr<strong>im</strong>ären Phänomen eine Endlichkeit der Zukunft postulieren lassen,<br />
obgleich sich dieser (spekulative) Gedanke nahelegt. Denn zum einen ist das Phänomen nicht mit der<br />
ursprünglichen Zeit identisch, zum anderen geht es Heidegger nicht (pr<strong>im</strong>är) um eine Theorie der<br />
Zeit, sondern um die Erhellung des Daseins.<br />
63 Vgl. Cardorff 116ff. Lévinas dagegen fragt genau an dieser Stelle weiter.<br />
64 Diesen Schritt hinter die Phänomenologie zurück oder auch darüber hinaus hat Heidegger selbst als<br />
seine „Kehre“ bezeichnet. Sie besteht darin, daß nun nicht nach der Art und Weise des Erscheinens<br />
von Seiendem fragt, sondern nach dem Sein, das unthematisch bei dieser Frage mitgedacht wird. Es<br />
handelt sich also nicht um eine sachliche „Kehre“, sondern um eine methodische; vgl. oben Anm. 53.<br />
65 Haeffner 369; vgl. auch ebd. 366. Heidegger selbst formuliert in „Sein und Zeit“: „Sein ist jeweils<br />
das Sein eines Seienden“ (SZ 12); „Das Sein des Seienden ›ist‹ nicht selbst ein Seiendes“ (SZ 8);<br />
„Sein – nicht Seiendes – ›gibt es‹ nur, sofern Wahrheit ist. Und sie ist nur, sofern und solange Dasein<br />
ist“ (SZ 304); „Seinsverständnis ist selbst eine Seinsbest<strong>im</strong>mtheit des Daseins“ (SZ 16, i.O. kursiv).<br />
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