Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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02.12.2012 Aufrufe

um eine Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins. Die Zeit an sich kann nur intentionaler Gegenstand des Bewußtseins sein. Der von Brentano übernommene und weiter ausgebaute Begriff der Intentionalität weist darauf hin, daß es eine Korrelation zwischen den Bewußtseinsvollzügen, die sich auf einen Gegenstand beziehen, und dem Gegenstand, wie er in diesen Vollzügen erscheint, gibt. Hinsichtlich der Wahrnehmung der Zeit schreibt Husserl dabei in der Zuordnung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Gegenwart die primäre Rolle zu. Das Gegenwartsbewußstein als aktuelles Jetzt der Empfindung ist der Ort aller Vergegenwärtigung vergangener und zukünftiger Erlebnisse. Jeder gegenwärtige Augenblick kann nicht einfach von anderen isoliert werden, und zwar in beiden Zeitrichtungen nicht. Daher wird die Gegenwart nicht als punktuell verstanden, sondern besitzt eine Ausdehnung. Husserl kommt in seiner phänomenologischen Betrachtung also im Blick auf die Beschreibung der Gegenwart zu einem Ergebnis, das dem James’ entspricht. Durch diese andauernde Gegenwart kann das eben Gewesene als noch gegenwärtig behalten werden, was Husserl mit dem Ausdruck Retention bezeichnet. 47 Zugleich kann in diese Dauer der Gegenwart das Zukünftige als schon Erwartetes einbezogen werden; das bezeichnet Husserl mit dem Begriff Protention. 48 In dieser Gegenwart sind nahe Vergangenheit und nahe Zukunft inbegriffen. Husserls Überlegungen weisen also darauf hin, daß sich ein Verständnis von Zeit immer auf Gegenwart bezieht, daß die Dimensionen der Zeit perspektivisch auf die Gegenwart bezogen sind. 49 Nun taucht aber für eine phänomenologische Konstruktion 50 der Zeit das Problem auf, daß sie mit ihrem „zeitphilosophischen Präsentismus“ als „Wahrnehmungstheorie“ für eine Zeit-, Praxis- und Lebensorientierung schwerlich Anregungen geben kann. 51 Gleichwohl sind ihre Ergebnisse in der Analyse des Zeitbewußtseins bei der Rekonstruktion von Geschichte zu berücksichtigen, da sie mindestens die Perspektivität jeglicher Orientierung feststellen. 47 Das soeben Vergangene besitzt eine Art von Noch-Gegenwart im Bewußtsein. „Wenn unser Bewußtsein punktuell-atomistisch wäre, wenn wir nur den gegenwärtigen Augenblick erleben könnten, so wären wir unfähig, etwa Melodien zu hören oder Sätze zu verstehen. Unsere Gegenwart hat also eine gewisse Ausdehnung, in der jeder gerade jetzt erlebte Inhalt, kaum daß er von einem neuen aus der Stelle des Jetzt verdrängt wurde, noch immer kontinuierlich mit dem Inhalt, der ihn verdrängt hat, verbunden bleibt: so, wie man das soeben Gesagte gleichsam noch im Ohr hat, während das nächste ausgesprochen wird. Die Struktur, die diesem Noch-Festhalten des soeben Gewesenen zugrundeliegt, heißt in der Phänomenologie Retention“ (Sommer, Lebenswelt, 143f). Vgl. Husserl, Vorlesungen 24ff. 48 Vom gegenwärtigen Augenblick gehen Erwartungen auf das aus, was ihm gleich folgen wird. „So hat dieses, obgleich es noch nicht Gegenwart ist, doch in dieser Gegenwart schon eine eigentümliche Art der Anwesenheit; nicht als Bestimmtes, sondern als Unbestimmtes, nicht als einzig Wirkliches, sondern als vielerlei Mögliches. Diese nach vorne gerichtete Anspannung des Bewußtseins nennt Husserl Protention“ (Sommer, Lebenswelt 143). 49 „Der Vorrang der Gegenwart ist von Parmenides bis zu Husserl nie in Frage gestellt worden.“ Jacques Derrida, Ousia und Gramme, in: Zimmerli/Sandbothe, Klassiker, 239–280, 242. 50 Als Konstruktion qualifiziert Kersting Husserls Zeitphilosophie, weil Jetztpunktgegenwärtigkeit, Retention und Protention vom vertrauten lebensweltlichen Schema Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft und der Dynamik ihrer lebenspraktischen Verknüpftheit zehren, sie aber zugleich gründlich entfremden. Vgl. Kersting, Selbstbewußtsein 83. 51 Kersting, Selbstbewußtsein 83ff. 44

