Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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02.12.2012 Aufrufe

enzierung des Seins und des Seienden aus. „Unter ›Zeit‹ versteht Heidegger das Wechselspiel von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart, wobei mit diesen Worten nicht zukünftige, vergangene und derzeitige Zeitabschnitte gemeint sind, sondern das Zukommen von Seinsmöglichkeiten, das Schon-da-(gewesen-)sein und das augenblicklich vollzogene Sein.“ 56 Heidegger wendet sich in seiner phänomenologischen Analyse, Husserl aufnehmend und dessen Ansatz modifizierend, von der Frage nach der Zeit hin zur Frage nach der Zeitlichkeit. Ausgehend von seiner Analyse der Grundstruktur des Daseins als Sorge kommt er zu dem Schluß, daß die ursprüngliche Einheit der Sorgestruktur in der Zeitlichkeit liegt. Dies darum, weil der Sinn des Seins in einem Entwurf gewagt werden muß. „Das Entworfene des ursprünglichen existenzialen Entwurfs der Existenz enthüllte sich als vorlaufende Entschlossenheit.“ 57 Mit vorlaufender Entschlossenheit entwirft sich das Dasein auf seine Möglichkeiten hin. Das ursprüngliche Phänomen der Zukunft ist das Auf-sich-Zukommen-lassen der Möglichkeiten des Daseins. Es gilt aber auch, daß das „Vorlaufen in die äußerste und eigenste Möglichkeit“ das „verstehende Zurückkommen auf das eigenste Gewesen“ ist. „Dasein kann nur eigentlich sein, sofern es zukünftig ist. Die Gewesenheit entspringt in gewisser Weise der Zukunft.“ Sind auf diese Weise Zukunft und Vergangenheit miteinander verknüpft, so spielt die Gegenwart für die Entschlossenheit insofern eine Rolle, als die Entschlossenheit „nur als Gegenwart im Sinne des Gegenwärtigen“ sein kann, „was sie ist: das unverstellte Begegnenlassen dessen, was sie handelnd ergreift. Zukünftig auf sich zurückkommend, bringt sich die Entschlossenheit gegenwärtigend in die Situation.“ Heidegger nennt das „dergestalt als gewesend-gegenwärtigende Zukunft einheitliche Phänomen“ Zeitlichkeit, so daß er schließlich sagen kann: „Zeitlichkeit enthüllt sich als der Sinn der eigentlichen Sorge.“ 58 Ja mehr noch, „die ursprüngliche Einheit der Sorgestruktur liegt in der Zeitlichkeit“. Und da das in der Zukunft gründende Sichentwerfen ein Wesenscharakter der Existenzialität ist, ist deren primärer Sinn die Zukunft. Aber nur da das Dasein sich auch als Geworfenes vorfindet, „weil Sorge in der Gewesenheit gründet“, kann es existieren. Und nur im Gegenwärtig-sein des Daseins kann ihm Umwelt begegnen und handelnd ergriffen werden. Heidegger nennt die „Phänomene Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart die Ekstasen der Zeitlichkeit“, da Zeitlichkeit kein „Seiendes“ »ist«: Zeitlichkeit „ist nicht, sondern zeitigt sich“. Die derart beschriebene Zeitlichkeit benennt Heidegger als „ursprüngliche Zeit“. 59 Heidegger räumt dann der Zukunft in der ekstatischen Einheit 6). Vattimo vertritt die Ansicht, daß dieser Vortrag von 1968 „der Idee nach“ das Werk Sein und Zeit vollendet; vgl. Vattimo, Nihilismus 190. 56 Gerd Haeffner, Martin Heidegger, in: Klassiker der Philosophie Bd. 2, hg. v. O. Höffe, München 1981, 361–382, hier 369. 57 Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927), zitiert nach: Martin Heidegger, Gesamtausgabe Bd. 2, Frankfurt/M. 1977, 430 (Heidegger, SZ). Vgl. dazu insgesamt die §§ 65ff. 58 Heidegger, SZ 431f. 59 Heidegger, SZ 434f. „Das Charakteristische der dem vulgären Verständnis zugänglichen »Zeit« besteht u.a. gerade darin, daß in ihr als einer puren, anfangs- und endlosen Jetzt-folge der ekstatische Charakter der ursprünglichen Zeitlichkeit nivelliert ist. Diese Nivellierung selbst gründet aber ihrem existenzialen Sinne nach in einer bestimmten möglichen Zeitigung, gemäß der die Zeitlichkeit als uneigentliche die genannte »Zeit« zeitigt. Wenn daher die der Verständigung des Daseins zugängliche »Zeit« als nicht ursprünglich und vielmehr entspringend aus der eigentlichen Zeitlichkeit nachgewiesen wird, dann rechtfertigt sich gemäß dem Satze, a potiori denominatio, die Benennung der jetzt freigelegten Zeitlichkeit als ursprüngliche Zeit.“ 46

