Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau
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Husserls phänomenologischer Ansatz ist auf die Weise des Erscheinens aus. Er arbeitet<br />
die zeitliche Verfaßtheit des Bewußtseins selbst heraus. 52 Über den erkenntnistheoretischen<br />
Aspekt, der auch schon Kant beschäftigte, weist Husserl auch auf den bewußtseinstheoretischen<br />
Aspekt hin. Dabei ist allerdings die Frage nach dem, was erscheint,<br />
mit der Kategorie der Intentionalität reduziert. An dieser Stelle fragt Heidegger weiter<br />
nach dem Verhältnis von Sein und Zeit.<br />
2.2.5 Existential-ontologisches Zeitverständnis<br />
Für Martin Heidegger bildet der Zusammenhang von Sein und Zeit ein Zentrum seines<br />
Denkens. Es lassen sich dabei verschiedene Aspekte unterscheiden. In „Sein und Zeit“<br />
geht es ihm um den Sinn von Sein; darin eingeschlossen ist eine doppelte Fragestellung,<br />
nämlich zum einen die Frage nach dem Sinn, zum anderen die Frage nach dem Sein.<br />
Die erste Frage führt hin zu der Daseinsanalyse, die zweite zum Denken des Seins, das<br />
vor allem den „späten“ Heidegger beschäftigt hat. Beide Fragerichtungen sind aber von<br />
Beginn an in seinem Werk angelegt. 53 Mich interessiert hier vor allem die Stellung der<br />
Zeit in seinen Gedanken, weniger seine Philosophie insgesamt.<br />
In „Sein und Zeit“ versucht Heidegger, über die Zeitlichkeit des Daseins zum Sein zu<br />
gelangen. In diesem Sinn kann die Frage nach der Zeit als „Kernstück“ 54 des Zugangsversuchs<br />
über die „existenziale“ Analytik des Daseins verstanden werden. Es läßt sich<br />
in dieser Stellung eine gewisse Entwicklung entdecken. In „Sein und Zeit“ kommt Heidegger<br />
zu der Einsicht, daß die Ordnung der geistigen Welt nichts Ewiges ist, sondern<br />
das Produkt einer <strong>Geschichte</strong>. 55 Seine phänomenologische Analyse geht von der Diffe-<br />
52 Vgl. auch Jean-François Lyotard, Die Phänomenologie, Hamburg 1993, 128f: „Wenn man sagt, daß<br />
das Bewußtsein geschichtlich sei, sagt man nicht nur, daß es für das Bewußtsein Zeit gibt, sondern,<br />
daß es Zeit ist.“<br />
53 Ich lese und interpretiere also Heidegger nach seinem eigenen Verständnis, das die „Kehre“ nicht als<br />
Bruch, sondern als Biegung verstanden hat. Ich folge damit Peter Cardorff, Martin Heidegger, Frankfurt/M.<br />
1991, 45ff. Die Kehre bei Heidegger darf nicht <strong>im</strong> Sinn einer Umkehr, einer Wendung verstanden<br />
werden, sondern als leichte Biegung eines Weges. Es geht Heidegger vor und nach der Kehre<br />
um das Gleiche, die Frage nach dem Sein. Vor der Kehre wird diese Frage gestellt, indem eine Analyse<br />
des Daseins, des Erscheinenden versucht wird. Hier zeigt sich die enge Nähe zur Phänomenologie<br />
seines Lehrers Husserl. Nach der Kehre geht es um das Sein selbst. „Vor der Kehre behandelt<br />
der philosophische Entwurf das Denken des Seins eher vom Denken und vom Denkenden her, nach<br />
der Biegung eher vom Sein her: als Sein, das denkt.“ In der einen Fassung „zeichnet sich sehr viel<br />
deutlicher die Bewegung auf das Sein hin ab, als daß dies eine Bewegung vom Sein her ist, in der<br />
anderen erscheint das Verhalten zum Sein unmißverständlich als Ins-Verhalten-des-Seins-gestelltsein.<br />
Hier wie da ist der Mensch dem Sein nicht gegenübergestellt – schon gar nicht als Subjekt –,<br />
sondern gefaßt als Dasein. Aber das eine Mal scheint die Aktivität mehr bei ihm zu liegen, als ob es<br />
bei ihm sei, sich dem Sein zu stellen und das Sein zu stellen; das andere Mal ist alles Handeln, auch<br />
das seinsvergessene, gestaltet eher wie der Modus eines Ereignens von Sein selbst. In allen Versionen<br />
ist der Mensch als der <strong>im</strong> Offenen des Entwurfs des Seins von diesem her in Anspruch Stehende“<br />
(45f). In der frühen Phase scheint Heidegger stärker die Entscheidung des Menschen zu betonen,<br />
in der späten eher das Erfaßtsein des Menschen durch das Sein. Ähnlich sieht das auch Gianni<br />
Vatt<strong>im</strong>o, für den die Kehre „<strong>im</strong> Übergang von einer Ebene, auf der es ausschließlich den Menschen<br />
gibt (wie <strong>im</strong> humanistischen Existenzialismus eines Sartre), zu einer Ebene, wo an erster Stelle das<br />
Sein steht“, besteht; vgl. Gianni Vatt<strong>im</strong>o, Nihilismus und Postmoderne in der Philosophie (Vatt<strong>im</strong>o,<br />
Nihilismus), in: ders., Das Ende der Moderne, Stuttgart 1990, 178–198, hier 189.<br />
54 Cardorff 116.<br />
55 In seinem Vortrag „Zeit und Sein“ schreibt Heidegger, daß es darauf ankommt, „das Sein als den<br />
Grund des Seienden fahren zu lassen“ (Martin Heidegger, Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969,<br />
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