Husserls phänomenologischer Ansatz ist auf die Weise des Erscheinens aus. Er arbeitet die zeitliche Verfaßtheit des Bewußtseins selbst heraus. 52 Über den erkenntnistheoretischen Aspekt, der auch schon Kant beschäftigte, weist Husserl auch auf den bewußtseinstheoretischen Aspekt hin. Dabei ist allerdings die Frage nach dem, was erscheint, mit der Kategorie der Intentionalität reduziert. An dieser Stelle fragt Heidegger weiter nach dem Verhältnis von Sein und Zeit. 2.2.5 Existential-ontologisches Zeitverständnis Für Martin Heidegger bildet der Zusammenhang von Sein und Zeit ein Zentrum seines Denkens. Es lassen sich dabei verschiedene Aspekte unterscheiden. In „Sein und Zeit“ geht es ihm um den Sinn von Sein; darin eingeschlossen ist eine doppelte Fragestellung, nämlich zum einen die Frage nach dem Sinn, zum anderen die Frage nach dem Sein. Die erste Frage führt hin zu der Daseinsanalyse, die zweite zum Denken des Seins, das vor allem den „späten“ Heidegger beschäftigt hat. Beide Fragerichtungen sind aber von Beginn an in seinem Werk angelegt. 53 Mich interessiert hier vor allem die Stellung der Zeit in seinen Gedanken, weniger seine Philosophie insgesamt. In „Sein und Zeit“ versucht Heidegger, über die Zeitlichkeit des Daseins zum Sein zu gelangen. In diesem Sinn kann die Frage nach der Zeit als „Kernstück“ 54 des Zugangsversuchs über die „existenziale“ Analytik des Daseins verstanden werden. Es läßt sich in dieser Stellung eine gewisse Entwicklung entdecken. In „Sein und Zeit“ kommt Heidegger zu der Einsicht, daß die Ordnung der geistigen Welt nichts Ewiges ist, sondern das Produkt einer Geschichte. 55 Seine phänomenologische Analyse geht von der Diffe- 52 Vgl. auch Jean-François Lyotard, Die Phänomenologie, Hamburg 1993, 128f: „Wenn man sagt, daß das Bewußtsein geschichtlich sei, sagt man nicht nur, daß es für das Bewußtsein Zeit gibt, sondern, daß es Zeit ist.“ 53 Ich lese und interpretiere also Heidegger nach seinem eigenen Verständnis, das die „Kehre“ nicht als Bruch, sondern als Biegung verstanden hat. Ich folge damit Peter Cardorff, Martin Heidegger, Frankfurt/M. 1991, 45ff. Die Kehre bei Heidegger darf nicht im Sinn einer Umkehr, einer Wendung verstanden werden, sondern als leichte Biegung eines Weges. Es geht Heidegger vor und nach der Kehre um das Gleiche, die Frage nach dem Sein. Vor der Kehre wird diese Frage gestellt, indem eine Analyse des Daseins, des Erscheinenden versucht wird. Hier zeigt sich die enge Nähe zur Phänomenologie seines Lehrers Husserl. Nach der Kehre geht es um das Sein selbst. „Vor der Kehre behandelt der philosophische Entwurf das Denken des Seins eher vom Denken und vom Denkenden her, nach der Biegung eher vom Sein her: als Sein, das denkt.“ In der einen Fassung „zeichnet sich sehr viel deutlicher die Bewegung auf das Sein hin ab, als daß dies eine Bewegung vom Sein her ist, in der anderen erscheint das Verhalten zum Sein unmißverständlich als Ins-Verhalten-des-Seins-gestelltsein. Hier wie da ist der Mensch dem Sein nicht gegenübergestellt – schon gar nicht als Subjekt –, sondern gefaßt als Dasein. Aber das eine Mal scheint die Aktivität mehr bei ihm zu liegen, als ob es bei ihm sei, sich dem Sein zu stellen und das Sein zu stellen; das andere Mal ist alles Handeln, auch das seinsvergessene, gestaltet eher wie der Modus eines Ereignens von Sein selbst. In allen Versionen ist der Mensch als der im Offenen des Entwurfs des Seins von diesem her in Anspruch Stehende“ (45f). In der frühen Phase scheint Heidegger stärker die Entscheidung des Menschen zu betonen, in der späten eher das Erfaßtsein des Menschen durch das Sein. Ähnlich sieht das auch Gianni Vattimo, für den die Kehre „im Übergang von einer Ebene, auf der es ausschließlich den Menschen gibt (wie im humanistischen Existenzialismus eines Sartre), zu einer Ebene, wo an erster Stelle das Sein steht“, besteht; vgl. Gianni Vattimo, Nihilismus und Postmoderne in der Philosophie (Vattimo, Nihilismus), in: ders., Das Ende der Moderne, Stuttgart 1990, 178–198, hier 189. 54 Cardorff 116. 55 In seinem Vortrag „Zeit und Sein“ schreibt Heidegger, daß es darauf ankommt, „das Sein als den Grund des Seienden fahren zu lassen“ (Martin Heidegger, Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, 45

um eine Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins. Die Zeit an sich kann nur intentionaler<br />