der ursprünglichen und eigentlichen Zeitlichkeit einen Vorrang ein, weil diese Zeitlichkeit aus der eigentlichen Zukunft zeitigt, und zwar so, daß „sie zukünftig gewesen allererst die Gegenwart weckt. Das primäre Phänomen der ursprünglichen und eigentlichen Zeitlichkeit ist die Zukunft.“ 60 Da die Sorge das Sein zum Tode ist, das Dasein endlich existiert, enthüllt sich auch die eigentliche Zukunft, die die Zeitlichkeit zeitigt, als endliche. Damit aber ergibt sich, daß die unendliche Zeit des vulgären Zeitverständnisses eine abgeleitete Form der ursprünglichen, endlichen Zeitlichkeit ist. 61 Der sachlichen, nicht der erkenntnismäßigen Ordnung nach ist für Heidegger also die endliche Zeitlichkeit der Ausgangspunkt und die Zukunft das entscheidende Moment, die Zielperspektive. Da nach Heideggers Rekonstruktion das Dasein erst Zeitlichkeit zeitigt, werden ein Großteil der aus der traditionellen Trennung von Zeit und Mensch entstehenden Probleme umgangen; denn eine Frage nach der Zeit, ihrem Wesen oder ihrer „Existenz“ hinter dem Dasein des Menschen verbietet sich damit von selbst. Zielpunkt der Überlegungen Heideggers ist dabei sein Entwurf des eigentlichen Daseins als eines eigentlichen Seins zum Tode, daß durch die Bestimmungen der Zeitlichkeit als Zeitlichkeit nach vorn, der Zeitlichkeit als Zukünftigkeit und Endlichkeit abgestützt wird. Diese Bestimmungen der ursprünglichen Zeit als endlich, der Zukunft als das primäre Phänomen der ursprünglichen Zeit erfüllen nun eine Funktion hinsichtlich der Formalstrukturen und der angemessenen praktischen Lebenshaltung des Heideggerschen Verständnisses von Dasein. 62 Um den Sinn des Seins zu ergründen sind diese Bestimmungen nur hilfreich, wenn entweder das Sein des Daseins, das sich als Zeitlichkeit zeitigt, identisch ist mit dem Sein überhaupt oder sich in der Zeitlichkeit, im Dasein sich Seinsenthüllendes ereignet. Heidegger verfolgt jedoch diese Spuren nicht weiter, 63 sondern geht in eine andere Richtung 64 und bezeichnet die Zeit als den Sinn des Seins selbst. Dies ergibt sich aus dem Zusammenhang, genauer: der „Struktur der Einheit und Differenz von Sein, Seiendem und Dasein“. Denn das Seiende hat seine Sinnhaftigkeit „aus einer Art von zeitlosem Geschehen und Zu-eignung, die Heidegger später das ‚Ereignis‘ oder auch das (verbal zu hörende) „Wesen“ des Seins oder auch die Lichtung des Seins nennt“ 65 . Mit 60 Heidegger, SZ 436. 61 „Nur weil die ursprüngliche Zeit endlich ist, kann sich die »abgeleitete« als un-endliche zeitigen. In der Ordnung der verstehenden Erfassung wird die Endlichkeit der Zeit erst dann völlig sichtbar, wenn die »endlose Zeit« herausgestellt ist, um ihr gegenübergestellt zu werden.“ Heidegger, SZ 437f. 62 Man darf Heidegger aber nicht so verstehen, als würde sich aus der Endlichkeit der ursprünglichen Zeit und der Zukunft als ihrem primären Phänomen eine Endlichkeit der Zukunft postulieren lassen, obgleich sich dieser (spekulative) Gedanke nahelegt. Denn zum einen ist das Phänomen nicht mit der ursprünglichen Zeit identisch, zum anderen geht es Heidegger nicht (primär) um eine Theorie der Zeit, sondern um die Erhellung des Daseins. 63 Vgl. Cardorff 116ff. Lévinas dagegen fragt genau an dieser Stelle weiter. 64 Diesen Schritt hinter die Phänomenologie zurück oder auch darüber hinaus hat Heidegger selbst als seine „Kehre“ bezeichnet. Sie besteht darin, daß nun nicht nach der Art und Weise des Erscheinens von Seiendem fragt, sondern nach dem Sein, das unthematisch bei dieser Frage mitgedacht wird. Es handelt sich also nicht um eine sachliche „Kehre“, sondern um eine methodische; vgl. oben Anm. 53. 65 Haeffner 369; vgl. auch ebd. 366. Heidegger selbst formuliert in „Sein und Zeit“: „Sein ist jeweils das Sein eines Seienden“ (SZ 12); „Das Sein des Seienden ›ist‹ nicht selbst ein Seiendes“ (SZ 8); „Sein – nicht Seiendes – ›gibt es‹ nur, sofern Wahrheit ist. Und sie ist nur, sofern und solange Dasein ist“ (SZ 304); „Seinsverständnis ist selbst eine Seinsbestimmtheit des Daseins“ (SZ 16, i.O. kursiv). 47

enzierung des Seins und des Seienden aus. „Unter ›Zeit‹ versteht Heidegger das<br />