Gegenstand des Bewußtseins sein. Der von Brentano übernommene und weiter<br />

ausgebaute Begriff der Intentionalität weist darauf hin, daß es eine Korrelation zwischen<br />

den Bewußtseinsvollzügen, die sich auf einen Gegenstand beziehen, und dem Gegenstand,<br />

wie er in diesen Vollzügen erscheint, gibt. Hinsichtlich der Wahrnehmung der<br />

Zeit schreibt Husserl dabei in der Zuordnung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft<br />

der Gegenwart die pr<strong>im</strong>äre Rolle zu. Das Gegenwartsbewußstein als aktuelles<br />

Jetzt der Empfindung ist der Ort aller Vergegenwärtigung vergangener und zukünftiger<br />

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Betrachtung also <strong>im</strong> Blick auf die Beschreibung der Gegenwart zu<br />

einem Ergebnis, das dem James’ entspricht. Durch diese andauernde Gegenwart kann<br />

das eben Gewesene als noch gegenwärtig behalten werden, was Husserl mit dem Ausdruck<br />

Retention bezeichnet. 47 Zugleich kann in diese Dauer der Gegenwart das Zukünftige<br />

als schon Erwartetes einbezogen werden; das bezeichnet Husserl mit dem Begriff<br />

Protention. 48 In dieser Gegenwart sind nahe Vergangenheit und nahe Zukunft inbegriffen.<br />

Husserls Überlegungen weisen also darauf hin, daß sich ein Verständnis von Zeit<br />

<strong>im</strong>mer auf Gegenwart bezieht, daß die D<strong>im</strong>ensionen der Zeit perspektivisch auf die Gegenwart<br />

bezogen sind. 49<br />

Nun taucht aber für eine phänomenologische Konstruktion 50 der Zeit das Problem auf,<br />

daß sie mit ihrem „zeitphilosophischen Präsentismus“ als „Wahrnehmungstheorie“ für<br />

eine Zeit-, Praxis- und Lebensorientierung schwerlich Anregungen geben kann. 51<br />

Gleichwohl sind ihre Ergebnisse in der Analyse des Zeitbewußtseins bei der Rekonstruktion<br />

von <strong>Geschichte</strong> zu berücksichtigen, da sie mindestens die Perspektivität jeglicher<br />

Orientierung feststellen.<br />

47 Das soeben Vergangene besitzt eine Art von Noch-Gegenwart <strong>im</strong> Bewußtsein. „Wenn unser Bewußtsein<br />

punktuell-atomistisch wäre, wenn wir nur den gegenwärtigen Augenblick erleben könnten, so<br />

wären wir unfähig, etwa Melodien zu hören oder Sätze zu verstehen. Unsere Gegenwart hat also eine<br />

gewisse Ausdehnung, in der jeder gerade jetzt erlebte Inhalt, kaum daß er von einem neuen aus der<br />

Stelle des Jetzt verdrängt wurde, noch <strong>im</strong>mer kontinuierlich mit dem Inhalt, der ihn verdrängt hat,<br />

verbunden bleibt: so, wie man das soeben Gesagte gleichsam noch <strong>im</strong> Ohr hat, während das nächste<br />

ausgesprochen wird. Die Struktur, die diesem Noch-Festhalten des soeben Gewesenen zugrundeliegt,<br />

heißt in der Phänomenologie Retention“ (Sommer, Lebenswelt, 143f). Vgl. Husserl, Vorlesungen<br />

24ff.<br />

48 Vom gegenwärtigen Augenblick gehen Erwartungen auf das aus, was ihm gleich folgen wird. „So hat<br />

dieses, obgleich es noch nicht Gegenwart ist, doch in dieser Gegenwart schon eine eigentümliche Art<br />

der Anwesenheit; nicht als Best<strong>im</strong>mtes, sondern als Unbest<strong>im</strong>mtes, nicht als einzig Wirkliches, sondern<br />

als vielerlei Mögliches. Diese nach vorne gerichtete Anspannung des Bewußtseins nennt<br />

Husserl Protention“ (Sommer, Lebenswelt 143).<br />

49 „Der Vorrang der Gegenwart ist von Parmenides bis zu Husserl nie in Frage gestellt worden.“<br />

Jacques Derrida, Ousia und Gramme, in: Z<strong>im</strong>merli/Sandbothe, Klassiker, 239–280, 242.<br />

50 Als Konstruktion qualifiziert Kersting Husserls Zeitphilosophie, weil Jetztpunktgegenwärtigkeit,<br />

Retention und Protention vom vertrauten lebensweltlichen Schema Gegenwart, Vergangenheit und<br />

Zukunft und der Dynamik ihrer lebenspraktischen Verknüpftheit zehren, sie aber zugleich gründlich<br />

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