Wechselspiel von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart, wobei mit diesen Worten nicht<br />

zukünftige, vergangene und derzeitige Zeitabschnitte gemeint sind, sondern das Zukommen<br />

von Seinsmöglichkeiten, das Schon-da-(gewesen-)sein und das augenblicklich<br />

vollzogene Sein.“ 56<br />

Heidegger wendet sich in seiner phänomenologischen Analyse, Husserl aufnehmend<br />

und dessen Ansatz modifizierend, von der Frage nach der Zeit hin zur Frage nach der<br />

Zeitlichkeit. Ausgehend von seiner Analyse der Grundstruktur des Daseins als Sorge<br />

kommt er zu dem Schluß, daß die ursprüngliche Einheit der Sorgestruktur in der Zeitlichkeit<br />

liegt. Dies darum, weil der Sinn des Seins in einem Entwurf gewagt werden<br />

muß. „Das Entworfene des ursprünglichen existenzialen Entwurfs der Existenz enthüllte<br />

sich als vorlaufende Entschlossenheit.“ 57 Mit vorlaufender Entschlossenheit entwirft<br />

sich das Dasein auf seine Möglichkeiten hin. Das ursprüngliche Phänomen der Zukunft<br />

ist das Auf-sich-Zukommen-lassen der Möglichkeiten des Daseins. Es gilt aber auch,<br />

daß das „Vorlaufen in die äußerste und eigenste Möglichkeit“ das „verstehende Zurückkommen<br />

auf das eigenste Gewesen“ ist. „Dasein kann nur eigentlich sein, sofern es zukünftig<br />

ist. Die Gewesenheit entspringt in gewisser Weise der Zukunft.“ Sind auf diese<br />

Weise Zukunft und Vergangenheit miteinander verknüpft, so spielt die Gegenwart für<br />

die Entschlossenheit insofern eine Rolle, als die Entschlossenheit „nur als Gegenwart<br />

<strong>im</strong> Sinne des Gegenwärtigen“ sein kann, „was sie ist: das unverstellte Begegnenlassen<br />

dessen, was sie handelnd ergreift. Zukünftig auf sich zurückkommend, bringt sich die<br />

Entschlossenheit gegenwärtigend in die Situation.“ Heidegger nennt das „dergestalt als<br />

gewesend-gegenwärtigende Zukunft einheitliche Phänomen“ Zeitlichkeit, so daß er<br />

schließlich sagen kann: „Zeitlichkeit enthüllt sich als der Sinn der eigentlichen Sorge.“ 58<br />

Ja mehr noch, „die ursprüngliche Einheit der Sorgestruktur liegt in der Zeitlichkeit“.<br />

Und da das in der Zukunft gründende Sichentwerfen ein Wesenscharakter der Existenzialität<br />

ist, ist deren pr<strong>im</strong>ärer Sinn die Zukunft. Aber nur da das Dasein sich auch als<br />

Geworfenes vorfindet, „weil Sorge in der Gewesenheit gründet“, kann es existieren.<br />

Und nur <strong>im</strong> Gegenwärtig-sein des Daseins kann ihm Umwelt begegnen und handelnd<br />

ergriffen werden. Heidegger nennt die „Phänomene Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart<br />

die Ekstasen der Zeitlichkeit“, da Zeitlichkeit kein „Seiendes“ »ist«: Zeitlichkeit „ist<br />

nicht, sondern zeitigt sich“. Die derart beschriebene Zeitlichkeit benennt Heidegger als<br />

„ursprüngliche Zeit“. 59 Heidegger räumt dann der Zukunft in der ekstatischen Einheit<br />

6). Vatt<strong>im</strong>o vertritt die Ansicht, daß dieser Vortrag von 1968 „der Idee nach“ das Werk Sein und Zeit<br />

vollendet; vgl. Vatt<strong>im</strong>o, Nihilismus 190.<br />

56<br />

Gerd Haeffner, Martin Heidegger, in: Klassiker der Philosophie Bd. 2, hg. v. O. Höffe, München<br />

1981, 361–382, hier 369.<br />

57<br />

Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927), zitiert nach: Martin Heidegger, Gesamtausgabe Bd. 2,<br />

Frankfurt/M. 1977, 430 (Heidegger, SZ). Vgl. dazu insgesamt die §§ 65ff.<br />

58<br />

Heidegger, SZ 431f.<br />

59<br />

Heidegger, SZ 434f. „Das Charakteristische der dem vulgären Verständnis zugänglichen »Zeit« besteht<br />

u.a. gerade darin, daß in ihr als einer puren, anfangs- und endlosen Jetzt-folge der ekstatische<br />

Charakter der ursprünglichen Zeitlichkeit nivelliert ist. Diese Nivellierung selbst gründet aber ihrem<br />

existenzialen Sinne nach in einer best<strong>im</strong>mten möglichen Zeitigung, gemäß der die Zeitlichkeit als uneigentliche<br />

die genannte »Zeit« zeitigt. Wenn daher die der Verständigung des Daseins zugängliche<br />

»Zeit« als nicht ursprünglich und vielmehr entspringend aus der eigentlichen Zeitlichkeit nachgewiesen<br />

wird, dann rechtfertigt sich gemäß dem Satze, a potiori denominatio, die Benennung der jetzt<br />

freigelegten Zeitlichkeit als ursprüngliche Zeit.“<br />

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